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Komplizierte Lieben, Glaubensfragen und ein Justizdrama
Schauspielerin Renée Zellweger auf der Premiere des Films "Bridget Jones' Baby" (AFP) "Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka" von Vincent Garenq "Ich werde dich nicht in Ruhe lassen. Ich finde heraus, was du ihr angetan hast. Ich habe einen Anwalt hier in Deutschland. Ich verlange die Wiederaufnahme der Ermittlung." Ganze 27 Jahre dauert es, bis der Franzose André Bamberski den Mann, dem er die Schuld am Tod seiner Tochter gibt, ins Gefängnis bringen wird. 27 Jahre, in denen Bamberski eigene Ermittlungen anstellt und immer wieder gegen die Untätigkeit der Justizbehörden zu Felde zieht. Am Ende seiner obsessiven Jagd lässt er sogar – wie in einem Agentenfilm – den mutmaßlichen Täter von Kriminellen verschleppen und nach Frankreich bringen, wo er ihn der Polizei übergibt. Was wie eine Räuberpistole klingt, beruht auf einer wahren Geschichte. Am 10. Juli 1982 wird Bamberskis 14-jährige Tochter Kalinka tot im Haus des deutschen Arztes Dieter Krombach aufgefunden. Krombach ist Kalinkas Stiefvater. Bei ihm hat das Mädchen seine Ferien verbracht. "Als ich ins Zimmer kam, hat sie nicht reagiert. lso habe ich alles versucht sie wiederzubeleben. Aber es war zu spät. Ich habe wirklich alles versucht. Alles." Von Anfang an hat Bamberski Zweifel an Krombachs Darstellung. Obwohl der Autopsie-Bericht diese Zweifel untermauert und Kalinka womöglich vor ihrem Tod vergewaltigt wurde, verfolgt die deutsche Justiz den Fall nicht weiter. Für Bamberski beginnt ein einsamer Kampf, den er immer verbissener führt und den "Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka" chronologisch schildert. So fesselnd dieser Fall, der Fragen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen aufwirft, auch ist: Der Film erzählt die Geschichte im Eiltempo und damit viel zu gehetzt. Das lässt den Schauspielern – die Hauptrollen spielen Daniel Auteuil und Sebastian Koch – kaum Gelegenheit, mehr zu sein als nur Jäger und Gejagter. "Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka": zwiespältig "Hinter den Wolken" von Cecilia Verheyden "Sag mal, wie siehst du denn aus? – Ich war in der Stadt. – Allein? – Natürlich allein." Ihre Tochter muss erst einmal nichts davon wissen, dass sie sich mit Gerard getroffen hat. Schließlich ist es gerade einmal ein paar Tage her, dass Emmas Ehemann gestorben ist. Auf dessen Beerdigung hat sie Gerard wiedergesehen. Vor über 50 Jahren war er ihre erste große Liebe und doch hat sie sich damals für seinen besten Freund entschieden. Jetzt also ist Gerard wieder aufgetaucht und er bekundet ganz offen sein Interesse. Obwohl Emma anfangs zögert, lässt auch sie sich darauf ein, ihre Jugendliebe aufleben zu lassen. "Ich weiß natürlich nicht, was du vorhast. – Ich will stürmischen, heißen Sex. – Oh je. Das habe ich schon befürchtet." Längst darf auch die Generation der Best Ager ihre Liebes- und sogar auch Sexgeschichten im Kino auskosten. Die belgische Produktion "Hinter den Wolken" ist nur ein weiterer in einer ganze Reihe von Filmen, die meist heiter-melancholisch vom zweiten, wenn nicht sogar vom dritten Frühling erzählen. Allerdings fehlt diesem viel zu betulichen Film das Kesse und die Direktheit, die beispielsweise Andreas Dresens "Wolke 9" ausgezeichnet haben. "Hinter den Wolken": enttäuschend "Gleißendes Glück" von Sven Taddicken "Ich bin ein Mensch ohne Glauben." Und ohne Glauben, ohne Gott gibt es kein Glück. Da ist sich Helene ganz sicher. Die Beichte von ihrem Glaubensverlust legt die Hausfrau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird, gegenüber Eduard ab, einem Gehirnforscher, von dem sie sich Ratschläge für ein glücklicheres Leben erhofft. Im Gegenzug wird dieser Helene das Geheimnis seiner Sexsucht offenbaren. "Womit soll ich anfangen? Wie oft ich am Tag onaniere? Im Durchschnitt sechs Mal. Alles andere muss nach dieser Zahl ausgerichtet sein." In Sven Taddickens "Gleißendes Glück" – nach dem Roman der britischen Autorin A. L. Kennedy – treffen zwei Menschen aufeinander, die sich gegenseitig genauso wenig durchschauen wie auch der Zuschauer die beiden, die von Martina Gedeck und Ulrich Tukur gespielt werden. "Gleißendes Glück" ist eine sperrig zusammengezimmerte Liebesgeschichte, in der die Motivation der Figuren kaum nachzuvollziehen ist, die aber dennoch mit ihren klugen Reflexionen über Glauben, Glück und Erfüllung im Leben unterhält. "Gleißendes Glück": akzeptabel "Bridget Jones´ Baby" von Sharon Maguire "Bevor wir anfangen – möchten Sie das Geschlecht wissen? – Dann wären wir vorbereitet. – Es ist ein Junge. – Ein Junge!" Statt Kummerspeck jetzt also ein Babybauch bei Bridget Jones. 43 ist sie mittlerweile und endlich im Leben angekommen nach all den Fettnäpfchen, in die sie noch in ihren Dreißigern geschlittert war. Wäre da nur nicht ihr Beziehungsstatus Dauersingle. Dank der Schwangerschaft könnte sie den jetzt aber endgültig ablegen. Problem nur: Als Vater kommen gleich zwei Männer in Frage. Sowohl mit ihrem Ex als auch mit einer Neueroberung hatte Bridget Sex. "Diesen Verbindungen geschuldet könnte die daraus resultierende Lebensform, die gegenwärtig in meinem Bauch weilt, tatsächlich von einem von euch Beiden sein." Das ist vielleicht noch nicht so besonders originell und erinnert zudem an die typische Hollywood-Liebeskomödie, in der Albernheiten mit Scheinproblemen garniert werden. Aber "Bridget Jones' Baby" zeigt immerhin Interesse für seine Figuren und nimmt sie im komischen Kontext überraschend ernst. "Bridget Jones´ Baby": akzeptabel
Von Jörg Albrecht
Bridget Jones ist zurück - dieses Mal mit Babybauch. Im dritten Teil der Filmreihe ist die von Renée Zellweger gespielte Heldin schwanger, weiß aber nicht von wem. Außerdem starten die niederländische Liebesgeschichte „Hinter den Wolken“, die Romanverfilmung „Gleißendes Glück“ sowie das Justizdrama „Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka“.
"2016-10-19T15:05:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:16.570000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-filme-komplizierte-lieben-glaubensfragen-und-ein-100.html
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Syrische Folteropfer hoffen auf europäische Gerichte
Ein Syrer mit Folterspuren auf dem Rücken. (AFP / James Lawler Duggan ) Damaskus, 29. Dezember 2011. Etwa 100 Männer und Frauen ziehen durch die Straßen des Stadtteils Kafr Souseh. "Freiheit für immer, auch gegen deinen Willen, Assad!" rufen sie. Mittendrin Khaled Rawas. Ungeduldig und nervös, denn der Aktivist wartet auf die Beobachter der Vereinten Nationen, die damals in Syrien sind. "Wir hatten die Demonstration angemeldet und den UN-Beobachtern gesagt, sie sollten um diese Uhrzeit dort sein. Sie fand in einer der am besten überwachten Gegenden von Damaskus statt. Das war verrückt. Wir sind losgegangen in der Hoffnung, dass die UN-Beobachter kommen, aber sie kamen nicht und so haben sie mich am Ende festgenommen." Sinnlose Schläge zur Begrüßung Der Protest endet mit auseinanderrennenden Demonstranten und Schüssen. Khaled landet in Abteilung 215 des Militärgeheimdienstes, einem berüchtigten Foltergefängnis. "Bei der Begrüßung gab es eine "Willkommensparty", so nennen sie das. Das Haftzentrum liegt im 6. Stock. Wir mussten die Treppen hochgehen und auf jeder Stufe stand ein Offizier und schlug auf uns ein. Mit elektrischen Schlagstöcken, Knüppeln – mit allem was du dir vorstellen kannst. Das war ihre "Folterparty" auf sechs Stockwerken. Schläge ohne Sinn." Bundesrepublik erkennt das sogenannte Weltrechtsprinzip an Was der 28-jährige Student der Ingenieurwissenschaften während seiner Gefangenschaft erlebte, wird er womöglich bald einem deutschen Richter erzählen. Denn Khaled ist einer von mehreren Anklägern, die in Deutschland Strafanzeige gegen führende Mitglieder des syrischen Militärgeheimdienstes erstattet haben. Opfer und mutmaßliche Täter sind Syrer, die Verbrechen haben in Syrien stattgefunden – und doch könnte der Fall vor einem deutschen Gericht landen. Denn die Bundesrepublik erkennt das sogenannte Weltrechtsprinzip an, wonach manche Straftaten so schrecklich sind, dass sie die ganze Welt angehen, egal wo sie begangen werden. Dazu zählen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Werden diese weder in dem betroffenen Land noch international juristisch verfolgt, können nationale Gerichte einspringen. Genau das passiert im Falle Syriens. Weil Russland mit seinem Veto im Weltsicherheitsrat den Weg zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag versperrt, klagen erfahrene Juristen jetzt vor Gerichten in Europa. Unter ihnen ist auch der syrische Anwalt Anwar al-Bunni. Syrische Folteropfer wollen Assad verklagen (dpa / Michael Kappeler) "In Syrien gibt es seit 50 Jahren eine Politik der Straffreiheit. Diese Anklagen machen damit endlich Schluss. Jeder syrische Verbrecher weiß jetzt, dass er nicht ungestraft davonkommen wird. Bisher dachten diese Leute, wenn der Krieg vorbei ist, nehmen sie, was sie gestohlen haben, fliehen nach Europa und machen sich ein bequemes Leben. Dieser Traum ist nun geplatzt." Folteropfer über Facebook gesucht Al-Bunni hofft, Haftbefehle gegen die Angeklagten erwirken zu können. Der 58-Jährige ist einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte Syriens. Viele Jahre verteidigte er politische Gefangene vor Gericht, bis er selbst 2006 für fünf Jahre hinter Gitter musste. Sein "Syrisches Zentrum für juristische Forschungen und Studien" greift auf ein Netzwerk von Anwälten in Syrien zurück, die sich für Inhaftierte einsetzen. Für sein Engagement wurde al-Bunni unter anderem mit dem Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes ausgezeichnet. Inzwischen arbeitet Anwar al-Bunni in Berlin. Über Facebook suchte er in Deutschland lebende Landsleute, die Zeugen und Opfer der Gewalt des Assad-Regimes sind und bekam mehr als 100 Antworten. Am Ende blieben 15 Syrer, die überzeugend über die Folter in drei bestimmten Geheimdienstzentralen berichten können und bereit sind, vor einem deutschen Gericht auszusagen. Frauen systematisch erniedrigt Eine von ihnen ist Abir Farhud, Absolventin der Kunsthochschule Damaskus, Bildhauerin und Aktivistin der ersten Stunde. Nach einem Workshop in einem Damaszener Hotel, den syrische Geheimdienstmitarbeiter belauscht hatten, landete sie im Dezember 2012 ebenfalls in Abteilung 215. Jenem Haftzentrum, in dem ein Jahr zuvor Khaled gefoltert worden war, ihr damaliger Mitstreiter und heutiger Mann. "Der Leiter des Gefängnisses lässt alle inhaftierten Frauen in sein Büro kommen, wo sie sich komplett ausziehen müssen. Als ich reinkam, zog das Mädchen vor mir gerade ihre Kleidung wieder an. Er sagte, komm schon, zieh dich aus. Dann hat er mich abgetastet, meine Brüste betatscht. Danach zog ich mich an und wurde in die Zelle gebracht. Die Idee ist, die Frauen zu erniedrigen." Haben Gewalt und Folter erlebt: Frauen mit ihren Kindern im Flüchtlingslager Mädchen im Flüchtlingslager Debaga (Deutschlandradio / Anna Osius) Abir kam in eine Zelle mit 20 anderen Frauen, darunter zwei 17-Jährige und ein 14-jähriges Mädchen mit seiner Mutter. Während ihre Mitgefangenen vor allem körperlich gequält wurden, musste die 30-Jährige psychologische Folter ertragen: Beleidigungen, Verleumdung und Drohungen, die so persönlich und verletzend waren, dass Abir sich manchmal Schläge mit dem Stock statt mit Worten gewünscht hätte, sagt sie. Ihre Strategie, in den insgesamt elf Verhören das dumme naive Mädchen zu spielen, ging auf. Verbrechen seit Langem bekannt "Frauen schlagen sie vor allem auf die Ellbogen und Knie. Ich habe ihnen was vorgespielt und in allem Recht gegeben. "Ja, du hast recht. Ich bin verführt worden. Wir sind Opfer einer Verschwörung." Sie haben mir zwischen Mitternacht und 2 Uhr früh einen Vortrag über die universelle Verschwörung gegen Syrien gehalten." Was Abir, Khaled und die anderen Ankläger erlebt haben, ist seit Langem bekannt. Tausendfach gesammelt von syrischen Dokumentationszentren, nachgewiesen in Berichten internationaler Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen, der Weltöffentlichkeit regelmäßig präsentiert von der UN-Untersuchungskommission zu Syrien. Ihr Koordinator ist James Rodehaver. Tatbestand der Massenvernichtung erfüllt "Das Assad-Regime begeht Kriegsverbrechen in verschiedener Hinsicht, von der Verweigerung von humanitärer Hilfe für Zivilisten bis hin zu dem Angriff auf den humanitären Konvoi vom 19. September 2016, der von der syrischen Luftwaffe absichtlich beschossen wurde. Es gibt willkürliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, eine Strategie des Abriegelns und Aushungerns nach dem Motto 'ergebt euch oder verhungert'. Die syrische Regierung verfügt über eine institutionelle Struktur mit eindeutigen Praktiken von schwerem Missbrauch, Verweigerung von humanitärer Hilfe und unmenschlichen Haftbedingungen, die sämtlich den Tatbestand der Massenvernichtung erfüllen. Damit zählen sie zu den schwersten Verbrechen im Recht der Menschheit." Der Koordinator der UN-Untersuchungskommission zu Syrien, James Rodehaver (links). (imago / Xinhua) Der große schlanke Mann hat ein Team von 25 Mitarbeitern, das seit 2011 Beweise für Menschenrechtsverletzungen in Syrien sammelt. Alle Parteien machten sich schuldig, sagt Rodehaver, aber die Verbrechen des Assad-Regimes würden von staatlichen Stellen befohlen und ausgeführt und seien deshalb systematisch. Geändert hat diese Erkenntnis nichts. Aus Sicht vieler Syrer schauen die Vereinten Nationen dem Massenmord in ihrer Heimat tatenlos zu. Dokumentation kann zu Gerechtigkeit beitragen "Ich verstehe den Frust. Dokumentation ist kein Ersatz für Gerechtigkeit. Sie kann entscheidend zu Gerechtigkeit beitragen, aber jemandem zu sagen, er muss warten, nachdem er auf unmenschliche Weise missbraucht wurde, ist keine beneidenswerte Aufgabe und die Reaktion ist komplett verständlich. Das ändert nichts daran, dass wir das Leid der Opfer dokumentieren. Denn wir waren in den letzten sechs Jahren die einzige UN-Institution mit einem internationalen Mandat, die diese Informationen sammelt. Es war ein Kampf, wir tun, was wir können, aber wir können kein Gericht ersetzen." Immerhin könnten die Vereinten Nationen demnächst nationale Ankläger unterstützen. Im Dezember 2016 beschloss die UN-Vollversammlung die Einrichtung eines Mechanismus, der Beweise für syrische Kriegsverbrechen an zentraler Stelle sammeln und juristische Bemühungen, diese vor Gericht zu bringen, besser koordinieren soll. Ein überfälliger Schritt, meint der britische Rechtsanwalt Toby Cadman. Er fordert seit Jahren eine bessere juristische Zusammenarbeit in Sachen Syrien und kennt viele der gesammelten Beweise. Auch die 55.000 Fotos, die der ehemalige Militärfotograf mit Decknamen "Caesar" im Auftrag des syrischen Regimes aufgenommen und dann aus dem Land geschmuggelt hat. Sie zeigen die Leichname von mehr als 6.700 Gefangenen – abgemagerte, bis zur Unkenntlichkeit geschundene Körper. Leichen mit Nummern versehen "Ich halte mich gerne für eine starke Person und habe mit schrecklichen Fällen in Bosnien, Bangladesch, Libyen und Irak zu tun gehabt. Aber als ich diese Fotos sah, musste ich weinen. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Es ist einfach entsetzlich, das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe. Das ist industrialisierte Folter – Kinder, Frauen, Alte, das sind keine Terroristen, sondern normale Leute. Und es ist absolut erschreckend, wie Menschen so etwas tun können. Und zwar täglich." "Codename Caesar" beschreibt die Methoden in syrischen Foltergefängnissen (AFP/Florian David) Die Fotos könnten entscheidend dazu beitragen, Regimevertreter zur Verantwortung zu ziehen, meint Cadman. Denn an den Leichen der Gefangenen sind Nummern angebracht. Etwas, das selbst Stephen Rapp fassungslos macht. Der amerikanische Staatsanwalt war Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda. Straffreiheit wären Gefahr für Menschenrechtsinstitutionen "Wir hatten keine Beweismittel in Form von Dokumenten wie in Syrien. Selbst in Nürnberg gab es das nicht. Die Nazis hatten den Leichen keine Nummern aufgemalt, sodass man hätte feststellen können, wer sie sind und wann und wo man ihnen das angetan hatte. Um dann herauszufinden, wer für diesen Ort zuständig war – das ist unglaublich! Dieses Regime denkt, es kommt damit davon." Genau das dürfe nicht passieren, meint Rapp. Sollten die Verbrechen in Syrien straffrei bleiben, sieht er sämtliche Abkommen und Institutionen in Gefahr, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Schutz der Menschheit entstanden sind: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Genfer Konventionen, das humanitäre Völkerrecht, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. "Wir haben Regeln etabliert – man greift keine Krankenhäuser oder Krankenwagen an. Hier zielen sie auf Krankenwagen und sie töten jeden Arzt oder medizinischen Helfer! Das ist es, was das Regime in Aleppo gemacht hat. Gewaltverbrechen gegen Kinder, Einsatz von Chemiewaffen, die es nicht mal im Zweiten Weltkrieg gab. Wenn diese schrecklichen Verbrechen straffrei bleiben, dann waren all unsere Bemühungen, diese Regeln durchzusetzen und Machthabern in dieser Welt zu signalisieren, dass sie das nicht tun sollten, bedeutungslos. Dieses Unrecht bedroht uns alle." Neun Anklagen gegen Regime-Vertreter in Spanien Stephen Rapp und seinem britischen Kollegen Toby Cadman ist es gelungen, syrische Kriegsverbrechen vor ein spanisches Gericht zu bringen. Die dortige Anklage basiert auf den Caesar-Fotos, auf denen eine Spanierin mit syrischen Wurzeln ihren Bruder identifiziert hat. Da in Spanien die Verwandten von Verschwundenen selbst als Opfer gelten, kann ein spanisches Gericht aktiv werden. Der Fall des 43-jährigen Bruders der Anklägerin, der in einem Regime-Gefängnis gefoltert und ermordet wurde, habe zu neun teilweise hochrangigen Vertretern des Militärgeheimdienstes geführt, die nun angeklagt sind, erklärt Toby Cadman. Der amerikanische Staatsanwalt und frühere Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, Stephen Rapp. (EPA / Mak Remissa) "Wir argumentieren nicht, dass ein Mann willkürlich verhaftet, verschleppt, gefoltert und hingerichtet wurde, sondern wir reden von einer staatlichen Politik. Es handelt sich im Grunde um Staatsterrorismus. Und das ist es, was wir vor Gericht bringen wollen, indem wir zeigen, dass das eine Politik ist, die von oberster Stelle der syrischen Regierung beschlossen wurde." Auch Täter nach Deutschland geflüchtet Der Fall in Spanien gilt als wegweisend, weil der zuständige Richter das Verfahren Ende März eröffnet und Ermittlungen eingeleitet hat. In Deutschland steht die Entscheidung der Bundesanwaltschaft noch aus. Dabei versprechen sich Strafverfolger gerade von der Bundesrepublik viel. Nicht nur wegen des erwähnten Weltrechtsprinzips, sondern wegen der vielen hier lebenden Opfer und Zeugen. Eine halbe Million Syrer sind seit 2011 nach Deutschland geflohen – darunter Tausende, die in ihrer Heimat Gewalt miterlebt haben und bezeugen könnten. Allerdings haben es auch Täter nach Deutschland geschafft. Bislang landen jedoch nur Dschihadisten vor deutschen Gerichten. Milizionäre des Regimes leben hierzulande unbehelligt. Der syrische Rechtsanwalt Anwar al-Bunni erklärt warum. "Mitglied des IS oder der Nusra-Front zu sein, ist an sich schon ein Verbrechen, weil beide Gruppen international als Terrororganisationen gelten. Du brauchst also keinerlei Beweise für eine Straftat, denn allein die Mitgliedschaft reicht, um Anklage zu erheben. Dagegen ist das Assad-Regime international nicht als terroristisch eingestuft. Ein Milizionär des Regimes muss deshalb ein konkretes Verbrechen begangen haben, für das du Beweise und Zeugen haben musst." Prozesse senden eine doppelte Botschaft Al-Bunni schätzt die Zahl der nach Europa geflüchteten Regime-Milizionäre auf etwa 1.000. Sie vor Gericht zu stellen, sei ein großes Anliegen der Syrer, sagt der Rechtsanwalt. Viele fänden es unerträglich, dass ihre Peiniger hier Asyl genießen. Umso wichtiger seien die bevorstehenden Prozesse gegen hochrangige Geheimdienstvertreter, betont Kollege Cadman. Denn diese sendeten eine doppelte Botschaft: Ein Zeichen der Zuversicht an die Opfer, dass ihr Leid nicht vergessen ist und sie auf Gerechtigkeit hoffen können. Und eine Warnung an die Täter, dass sie nicht straffrei davonkommen werden. Nebenbei könnten die Syrer in Europa lernen, wie rechtsstaatliche Prozesse funktionieren, sagt der britische Anwalt. Denn die zukünftige Aufarbeitung der Kriegsverbrechen wird zum allergrößten Teil in den Händen der Syrer selbst liegen. Syrische Rechtsinstitutionen fehlen "Selbst wenn es irgendwann ein internationales Tribunal geben sollte, die große Mehrheit dieser Fälle wird von Syrern behandelt werden müssen. Alle reden vom Dokumentieren und Beweise sichern, was richtig und wichtig ist. Aber wir müssen nebenbei die Institutionen aufbauen. Denn wenn dieser Konflikt irgendwann endet, dann brauchen die Syrer diese Institutionen und sie werden bei null anfangen." Zwar gibt es in Syrien gut ausgebildete Juristen, aber die Praxis fehlt. Welche Fragen stellt man einem Verhafteten, wie wendet man Gesetze an, welche Verfahren gilt es dabei einzuhalten? Anwar al-Bunni ist sich dieser Herausforderung bewusst. Der syrische Anwalt plant, in Europa lebende Kollegen auszubilden, um für die entscheidende Phase der Übergangsjustiz vorbereitet zu sein. Übergangsjustiz soll für Gerechtigkeit sorgen "Bei der Übergangsjustiz geht es nicht um Rache, sondern darum, den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen. Syrien lässt sich nicht mit Unterwerfung und Siegerjustiz wiederaufbauen, sondern nur mit Gerechtigkeit und Vergebung. Wenn die Opfer spüren, dass sie recht bekommen und ihr Leiden anerkannt wird, können sie vielleicht verzeihen. Ziel der Übergangsjustiz ist es nicht, alle zu verurteilen, die sich strafbar gemacht haben, sondern die Verantwortlichen für die großen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen." Al-Bunnis Mitankläger Khaled hat das längst begriffen. Er wolle keine Rache, nur Gerechtigkeit, sagt er. Viele seiner früheren Mitstreiter sind tot, verhaftet oder verschwunden, wer konnte, hat sich in Sicherheit gebracht und Syrien verlassen. Im Land gebe es kaum noch Möglichkeiten für ziviles Engagement, erzählt seine Frau Abir. Denn der zivile Widerstand werde zwischen dem staatlichen Terror Assads und dem nicht-staatlichen Terror der Dschihadisten aufgerieben. Für das junge Paar ist die Anklage in Deutschland deshalb die Fortsetzung der Revolution, die sie 2011 begonnen haben. Vor einem deutschen Gericht auszusagen sei das Mindeste, was sie als Aktivisten derzeit tun könnten, sagen Abir und Khaled. Hoffen auf Gerechtigkeit "Ich habe keine große Hoffnung, dass diese Anklage Erfolg hat. Aber wir müssen das tun, für uns und für alle jene, die denken, Syrien bestehe nur aus Extremisten. Es gibt uns noch, die friedliche Zivilgesellschaft. Und wir fordern weiterhin Freiheit, Demokratie und einen Rechtsstaat." "Die Syrer haben ihren Glauben an alles Zivile verloren. Wie soll ich von diesen verzweifelten Leuten fordern, sich bitteschön nicht zu radikalisieren? Diese Anklage ist nur ein kleiner Schritt, aber er ist Teil eines Heilungsprozesses, der Hoffnung gibt auf Gerechtigkeit."
Von Kristin Helberg
Weil Russland mit seinem Veto Klagen gegen das syrische Regime vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhindert, haben syrische Flüchtlinge beim Karlsruher Generalbundesanwalt Strafanzeige wegen systematischer Folter in ihrem Heimatland gestellt. Ihre Hoffnung ist, dass den Tätern des Assad-Regimes doch noch der Prozess gemacht wird.
"2017-04-26T18:40:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:58.062000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/assads-regime-syrische-folteropfer-hoffen-auf-europaeische-100.html
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Swoboda: EU-Länder haben versagt
Bettina Klein: Im Streit um Sozialleistungen für arbeitslose Einwanderer aus der Europäischen Union ist die EU-Kommission um Klarstellung bemüht. Sie hat die Debatte gestern zu entschärfen versucht durch einige präzisierte Kriterien für die Vergabe von Sozialleistungen in der EU. Am Telefon begrüße ich den österreichischen Sozialdemokraten Hannes Swoboda. Er ist Vorsitzender seiner Fraktion im Europaparlament. Guten Morgen! Hannes Swoboda: Schönen guten Morgen, Frau Klein. Klein: War die Klarstellung gestern der EU-Kommission ausreichend? Swoboda: Ich hoffe, dass es ausreichend war. Es ist natürlich immer eine konkrete Praxis und vor allem liegt es an den Ländern, jetzt die Bedingungen klarzumachen und allen Verwaltungseinheiten in den Gemeinden etc. auch zu vermitteln und klarzustellen, dass es keine unbegrenzte Möglichkeit gibt, hier Sozialfonds oder Sozialmittel anzuzapfen. Klein: Sie äußern Hoffnung, aber sicher sind Sie sich nicht? Swoboda: Es liegt an den Ländern. Wir haben viele Länder, wo es überhaupt kein Problem gegeben hat. Das ist doch mehr ein politisches Problem. Und wenn ich mir die Zahlen anschaue: Der Europäische Sozialfonds wurde in den letzten Jahren zu 50 Prozent nur genutzt, von Deutschland auch nur zu 63 Prozent. Man hätte daher bei der Armutswanderung, die es in einige Städte gegeben hat – und das hat es gegeben, auch nicht im großen Ausmaß, aber immerhin -, diese Sozialmittel abrufen können, um dort Abhilfe zu schaffen. Klein: Wie steht Deutschland denn insgesamt in der ganzen Diskussion da? Ist denn die Debatte, die in der EU und jetzt auch bei der EU-Kommission noch einmal erneut für Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist das ein spezifisch deutsches Problem nach Ihrer Meinung? "Nur Europa kann die Lösung bringen" Swoboda: Nicht ein spezifisch deutsches Problem. Es gibt einige Länder, die das groß aufgebracht haben, es gibt andere Länder, wo das überhaupt kein Problem darstellt. Aber entscheidend ist, dass nur Europa die Lösung bringen kann. Wenn Rumänien und Bulgarien und die anderen Länder ihre Sozialfonds-Mittel abrufen und mehr tun für die Integration zum Beispiel der Roma und Sinti, wenn auf der anderen Seite auch Deutschland, Großbritannien und so weiter die Mittel abrufen, die ihnen zur Verfügung stehen von der Europäischen Union und die Mittel dort einsetzen, wo es notwendig ist, dann hätten wir das Problem nicht. Aber jeder schaut nur auf sich, jeder macht ein großes Bohei, anstatt dass man die Mittel, die am Tisch liegen, verwendet, um die ärmeren Menschen in unserem Kontinent zu integrieren. Klein: Ist die Lage, die wir jetzt haben, Herr Swoboda, eigentlich unvermeidlich gewesen? Swoboda: Absolut nicht, wenn man seit Jahren darauf geschaut hätte, dass die Integration funktioniert. Und es gibt viele gute Beispiele, ich habe die selber besucht, wo die Integration funktioniert. Es gibt andere Regionen, wo sie aber nicht funktioniert, wo die Mittel nicht abgerufen werden, wo der politische Wille fehlt für die Integration. Dann hätte man das Problem längst lösen können, zumindest in dem Ausmaß, dass es kein politisches Problem geworden wäre. Klein: Herr Swoboda, die Rechtslage ist doch aber weiterhin offen. Wir haben europäisches Recht und wir haben das Recht in den nationalen Mitgliedsstaaten, und erst wenn auf europäischer Ebene der erwartete Gerichtsbeschluss fallen wird, dann wird es Klarheit geben. So lange also müssen wir mit einer Hängepartie rechnen? Swoboda: Es entscheiden immer die Gerichte zuletzt. Aber ich glaube, wir haben viele Länder, die überhaupt kein Problem haben, die die Mittel verwendet haben, wo die Integration funktioniert, wo man aber auch klar und deutlich gesagt hat – und das muss auch weiter so bleiben -, es kann nicht sein, dass jemand nur aus den Gründen, um Sozialmittel zu empfangen, in ein anderes Land geht. Das ist durchaus möglich, das zu verhindern und diese Dinge klarzustellen. Klein: Wir können jetzt lesen, dass sich Deutschland in gewisser Weise selbst in diese Lage, die jetzt von einigen beklagt wird, gebracht hat, indem nämlich die Leistung Hartz IV in Europa als Arbeitsmarktinstrument deklariert wurde, nicht als Sozialleistung, und Arbeitsmarktinstrumente müssen in einigen der umstrittenen Fälle gewährt werden, Sozialleistungen nicht. Ein Teil der Unsicherheit und des Problems hat die Bundesregierung auch nach Ihrer Ansicht selbst verursacht? Swoboda: Es ist in den meisten Fällen so, dass die Länder selber die Regelung so getroffen haben, dass sie zweifelhaft sind, und das gilt auch in diesem Fall für die Bundesregierung. Das muss man halt in Deutschland klarstellen, man muss vielleicht eine Änderung herbeiführen. Klein: Das wäre noch möglich? Swoboda: Das ist sicherlich möglich, absolut! Es gibt überhaupt keinen Grund, warum das nicht möglich wäre. Mitgliedsstaaten müssen Lösung der Probleme "aus Europa herausholen" Klein: Herr Swoboda, Sie haben die Städte und Gemeinden angesprochen und auch die Sorgen und Nöte, die dort artikuliert werden, wegen des Finanzmangels. Sie haben angesprochen, dass bestimmte EU-Gelder noch gar nicht abgerufen wurden. Wenn wir noch mal auf die Debatte schauen und vielleicht auch von Ihnen aus mit einem Politiker aus Österreich auf die deutsche Debatte schauen: Ist es nicht wichtig, auch die Sorgen und Nöte dort ernst zu nehmen, wie das Ihr Parteikollege Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, gesagt hat? Swoboda: Natürlich muss man sie ernst nehmen. Ich war einer der ersten Europapolitiker, der auch in Duisburg war, der sich das vor Ort angeschaut hat, auch mit den Leuten gesprochen hat, auch mit den besorgten Bürgern rundherum. Nur frage ich mich: Warum hat die deutsche Bundesregierung damals, als das Problem begonnen hat, nicht die Gemeinden und die Städte unterstützt, wo es diese Probleme gegeben hat? Denn es ist ja nicht so: Die Armen wandern ja nicht zu in die reichen Regionen, sondern die Armen wandern in ärmere Regionen zu, wie das zum Beispiel in diesem Fall der Fall ist. Warum hat die deutsche Bundesregierung oder die zuständigen Stellen nicht die europäischen Sozialfonds-Mittel abgerufen, um dort in dieser Region zu helfen? Es sind immer die Länder, aber es ist nicht nur Deutschland, auch andere Länder. Es sind immer die Länder, die die Hauptverantwortung tragen, und allzu leicht ist es dasselbe Spiel: Brüssel ist schuld. Die europäische Einigung muss man sich anders vorstellen, als sie jetzt da ist. Die einzelnen Mitgliedsländer müssen das aus Europa herausholen, finanziell, aber auch natürlich inhaltlich, was zu einer Lösung der Probleme führt. Das gilt für Deutschland und für Rumänien, für Bulgarien, für die Slowakei, für Österreich, für all die Länder. Alle haben hier zu einem großen Teil versagt. Klein: In der Kritik steht nun allerdings tatsächlich die EU-Kommission auch deswegen, weil sie, abgestimmt oder nicht, missverständlich oder nicht, vergangene Woche angedeutet hat, dass die Art und Weise, in der in Deutschland verfahren wird, nicht mit EU-Recht wahrscheinlich kompatibel sei. Da ist man ein bisschen zurückgerudert und hat wiederum auf die nationalen Interessen dann verwiesen. Aber können Sie verstehen, dass das auch zu Unmut hier geführt hat? Swoboda: Das kann ich verstehen. Die EU-Kommission hat ja auch wie in vielen Fällen einfach vom grünen Tisch oder am grünen Tisch eine Erklärung abgegeben. Man muss sich die Dinge anschauen. Ich hätte mir gewünscht - Kommissar Andor kommt ja jetzt auch in die deutschen Städte -, das hätte man schon längst gemacht, um auch den Dialog zu führen. Wir müssen auch mit den besorgten Bürgern den Dialog führen. Das hat keinen Sinn, nur auf Paragrafen zu verweisen und Grundsätze und Prinzipien. Wir müssen mit allen den Dialog führen, mit den Roma genauso wie mit denen, die Angst haben, dass ihr Quartier, ihre Region, wo sie wohnen, übervölkert wird jetzt plötzlich durch einen Zuzug von massenhaften Bürgern aus anderen Ländern. Dieser Dialog muss geführt werden, sonst kann Europa nicht funktionieren. Mit besorgten Bürgern und Zuwanderern Dialog führen Klein: Die teils in Deutschland sehr scharfen Töne, die wir gehört haben in der Debatte in den vergangenen Wochen, wurden auch zurückgeführt auf Befürchtungen, bei der bevorstehenden Europawahl im kommenden Mai könnten populistische, rechtspopulistische Parteien wie auch immer viele, viele Stimmen auf sich ziehen wegen dieser unklaren Lage und wegen einiger Befürchtungen. Können Sie vor dem Hintergrund verstehen, dass man den Ton anzieht und versucht, auch Wähler an den Rändern zu binden? Swoboda: Nein, absolut nicht, weil die Leute gehen immer dann zu den extremen Parteien, wenn diese Probleme so aufgeworfen werden. Das nutzt nichts, Stimmung zu machen durch extremistische Aussagen, durch Aussagen, die absolut nicht mit der Realität stattfinden. Wenn man sieht, wie viele Leute aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland gekommen sind, dann ist das im Verhältnis zur Bevölkerung viel geringer als in vielen anderen Ländern, und in Bayern schon gar. Das heißt, ich halte überhaupt nichts davon, Stimmung anzuheizen, sondern man sollte die Dinge lösen, und das hätte man schon vor Jahren können, denn das Problem – ich habe ja im Deutschen Städtetag referiert – ist ja nicht neu. Das Problem liegt ja schon seit zumindest zwei Jahren auf dem Tisch. Es ist besser, die Dinge rechtzeitig zu lösen und Änderungen herbeizuführen, die notwendig sind, als laut aufzuschreien mit extremistischen Tönen, die eigentlich nur die Stimmung anheizen, ohne eine Lösung zu bringen. Klein: Der sozialdemokratische Europapolitiker Hannes Swoboda heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Swoboda. Swoboda: Bitte sehr! Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hannes Swoboda im Gespräch mit Bettina Klein
Um bei Armutsmigration Abhilfe zu schaffen, müssten die europäischen Länder die vorhandenen Mittel aus den EU-Sozialfonds abrufen, fordert der sozialdemokratische Europapolitiker Hannes Swoboda im DLF. Die Länder trügen dafür die Hauptverantwortung.
"2014-01-14T07:15:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:39.097000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/diskussion-um-armutsmigration-swoboda-eu-laender-haben-100.html
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Charlie Hebdo: "Die ersten Opfer des islamischen Faschismus sind die Muslime"
Titelbild der Ausgabe des französischen Satiremagazins "Charlie Hebdo" vom 14. Januar 2015 ( picture alliance / dpa) "Wir danken von Herzen all jenen - seien sie nun einfache Bürger oder Vertreter der Institutionen - die wahrhaft an unserer Seite stehen und die aufrichtig 'Charlie' sind. Und die anderen, die ohnehin darauf pfeifen, die können uns mal." "Wir hoffen, dass von jenem 7. Januar 2015 an die Verteidigung der Laizität für die ganze Welt selbstverständlich ist. Sie allein erlaubt es, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit auszuüben. Sie allein gewährleistet die volle Gewissensfreiheit - eine Freiheit, die immer dann von Religionen verweigert wird, wenn sie den Bereich des strikt Privaten verlassen und sich hinab in die Politik begeben. Sie allein ermöglicht es - ironischerweise - den Gläubigen und den anderen, in Frieden zu leben. (...)Die ersten Opfer des islamischen Faschismus sind die Muslime". Die Auszüge wurden in der DLF-Nachrichtenredaktion ins Deutsche übertragen. Ein Blick in die erste "Charlie-Hebdo"-Ausgabe nach dem Pariser Anschlag (dpa / picture alliance /MAXPPP)
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Die erste Ausgabe von Charlie Hebdo nach den Anschlägen ist erschienen - in Frankreich war das Satireblatt trotz Millionenauflage in kürzester Zeit ausverkauft. Die Redaktion nennt das Blatt "die Zeitung der Überlebenden". Der Deutschlandfunk dokumentiert für Sie einen Auszug aus dem Leitartikel von Chefredakteur Gérard Biard.
"2015-01-14T11:42:00+01:00"
"2020-01-30T12:16:54.545000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-dokument-charlie-hebdo-die-ersten-opfer-des-100.html
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Bartsch (Linke): "Unsere Aufgabe ist hier, eine Alternative aufzuzeigen"
Hat die Linke genug alternative Angebote? (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
Küpper, Moritz
Dietmar Bartsch sieht angesichts der hohen Umfragewerte der AfD auch eine Mitverantwortung seiner Partei. Der Linken-Fraktionschef sagte im Dlf, man müsse sich an die eigene Nase fassen und einen Beitrag dazu leisten, dass der Aufstieg der AfD ende.
"2023-06-05T08:15:00+02:00"
"2023-06-05T08:37:42.148000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-dietmar-bartsch-linke-fraktionschef-zu-linksextremismus-dlf-633fc299-100.html
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Der hohe Preis für Elektroautos und Smartphones
Im Kongo lagert rund die Hälfte der weltweiten Reserven des wertvollen Rohstoffs Kobalt - abgebaut wird es teilweise von Kindern (AFP / Junior Kannah) Serge Nikumuzinga stapft durch das hohe Gras hinter seinem Dorf Mukoma. Nur ein paar Dutzend Meter von den einfachen Häusern aus ungebrannten Lehmziegeln mit Wellblechdächern entfernt ist ein tiefes, völlig überwuchertes Loch. Der junge Mann biegt das Grünzeug zur Seite und legt einen ungesicherten Schacht frei. Aus den bröckelnden Wänden ragen ein paar dickere Steine – ein wackeliger Halt für Hände und Füße beim Einstieg. "Hier haben wir Kobalt abgebaut. Aber dann sind wir auf Grundwasser gestoßen. Da ist noch Kobalt, aber das Abpumpen ist zu teuer." Mini-Minen wie diese gibt es überall im Süden der Demokratischen Republik Kongo. Verlassene und sehr aktive. Die ganze Region Katanga liegt auf reichen Metallvorkommen - Kupfer und vor allem Kobalt. Im Kongo lagert rund die Hälfte der weltweiten Reserven des wertvollen Rohstoffs. Die Nachfrage nach Kobalt ist natürlich riesig, erklärt Shiraz Virji, der Gründer des größten kongolesischen Bergbau-Unternehmens Chemaf. Das unscheinbar silbrig-graue Metall ist unverzichtbar für die Herstellung von wieder aufladbaren Batterien und damit für Handys, Laptops oder Tablets. Die Debatte um Klimawandel und der Hype um Elektroautos haben einen neuen Nachfrageschub gebracht. Für ihre Batterien brauchen sie Kobalt. Und das kommt vor allem aus Katanga. Die Debatte um Klimawandel und der Hype um Elektroautos haben einen neuen Nachfrageschub nach Kobalt gebracht (Imago) "Neuerdings gibt es eine große Debatte über so genanntes sauberes Kobalt, das heißt Kobalt, das ethisch produziert wurde. Vor allem ohne Kinderarbeit, das ist ein ganz großes Thema." So Shiraz Virji. Der Kongo – eines der an Rohstoffen reichsten Länder der Welt – ist berüchtigt für die katastrophalen Bedingungen, unter denen sie abgebaut werden. Mineralien im Garten Berufsverkehr in Kolwezi. Autos, Busse, Lastwagen quälen sich langsam um eine scharfe Kurve. Die vierspurige Straße endet an einer Barrikade. Dahinter liegt ein LKW umgestürzt in einem Loch im Asphalt. Ein Teil der Ausfallstraße aus der selbsternannten Kobalthauptstadt der Welt ist gesperrt: Einsturzgefahr. Unzählige Tunnel von selbstgegrabenen Minen mitten in der Stadt haben die Fahrbahn unterhöhlt. "Im Stadtteil Kasulu sind die Kleinminen in den Wohnvierteln. Die Leute in den Häusern fangen gleich nach dem Aufstehen an, auf ihrem eigenen Grundstück zu graben. Dort finden sie die Mineralien und bauen sie ab." Unter katastrophalen Bedingungen, sagt Nicole Masanze von der Hilfsorganisation World Vision. Ohne Helme oder Schutzkleidung, ohne Atemmasken gegen den Staub und ohne Sicherung. Jeder Abstieg ist ein halsbrecherischer Akt. Tödliche Unfälle sind der Alltag Francois quetscht sich zwischen zwei dicken Holzbalken hindurch in ein dunkles Loch im Boden. Vorsichtig hangelt er sich in den schmalen Schacht - gerade breit genug, um sich hindurchzuzwängen. "Langsam", sagen seine Kumpel, bevor sie ihm in die Tiefe folgen. Mit Händen und bloßen Füßen klammern sie sich an winzige Vorsprünge in dem rau behauenen Stein. Der einzige feste Halt ein Seil, das an die Holzbalken oben geknüpft ist. "Wir wollen diese Arbeit nicht machen, aber wir machen sie, weil es keine anderen Jobs gibt." François bearbeitet das Gestein mit Hammer und Meißel – oft auf dem Rücken liegend in der klaustrophobischen Enge unter der Erde. Die selbst gegrabenen Schächte sind zehn, 20, manchmal bis zu 50 Meter tief. Tödliche Unfälle sind Alltag, sagt Arcel. "Einige meiner Kumpel sind in diesen Löchern gestorben. Aus den Wänden fallen manchmal Steine auf einen runter. Man braucht Glück, um da wieder lebendig rauszukommen." Wie viele Schürfer kein Glück haben und in der Tiefe sterben, weiß niemand genau. Aber das Risiko schreckt die wenigsten ab. Sebastian Vetter ist Geologe für die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Katanga: "Man muss vielleicht verstehen, dass jemand, der im Kleinbergbau arbeitet, am Tag wesentlich mehr verdienen kann, wenn er denn die entsprechende Arbeitsleistung bringt und ein entsprechendes Vorkommen findet, als jemand, der z.B. in der Landwirtschaft tätig ist." "In den Minen kannst Du viel Geld verdienen" Grundsätzlich sind Kleinminen legal im Kongo. Ein Minencode schreibt vor, dass sich jeder Schürfer registrieren lassen muss und nur in ausgewiesenen Zonen graben darf. Es gibt Vorschriften über Sicherheit, Arbeits- und Umweltschutz und ein striktes Verbot von Kinderarbeit. Theoretisch, sagt Nicole Masanze. "Das ist der offizielle Standpunkt. Aber das Problem ist die Umsetzung des Gesetzes." Praktisch kennen die wenigsten Schürfer die Vorschriften oder sie ignorieren sie einfach. Nach den gefährlichen illegalen Minen muss man nicht in versteckten Ecken suchen – sie sind überall. Wenn die Behörden doch mal welche schließen wollen, gibt es ganz schnell Krawall. Und auch das Verbot der Kinderarbeit steht nur auf dem Papier. Arcel z.B. war 13, als er seinen älteren Brüdern in die Minen gefolgt ist. "Ich hatte keine andere Beschäftigung. Meine Brüder haben mir gesagt, in den Minen kannst Du viel Geld verdienen. Deshalb habe ich dort angefangen." Zweieinhalb Jahre hat er unter der Erde geschuftet, bis World Vision ihm eine Ausbildung zum Schweißer finanziert hat. Das Trainingsprogramm ist Teil des Projektes ProMines, mit dem die kongolesische Regierung die Situation in den Bergbaugebieten verbessern will. Das Geld dafür kommt von der Weltbank. Die Arbeit vor Ort machen verschiedene Hilfsorganisationen. "Zu Beginn des Projekts haben wir fast 10.000 Kinder in den Minen aufgespürt. Wir kümmern uns um neun Standorte. Seither haben wir 1.200 Kinder da rausgeholt", sagt Florence Mambo, die Direktorin für den Süden des Kongo bei World Vision. Ein Erfolg, aber nur ein Anfang. In der gesamten Region Katanga arbeiten bis heute konservativen Schätzungen zufolge mindestens 22.000 Kinder im Kobaltabbau. Zutritt für Journalisten gesperrt – für Kinder nicht Kampagnen wie diese und die Negativschlagzeilen über die Zustände in den Kobaltminen haben die kongolesische Regierung unter Zugzwang gesetzt. Sie betont gegenüber internationalen Organisationen immer wieder: "Dass es vor allem auf nationalem Level ein sehr, sehr großes Interesse gibt, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Weil man eben diese Erfahrung hat aus dem Osten des Kongo, dass enorme Reputationsrisiken für den kongolesischen Bergbausektor bestehen." So Sebastian Vetter von der BGR. Der Provinzgouverneur in Kolwezi macht es sich da offenbar leichter. Er versucht, den ramponierten Ruf seiner Bergbauregion zu verbessern, indem er die Berichterstattung verhindert. Trotz stundenlanger Wartezeit will niemand von der Provinzregierung etwas zu Kleinminen oder Kinderarbeit sagen. Und die Betroffenen sollen eigentlich auch nicht reden. Eine holprige Nebenstraße am Stadtrand von Kolwezi führt zu einem Feld mit Kobaltminen. Der Eingang wird bewacht von speziellen Minenpolizisten. Am Schlagbaum steht ein großes Schild: Zutritt für Kinder und schwangere Frauen streng verboten. Für Journalisten ist die Reise hier zu Ende. Die Minenpolizisten haben strikte Anweisung vom Gouverneur, lästige Reporter von den Kleinminen fernzuhalten. Der Zutritt für Kinder ist weniger schwierig. "Wenn Du ihnen etwas zahlst, lassen sie Dich durch. So 2.000 Francs. Wenn ich 3.000 verdiene, bleiben mir dann nur noch 1.000 Francs." Ungefähr 1,50 Euro – eine winzige Summe für einen ganzen Tag harter Arbeit. Die 13-jährige Patricia hat in einer solchen Minenzone Kupfer und Kobalt gesammelt. Ein Labyrinth aus ungesicherten Löchern im Boden. Ein Freund ist in eins der Löcher gefallen und gestorben, erinnert sie sich. Angst hatte sie danach schon, aber sie musste in die Minen zurück, um ihre Familie zu unterstützen. Genau wie Alfonse. Er hat mit elf angefangen, Kobalt zu schürfen. "Damals war mein Vater sehr krank und konnte nicht arbeiten. Er war nicht glücklich, dass ich in die Minen gegangen bin, aber ich musste, damit wir überleben konnten. Seit es ihm besser geht, arbeitet er wieder in den Minen, und ich gehe zur Schule." Zwangsumsiedlungen wegen industriellen Bergbaus Die katastrophalen Zustände in den Kleinminen bedrohen die gesamte Branche, obwohl dort nur etwa 15 bis 20 Prozent des Kobalts in Katanga zu Tage gefördert werden. 80 Prozent stammen von industriellen Bergbaukonzernen. Sebastian Vetter von der BGR: "Die großen Produzenten, die Kobalt produzieren im Kongo, sind natürlich internationale Unternehmen, die nach internationalen Standards arbeiten. Betreffend Umwelt, Arbeitssicherheit, aber auch Produktionsqualität." Lebensgefährliche Arbeitsbedingungen oder Kinderarbeit gibt es in den Industrieminen nicht. Aber die riesigen Tagebau-Gruben verschlingen gewaltige Flächen Land und verursachen andere Probleme. Ein paar Vögel zwitschern in den Bäumen, sonst ist es still auf dem Hügel im Niemandsland außerhalb von Kolwezi. Ein gutes Dutzend schmucker Häuser steht am Hang über einem malerischen, tief eingeschnittenen Flusstal. Die Häuser sind erst anderthalb Jahre alt, solide gebaut und säuberlich weiß verputzt. Auf den ersten Blick ein perfekter Ort für eine Siedlung. "Sie haben die Häuser gebaut, aber es gibt hier keinen Strom, kein Wasser, kein Krankenhaus. Wir sind viel zu weit weg von der Stadt." Noeli Mwima und ihre Nachbarn haben früher in Kasulu gelebt – bis ein chinesischer Konzern eine Minenkonzession dort gekauft hat, sagt sie. Alle Häuser auf dem künftigen Tagebau mussten weg. "Sie haben uns die Wahl gelassen: Entweder eine Entschädigung in Bargeld oder ein neues Haus woanders. Für ein Haus mit fünf Zimmern z.B. hätten sie 2.500 Dollar bezahlt. Aber dafür kann man kein anderes Haus kaufen. Deshalb haben wir uns für das neue gebaute Haus entschieden und leben jetzt hier." Eine Entscheidung, die Noeli Mwima längst bitter bereut hat. Wasser ist das größte Problem. Zwischen den neuen Häusern steht eine Motorpumpe, aber keiner in der winzigen Siedlung hat Geld für den Treibstoff. Eine Handpumpe daneben war schon nach einem Tag kaputt. "Als wir hergekommen sind, haben sie uns eine Menge versprochen: Sie wollten uns Wasser- und Stromanschlüsse geben. Aber bis heute haben sie gar nichts getan. Wir müssen Wasser aus dem Fluss holen. Aber an den Ufern stehen Fabriken, die ihren Unrat da reinleiten. Dieses Wasser müssen wir trinken." Und das vermutlich für eine lange Zeit. Die Bewohner sitzen in ihrer hübschen Siedlung fest - weil keiner genug Geld hat, woanders neu anzufangen. Solche Fälle beschädigen auch den Ruf der großen Kupfer- und Kobaltproduzenten. Sein Konzern Chemaf macht das anders, beteuert Shiraz Virji: "Wir geben ein bis zwei Prozent unserer Umsätze sofort an unsere Abteilung für Soziales. Wir haben eine Menge soziale Programme. Schulbildung und Wasserversorgung gehören zu unseren Prioritäten. Wir pumpen so viel sauberes Trinkwasser wie möglich zu den Häusern in der Gegend. Wir tun, was wir können." Die ganze Region Katanga liegt auf reichen Metallvorkommen - Kupfer und vor allem Kobalt (picture alliance / dpa / Xinhua / Landov) "Vor allem die Kinder in den Minen werden ausgebeutet" Derzeit bereitet der Konzern die Ausbeutung der Mutoshi-Mine bei Kolwezi vor. Auf dem Gelände gibt es eine ganze Reihe Dörfer, deren Bewohner in der Mehrzahl vom Kobaltschürfen leben. Illegale Kleinminen durchlöchern auch hier die ganze Gegend. "Wir wollen, dass sie gehen, aber über einen längeren Zeitraum, in dem sie lernen können, etwas anderes zu tun. Denn viele von ihnen können gar nichts anderes. So lange kaufen wir ihnen ihr Kobalt ab. Wir können ihnen schließlich nicht ganz plötzlich sagen, 'verschwindet von hier'." Die gefährlichen selbstgebuddelten Löcher müssen allerdings sofort weg. Chemaf hat einen Bereich auf seiner Konzession abgezäunt, in dem die Schürfer Kobalt abbauen können, ohne ihr Leben zu riskieren. "Um dahin zu kommen, muss man an Kontrolleuren vorbei. Man kann nicht mehr einfach auf eigene Faust losziehen, sondern braucht einen Ausweis. Erst dann darf man rein und schürfen", sagt Serge Nikumuzinga aus dem Dorf Mukoma am Rand der neuen Mine enttäuscht. Registrierung und Schutzkleidung kosten 40.000 Franc, gut 20 Euro. Die kann oder will er nicht bezahlen. Aber von seinen Möglichkeiten für alternative Jobs hält er auch nicht viel: "Da bleiben nur noch die Landwirtschaft und der Holzkohleverkauf. Was sollen wir sonst machen, wenn sie uns nicht mehr ohne Genehmigung auf die Konzession lassen? Wir müssen etwas anbauen oder Kohle herstellen, um zu überleben." Mittlerweile haben einige Bergbaubaukonzerne auf ihren Konzessionen Bereiche eingerichtet, wo Kobalt-Schürfer sicher arbeiten können. Allerdings sind das bei weitem nicht genug. Eigentlich keine Arbeit für Frauen Der Wind wirbelt den Staub aus einer völlig kahlen Mondlandschaft auf. Der riesige Industrie-Tagebau in Kolwezi ist fast menschenleer. Kupfer und Kobalt werden hier mit schweren Maschinen abgebaut. Die Industriemine ist von hohen Abraumhalden umgeben. Die sind durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Schürfer buddeln Sand und Geröll aus der Halde und schleppen die Ausbeute in Säcken den Hang herunter zu einem halb ausgetrockneten See - zum Waschen und Sortieren. Vanessa Umbakaso hat als Teenager dort gearbeitet. "Das ist harte Arbeit und nichts für Frauen. Ich hab immer gefroren und war ständig krank. Es gab eine Menge Gewalt. Die Schürfer haben uns oft verprügelt." Dutzende Menschen stehen tief gebeugt in der schmutzigen Brühe - alte Männer, Frauen und Kinder. Unermüdlich füllen sie Geröll in große Eimer und spülen den Sand von den dickeren Steinen. Im Abraum sind noch genug Mineralien – man muss sie nur finden. "Wenn Du frisch anfängst, sagen Dir die erfahrenen Schürfer, was Du machen musst. Sie zeigen Dir, welche Farbe die Mineralien haben und wie totes Gestein aussieht." Kobaltoxid ist schwarz, Kupferoxid grün. Greta Kasongo hat fünf Jahre lang Steine gewaschen und sortiert, seit sie zwölf war. Heute tut sie das nicht mehr und kann deshalb reden. Am See gibt es zwar keine Minenpolizei, aber zwei mächtige Kooperativen, die das Sagen haben. Journalisten sind nicht willkommen, Interviews völlig ausgeschlossen. "Mit dieser harten Arbeit habe ich am Ende eines Tages weniger als 5.000 Franc verdient." Rund 2,50 Euro, erinnert sich Vanessa. Die grünen und schwarzen Stücke, die vereinzelt zwischen dem grauen Gestein aufblitzen, sind winzig. Es dauert ewig, bis ein großer Sack voll ist – und bezahlt wird. Frauen und Kinder bekommen am wenigsten, erklärt Florence Mambo von World Vision: "Von ihnen kauft keiner zu gerechten Preisen. Vor allem die Kinder in den Minen werden ausgebeutet. Weil die Käufer die Preise selbst festsetzen. Und die Kinder verdienen nicht annähernd genug." Der Traum vom schnellen Reichtum Ein paar hundert Meter von den Wäschern entfernt stehen halboffene Bretterbuden dicht an dicht. Depot steht darauf und ein phantasievoller Name. Hier sitzen die Zwischenhändler, die den Schürfern ihre Mineralien-Säcke abnehmen und dann an große Bergbau-Konzerne weiterliefern. Die meisten von denen kaufen auch. Sebastian Vetter von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe: "Die Marge ist einfach attraktiv. Das ist vermutlich der Hauptgrund. Und natürlich hat man keine Verantwortlichkeit, was sein Personal angeht. Das produzierende Personal ist sozusagen outgesourct." Der Nachteil: Kobalt aus Industrieminen und dem illegalen Kleinbergbau landet gut gemischt in den gleichen Raffinerien. Ein Alptraum für die Endabnehmer, die gerne beweisen würden, dass sie nur sauberes Kobalt für ihre Batterien verwenden. Den Schürfern im Kongo ist das ziemlich egal, solange das Geld stimmt. Ihr Verdienst hängt vom Weltmarktpreis für das reine Metall ab – und schwankt damit stark. Aber er ist gut genug, um Nachwuchs in die illegalen Minen zu locken. Wie den heute 16-jährigen Christoph: "Ein paar meiner Freunde haben vor mir in den Minen gearbeitet. Sie hatten immer Geld und schicke Klamotten. Ich hatte gar nichts. Also habe ich trotz des Risikos dort angefangen, um etwas zu verdienen." Der Traum vom schnellen Reichtum oder zumindest von einem gesicherten Einkommen hält geschätzt 200.000 Menschen in den Klein-Minen. Sie einfach zu schließen, ist weder durchsetzbar noch eine Lösung, sagt Florence Mambo von Worldvision: "Ein Verbot, ja, aber was ist die Alternative? Die Eltern haben keine andere Möglichkeit, ihre Kinder zu ernähren. Und so lange das der Fall ist, wird der Kobaltabbau so weitergehen." Kobalt wird vor allem für die Batterieherstellung für Smartphones, Tablets und neuerdings auch Elektroautos benötigt (imago | photothek )
Von Linda Staude
In der Batterieherstellung für Smartphones, Tablets und neuerdings auch Elektroautos benötigen die Hersteller Kobalt. Im Kongo wird der Rohstoff unter katastrophalen Bedingungen abgebaut - häufig von Kindern. Endabnehmer möchten gerne "sauberes" Kobalt, aber das ist nicht so leicht zu bekommen.
"2019-07-25T18:40:00+02:00"
"2020-01-26T23:03:32.199000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kobaltabbau-im-kongo-der-hohe-preis-fuer-elektroautos-und-100.html
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TÜV zwischen Prüfung und Profit
Allein in Frankreich forderten die Gesundheitsbehörden 30.000 Frauen auf, sich die Implantate wieder herausoperieren zu lassen. Zertifiziert hatte die Implantate der TÜV Rheinland - für ganz Europa. (picture alliance / dpa / Dominique Leriche) In der TÜV-Station im Gewerbegebiet von Hannover. TÜV-Prüfer Eckart Zimmermann kontrolliert ein Auto nach dem anderen. Pro Prüfung braucht er ungefähr dreißig Minuten. "Ich würde mal hierher gehen und den ein bisschen hochbiegen lassen, dass der nicht instabil ist. Das ist es auch, was ein bisschen krr krr krr macht. Ja, ja genau das." Zimmermann erklärt gerne und viel. Das schätzen die Menschen, die aus der Sicht des TÜV Kunden sind. Manche kommen extra hierhin, weil sie sich so gut betreut fühlen. Der TÜV ist heute zuallererst ein Konzern. Prüfer Eckart Zimmermann versteht seine Arbeit als Service. "Jeder hat so ein besonderes Verhältnis zu seinem Auto, zu seinem Schätzchen und wenn man dann anfängt, ja, mit seinem Auto zu leiden, dann kriegt man natürlich zwangsläufig, naja, auch Schmerzen, wenn da irgendwas kaputt ist." Der TÜV und seine Konkurrenten kontrollieren nach strengen staatlichen Vorgaben. Das System scheint zu funktionieren. Es gibt nur selten Unfälle auf deutschen Autobahnen, weil die Technik versagt hat. Die meisten Menschen kennen den TÜV, den Technischen Überwachungsverein. Als Prüfer von Autos, Aufzügen und Kinderspielzeug. Das bekannte TÜV-Siegel gilt als Synonym für Sicherheit. Und somit auch als Kauf-Argument. Doch der TÜV macht heute viel mehr: Er untersucht Software im Silicon Valley, Windräder in Schweden oder Solaranlagen in Spanien. Auf den ersten Blick eine Erfolgsstory. Aber in den vergangenen Jahren häuften sich die negativen Schlagzeilen: der TÜV stehe im Zusammenhang mit fragwürdigen Prüfungen, brüchigen Hüftprothesen und dubiosen Immobilienfonds. Stimmt am Ende das Bild von den unabhängigen Prüfern so nicht mehr? TÜV-Siegel gilt als Synonym für Sicherheit Gut zwei Stunden von Hamburg entfernt, in Schellerten in der Nähe von Braunschweig lebt Peter Kaufmes in einem stattlichen Einfamilienhaus. Er hatte zusammen mit seinem Bruder eine Fliesenlegerfirma. Jetzt sind beide im Ruhestand. "Mein Bruder und ich, wir haben bei Null angefangen mit dem Betrieb, haben den 33 Jahre lang betrieben und haben nichts geerbt. Wir kommen noch aus der Generation, in der man nichts erben konnte. Unsere Eltern waren froh, dass sie uns vom Tisch los waren." Als die beiden Brüder vor drei Jahren begannen, ihre Firma aufzulösen, wollten sie einen Teil ihrer Ersparnisse anlegen, als Altersvorsorge. Doch die Zinsen waren überall niedrig. Sie fragten ihren Anlageberater. So wie immer. Sie glauben bis heute, dass er sie nicht täuschen wollte. Es ging um einen Immobilienfonds der S&K-Unternehmensgruppe in Frankfurt. Der Anlageberater sprach von traumhaften Renditen und schlug etwas mit TÜV-Zertifikat vor. (dpa /Revierfoto) "Da hat er uns Unterlagen geschickt, Bewertungen, auch vor allen Dingen den TÜV, der ja das bewertet hat, und es gab da Null Risiko und ja, die Gewinne waren enorm, die sprachen da von zwölf Prozent, monatlich wurde ein Prozent ausgezahlt, sofort, und das ist natürlich eine Anlage, wenn man dann solche kompetenten Leute hat, wo man eigentlich nicht Nein sagen kann." Die Firmengruppe S&K in Frankfurt war bekannt auf dem Kapitalmarkt. In den Fonds legten zehntausend Menschen ihr Geld an, mitunter die ganze Altersvorsorge. Die Gebrüder Kaufmes investierten einhunderttausend Euro. Das war im Oktober 2012. Und zunächst lief die Anlage gut. Jeden Monat flossen 1.000 Euro auf ihre Konten. Eine schöne Ergänzung zur Rente. Doch dann im Januar 2013 war plötzlich Schluss. "Saß ich abends im Fernsehsessel und da kam die Sendung, dass die in Frankfurt und Hamburg parallel die beiden Villen gestürmt haben und die Leute festgenommen, drei Mann waren dabei, und ich habe nur gedacht, das kann doch wohl nicht unsere Aktie sein, die da womöglich den Bach runtergeht." Die Gebrüder Kaufmes waren - wie viele andere Anleger auch - offenbar Betrügern aufgesessen. Aber hatte hier nicht angeblich der TÜV geprüft? Eine deutsche Institution? Der TÜV ist für die meisten Deutschen ein Synonym für Sicherheit, Akribie und Zuverlässigkeit. Die Menschen vertrauen den Prüfern. Das liegt vor allem an einer langen, erfolgreichen Geschichte. Erster TÜV entstand mitten in der Industrialisierung Der erste TÜV entstand mitten in der Industrialisierung, um 1870. Es war eine Zeit der Erfindungen. Es gab die ersten Glühbirnen, die ersten Telefone, die ersten großen Fabriken und die Wirtschaft boomte. Damals fuhren auch erstmals Eisenbahnen durch Deutschland und brachten Menschen und Güter so schnell wie noch nie von einem Ort zum anderen: "Sechs Kilometer Strecke waren es 1835. Schon dreißig Jahre später waren es rund 28 000 Kilometer. Der Ausbau des Radschienensystems und das erregende Kapitel der Industrialisierung gehören untrennbar zusammen, nicht nur in Deutschland. Züge beförderten das für diesen Prozess notwendige Massengut von allen Himmelsrichtungen in alle Himmelsrichtungen. Er ist pünktlich wie die Eisenbahn und schnell wie eine Lokomotive, so heißt es seit damals." Die neuen Fortbewegungsmittel hatten nur einen Nachteil. Sie waren extrem gefährlich. Dauernd explodierten Dampfkessel, brachen Schienen, ganze Züge stürzten von den Brücken hinab in die Flüsse. Das brachte bald die ganze Industrialisierung in Verruf. Das war die Geburtsstunde des TÜVs. Die Industrieunternehmen gründeten nun in ganz Deutschland Vereine. Diese Vereine, die damals noch Dampfkesselüberwachungsvereine hießen, sollten fortan im Auftrag der Unternehmen die Technik überwachen. In den folgenden Jahrzehnten kamen dann weitere Arbeitsfelder hinzu, die Autos, später dann die Atomkraftwerke und die Solaranlagen - praktisch mit jedem neuen Industriezweig entstanden neue Aufgaben. Die große Zäsur kam dann in den 1990er Jahren. Da liberalisierte die Politik den Prüfmarkt - ein Monopol nach dem anderen fiel. Und unter diesem wirtschaftlichen Druck sind die emsigen Regionalvereine zu ein paar Unternehmen zusammengewachsen, die heute weltweit tätig sind. Die Großen heißen TÜV Süd, TÜV Rheinland und TÜV Nord. Sie setzen Milliarden um - und haben inzwischen ein völlig neues Selbstverständnis: "Früher ging es im Kern um technische Sicherheit. Heute geht es um Erfolg in globalen Märkten durch Wirtschaftlichkeit, Qualität und Sicherheit." Prüfer testen regelmäßig Spielzeug auf Schadstoffe, wie hier beim TÜV Rheinland in Köln. (dpa / Rolf Vennenbernd) Der Erfolg steht, so verkündet es zumindest der Imagefilm des TÜV Rheinland, heute an erster Stelle. Die Konzerne müssen sich eben in einem harten globalen Wettbewerb behaupten. Doch das birgt Gefahren, findet Michael Adams, Professor für Wirtschaftsrecht. Er hat an der Universität Hamburg über Unternehmen wie den TÜV geforscht. Der Wettbewerb sorgt für Effizienz, niedrige Preise und für Druck auf die Kosten. Wenn der TÜV unter Wettbewerbsdruck kommt, kann er sagen, wir bieten unsere Tätigkeit billiger an. Er könnte auch sagen - und das wäre natürlich zutiefst zuwider seinem Auftrag, den er eigentlich hat - wir geben unser Siegel bereitwilliger als die Konkurrenz. Wir prüfen nicht so hart wie es im Interesse der Menschen sein müsste. Das ist ein Verdacht. Der Vorstandsvorsitzende des TÜV Nord, Guido Rettig, weist ihn entschieden zurück. "Sie haben, unsere Mitarbeiter, in der Regel immer einen Ermessensspielraum und diesen Ermessensspielraum kann man auch irgendwo immer als Firmenphilosophie festlegen und da sage ich nur, für uns, da gilt Qualität, und Qualität hat dann ihren Preis." Das nehmen auch die anderen TÜVs für sich in Anspruch. Dennoch häufen sich seit einigen Jahren die die Skandale um TÜV-geprüfte Produkte wie etwa Brustimplantate und Hüftprothesen oder dubiose Immobilienfonds. Die Firma Poly Implant Prothèse, kurz PIP, war der drittgrößte Hersteller von Brustimplantaten in Frankreich. Im Jahr 2010 wurde öffentlich, dass bei vielen Frauen die Implantate gerissen waren. Sie waren mit billigem Industriesilikon gefüllt, das eigentlich in der Baubranche als Dichtungsmasse verwendet wird. Allein in Frankreich forderten die Gesundheitsbehörden 30.000 Frauen auf, sich die Implantate wieder herausoperieren zu lassen. Zertifiziert hatte die Implantate der TÜV Rheinland - für ganz Europa. Skandale um Brustimplantate und Hüftprothesen Das Unternehmen weist die Verantwortung von sich. Nach EU-Recht hätten sie die Implantate nur anhand der Papiere beurteilen müssen, die der Hersteller ihnen vorgelegt hat. Der Hersteller habe das Produkt dann auf eigene Faust verändert. Derzeit liegt der Fall beim Bundesgerichtshof, der das Verfahren allerdings weitergeleitet hat an den Europäischen Gerichtshof. Der EuGH soll für den BGH die europäische Medizinprodukterichtlinie auslegen - und festlegen, welche Pflichten der TÜV eigentlich hat. Oder der Skandal um die Hüftprothesen. Karl-Heinz Herder hat eine Firma für Elektrotechnik in Berlin. Seit ein paar Jahren kann er nicht mehr ohne Schmerzen gehen. Vor elf Jahren bekam er eine künstliche Hüfte, ein damals ganz neues Produkt. Plötzlich eine Mitteilung vom Krankenhaus: Die Prothese sei leider eine Fehlkonstruktion, hieß es. Sie könne eines Tages brechen. "Ich dachte, naja, gut, wenn das bricht, dann wird man das hören oder wie auch immer, aber ich bin ja nie auf die Idee gekommen, dass das so blitzschnell und so, man kann überhaupt nicht reagieren, man kann nicht reagieren, man kann gar nichts machen, das ist als ob einem mit einem Schlag die Füße weggezogen werden und sie knallen einfach hin. Sie kriegen noch nicht mal einen Arm hoch, um sich abzustützen." Karl-Heinz Herder war ein Jahr berufsunfähig. Wieder ein Medizinprodukt, zertifiziert vom TÜV SÜD im Auftrag des österreichischen Herstellers Falcon Medical. Herder hofft auf Schadenersatz vom Hersteller. Dieser weist die Schuld von sich. Doch warum hatte der TÜV das Produkt durchgelassen? Die Branche der sogenannten hochriskanten Medizinprodukte ist für die TÜVs lukrativ. Jedes Jahr kommen circa 1.000 neue Artikel auf den Markt. Und wie bei Herders Hüftprothese erscheinen die Zulassungskriterien überschaubar. Der prüfende TÜV Süd teilt mit: Man habe nach EU-Recht nur untersuchen müssen, ob das Produkt den Gesetzen und Normen entspricht. Also: Prüfung nach Papierlage, keine eigenen Materialtests. Ähnlich wie der TÜV Rheinland im Fall der Brustimplantate-Firma PIP. Der Berliner Anwalt Jörg Heynemann ist spezialisiert auf Medizinrecht. Er vertritt Herder und 36 andere Patienten, bei denen die Hüfte gebrochen ist. Er sagt über den TÜV: "Tatsächlich ist er ein Türöffner, um unsichere Produkte auf den Markt bringen zu können, nur damit der Hersteller da seine Umsätze macht. Das kann man leider nicht anders sagen. Dass durch den TÜV jetzt in irgendeiner Form Sicherheit gewährt würde, denke ich, kann man vergessen. Wenn der TÜV so agiert, wie er jetzt agiert, kann man sich fragen, wozu braucht man den TÜV dann überhaupt." DieTÜVs bestreiten noch nicht einmal, dass die Prüfungen zu oberflächlich sind. Ihnen ist das seit dem PIP-Skandal vor gut fünf Jahren bestens bekannt. Sie bemühen sich nach eigenen Angaben sogar um eine Gesetzesänderung, damit es mehr Tests gibt. Sie fordern etwa obligatorische Stichproben bei der Fertigung. Von der EU gibt es nun deutliche Signale, dass man an einer Reform arbeitet. Den Spitzenverbänden der europäischen Krankenkassen gehen die bisherigen Reformvorschläge allerdings nicht weit genug. Sie wollen die Zulassung von Medizinprodukten generell den Behörden übertragen, so wie es bei Medikamenten bereits seit Jahrzehnten ist. Der französische Hersteller PIP hat Brustimplantate mit billigem Industriesilikon gefüllt. (picture alliance / dpa / Alexandre Marchi) Reformen in der EU - das weiß man - dauern Jahre, manchmal Jahrzehnte. Wenn nun selbst die TÜVs die Prüfungen für zu oberflächlich halten - warum warten sie nicht, bis die Gesetze besser werden? Warum helfen sie den Medizinprodukteherstellern, Jahr für Jahr viele weitere sogenannte hochriskante Artikel auf den Markt zu bringen? TÜV Süd und TÜV Rheinland haben offenbar nicht einmal erwogen, sich aus dem Geschäftsfeld zurückzuziehen. Nur TÜV Nord hat es nach eigenen Angaben deutlich verkleinert und zertifiziert nur noch einige Produkte, zum Beispiel Herzstents. Der Vorstandsvorsitzende Guido Rettig: "In dem Falle ist der Schaden größer als der Nutzen in Summe und das war für uns einfach der Grund zu sagen, in dem Métier Implantate werden wir uns nicht mehr betätigen." Als fast ebenso heikel gilt in TÜV-Kreisen inzwischen der Finanzsektor, besonders seit dem Skandal um die Firmengruppe S&K in Frankfurt. In deren Fonds investierten auch die Brüder Hans und Peter Kaufmes aus Schellerten bei Braunschweig. Wie 10.000 weitere Anleger hatten sie sich von den Hochglanzbroschüren und dem vermeintlichen TÜV-Siegel blenden lassen. In ihren Unterlagen gibt es noch das entscheidende Papier, mit dem der Anlageberater sie überzeugt hat. Das hatte er selbst erstellt auf Grundlage der Angaben von S&K. Peter Kaufmes: "Ja, man sieht also da ganz deutlich, wie die Anlagen gestiegen sind, und dann steht hier oben drüber, ganz deutlich, von S&K Referenzen vom TÜV SÜD geprüft und bestätigt. Also worauf soll man noch warten, wenn man so eine Bestätigung schwarz auf weiß sieht." Ihren Kunden verkauften die Frankfurter Unternehmer das Geschäftsmodell so. Sie erwarben Immobilien aus Zwangsversteigerungen und veräußerten diese dann mit viel Gewinn. Die Anleger glaubten ihnen das. In Wahrheit aber hatte S&K offenbar weder so viele Häuser noch waren diese so viel wert. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hat nach langen Ermittlungen jetzt Anklage erhoben. Pressesprecherin Doris Möller-Scheu: "Und zwar soll es so gelaufen sein, dass man zum Teil über Strohleute die quasi dem Fonds ein Grundstück verkauft haben, dieselben Leute haben dann formal das Grundstück dann wieder zu einem höheren Preis zurückgekauft, aber man hatte dann einen Umsatz fingiert." Die beiden Gründer der S&K-Firmengruppe, Stephan Schäfer und Jonas Köller, haben laut Anklage die Anleger um circa 240 Millionen Euro gebracht. Vor der Verhaftung stritten sie alles ab, seitdem äußern sie sich nicht mehr. Wie kamen diese dubiosen Unternehmer zu der TÜV-Bescheinigung? Klaus Nieding vertritt als Anwalt die Gebrüder Kaufmes aus Schellerten. Sie versuchen mit seiner Hilfe, zumindest einen Teil der 100.000 Euro zurückzubekommen. Im Verfahren gegen S&K hat Nieding auch die Rechtfertigung des TÜV Süd gehört. "Der TÜV hat im Fall S&K bescheinigt, dass Immobilien in einem Gesamtwert von x vorhanden sind. Er hat sich diese Immobilien dann anhand von Bilanzunterlangen von S&K nachweisen lassen und er hat auch nur bescheinigt, dass die Immobilien vorhanden sind. Er hat also nicht geguckt, sind die Bilanzunterlagen korrekt, hat man hier alles richtig verbucht, sind da möglicherweise Dinge gemacht worden, die nicht sauber sind, das alles hat der TÜV nicht getan." TÜV-Zeichen als Marketinginstrument Die Firmengruppe S&K benutzte das TÜV-Zeichen als Marketinginstrument. Der TÜV Süd dagegen sagt, S&K hätte mit der damals ausgestellten Bescheinigung nicht werben dürfen. Trotzdem ließ er sich eine Menge Geld zahlen, so die Staatsanwaltschaft Frankfurt. Pressesprecherin Möller-Scheu: "Wir gehen davon aus, dass circa über 90.000 Euro geflossen sind und das erscheint uns für eine reine Saldierung, die auch jeder in der Firma selbst hätte machen müssen, ja, viel zu hoch gegriffen und da ist völlig klar, es kam einfach auf diesen Stempel und diese Unterschrift an. Gegen Mitarbeiter des TÜV Süd ermittelt die Staatsanwaltschaft nun wegen Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug. "Wir gehen davon aus, dass das auch den Leuten vom TÜV bewusst war, die das gemacht haben, und dass sie zumindest dann in Kauf genommen haben, dass möglicherweise dieses Zahlenwerk nicht zutreffend ist bzw. auch dazu dient, andere Leute zu schädigen." TÜV Süd weist den Vorwurf schriftlich zurück. Von dem Betrug durch S&K habe man nichts gewusst. Und: Man habe tatsächlich nur die Immobilienan- und -verkäufe von S&K auf Grundlage bereits vorliegender Dokumente erfasst. Bislang hätten die Zivilgerichte in erster Instanz auch alle Schadenersatzklagen gegen ihr Unternehmen abgewiesen. Dubiose Immobilienfonds, Hüftprothesen mit Konstruktionsfehler oder Brustimplantate einer kriminellen Firma aus Frankreich - die Skandale könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch sie haben eines gemeinsam: Die jeweiligen TÜVs haben hier mit relativ oberflächlicher Prüfungen ein gutes Geschäft gemacht, kritisiert der Wirtschaftsprofessor Michael Adams. "Da hat sich der TÜV auf eine schiefe Ebene begeben. Er hat seinen Auftrag, mit dem er ins Leben kann, nämlich, damals Dampfkesselexplosionen zu verhindern, an dieser Stelle verlassen. Er prüft teilweise und einige Skandale weisen darauf hin, dass das nicht immer gelingt, sondern dass es dort einen Weg zur Hölle geben kann, nämlich wenn die Gier nach Aufträgen und die Gier, dort Geld zu verdienen, größer wird als der Schutz des Vertrauens und des Lebens der Menschen, die darauf vertrauen."
Von Caroline Schmidt
Die meisten Menschen kennen den TÜV, den Technischen Überwachungsverein, als Prüfer von Autos, Aufzügen und Kinderspielzeug. Das bekannte TÜV-Siegel gilt als Synonym für Sicherheit. Doch immer häufiger gibt es Negativschlagzeilen: Fragwürdige Prüfungen, brüchige Hüftprothesen und dubiose Immobilienfonds.
"2015-07-17T18:40:00+02:00"
"2020-01-30T12:48:29.442000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bezahlte-unabhaengigkeit-tuev-zwischen-pruefung-und-profit-100.html
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Bilder einer Ausstellung einer Ausstellung
Das Set der Kölner Aufführung 2013 im Deutschlandfunk Kammermusiksaal (Deutschlandradio/ Thomas Kujawinski) Der philippinische Komponist Alan Hilario, Jahrgang 1967, zielt mit diesem, in Ohren und Augen gleichermaßen schmerzenden Event auf nichts Geringeres als den "kolonialen Blick", den er mit seiner Kunst bewusst machen will. Musikalische Basis ist der Schiller-Vers aus Beethovens "Neunter" – hier allerdings zum Morse-Rhythmus verfremdet. Hilarios Video-Text-Stück diskutiert zugleich Wirkmechanismen heutiger elektronischer Medien: Bilder des Schreckens werden ihrer Zusammenhänge entrissen und als ästhtisches Artefakt konsumiert. Ein weiteres Feld der Irritation ist für den Komponisten die vielgestaltige Welt der Perkussionsinstrumente: versammelt im Set der heutigen Neuen Musik, dokumentieren sie ihrerseits koloniale Geschichte. Hilarios Saxofon-Duo "White Rice" gründet auf Bachs Choral "Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir", der hier mit Absicht verfälscht und laienhaft klingt und heutige Gier und Ungleichheit in der Welt thematisiert. Alan Hilario"Schöner Götterfunken! Bilder einer Ausstellung einer Ausstellung" (Ausschnitte)"White Rice - Gebrauchsmusik mit Haltbarkeitsdatum" (Ausschnitt) Mark Kysela, SaxofonNikola Lutz, SaxofonPascal Pons, SchlagwerkAlan Hilario, Live-Elektronik Aufnahmen vom 19. und 21. April 2013 im Deutschlandfunk Kammermusiksaal
Am Mikrofon: Frank Kämpfer
In schnellem Takt wechseln Bilder der Völkerschauen um 1900 und der Unterdrückung der Afrikaner 100 Jahre danach. Saxofone und Schlagwerk improvisieren dazu, lenken den Blick. Komponist Alan Hilario verdeutlicht den kolonialen Blick auf die Welt und hält Distanz zur europäischen Musiktradition.
"2021-05-22T22:05:00+02:00"
"2021-05-22T15:33:11.106000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/revisited-forum-neuer-musik-2013-bilder-einer-ausstellung-100.html
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"Es ist etwas Ungewöhnliches, Äußerungen dieser Art zu hören"
Friedbert Meurer: Politikerinnen und Politiker reden sich ab und an in Interviews um Kopf und Kragen und müssen dann Konsequenzen ziehen. In der vornehmen Welt der Banken sind solche Interviews aber eher selten. Thilo Sarrazin, früher Finanzsenator von Berlin (SPD) und Mitglied im Vorstand der Bundesbank, soll jetzt für ein solches Interview büßen. Sarrazin hatte sich vermeintlich ausländerfeindlich geäußert. Andere verteidigen ihn, er habe doch nur die Integrationsprobleme auf den Punkt gebracht. Eine Mehrheit der Deutschen gibt Sarrazin laut einer Umfrage sogar Recht. Hier einige Hörerstimmen aus unserer "Kontrovers"-Sendung von gestern:"Ich finde, es ist doch gut, wenn mal ein Prominenter das Thema aufgreift und diese Diskussion in die Öffentlichkeit bringt. Man sollte ihn doch nicht versuchen, auf diese Art und Weise mundtot zu machen.""Wie er spricht über ein Problem, das sicherlich vorhanden ist, und über Menschen, in einer verletzenden Art und Weise, das kann man so nicht machen.""Herr Sarrazin hat sich mal wieder als Person des öffentlichen Lebens disqualifiziert und er redet in einem unerträglichen zynischen Stil, in einem Stil, der mich an Josef Göbbels erinnert."Meurer: Stimmen unserer Hörer zum Fall Thilo Sarrazin. - Christoph Schalast ist Professor an der Frankfurt School of Finance & Management. Mit ihm bin ich jetzt verbunden. Guten Morgen, Herr Schalast.Christoph Schalast: Guten Morgen, Herr Meurer.Meurer: War das Interview von Thilo Sarrazin wirklich Grund genug, um ihn heute abzustrafen?Schalast: Na ja, es ist etwas Ungewöhnliches, Äußerungen dieser Art von einem Bundesbankvorstand zu hören, und insoweit ist die öffentliche Diskussion natürlich nachvollziehbar. Ich glaube, Herr Sarrazin hat genau diese Art von öffentlicher Debatte provozieren wollen, die jetzt begonnen hat.Meurer: Wie sehr hat Sarrazin mit seinem Interview tatsächlich der Reputation der Bundesbank geschadet?Schalast: Das ist ganz schwer einzuschätzen, weil so weit ich mich erinnern kann Äußerungen, die derartig politisch sind, bisher von einem Bundesbankvorstand noch nicht in die Öffentlichkeit getragen wurden. Hinzu kommt ja, dass es Äußerungen sind, die mit der eigentlichen Tätigkeit wenig zu tun haben.Meurer: Wird denn diese Äußerung wirklich der Bundesbank zugeschrieben?Schalast: Das kann ich mir nicht vorstellen, weil jeder weiß, was für eine, sage ich mal, Geschichte Herr Sarrazin mit solchen Äußerungen hat, und er hat sie nicht geäußert als Bundesbankvorstand. Insoweit kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen.Meurer: Stellt sich die Frage, ob der Präsident der Bundesbank, Axel Weber, dann vielleicht besser den Mantel des Schweigens über das Interview hüllen sollte, denn so redet jetzt die halbe Welt über Interna der Bundesbank.Schalast: Ich denke, er wird da beraten sein, wie er darauf reagiert, und wird sich entsprechend verhalten. Ich glaube, es ist halt auch sehr schwer einzuschätzen, ob man so etwas einfach totschweigt, oder aber darauf reagiert.Meurer: Wie sehr hat ein Mitglied der Bundesbank, Herr Schalast, das Recht, seine persönliche Meinung zu gesellschaftspolitischen Themen zu äußern?Schalast: Das ist natürlich eine ganz schwierige, sage ich, auch vor allem rechtliche Frage, weil der Vorstand der Bundesbank steht eben in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis. Er ist ähnlich gebunden wie ein Beamter. Das heißt also, sein Grundrecht auf Redefreiheit kann natürlich nicht eingeschränkt werden, aber er muss sich die Mäßigung auferlegen, die durch sein Amt bedingt ist, und insoweit könnte man schon diskutieren, ob eine solche Äußerung zu vereinbaren ist mit seinen Aufgabenfüllungen.Meurer: Nun weiß man ja, dass der Präsident der Bundesbank, Weber, Sarrazin am liebsten entlassen wollte, aber dazu hat er nicht die Befugnis. Das darf nur der Bundespräsident. Das ganze hängt mit der Unabhängigkeit der Bundesbank zusammen. Ist eine solche Regelung, dass der Vorstandschef nicht so sehr über die Vorstandsmitglieder verfügen darf, noch zeitgemäß?Schalast: Na ja, die Bundesbank ist ja keine normale Bank. Sie ist eine Bank, die eben auch politisch ist. Es gibt ein eigenes Bundesbankgesetz und in dem ist genau festgelegt, wer das Recht hat, einen Vorstand vorzuschlagen. Insoweit ist es eigentlich gar nicht möglich, dass der Präsident der Bundesbank Vorstandmitglieder entlassen kann. Das ist nebenbei auch bei einer normalen Aktiengesellschaft nicht möglich, dass der Vorstandsvorsitzende seine Mitvorstände entlassen kann. Das muss der Aufsichtsrat tun.Meurer: Wie viel Einfluss kann normalerweise ein Vorstandsvorsitzender auf die Zusammensetzung seines Vorstands in einer Bank nehmen?Schalast: Dieser Einfluss des Vorstandsvorsitzenden hängt ab von seiner Stellung natürlich in der Bank, aber der Vorstand einer Bank wird immer noch bestellt vom Aufsichtsrat, wenn die Bank eine Aktiengesellschaft ist, und er ist verantwortlich vor allem eben der Hauptversammlung. Das ist das deutsche System. Wir haben hier eben keine normale Bank, sondern eine Bank, die Aufgaben übernimmt, öffentlich-rechtliche Aufgaben, die Geldpolitik vor allem, die Aufgaben im Rahmen der Europäischen Zentralbank, und da ist es ganz klar, dass es eben eine politische Funktion ist und dass politische Parteien, in dem Fall vor allem die Bundesregierung, sozusagen die Bundesländer, der Bundesrat, das Recht zum Vorschlag haben. Das ist ja auch bei den Bundesrichtern so. Keiner käme auf die Idee, dass ein Senatsvorsitzender im Bundesgerichtshof seine Mitrichter entlassen könnte.Meurer: Wer hat denn das Vorschlagsrecht für den Vorstand der Bundesbank, jedes Bundesland, oder wie ist das geregelt?Schalast: Nein, das ist nicht so geregelt. Der Bundesrat hat dieses Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern und der Bundesrat stimmt sich intern ab. In dem Falle war es eben ein Vorschlag der Bundesländer Berlin und Brandenburg und der wird gemäß einer ja schon Jahrzehnte alten Regel dann auch umgesetzt.Meurer: Angeblich wollte Weber von Beginn an Sarrazin gar nicht im Vorstand haben. Haben Sie eine Erklärung, was er von Anfang an gegen den Ex-Berliner Finanzsenator einzuwenden hatte?Schalast: Das, glaube ich, ist reine Spekulation. Vielleicht war er ihm einfach von seiner, sage ich mal, Vergangenheit her zu wenig Banker, zu sehr politisch. Aber auf der anderen Seite gab es das immer wieder bei der Bundesbank.Meurer: Gibt es bedingt durch das Auswahlverfahren und durch das Vorschlagsrecht des Bundesrates möglicherweise zu wenig Bankenkompetenz im Vorstand der Bundesbank?Schalast: Na ja, man muss ja sehen, dass die Aufgaben der Bundesbank nicht die Aufgaben einer klassischen Geschäftsbank sind. Das sind ja sehr viele auch, sage ich mal, währungspolitische, geldpolitische Aufgaben, die im Rahmen der Bundesbank und natürlich vor allem auch im Zusammenhang mit der Europäischen Zentralbank wahrgenommen werden, und da ist natürlich schon die Frage, was für eine Art von Profil ein solcher Bundesbankvorstand braucht. Wir hatten ja in der Vergangenheit - ich kann mich nicht daran erinnern - noch niemals eine Diskussion über fehlende Kompetenz an Bundesbankvorständen und bei Herrn Sarrazin wird ja auch nicht seine Fachkompetenz angezweifelt.Meurer: Angeblich will Weber mehr Leute haben mit internationaler Erfahrung, mit internationaler Bankenerfahrung im Vorstand.Schalast: Gut, das ist eine legitime Diskussion. Das muss er herantragen an diejenigen Organe, Bundesregierung und Bundesrat, die das Vorschlagsrecht haben, oder aber er muss für eine Mehrheit werben, dass das Bundesbankgesetz geändert wird.Meurer: Die ganze Situation, wie wir sie jetzt haben, Herr Schalast, schadet sie der Reputation der Bundesbank, die ganze Affäre jetzt?Schalast: Nein, das glaube ich ganz sicher nicht. Die Bundesbank hat darüber eine öffentliche Diskussion angestoßen. Das ist legitim. Sie hat es nicht totgeschwiegen. Darüber hatten wir ja anfangs gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bundesbank in irgendeiner Weise jetzt in ihrer Reputation beschädigt wird. Die ist, wie ich denke, auch zurecht in der Bevölkerung so hoch. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.Meurer: Christoph Schalast, Professor an der Frankfurt School of Finance & Management, zum Fall Thilo Sarrazin. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Schalast. Danke und auf Wiederhören.Schalast: Sehr gerne. Tschüß!
Christoph Schalast im Gespräch mit Friedbert Meurer
"Sein Grundrecht auf Redefreiheit kann natürlich nicht eingeschränkt werden", kommentiert Christoph Schalast, Professor an der Frankfurt School of Finance & Management, die vermeintlich ausländerfeindlichen Äußerungen des Bundesbank-Vorstandes Thilo Sarrazin. An einen Imageschaden für die Bank glaubt er nicht - und erklärt potenzielle Reaktionsmuster der Bank.
"2009-10-13T00:00:00+02:00"
"2020-02-03T10:04:39.217000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/es-ist-etwas-ungewoehnliches-aeusserungen-dieser-art-zu-100.html
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Der gut gelaunte Panda
Es gibt eine Umfrage im Netz, an der haben bisher über 300,000 Jugendliche um die 11, 12, 13, 14, 15 Jahre teilgenommen. Teenager. Die Frage: Wer ist der beste Rapper? Und der Sieger, mit mehr als 10 Prozent und weit vor der Konkurrenz. Genau:"Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro, Cro. Sag wer hat wieder auf 'nen Beat, schreit 'nen geilen Text, steppt an das Mic, rappt ein, klingt fresh. Sag Cro, Cro, Cro ..."Einer seiner treuen Anhänger. Meine Schwester, 13 Jahre alt. Die sonst gerne kanadische Exportteenies wie Justin Bieber hört - oder Tim Benzko, der aber eigentlich die Welt retten muss. Und jetzt kommt dazu Cro. Warum habe ich sie gefragt. Und sie so: Weil er coole Text hat, die gute Laune machen, bei denen sie mitsingen kann. Weil die Musik so poppig und tanzbar ist. Und da hat meine Schwester recht. Im Endeffekt lässt sich sagen: Kennst du einen Song auf "King of Raop", kennst du fast alle. Ein seichter Beat mit eingängigen Melodien, fast alles von Cro selbst zuhause im Keller produziert. Ein Singsang Rap mit nicht zu komplizierten Texten über Mädchen, nervende Lehrer, neue Turnschuhe - und ein Refrain, der zum Mitsingen einlädt. Das Thema ist eigentlich Nebensache."King of Raop" ist gute Laune Musik für den Sommer. Da gibt es von Cro auch keine Beschönigungen, keine Verklärung. "Es ist ne Mischung aus Rap und Pop, deswegen Raop. Das kann man lieben, das kann man hassen, da kann man sich streiten. Ich kann nur Musik machen, wenn ich gut drauf bin, deswegen verarbeite ich nie was Schlechtes, Böses, Negatives in Tracks. Und deswegen klingt auch alles so positiv und nett."Dazu passt die Pandamaske, die der gelernte Mediengestalter in der Öffentlichkeit trägt. Die Idee kam vom Cros Label Chimperator, einer kleinen Plattenfirma aus Stuttgart, dass durch seine ersten Mixtapes auf ihn aufmerksam wurde."Man kann jetzt auch nicht anfangen als Donald Duck rumzulaufen, das sieht ja auch bescheuert aus. Und es gab viele Helden- und Horrormasken und das passt ja alles nicht. Wenn man dann gleich als Hulk oder so abgestempelt wird. Deswegen der liebe süße Panda."Der ist nicht so aggressiv wie noch der silberne Totenschädel, mit dem der Berliner Sido seine Karriere startete - aber das Motiv ist das Gleiche. Ein bisschen Ruhe haben im Privatleben - und eine Extraportion Mythos hat auch noch keiner Karriere geschadet. Dazu passt das umgedrehte Kreuz, dass sich Cro auf die Stirn der Maske gemalt hat – sehr rebellisch, denn nur niedlich wäre meiner Schwester in ihrem Alter dann ja doch suspekt. Trotz aller Lässigkeit, ab und an wirkt das alles überinszeniert, etwa wenn Cro nicht verraten will, ob er nun 19 oder 20 ist. Oder wenn man ihn fragt, wann der ewig gut gelaunte Panda denn mal schlecht drauf ist." Äh, wann ist Cro mal schlecht drauf? Scheiße da haben wir noch keine coole Idee. Da würde ich gerne was Witziges sagen, dass alle lachen müssen. Oh man, was kann man denn da Witziges sagen?"Man könnte jetzt böswillig sein und sagen: Cro ist Rap für junge Menschen, die eigentlich mit Rap nicht so viel anfangen können, die aber gerne auch mal ganz cool das Handgelenk im Takt schütteln wollen. Mann könnte sagen, Cro ist wie die Fantastischen Vier, Version 2012: In der Breite geliebt. Überall dort gespielt, wo es die meiste Abwechslung und die besten Superhits von heute gibt. Seine Musik wird von vielen in der Szene aber als Rap für Kiddies verachtet. Auf der Skala der Unfreundlichkeiten ist das übrigens erst der Anfang. Aber das käme der Sache dann doch zu kurz. Nicht umsonst hat ihn die Juice, Deutschlands größtes Hip-Hop-Magazin auf das Cover gesetzt – das publizistische "Amen" in einer Jugendkultur, in der es nichts Wichtigeres als authentische Typen gibt. Cro ist Hip-Hop, tut mir leid liebe Rappuristen, es tut weh. Aber es ist so: Cro ist Hip-Hop. Sehr poppig zwar, aber das ist erstens schon lange kein Schimpfwort mehr! Und zweitens kann Cro mehr als den perfektionierten Singsangrap. Das deutet er auf "King of Raop" ein paar Mal an, zum Beispiel im Intro.Das wird für die meisten Hip-Hop–Fans jenseits der 20 kaum reichen. Aber sicher für alle Jüngeren, die nicht mehr viel mit den Rapstars von vor zehn oder sogar 15 Jahren anfangen können. Die mit dem Internet aufgewachsen sind, die dort ihre ersten Idole gefunden haben - und sind jetzt im Alter, wo es auf das erste Konzert geht, wo das erste große Liebeschaos ansteht. Genau wie das erste Mal das Gefühl unbesiegbar zu sein. Auch die haben natürlich das Recht den Hip-Hop zu hören, der ihr Leben widerspiegelt. Cro liefert genau das. Und deswegen gehe ich jetzt tanzen, ins Kinderzimmer zu meiner kleinen Schwester.
Von Axel Rahmlow
Cro ist Rap für junge Menschen, die eigentlich mit Rap nicht so viel anfangen können, die aber gerne auch mal ganz cool das Handgelenk im Takt schütteln wollen. Mann könnte sagen, Cro ist wie die Fantastischen Vier, Version 2012: In der Breite geliebt.
"2012-07-07T15:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:16:24.035000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-gut-gelaunte-panda-100.html
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Weltweiter Wissenschaftsappell an Australiens Regierung
Die Kohle ist ein wichtiges Handelsgut für Australien: der australische Verladehafen Abbott Point (picture alliance / dpa) Was steht im Appell? Zunächst ein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Klimaerwärmung und den Bränden in Australien. Das wichtigste Argument: Seit Beginn der Temperaturmessungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es in Australien im Schnitt 1,9 Grad Celcius wärmer geworden. Der Temperaturanstieg ist damit deutlich höher als in anderen Regionen der Erde. Zudem es gibt immer mehr Waldbrände in Australien. Die Bedingungen für solche Brände haben sich über die Jahre verbessert, neben der Erwärmung spielt hier auch die Trockenheit eine Rolle. Wenn ein El-Nino-Ereignis dazu kommt, d.h. eine ungewöhnliche Erhöhung der Meeresoberflächentemperaturen im Pazifik entlang des Äquators, werden Feuer noch wahrscheinlicher. Wobei im aktuellen Sommer auf der Südhalbkugel die Wälder brennen, ohne dass es ein El-Nino-Ereignis gibt. Die Forderung, die sich daran anschließt: Die australische Regierung müsse eine langfristige Strategie für mehr Klimaschutz entwickeln. Das Ziel müsse sein, bis zum Jahr 2050 auf netto null Emissionen zu kommen. Davon ist Australien derzeit weit entfernt. Pro Kopf gerechnet stößt das Land mehr als 15 Tonnen CO2 aus. Das ist mehr als die USA und wird nur von wenigen Ländern übertroffen, darunter Qatar oder Saudi-Arabien. Unterzeichnet wurde der Appell übrigens vor allem von australischen Wissenschaftlern, aber auch von Kollegen aus anderen Ländern, etwa China und den USA. Wie ist die Position der australischen Regierung? Beim vergangenen Klimagipfel in Madrid hatte Australien einen ehrgeizigeren Appell für mehr Klimaschutz mit verhindert. Die Regierung in Canberra verweist auf ihre Erfolge im Klimaschutz. Dazu gehört ein wachsender Anteil erneuerbarer Energiequellen an der Stromerzeugung. Derzeit kommt ein Viertel des Stroms aus Sonne, Wind- und Wasserkraft, der Rest im Wesentlichen aus Kohle. In zehn Jahren soll die Hälfte Energie aus regenerativen Quellen stammen. Finanzminister Mathias Cormann wies in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" darauf hin, dass das Land seine Ziele aus dem Kyoto-Protokoll einhalte und sogar übererfülle. Dies gelingt Australien allerdings auch durch den Kauf von Emissionsrechten von anderen Ländern. Negativ ausgelegt wird Australien der hohe Kohleexport, den das Land weiter vorantreibt, unter anderem mit der neuen Mine des Adani-Konzerns. Diese Kohle wird allerdings im Ausland verbrannt, etwa in Indien, und sie belastet dann die Emissionsbilanz anderer Staaten. Australien verweist außerdem darauf, dass seine Kohle verglichen mit der aus anderen Staaten relativ sauber verbrenne. Wie steht es um die Popularität der australischen Regierung? Die Regierung steht deutlich unter Druck, vor allem Premierminister Scott Morrison. Er wurde 2019 nach einem Wahlkampf gewählt, bei dem der Klimawandel im Mittelpunkt stand. Heute ist er wegen seines Verhaltens in der Feuerkrise extrem unbeliebt, sein Image ist so schlecht wie nie seit der Wahl. Umfragen zufolge ist die Regierung auch weniger beliebt als die oppositionelle Labor-Party. In dieser Situation ist Morrison gefordert, zu liefern.
Von Georg Ehring
Seit September wüten in Teilen Australiens Waldbrände. Eine Fläche in der Größe Belgiens ist bereits zerstört, und es brennt weiter. Angesichts dieser Katastrophe haben sich mehr als 250 Klimaforscher weltweit an die australische Regierung gewandt, ihre Forderung: Tut was!
"2020-02-03T11:35:00+01:00"
"2020-02-12T14:50:18.585000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/strategie-fuer-mehr-klimaschutz-weltweiter-100.html
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Streit um Klimaschutz-Ziele
"Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass Frau Merkel sich nicht für Energiepolitik interessiert." (imago/blickwinkel) Der deutsch-französische Motor läuft auf Hochtouren: Paris und Berlin Hand in Hand für den internationalen Klimaschutz. Darauf jedenfalls hofft Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande und dankt der Kanzlerin herzlich für ihre Bemühungen beim Petersberger Klimadialog in Berlin. Zwei Tage lang hat die Staatenrunde über einen neuen Weltklimavertrag beraten – der wird konkret aber frühestens bei der UNO-Konferenz in Paris Ende des Jahres feststehen. Wichtigstes Ziel: eine Begrenzung der Erderwärmung auf maximal zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Francois Hollande spricht von einem Berliner Appell. Dem Gastgeber Frankreich ist an einem Erfolg der Pariser Klimakonferenz ebenso gelegen wie Deutschland, das derzeit den G7-Vorsitz führt und diese Bühne als Werbung für die deutsche Energiewende nutzen will. Angela Merkel kündigt ehrgeizige Ziele an: "Wir müssen in diesem Jahrhundert, im 21. Jahrhundert die Dekarbonisierung schaffen, also den vollständigen Umstieg auf kohlenstoff-freies Wirtschaften." Nur ein knappes Viertel der UNO-Staaten ist konkret geworden Der Weg dorthin ist allerdings umstritten: Nur ein knappes Viertel, nämlich gut 40 der teilnehmenden UNO-Staaten haben bisher konkret benannt, wie viel weniger Kohlendioxid sie in Zukunft in die Luft blasen wollen. Ungeklärt ist zudem, wie das Ganze finanziert wird: "Klar ist, dass auch hier die Industrieländer vorangehen müssen", so Merkel. Merkel selbst tat das heute und kündigte an, den deutschen Anteil an dem eigens eingerichteten Weltklimafonds bis zum Jahr 2020 zu verdoppeln. Der Opposition reichen diese Anstrengungen nicht, Grünen-Co-Fraktionschefin Katrin Göring Eckardt ist mit dem Ergebnis des Petersberger Klimadialogs mehr als unzufrieden: "Ich sehe eher im Gegenteil, dass es einen dauernden Schlingerkurs gibt, insbesondere bei der Frage des Kohleausstieges". Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, die CO2-Emissionen in den kommenden fünf Jahren um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, unter anderem durch eine Klimaabgabe auf besonders alte Kohlekraftwerke. Merkel: "Ich glaube, dass das Instrument der Abgabe eine Möglichkeit ist. Wir sind über diese Diskussion in einem sehr engen Austausch. Und ich bin ganz zuversichtlich, dass wir zum Schluss eine gemeinsame Lösung finden werden." Gabriel sieht sich zu dieser Aussage genötigt Wochenlang hatte Merkel zu dieser Frage geschwiegen, sodass sich ihr Vizekanzler Sigmar Gabriel auch angesichts des koalitionsinternen Streits um die Klimaabgabe heute zu dieser Aussage genötigt sah: "Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass Frau Merkel sich nicht für Energiepolitik interessiert." Maximal 22 Millionen Tonnen CO2 sollen die Betreiber der Kohlekraftwerke einsparen, über die Details soll morgen Abend eine hochkarätige Runde weiter beraten: "Dass wir einen Termin im Kanzleramt haben - den haben wir regelmäßig am Mittwoch -, ob an diesem Tag auch über Energiepolitik geredet wird, wird sich zeigen", so Gabriel. Gesprächsbedarf herrscht aber offenbar, denn bislang ist offen, wie die Große Koalition ihre eigens gesetzten Klimaschutz-Ziele erreichen will.
Von Barbara Schmidt-Mattern
Deutschland und Frankreich machen Druck für einen ehrgeizigen Weltklimavertrag. Beide haben ein besonderes Interesse daran, dass es Ende des Jahres zu einem Abschluss kommt. Bis dahin müssen auch die deutschen Koalitionspartner Union und SPD erst einmal zueinander finden.
"2015-05-19T18:43:00+02:00"
"2020-01-30T12:37:39.498000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/petersberger-klimadialog-streit-um-klimaschutz-ziele-100.html
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Goldrausch und Flüchtlingselend
Der 29 Jahre alte Nasredin Omar Bachar aus dem Sudan ist seit vier Jahren nach einem Unfall gelähmt. (Deutschlandradio / Martin Durm) Seit vier Jahren liegt er nun hier, auf dieser Pritsche, in dieser Lehmhütte, in dieser gottverlassenen Gegend am Rande der bewohnbaren Welt. Er kann nur den Oberkörper bewegen. Die Beine liegen wie abgestorben unter der Decke. Manchmal schlägt seine Schwester Manira die Plastikplane am Eingang zurück. Dann fällt etwas Sonnenlicht in den Raum, und er sieht einen Ausschnitt des Flüchtlingslagers Farchana. Aber meistens liegt er im Dunkeln und hadert mit seinem Schicksal. "Viele von uns wollten gehen", sagt Nasredin Omar Bachar, Sudanese, 29 Jahre alt, geboren im Dorf Tandikoro in West-Darfur. "Viele wollten in den Tibesti. Da gibt es jede Menge Gold. Damit kann man die Schlepper bezahlen, die uns nach Europa bringen." Einfach nur dasitzen und warten 2007 haben arabische Milizen sein Dorf niedergebrannt, ein paar Männer erschossen, ein paar Frauen verschleppt. Das Übliche in Darfur. "Ich wollte weit weg von alldem. In ein Land, wo Frieden ist, wo es sicher ist – arbeiten, eine Familie haben, sie versorgen." Aber er schaffte es - wie so viele der 300.000 Vertriebenen aus Darfur - nur über die Grenze in eines der Flüchtlingslager des benachbarten Tschad. 14 Camps gibt es in diesem Teil der Sahelzone. Sie zählen zu den größten in Afrika, werden seit Jahren vom UNHCR, dem UN-Flüchtlingshilfswerk verwaltet und von der Generaldirektion für humanitäre Hilfe (Echo) der EU-Kommission finanziert. Brüssel hat bislang knapp 260 Millionen Euro dafür ausgegeben, die Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln am Leben zu halten. "Spoonfeeding", nennt das Ante Galic vom UNHCR: "Wir füttern die Flüchtlinge irgendwie durch. Und sie - sitzen einfach nur da und warten." Der Tschad ist das zweitärmste Land der Welt. Und die Farchana-Region ist die ärmste im Tschad. Es gibt keine Arbeit, kaum Wasser, kaum fruchtbares Land. Der Boden verkümmert, die Sahelzone dehnt sich nach Süden aus, jedes Jahr um etwa zehn Kilometer. "In 30, 40 Jahren wird hier niemand mehr leben", sagt Ante Galic: "Die Leute werden nach Süden gehen, in die afrikanischen Megastädte. Oder sie gehen Richtung Norden und versuchen, zum Mittelmeer zu kommen. Irgendwo müssen sie ja hin." Geld für den Weg nach Europa machen Schiere Armut hatte die Flüchtlinge lange Zeit daran gehindert, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Aber das hat sich 2013 mit der Entdeckung großer Goldvorkommen im Tibesti schlagartig geändert. "Viele Flüchtlinge aus Darfur sind wie ich ins Tibesti gezogen", sagt Nasredin. "Sudanesen, aber auch Leute aus dem Tschad, aus Mali, aus Nigeria. Alle wollen dorthin, ihr Glück machen - und dann weiter nach Europa." Das Vulkanmassiv liegt im Grenzgebiet zwischen Libyen und Tschad. Es ist ein rechtsfreier Raum der Gewalt mitten in der Sahara, Rückzugsgebiet für dschihadistische Gruppen, Waffenhändler, Schlepper und Goldsucher. Nasredin brauchte fünf Tage, um vom Flüchtlingslager bis zu den Goldminen des Tibesti zu kommen. Der Bus fuhr nach Kouri, wo etwa 40.000 Goldsucher hausen. "Die Minenbesitzer boten uns an, dass wir ein Drittel des Goldes behalten dürfen. Zwei Drittel sollten wir abgeben. Sie schauten sich jeden genau an. Sie nahmen nur die Jungen und Starken. Die Älteren jagten sie weg." Was nun begann, war Sklavenarbeit, nicht in Stollen, sondern in Löchern. Die Arbeiter klettern an Strickleitern 30, manchmal 40 Meter hinab in die Tiefe, zertrümmern Gestein mit Hammer und Meißel und schleppen es in Eimern an die Erdoberfläche. "Gearbeitet wird in Drei-Stunden-Schichten. Länger hältst Du es da unten nicht aus", sagt Nasredin. In den Pausen schlief er unter einer Plastikplane, vier Meter von den Bohrlöchern entfernt. Er aß Hirsebrei und Linsen. Manchmal fand er ein paar Goldklümpchen, groß wie ein Reiskorn. Für ein Gramm Gold zahlen die Zwischenhändler im Tibesti umgerechnet 25 Euro. "Ein paar Wochen noch", sagte sich Nasredin, "dann hast Du es geschafft. Wenn Du immer wieder in die Tiefe steigst, um da unten Gold aus dem Fels zu schlagen, hast Du keine Angst mehr vor der Wüste oder vor den Booten, die übers Mittelmeer fahren." Seit vier Jahren gelähmt nach einem Unfall Hin und wieder kamen Schlepper, machten Angebote für den Weg zur Mittelmeerküste. Für Nasredin schien sie mit jedem Gramm Gold, das er fand, etwas näher zu rücken. Er kam niemals hin. "Eines Tages, als ich wieder unten in der Mine war, haben sich Gesteinsbrocken gelöst", sagt er. "Ich wurde verschüttet. Irgendwie hat man mich raus gezogen. Erinnern kann ich mich an nichts mehr." Auf einem Pritschenwagen brachten sie Nasredin ins Lager zurück. Und da liegt er nun, mit zerbrochenen Rückenwirbeln, gelähmt seit vier Jahren. Er sagt, sein Körper sei wie in zwei Teile geschnitten: Der eine lebe noch, der andere sei schon tot. Sein Unglück hat sich herumgesprochen im Lager. Manchmal besuchen ihn junge Männer, um etwas von den Goldminen im Norden zu hören. Von Nasredins Geschichte werden sie sich nicht aufhalten lassen. "Ich muss in den Tibesti", sagt einer von ihnen, "anders komme ich hier nicht raus."
Von Martin Durm
Vor fünf Jahren wurden im Nord-Tschad Goldvorkommen entdeckt. Seitdem reisen Tausende Flüchtlinge aus ganz Afrika dorthin. Mit Goldschürfen wollen sie das Geld für die Flucht nach Europa verdienen. Bei der gefährlichen Arbeit werden viele von ihnen getötet oder schwer verletzt - so auch ein 29 Jahre alter Mann aus dem Sudan.
"2017-12-22T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:10.502000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tschad-goldrausch-und-fluechtlingselend-100.html
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Berlin und Brüssel unfreiwillig mittendrin
Demonstranten mit katalanischer Fahne stehen in Barcelona bewaffneten Polizisten mit Helmen gegenüber (AFP) Ist die Debatte um Katalonien nun unweigerlich auch zu einem deutschen Problem geworden? Bislang hatten sich Deutschland und die EU versucht aus diesem "innerspanischen Konflikt" herauszuhalten. Zu Recht oder ist es Zeit für Vermittlung? Es diskutieren: Elmar Brok, MdEP, CDU Andrej Hunko, MdB, Die Linke Marie Kapretz, ehemalige Vertreterin Kataloniens in Deutschland Úrsula Moreno, Journalistin, Deutsche Wele
Diskussionsleitung: Burkhard Birke
Die Festnahme des ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont in Deutschland erhitzt die Gemüter. Die spanischen Separatisten reagierten bereits mit wütenden Protesten. Deutschland und die EU sind so unfreiwillig in den Katalonien-Konflikt involviert. Ist es nun die Zeit für Vermittlung gekommen?
"2018-03-28T19:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:19.406000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/katalonien-konflikt-berlin-und-bruessel-unfreiwillig-100.html
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Bedrohte Schmuckstücke in der kalten Tiefsee
Schon im 18. Jahrhundert kannte der namhafte Naturforscher Carl von Linné Korallen, die auch in den kalten Tiefen des Nordatlantik Riffe bilden. Allerdings konnte der passionierte Biologe damals noch nicht ahnen, welche riesigen Gebilde noch für weitere Jahrhunderte in den unwirtlichen Tiefen verborgen bleiben sollten. "Diese Riffe finden wir überall entlang der norwegischen Küste: in fast allen tiefen Fjorden, im tiefen, kalten Wasser und dort, wo der Kontinentalsockel in die Tiefsee abfällt bis hinab zu 500 Metern Wassertiefe", schildert Jan Helge Fossa vom Institut für Marineforschung in Bergen. Lophelia pertusa heißt der Erbauer der Kunstwerke - eine Korallenart, deren Zentimeter lange Individuen zu Kugeln mit einem Radius von bis zu zwei Metern heranwachsen können und so jene kaum erforschten Riffe vor den Küsten Norwegens, Schottlands und Irlands erschuf. Nur mit Hilfe unbemannter U-Boote der Ölindustrie konnten die Meeresbiologen diese Riffe bislang untersuchen. Dabei stießen die Wissenschaftler vor den Lofoten auf das bislang größte Nordatlantikriff seiner Art: Lophelia pertusa baute dort einen Riffkörper von 35 Kilometern Länge, drei Kilometern Breite und 300 Metern Höhe auf. Datierungen konnten zeigen, dass die Korallen sich nach dem Ende der jüngsten Eiszeit hier ansiedelten und die ältesten der bekannten Riffe es auf 8500 Jahre bringen. Trotz der Kälte ist der Nordatlantik ein Paradies für Lophelia: Die heftigen Strömungen reißen den störenden Sand fort und spülen überdies reichlich das Hauptnahrungsmittel Plankton heran. Weil Lophelia im Gegensatz zu tropischen Korallen nicht mit Algen in Gemeinschaft lebt, ist sie auf Licht nicht angewiesen. Nur so konnte sie die lichtlosen Meerestiefen für sich erobern. Doch damit ist das Wissen der Biologen schon fast erschöpft, denn Biologie und Ökologie der in 200 bis 300 Metern Tiefe lebenden nordischen Kaltwasserriffe sind weitgehend unbekannt. "Wir katalogisierten bislang rund 800 Arten, sowohl Fische als auch vor allem Wirbellose. Weil dort kein Licht hinkommt, ist die Fischvielfalt geringer und es gibt keine Algen. Das ist der wichtigste Unterschied zu den tropischen Riffen", resümiert Fossa. Dagegen sei die Vielfalt bei den Wirbellosen in etwa gleich mit den tropischen Verwandten. Die von eintönigen Sandflächen umgebenen Tiefwasserriffe gehörten zu den vielfältigsten Lebensräumen im Nordatlantik: In und an den Tiefwasserriffen leben Muscheln und andere Korallenarten, die keine Riffe bauen, Brachiopoden, Garnelen und etliche Krustentiere. So bilden die Riffe eine wichtige Lebensgrundlage für Fische, die dort Nahrung sowie Schutz suchen. Videoaufnahmen der Forscher zeigen etwa viele "schwangere" Rotbarschweibchen. Die lebendgebärenden Fische scheinen sich dort sicher zu fühlen. Doch die Idylle ist bedroht: Bei der Analyse kommerzieller Fänge zweier Trawler vor Irland und Schottland fanden die Meeresbiologen heraus, dass die massiven Netze, die mit Metallreifen über den Grund gezogen werden und an deren Öffnungen tonnenschwere Metallplatten montiert sind, wie gewaltige Pflüge auf den Meeresgrund wirken. Metergroße Riff-Fragmente landeten im Netz. Die Trawler verlassen zerstörte Riffe und ihre schweren Netze hinterlassen kilometerlange Narben. Dazu Jan Helge Fossa: "Diese Korallen wachsen vielleicht gerade zehn Millimeter im Jahr. Eine Kolonie mit zwei Metern Durchmesser zu bilden, dauert Jahrhunderte. Wenn die Trawler die Riffe bis zur Basis aufreißen, die aus toten Korallen besteht und auf der die Lebenden siedeln, kann es Jahrtausende dauern, ehe dort wieder ein neues, komplettes Riff entsteht. Wir sind sehr besorgt. In unseren Augen sind das dauerhafte Schäden." Die Wissenschaftler fordern jetzt die sofortige Kontrolle der Tiefseefischerei. Rund 50 Prozent der Riffe sollen seit dem Ende der 80er Jahre zerstört worden sein, lauten norwegische Schätzungen. Dort sind die Riffe jetzt geschützt – aber nur, so weit sie bekannt sind.[Quelle: Dagmar Röhrlich]
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Bei Riffen fällt der Gedanke schnell auf überwältigende Gebilde wie das Große Barriere Riff mit seiner reichen und schillernden Tierwelt in den tropischen Gewässern Nordaustraliens. Doch auch in den Tiefen des Nordatlantik liegen beeindruckende und an Lebensformen reiche Riffe, denen aber die Zerstörung droht.
"2002-09-23T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:33:18.133000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bedrohte-schmuckstuecke-in-der-kalten-tiefsee-100.html
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Der Begriff Krise ist eigentlich unbrauchbar
"Krise ist eine Zuspitzung, eine dramatische, situative, kurzfristige Zuspitzung von bestimmten Phänomenen, die einen gesellschaftlichen Zusammenhang oder ein gesellschaftliches System oder ein Teilsystem an den Rand seiner Funktionsfähigkeit bringen. Und insofern - wenn man wirklich von Krisen sprechen möchte und einen operationalen Begriff davon haben möchte - kann man sagen: 2008, 2009 war ein krisenhafter Moment. Da platzte die Blase, und für wenige Wochen oder Monate hatte man vielleicht das Gefühl: Na ja, vielleicht kommt morgen kein Geld mehr aus dem Bankomaten." Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Universität München, schildert den Höhepunkt der Finanzkrise als das wohl eindrücklichste Beispiel einer Krise in den letzten 20 Jahren. Lessenich definiert Krise über diesen Moment der Zuspitzung. Aber ist die Finanzkrise schon ausgestanden, weil wir über diesen kritischen Moment hinweggekommen sind? Krise ist ein sehr vielfältiges Phänomen, wenn man daran denkt, wo überall Krisen ausgerufen werden: Krise des Renten-, Krise des Gesundheitssystems, ökologische Krise? Egal ob Staat, Parteien, Fußballclubs oder Liebesbeziehungen: alles Mögliche gerät in die Krise, sogar die eigene Identität. Dieser Boom an Krisendiagnosen sei aber in Teilen ein Medienprodukt, erklärt die Trierer Soziologin Nicole Zillien. Es gibt eine Kluft zwischen medialem Hype und gesellschaftlichem Alltag. Zillien konstatiert: "Dass die Mediendarstellungen oder der öffentliche Diskurs, wie Krisen behandelt werden, ja nicht so sehr damit korrespondiert, was im Alltag passiert. Dass eine permanente Krisenthematisierung in den Medien stattfindet. (…) Wenn man überlegt, wie das Thema Waldsterben medial in den Achtzigerjahren ganz stark gemacht wurde und dann auch entsprechend zu alarmistischen Reaktionen in der Bevölkerung geführt hat. Das ist heute gar nicht mehr so zu beobachten, sondern heute ist vielleicht eher die Stimmung: 'Weiter so, und etwas unaufgeregter mit der permanenten Krisenthematisierung umzugehen', weil es eben ein dauerhaftes Krisengerede gibt." Eine Krise der Routinen Haben wir es in der Hauptsache mit einem Krisengerede zu tun? Natürlich ist es so, dass Medien um die Aufmerksamkeit des Publikums kämpfen und Phänomene dramatisieren. Und die inflationäre Rede von Krise zeitigt einen paradoxen Effekt: Je mehr Bereiche und Probleme der Begriff abdecken soll, desto weniger besagt er inhaltlich, desto diffuser und unschärfer gerät er, erklärt Martin Endreß, Professor für Soziologie an der Universität Trier. "Krise ist ein Begriff, der öffentlich Karriere gemacht hat, der im wissenschaftlichen Kontext eine Hochkonjunktur zu verzeichnen hat, (…) er dient als völlig unkonturierte Folie für die Etikettierung jedweder sozialer Phänomene. Von daher ist er eigentlich unbrauchbar. Denn er sagt im Kern nichts weiter aus, als dass wir es mit einer Übergangssituation zu tun haben. Das ist trivial." Während Stephan Lessenich den Begriff Krise in einem engen Sinne für die dramatische Zuspitzung reservieren will, versteht Martin Endreß unter Krise eine Umbruchsituation in einem sehr weiten Sinne. Für solche Umbrüche ist charakteristisch, dass bewährte soziale oder persönliche Verhaltensmuster und Einstellungen nicht mehr greifen. Und diese Zusammenhänge zu untersuchen, sei für eine soziologische Analyse interessant, erklärt Martin Endreß. "Krise der Routinen" - so lautet denn auch der zweite Teil des Kongressthemas der Soziologen: "Auf der einen Seite sind Routinen offenkundig aus der Vergangenheit irritiert, deshalb spricht man davon, sich in einer Krise zu befinden, ob das nun eine Beziehungskrise ist oder eine Finanzkrise oder was auch immer. Und auf der anderen Seite ist der Krisenbegriff eben auch positiv optimistisch konnotiert, insofern die Überzeugung mit seiner Verwendung verbunden ist, es wird auch wieder anders werden, also irgendwelche Routinen werden uns auch den Weg weisen." Sind wir krisenfähig? Verfügen wir über Potenziale, mit der Krise umzugehen? Werden wir unsere Routinen weiterentwickeln, um die Probleme zu meistern? "Routinen der Krise" - so lautet die erste Hälfte des Kongressthemas. Denn Krisen haben nicht nur eine Risiko- oder Verlustseite, sie bergen auch ein produktives Moment, erläutert Nicole Burzan, sie lehrt Soziologie an der Technischen Universität Dortmund. Die Krise als Motor der Wirtschaft "Ein Aspekt der Krise ist aber auch ihre Ergebnisoffenheit, das heißt. nicht alles was Krise ist, muss ganz dramatisch schlecht enden, sondern es kann immer auch ein Anlass sein für sozialen Wandel, der auch wieder neue Chancen öffnet. Das sieht man zum Beispiel schon bei biografischen Krisen, wo man dann sagen kann, es hat zum Beispiel eine Trennung stattgefunden, und das war eine Krise für die Person, die das betraf, aber vielleicht haben gerade heutzutage in einer individualisierten Welt dann später beide Partner ihr Leben noch einmal so gestaltet, dass etwas Gutes daraus geworden ist." Die produktiven Seiten einer Krise lassen sich auch auf der makrosozialen Ebene bestimmen, etwa wenn man auf die Konjunkturzyklen und Börseneinbrüche schaut. Manche Ökonomen gehen noch einen Schritt weiter, wenn sie die Krise nicht als eine lästige, aber unvermeidliche Begleiterscheinung abtun, sondern vielmehr als Motor kapitalistischer Wirtschaft ansehen. Stephan Lessenich: "Die Finanzmarktkrise und die unglaubliche Vernichtung von Werten waren natürlich eine Möglichkeit für einen neuen Aufschwungszyklus. Kapitalistische Entwicklung beispielsweise funktioniert über die krisenhafte Vernichtung von Werten und dann wieder einen neuen Zyklus der Produktivität." Man müsse aber schauen, so fährt Lessenich fort, wer die Gewinner und wer die Verlierer einer Krise seien. Denn typisch für die Bewältigung insbesondere von ökonomischen Krisen sei es, die Kosten und Verluste nach außen in andere Systeme zu verlagern oder auf andere Gruppen oder auch andere Länder abzuwälzen. Lessenich nennt das eine Externalisierung von Krisenphänomen. "Beispielsweise die Bewältigung der Euro Krise hat auch viel damit zu tun, dass Krisenphänomene ausgelagert worden sind, beispielsweise an die südeuropäische Peripherie. Dass das Beschäftigungswunder Deutschlands, und dass Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgeht, vielleicht sogar mit einem ausgeglichenen Staatshaushalt in den nächsten Jahren, viel damit zu tun hat, wer gleichzeitig für diese Krise zu bezahlen hat mit der Einbuße von Lebenschancen langfristig, mit einem kollabierenden Gesundheitssystem, mit hohen Zinsen, die zu zahlen sind auf entsprechende Staatskredite uns so weiter und sofort." Krisenmeldungen empirisch untersucht Aber auch hierzulande zeigen sich Verlierer inmitten des Beschäftigungswunders: Es sind diejenigen, die im boomenden Niedriglohnsektor, bei Discountern, Reinigungsfirmen, privaten Sicherungsunternehmen und bei Zustelldiensten arbeiten, mit befristeten Verträgen oder in Leiharbeit. Man müsse sich deshalb, betont Lessenich, immer das gesamte Bild anschauen, um zu beurteilen, ob und wie eine Krise bewältigt worden ist. In der klassischen Sozialanalyse hieß es immer, dass eine zahlenmäßig starke und selbstbewusste Mittelschicht den Garanten für eine stabile Gesellschaft darstelle. Doch auch für diese Gruppierung kursiert eine Krisendiagnose. Es heißt erstens, die Mittelschicht in Deutschland schrumpfe, und zweitens, sie sei besonders verunsichert, was ihre Zukunft angeht. Nicole Burzan hat sich daran gemacht, diese Krisenmeldungen mit eigenen empirischen Untersuchungen zu überprüfen. "Wir haben zum einen eine Sekundäranalyse des sozioökonomischen Panels als Rahmen durchgeführt, das ist eine wiederholte Befragung bevölkerungsrepräsentativ für Deutschland, und haben da geschaut, was haben die Leute gesagt, machen sie sich sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, haben sie Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und so weiter. Andererseits haben wir Leitfadeninterviews mit zwei Bevölkerungsgruppen geführt, mit zwei Berufsgruppen, die in der Mittelschicht typisch sind, einmal Journalisten, zum andern Qualifizierte in der Verwaltung privater Unternehmen, also zum Beispiel in der Personalentwicklung, und haben mit diesen Leitfadeninterviews geschaut, wie unsicher fühlen sie sich denn. Und was tun sie konkret, entweder gegen diese Unsicherheit oder um ihr vorzubeugen." Nicole Burzan fand die generelle Diagnose einer verunsicherten Mittelschicht nicht bestätigt. Vielmehr zeigte sich in ihrer Untersuchung ein sehr differenziertes Bild. "Interessanterweise stellte sich heraus: Es gibt sowohl diejenigen, die sich zwar unsicher fühlen, dies aber unter bestimmten Bedingungen - sie sind noch recht jung und ungebunden - noch ganz gut aushalten können. Andererseits auch diejenigen, die sich plausibel bei ihrem jetzigen Arbeitsplatz gar nicht so verunsichert fühlen, aber für die doch Unsicherheit prinzipiell eine Bedrohung ist, und die die Zukunft lieber als etwas Unwägbares von sich fernhalten." Krisen werden ausgerufen Sind wir in Deutschland zu schnell mit der Ausrufung von Krisen, mit Verlustängsten und Untergangsbeschwörungen, mit Krisengerede bei der Hand? Nicole Zillien, Soziologin an der Universität Trier, ist der ganzen Frage von Krise auf einem anderen Feld nachgegangen: "Beispielsweise arbeite ich viel zum Bereich der neuen Technologien, was immer mit Krisenhaften verbunden ist, gerade in Deutschland mit großen Bedenken, was Datenschutz oder Ähnliches angeht. Die Berichterstattung zu neuen Technologien ist erst einmal immer eine krisenhafte." Krisen sind nicht einfach da. Es gibt jemanden, der sie ausruft. Es gibt Krisendiagnosen, es gibt die Wahrnehmung von Krisen, aber auch ihre Leugnung. Krisen sind nicht bloß dramatische Momente, es sind Prozesse von Umbrüchen, mit Gewinnern und Verlierern, mit eingeübten Verhaltensformen, die scheitern, und neuen, die erst noch gefunden werden müssen: All das beleuchtet der Soziologiekongress in beinahe 700 Vorträgen unter dem Generalthema: Routinen der Krise – Krise der Routinen. Und ein erstes weiterführendes Forschungsprojekt erscheint bereits am Horizont. "Was wir hier in Trier gerade insbesondere unter starker Beteiligung der Historiker versuchen, ist, einen Forschungsverbund zum Thema Resilienz aufzubauen." Resilienz ist ein Begriff, der in der Psychologie, in pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen bekannt geworden ist. Dort bezeichnet er die individuelle Widerstandsfähigkeit, das Vermögen, sich bei Veränderungen zu behaupten und erfolgreich anzupassen - populär in Buchtiteln wie "Was Kinder stark macht". Dieses Konzept von individueller Selbstbehauptung in existentiellen Krisen, etwa bei Unfällen oder beim Verlust von Angehörigen will die Soziologie nun auch in Bezug auf soziale Gruppen und Gesellschaften fruchtbar machen. "Da sehen wir auch, dass Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß beispielsweise auf Naturkatastrophen, auf Kriege, auf das Zusammenbrechen ihrer kulturellen Deutungssysteme, wie wir es mit dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks erlebt haben, reagieren, unterschiedlich schnell sich umstellen, in unterschiedlichem Ausmaß ihre Traditionen hinüber retten in neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, das soll mit diesem Resilienzbegriff umschrieben und umrissen werden. (…) Also ein unmittelbar auf Krisenphänomene bezogenes Konzept, das der Resilienz, das wir hoffen, ab nächstem Jahr hier in interdisziplinärer Perspektive vielfältig verfolgen zu können."
Von Peter Leusch
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"2014-10-09T20:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:07:41.950000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/soziologiekongress-der-begriff-krise-ist-eigentlich-100.html
90,941
Glatt übersehen
"Bislang dachten wir, dass die Tiefsee von dem abhängt, was von der Meeresoberfläche an Algen und so etwas herunterrieselt. Jetzt sehen wir, dass das nicht stimmt, dass auch vor Ort Nährstoffe produziert werden, indem Viren Bakterien im Meeresboden infizieren und zum Platzen bringen. Ihre Biomasse wird erneut genutzt, und zwar von den anderen Bakterien im Boden, die nicht infiziert worden sind."Bislang dachte man, dass die Tiefsee von dem abhängt, was von der Meeresoberfläche an Kadavern und Planktonresten absinkt, erklärt Antonio dell'Anno von der Polytechnischen Universität der Marken in Ancona. Nur die chemischen Lebenswelten wie die berühmten Schwarzen Raucher sollten unabhängige Oasen in den schlammigen Weiten der Meere sein. Aber jetzt ist klar, dass das nicht stimmt, sagt der Mikrobiologe: In den Tiefseeböden erzeugen Viren die Nahrung für andere. Das verraten Proben, die entlang des europäischen Kontinentalsockels von Spitzbergen bis Spanien genommen worden sind, und auch Proben aus dem Pazifik. Dell‘Anno:"Wir konnten mit unserer Arbeit erstmals nachweisen, dass die Viren im Ökosystem Tiefsee eine Schlüsselrolle spielen. Sie infizieren die Bakterien im Sediment und sind dabei offenbar wesentlich wirksamer als im Flachwasser. Dort fällt ihnen maximal ein Fünftel der Bakterien zum Opfer, unterhalb von 1000 Metern Tiefe sind es mehr als 90 Prozent. In den oberen Zentimetern Tiefseeboden ist die Bakteriendichte mit 100 Millionen bis eine Milliarde Zellen pro Gramm Sediment enorm hoch - und ebenfalls die Virendichte."Jedes Jahr erzeugen die Viren "Bakterienmüll" im Wert von mehr als 630 Millionen Tonnen Kohlenstoff. Dell‘Anno: "Dieser Mechanismus bringt immerhin ein Drittel der Kohlenstoffs, den das Bodenleben dort unten braucht. Ein Drittel dieser Nahrung wird also von den Viren im Tiefseeboden geliefert. Die Viren sind möglicherweise die vielfältigsten biologischen Einheiten auf der Erde, und wir finden sie hier in einer ganz unerwarteten Rolle als wichtige Lieferanten von Nahrung in der Tiefsee, dem größten Ökosystem der Erde."Zwischen den Bakterien und ihren Widersachern, den Viren, besteht ein fein austariertes Verhältnis. Zwar fällt nahezu jedes Bakterium letzten Endes einem Virus zum Opfer, doch bis dahin lebt es sich dort unten hervorragend. Dell‘Anno:"Die überlebenden Bakterien ernähren sich von den Resten der anderen, die ihrem Killer früher begegnet sind. In diesem Ökosystem sind die Viren wie Raubtiere, die ihre Beute erlegen - und die Bakterien profitieren davon und verspeisen die Reste wie die Geier. Eigentlich ist es eine Art Kannibalismus in der Tiefe"Beide Parteien hängen voneinander ab: Die Viren müssen die Bakterien kapern und töten, um sich fortzupflanzen - und die gesunden Bakterien setzen sich sozusagen an den von den Viren gedeckten Tisch. Ohne diese Hilfe würden sehr viel weniger Bakterien im Sediment leben. Offenbar produzieren die Viren also durch ihre zerstörerische Tätigkeit einen großen Teil des Fundaments für die Nahrungspyramide direkt vor Ort, im Meeresboden der Tiefsee - und weil ihr Einfluss so groß ist, machen sie auch noch den Tieren Konkurrenz. Antonio dell‘Anno: "Was machen die Viren eigentlich, wenn sie ihre ‚Beute‘ erlegen? Sie nehmen den höheren Organismen die Nahrung weg. Je stärker der Virendruck ist, desto weniger bleibt für Organismen übrig, die höher in der Nahrungspyramide stehen."Das ist Pech für die Würmer.
Von Dagmar Röhrlich
Einer der wichtigsten Faktoren im Ökosystem Tiefsee ist anscheinend bislang glatt übersehen worden: die Viren. Verwunderlich ist das allerdings nicht, denn Viren sind mit bloßem Auge nicht zu entdecken und für nahezu alle Funktionen müssen sie andere einspannen. Doch sie haben es in sich. In der aktuellen „Nature" berichten Forscher aus Italien und Frankreich, dass sie mörderische Recyclingexperten sind.
"2008-08-28T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:48:06.082000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/glatt-uebersehen-100.html
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Im Dschungel vor der Räumung
Blick auf das Flüchtlingslager in Calais, das auch als "Dschungel" bezeichnet wird, im August 2016. (AFP / PHILIPPE HUGUEN) Nun wird er also wirklich geräumt, der sogenannte Dschungel von Calais. Djag steht zwischen zwei Pfützen auf dem nassen Kieselweg und deutet auf eine dreckige, notdürftig zusammengezimmerte Holzhütte, die seit Wochen sein Unterschlupf ist. Dass er diese Hütte nun verlassen soll, ist ihm ziemlich egal: "Das Leben hier im Dschungel ist etwas für Tiere, nicht für Menschen. Hier will keiner lange bleiben. Jetzt hat jeder die Wahl: Wer noch verschwindet, der verschwindet. Ich werde wahrscheinlich nach Italien gehen, weil ich dort meinen Asylantrag gestellt habe. Hier über die Grenze nach England zu kommen, ist sowieso echt schwierig." Djag stammt eigentlich aus Afghanistan, doch das Land ist viel zu gefährlich zum Leben, sagt er. Seit 2004 ist er deshalb schon in Europa unterwegs. Im Gegensatz zu den meisten der Tausenden Flüchtlinge im Dschungel, war er auch schon für längere Zeit in England, dem Land von dem alle hier träumen - bis er von dort wieder abgeschoben wurde: "Das ist ein guter Ort, um zu arbeiten, man hat seine eigene Wohnung dort, ist frei. Alles, was Du machen willst – da kannst Du es machen." Flüchtlinge wollen nach Großbritannien Es sind genau diese Geschichten, die die Augen der anderen Flüchtlinge leuchten lassen. Djanah, ebenfalls aus Afghanistan, versucht seit drei Monaten jede Nacht, vom Dschungel aus irgendwie illegal mit einem Lkw nach England zu gelangen. Dass sie nun das Lager räumen und er an irgendeinen anderen Ort in Frankreich gebracht werden soll, ist für ihn undenkbar: "Wenn der Dschungel geräumt wird habe ich keine Unterkunft, keine Freunde mehr. Aber in Frankreich will ich sowieso nicht bleiben, ich will doch nach England, da habe ich Familie. Ich werde es weiter jede Nacht versuchen, auch, wenn sie uns mit Tränengas angreifen, so wie neulich erst." Bei der Hilfsorganisation "Auberge des migrants" versuchen sie seit Wochen, die Migranten im Dschungel auf die schon lange geplante Räumung vorzubereiten. Christian Salomé, Präsident von "Auberge des migrants", glaubt, dass etwa die Hälfte der zuletzt geschätzt etwa 10.000 Migranten froh ist, den schlimmen Bedingungen des Dschungels zu entkommen. Die andere Hälfte aber, fürchtet Salomé, wird versuchen, in Calais zu bleiben: "Rund 1000 Migranten sind schon aus dem Dschungel verschwunden, in andere Lager oder zum Beispiel nach Belgien. Andere sind erstmal nach Paris gegangen. Aber die, die nach England wollen, werden sich hier irgendwo um Calais verstecken. Nur wo sollen die dann die Nächte verbringen?" Nervosität steigt Dass die Nervosität unter den Migranten in den vergangenen Tagen gestiegen ist, haben vor allem die Lkw-Fahrer erleben müssen, berichtet Sébastien Rivera vom örtlichen Fuhrunternehmer-Verband: "Die angekündigte Räumung hat die Aggressivität noch einmal gesteigert. Sie versuchen, auf dem Hafenzubringer Blockaden zu errichten und wenn die Lkw halten müssen, bedrohen sie die Fahrer und brechen in ihre Lkw ein, um so vielleicht nach England zu kommen." Dass es auch bei der Räumung des Dschungels zu gewalttätigen Zwischenfällen kommen könnte, mag Christian Salomé von "Auberge des migrants" zwar nicht ausschließen. Er glaubt aber, dass den meisten Migranten daran überhaupt nicht gelegen ist: "Die Menschen, die vor Krieg fliehen, sind nicht aggressiv, sondern sie sind Flüchtlinge. Sie sind gerade mal mit den Kleidern, die sie am Leib tragen, hier angekommen. Hier konnten sie sich zum ersten Mal etwas ausruhen. Wenn sie jetzt ihre Hütten zerstören, werden sie einfach ihre Mäntel nehmen und gehen. Und sie werden ruhig gehen."
Von Marcel Wagner
Heute soll der sogenannte Dschungel von Calais geräumt werden. Die französischen Behörden wollen die dort lebenden etwa 10.000 Flüchtlinge auf andere Unterkünfte verteilen. Deren Ziel ist eigentlich Großbritannien - entsprechend ist die Atmosphäre angespannt.
"2016-10-24T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T19:00:54.963000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingslager-calais-im-dschungel-vor-der-raeumung-100.html
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Wie aus dem Schofar die Posaune wurde
Wenn Engel musizieren, dann zumeist mit Blechblasinstrumenten (imago stock&people / Panthermedia / Leander) "Protestantismus ohne Posaunen – das wäre wie Weihnachten ohne Gänsebraten."Jörg-Michael Schlegel, Landesposaunenwart, Leipzig "Rosch Haschana ohne Schofartöne wäre wie ein Butterbrot ohne Brot." Elijahu Tarantul, Rabbiner, Nürnberg "Ein Schofar ist so naturbelassen wie möglich" Am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana und in den vier Wochen zuvor wird in den Synagogen auf der ganzen Welt das Schofarhorn geblasen. Auch am Ende des Versöhnungstages Jom Kippur ertönt sein Klang. Elijahu Tarantul sagt: "Ein Schofar ist ein Musikinstrument aus der uralten Zeit. Es ist ein Widderhorn mit einem Hohlraum innen. Es ist so naturbelassen wie möglich. Es gibt kleine und große Schofaroth. Hier, in Zentral- und Westeuropa, ist es üblich, kleine Schofaroth zu bauen. Unter orientalischen Juden ist es eine Tradition, lange, fast einen Meter lange Schofaroth herzustellen." Wie ihre Nachbarn im Vorderen Orient waren die Israeliten ursprünglich Nomaden. Aus den Hörnern ihrer Tiere bauten sie Musikinstrumente: sogenannte Schofaroth. Melodien konnten sie darauf nicht spielen. Aber die Instrumente waren gut geeignet, um Menschen zusammenzurufen oder um Alarm zu schlagen. Schon früh diente der Schofar auch zu kultischen Zwecken. Die Thora berichtet, er sei bei religiösen Anlässen gespielt worden: etwa, wenn die Priester bei Prozessionen neben der Bundeslade herzogen. In der Bundeslade sollen die Gesetzestafeln gelegen haben, die Mose laut biblischer Überlieferung am Berg Sinai von Gott erhalten hatte. Lob statt Warnung In den meisten deutschen Bibelübersetzungen ist allerdings nicht vom Schofar die Rede oder von einem Widderhorn, sondern von Posaunen. Der Grund dafür: Martin Luther übersetzte vor 500 Jahren das hebräische "Schofar" mit dem deutschen "Posaune" und in einigen Fällen auch mit "Trompete". Nicht nur Luther, auch viele andere Bibelübersetzer wählten für "Schofar" ein zu ihrer Zeit gebräuchliches Blasinstrument mit einem besonders lauten Ton. Sie wollten das biblische Geschehen für ihre Zeitgenossen sinnlich erlebbar machen. Im Judentum soll der Klang des Schofars den Menschen wachrütteln – bis heute. Der Klang des Schofars an Rosch Haschana ermuntert den Menschen, achtsam zu leben und religiös-moralisch Bilanz zu ziehen. Der Mensch soll darüber nachdenken, wie er sich im zu Ende gehenden Jahr verhalten hat, sagt der Nürnberger Rabbiner Elijahu Tarantul. "Der Tag des Gerichts kommt, man soll aufwachen und versuchen, das Urteil des Gerichts zum Positiven zu beeinflussen." Der Aufstieg der Posaune im Christentum geht maßgeblich auf Martin Luthers Bibelübersetzung zurück (Cranach) Ganz anders als beim Schofar im Judentum verhält es sich mit der Posaune im Christentum. Ihre liturgische Funktion unterscheidet sich vollkommen von der des Schofars. An die Stelle des Mahnenden tritt das Lob Gottes. So wie es in Martin Luthers Übersetzung von Psalm 150 heißt: "Lobet Gott in seinem Heiligtum! Lobet ihn mit Posaunen!" Schrill und archaisch Im hebräischen Originaltext ist nicht von Posaunen die Rede, sondern vom Schofar. Dass Luther das hebräische Wort nicht mit "Widderhorn", sondern mit "Posaune" übersetzte, hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Kirchenmusik. So entstanden seit dem 18. Jahrhundert in den protestantischen Kirchen Posaunenchöre, kleine Gruppen von Blechbläsern. Aus den protestantischen Gemeinden in Deutschland sind sie heute nicht mehr wegzudenken. Posaunenchöre zählen inzwischen sogar zum Immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Sie gestalten die Gottesdienste musikalisch und spielen auch außerhalb der Kirchen auf öffentlichen Plätzen. Das Repertoire ist groß, sagt der Leipziger Posaunenwart Jörg-Michael Schlegel: "Die Visitenkarte der Posaunenchöre ist der Choral, aber auch geistliche Volkslieder. Überhaupt gehören Volkslieder schon immer zum Repertoire der Posaunenchöre. Und mittlerweile wird eigentlich alles gespielt. Je nach Situation kann man auch einen Gospel oder einen Filmhit spielen oder Marsch- und Blasmusik machen." Anders als die Posaune eignet sich der Schofar nicht zum Musizieren, sagt der Nürnberger Rabbiner Elijahu Tarantul. Er beschreibt den Ton des Widderhorns so: "Schrill, durchdringend, archaisch, von der musikalischen Seite her gesehen wahrscheinlich auch primitiv, nicht zur Unterhaltung und nicht zum Genuss bestimmt, sondern zum Wachrütteln." Manchmal ist das Rütteln so stark, dass sogar Steine vom Ton erweicht werden. Die berühmten "Posaunen von Jericho" sollen die Mauern der alten kanaanitischen Stadt zum Einsturz gebracht haben. Es waren aber keine Posaunen. Auch hier ist im Originaltext von Schofarhörnern die Rede. Die Posaunen von Jericho sind also ebenfalls Luthers Übersetzung zu verdanken - der Einsturz der Mauer hingegen Widderhörnern. Im hebräischen Original berichtet die Bibel davon, wie Gott zu Josua, dem Heerführer der Israeliten, spricht: "Siehe da, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hände gegeben. Lass alle Kriegsmänner rings um die Stadt her gehen einmal, und tue das sechs Tage so. Und lass sieben Priester sieben Schofarhörner tragen vor der Lade her, und am siebten Tag geht siebenmal um die Stadt, und lass die Priester die Schofarhörner blasen. Und wenn man dann das Schofarhorn bläst, so soll das ganze Volk ein großes Kriegsgeschrei machen. Dann werden die Mauern der Stadt einfallen, und das Volk soll hineinsteigen." "Die Posaune ist ein Menschenwerk" Im alten Israel gab es zahlreiche Instrumente, mit denen man – anders als mit dem Schofar – tatsächlich Musik machen konnte. So erzählt die Bibel im 1. Buch der Chronik davon, wie König David nach Jerusalem einzieht: "Und David zog hinauf mit ganz Israel. Und sie spielten vor Gott aus ganzer Macht mit Liedern, mit Harfen, mit Psaltern, mit Pauken, mit Zimbeln und mit Trompeten." Die Bibel kennt neben dem Schofar also auch Trompeten. Sie unterscheiden sich grundlegend von heutigen Trompeten. Es waren kurze Blasinstrumente mit Schalltrichter. Sie wurden aus Holz, aber auch aus getriebenem Bronze- oder Silberblech gefertigt. Die Israeliten nannten die Trompete "Chazozera". Auf Deutsch bedeutet dies so viel wie "die Zusammenruferin". Nachdem diese Trompete in den Tempelkult eingeführt worden war, übernahm sie viele Funktionen des weitaus älteren Schofars. Von all den Instrumenten, die im alten Israel bei kultischen Zeremonien gespielt wurden, erklingt seit der Tempelzerstörung vor bald 2000 Jahren nur noch der Schofar. Rabbiner Elijahu Tarantul betont, dass der Klang des Schofars ganz anders ist als der einer Trompete oder Posaune. "Posaune ist ein Menschenwerk, ein Instrument, das von der Herstellung viel mehr beeinflusst ist als ein Schofar. Ein Schofar ist so weit wie möglich naturbelassen. Die Posaune, die aus dem Metall entsteht, hat eine längere Technologiekette hinter sich. Die Posaune befindet sich weiter entfernt von der ursprünglichen Schöpfung als ein Schofar." Das Schofarhorn hat einen festen Platz im Judentum (AFP) In vielen biblischen Geschichten wird immer dann Schofar geblasen, wenn man aufhorchen soll, weil etwas Wichtiges passiert. So schreibt der biblische Prophet Jesaja: "Alle Bewohner des Erdkreises und die ihr auf Erden wohnt: Wenn ein Kriegsbanner auf den Bergen aufgepflanzt wird, so seht hin, und wenn man den Schofar bläst, so horcht auf!" Dass durch Luthers Übersetzung aus dem Schofar eine Posaune wurde, schlägt sich auch in der europäischen Orchestermusik nieder. Die Funktion, die in der biblischen Antike der Schofar hatte – nämlich anzukündigen, dass jetzt etwas Wichtiges geschieht –, übernahm hier die Posaune. Viele Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Anton Bruckner, Richard Wagner oder Felix Mendelssohn Bartholdy neigten dazu, Posaunen einzusetzen, wenn in ihren Stücken etwas Wesentliches passiert, oder etwas Religiöses, Mystisches. Vom Berg Moria nach Herrnhut Die meisten Schofaroth werden aus einem Widderhorn hergestellt, manche auch aus dem Horn einer Antilope. Doch eigentlich kann das Horn eines jeden koscheren Tieres verwendet werden. Mit einer Ausnahme: Das Horn eines Rindes ist verboten – denn es erinnert an die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb. Schofaroth aus dem Horn des Widders haben einen hohen Symbolgehalt. Sie erinnern an eine der bekanntesten antiken Erzählungen. Die Bibel berichtet im 1. Buch Mose davon, wie Abraham auf den Berg Moria hinaufsteigt. Er soll dort, auf Befehl Gottes, seinen Sohn Isaak opfern. Doch im letzten Moment nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung: "Da rief der Engel des Herrn vom Himmel zu Abraham: ‚Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht verschont.‘ Da hob Abraham die Augen und sah, dass sich hinter ihm ein Widder mit seinen Hörnern in einer Hecke verfangen hatte. Abraham ging hin und nahm den Widder und opferte ihn als Brandopfer an seines Sohnes statt." Der Widder spielt in der Geschichte von Abraham und Isaak eine besondere Rolle (imago / Le Pictorium) Es ist ein weiter Weg vom Widder in der biblischen Geschichte auf dem Berg Moria über Luthers Bibelübersetzung bis hin zu den heutigen protestantischen Posaunenchören. Einer der ersten Posaunenchöre entstand im 18. Jahrhundert in dem kleinen Ort Herrnhut in der Oberlausitz. Dort hatten sich protestantische Flüchtlinge aus Böhmen niedergelassen: die sogenannten Böhmischen Brüder. Beeinflusst vom Pietismus wollten sie die Ideen Martin Luthers mit neuem Leben füllen und vor allem den Alltag heiligen. Dies taten sie mit viel Musik: Jeden Abend versammelten sie sich und sangen gemeinsam Choräle. Einige Flüchtlinge hatten ihre Waldhörner aus Böhmen mitgebracht, und bald schaffte man auch ein paar Posaunen an. In seinem Lebenslauf erinnert sich ein Mann namens David Hans, wie er an einem Sommerabend 1731 nach der Singstunde in Herrnhut eintraf: "Da eben in diesen Tagen die Gemeinde ihre ersten Posaunen bekommen hatte, so bewillkommten sie uns mit denselben, und die Brüder sangen das Lied dazu: ‚Wie schön ist unsers Königs Braut‘, welches mich so einnahm, dass ich glaubte, ich wäre nicht mehr auf dieser Welt und wusste mich vor Weinen nicht zu lassen." Bald war der Posaunenchor zu einer festen Einrichtung in Herrnhut geworden. Dass Blasinstrumente, und allen voran der Schofar, bereits bei den Israeliten diese Funktion hatten, war den bibeltreuen Herrnhutern durchaus bewusst. Die Herrnhuter erkannten rasch, dass sie durch ihre berührende Musik Menschen aus der Umgebung anlocken und für ihre Lebensweise gewinnen konnten. Und so setzten sie die Blasmusik ganz gezielt zum Missionieren ein. "Denn posaunen wird es..." In den jüdischen Gemeinden wurde, wie in den Jahrhunderten zuvor und danach, auch in dieser Zeit weiterhin jedes Jahr an Rosch Haschana und Jom Kippur Schofar geblasen. Wichtiger jedoch als das Blasen ist das Hören des Schofars. Es ist eine religiöse Pflicht, eine Mitzwa, den Klang zu hören. Er ist Weckruf, Klage und Verheißung. Der mittelalterliche jüdische Gelehrte Sa‘adja Ben Josef schreibt: "Der Klang des Schofars erinnert an die Erschaffung der Welt. Er soll den Menschen berühren und ihn dazu bewegen, seine Verfehlungen zu bereuen. Zudem erinnert der Klang an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und an den Tag des Gerichts." Außerdem heißt es, der Schall eines Schofars werde das Kommen des Messias ankündigen. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass eines Tages alle Toten auferstehen. Auch im christlichen Neuen Testament ist im Zusammenhang mit der Auferstehung der Toten von der "letzten Posaune" die Rede. Der Apostel Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther: "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune. Denn posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt unverweslich, und wir werden verwandelt." "Mission ist eigentlich ein ganz positiver Begriff" Im 19. Jahrhundert war vor allem die christliche Erweckungsbewegung der geistige Nährboden für die protestantischen Posaunenchöre. Damals hatten sich viele Menschen durch die Industrialisierung von den Kirchen entfernt. Einige Pfarrer regten an, diese Menschen wieder an die Kirchgemeinden heranzuführen, vor allem die jungen Männer. So entstand die Idee, Posaunenchöre zu gründen. Die jungen Männer sollten auf öffentlichen Plätzen spielen und würden durch ihre Musik weitere Menschen zurück in die Kirchen holen. So die Hoffnung. Heute sind die Posaunenchöre eine Art Massenbewegung. Christliche Bläser aus ganz Deutschland treffen sich zu Großveranstaltungen. Die letzten beiden waren die Deutschen Evangelischen Posaunentage 2008 in Leipzig und 2016 in Dresden. Der Posaunenwart Jörg-Michael Schlegel hat sie federführend mitorganisiert. Man spielte in Kirchen, auf Bühnen, Marktplätzen und in Parks. Beim Abschlussgottesdienst 2008 in Leipzig formierte sich gar ein Posaunenchor von 16.000 Bläsern. Er wurde ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen als das weltweit größte Blechbläserensemble. Bis heute ist es eine zentrale Aufgabe der Posaunenchöre, den Menschen die christliche Botschaft nahezubringen, sie zu missionieren. Deshalb heißt auch heute noch mancher Verband, in dem die Posaunenchöre auf Landesebene organisiert sind, "Posaunenmission". So zum Beispiel in Sachsen. "Mission ist natürlich ein problematischer Begriff, weil man sehr viel Negatives mit Mission in Verbindung bringt. Aber eigentlich ist das ein ganz positiver Begriff. Wir würden, wenn wir uns 'Posaunendachverband' nennen würden, etwas aufgeben. Deshalb ist der Begriff Mission auch richtig an der Stelle." Posaunenchöre zählen zum Immateriellen Weltkulturerbe (dpa / picture alliance / Winfried Wagner) Schaut man sich die bunt gemischte Besetzung von Posaunenchören an – vom Flügelhorn bis zur Tuba –, so verwundert es, dass die Bläserensembles nach der Posaune benannt sind. In etlichen Posaunenchören sind überhaupt keine Posaunen vertreten. Doch der hohe Symbolgehalt der biblischen Posaune – die doch eigentlich ein Widderhorn war – gab den Bläsergruppen diesen Namen. "Diese Begrifflichkeit kommt vor allem aus der Bibelübersetzung. Aber von vornherein war im 19. Jahrhundert eigentlich die Posaune als Instrument tatsächlich nur geduldet. Viel beliebter war es damals, Horninstrumente zu benutzen. Die ganze Bügelhorn- und Tubafamilie ist ja auch erst im 19. Jahrhundert entstanden. Und diese Mischung – ein weicher Ton, der so ein bisschen an die Vokalstimme erinnert und trotzdem leicht zu spielen und zu erlernen ist – das waren die Instrumente der Wahl." Schofar und Shoah Gemeint sind die sogenannten Flügelhörner oder auch Kuhlo-Hörner. Sie sind nach Johannes Kuhlo benannt, dem Urvater der Posaunenchorbewegung.Johannes Kuhlo war Pfarrer in den Bethelschen Anstalten bei Bielefeld. Von dort aus förderte er ab Ende des 19. Jahrhunderts den Aufbau der Posaunenarbeit in ganz Deutschland. Bis heute genießt Kuhlo großes Ansehen in der Posaunenchorbewegung. Doch was viele nicht wissen – oder nicht wissen wollen: Johannes Kuhlo war ein fanatischer Anhänger Hitlers und ein glühender Antisemit. Seinen tiefen Judenhass begründete er mit der Bibel. So schreibt er an einen Pfarrerkollegen: "Die Juden müssen die Wahrheit der Bibel erleben, die schon vor über 2000 Jahren vorausgesagt hat, dass sie zur Strafe für ihren Abfall von Gott unter alle Völker zerstreut werden sollen und jedem Volk, da sie hinkommen, ein Fluch seien, ja ein Scheusal! Wie genau doch alle Aussagen der Bibel sich erfüllen! Gott schütze unsern geliebten Führer!" 1933 wird Johannes Kuhlo "Reichsposaunenführer". Er nimmt eine Posaunenchorfassung des Horst-Wessel-Lieds in seine Notensammlungen auf, und so mancher Posaunenchor beendet seine Proben von nun an mit: "Sieg Heil!" Der braune Schatten über der Geschichte der Posaunenchorbewegung ist bis heute nicht aufgearbeitet – sondern vielmehr in Vergessenheit geraten. Viele Juden aber können und wollen nicht vergessen, was damals geschah. Bis heute ertönt jedes Jahr beim Marsch der Lebenden in Auschwitz der Ton des Schofars. Und in Israel ertönt am jährlichen Holocaustgedenktag zwei Minuten lang eine Sirene. Elijahu Tarantul sagt: "Schofar ist eine Sirene, ist ein Alarmzeichen. Es ist eine Warnung gegen das Vergessen. Es ist ein Signal der Erinnerung, um Menschen wachzurütteln." Der Schofar und die Posaune – sie tragen in vielen Übersetzungen der Bibel zwar denselben Namen, doch sie klingen nicht nur grundverschieden. Sie unterscheiden sich auch stark in ihrer religiösen Bedeutung. Fast wirkt es, als würde der jüdische Schofar mit seinem Ruf warnen wollen vor der triumphierenden christlichen Posaune.
Von Tobias Kühn
Juden und Christen gehören zusammen - und haben sich doch irgendwann auseinandergelebt. Wie ein zerstrittenes Geschwisterpaar. Selbst an Musikinstrumenten lässt sich das ablesen. Schofar und Posaune tönen sehr unterschiedlich - und doch sind sie verwandt.
"2019-07-17T20:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:01:33.229000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vom-horn-zum-blech-wie-aus-dem-schofar-die-posaune-wurde-100.html
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Soziologe Welzer: "Das Gegenteil eines Lernprozesses"
Das Braunkohlekraftwerk Jänschwalde der LEAG (Lausitz Energie Kraftwerke AG) und Stromleitungen in Brandenburg (imago images/Jochen Eckel) Vor fast genau 50 Jahren veröffentlichte der Club of Rome eine Studie mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“, welche anhand von Rechenmodellen erstaunlich klar voraussagte, was heute Realität ist. Trotz dieser Vorhersagen habe die Gesellschaft kaum Veränderungen akzeptieren wollen, sagte der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer im Dlf. "Erstmal neigen wir nicht zu Veränderungen, wenn wir nicht dazu gezwungen werden." Zum anderen sei der Wachstumskapitalismus ein "unglaubliches Erfolgsmodell", was für viele Menschen Wohlstand, Komfort und andere positive Errungenschaften mit sich gebracht habe. Andererseits habe der Mensch "mythische Figuren" hervorgebracht, mit denen er sich einreden könne, dass man die Zerstörung der natürlichen Umwelt durch technischen Fortschritt aufhalten könne. Dabei handele es sich aber um eine Lebenslüge. "Aber Wachstum ist gesteigerter Verbrauch, und gesteigerter Verbrauch bedeutet mehr Extraktion von Materialien mit mehr Energieaufwand für mehr Produkte, die mehr Aufwand für die Entsorgung benötigen. Und damit kann man nie im Leben ökologische Probleme bekämpfen." Der Mensch müsse die Gesellschaft von Grund auf "anders denken". Das Interview in voller Länge Anja Reinhard: Haben wir etwas aus den Vorhersagen des "Club of Rome" gelernt? Harald Welzer: Zunächst einmal ist das ganz deprimierend. Das wesentliche Argument der Studie damals war ja ein nichtkatastrophisches Argument und auch kein apokalyptisches. Sondern es war ja die Mitteilung, dass, wenn man – wir sprechen über das Jahr 1972 – mit der Art des wachstumsorientierten Wirtschaftens weitermacht, man zu Beginn des 21. Jahrhunderts massive Probleme bekommen wird, und das war recht gut begründet. An einigen Stellen hat sich das als historisch falsch erwiesen, an anderen Stellen aber als richtig und in der Grundtendenz natürlich als absolut richtig, weil: Wir haben die Probleme jetzt. Und das Verrückte ist ja, dass – hätte man die Studie vor einem halben Jahrhundert ernst genommen – die Autos kleiner und nicht größer hätten werden müssen, die Wohnflächen geringer und nicht größer, die Welt-Expansionsreisen weniger und nicht mehr. Und alle Parameter sind in die gegenteilige Richtung gestellt worden, als es eigentlich nach Maßgabe der Studie hätte sein müssen. Mehr zum Thema 50 Jahre Club of Rome: Der kritische Blick auf das Wachstum Club of Rome: Die Zukunft des Planeten Welzer vs. Töpfer: Sind wir alle Öko-Heuchler? Klimakrise: Die Macht und Ohnmacht der Verbraucher Klimaschutz: Ökologische Notwendigkeit und soziale Gerechtigkeit Anja Reinhard: Jetzt würde ich sie mal gezielt als Sozialpsychologen fragen. Vor 50 Jahren konnte man sich das vielleicht noch nicht vorstellen. Da war das vielleicht einfach auch noch einen Zeitraum, der ja entworfen wurde in dieser Studie, der zu groß war für das Vorstellungsvermögen eines gewöhnlichen Menschen. Man hätte aber doch nach 20, 30 Jahren eigentlich merken müssen, dass da schon was dran ist. Wieso hat sich immer noch nichts geändert? Harald Welzer: „Weil das unschön ist. Also erstmal neigen wir nicht zu Veränderungen, wenn wir nicht dazu gezwungen werden. Zum anderen leben wir ja im Wachstumskapitalismus in einem unglaublichen Erfolgsmodell, was für viele Menschen Wohlstandsmehrung, Komfort und alles Mögliche positiv Empfundene mit sich gebracht hat. Wenn man jetzt sagt, das war zwar schön, aber das müssen wir verändern, will das natürlich eigentlich niemand. Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer hat sich in mehreren Publikationen mit den Themen Klima, Wachstum und Nachhaltigkeit beschäftigt. (picture alliance / dpa/ Horst Galuschka) Und genau dieses, „Wir wollen das eigentlich nicht“, hat sich ja jetzt als Ergebnis von Politik niedergeschlagen. Und zwar indem man nicht darüber spricht, dass wir unsere Lebensstile verändern müssen, dass man sich umstellen muss, dass die fetten Jahre vorbei sind – sondern man hat ja ein Modell gefunden, wo man sagt, wir haben total tolle Technologien, wir haben super Ingenieurinnen. Und wir können jetzt einfach so weitermachen. Wir machen nur etwas ganz Tolles, und das heißt Dekarbonisierung, und damit retten wir die Welt. Das heißt, man hat sich eigentlich dieses Problems entledigt, indem man, wie ich sagen würde, eine mythische Figur aufgebaut hat, weil die ganze Problematik der Ressourcenübernutzung und der Naturzerstörung mit dieser technischen Lösung überhaupt nicht behoben ist. Anja Reinhardt: Das ist das, was sie „magisches Denken“ nennen. Und dazu würde wahrscheinlich auch gehören, so etwas wie European Green Deal Green Economy. Mittlerweile gibt es auch Green Culture. Also ist es letztlich „Greenwashing“? Harald Welzer: Nicht immer. Ich möchte da auch nicht missverstanden werden. Ich finde, viele Ansätze haben einen richtigen Kern. Und natürlich ist, wenn man ein Konjunkturprogramm machen will, ist es dann gut, wenn es dann darauf ausgerichtet ist, nachhaltigere Produktionsweisen, nachhaltige Bauformen und sonstwas zu fördern, wie das auch bei diesem neuen Bauhaus auf europäischer Ebene zumindest mal formuliert ist. Das ist eigentlich richtiger als das, was man vorher gemacht hat. Wir erinnern uns an die Finanzkrise, wo man Verschrottungsprämien für funktionierende Autos gegeben hat und so was. Aber grundsätzlich liegt die Lebenslüge und damit auch das Disfunktionieren der Strategien einfach darin, dass wir die ganze Zeit behaupten, man könne weiterhin wirtschaftlich wachsen und das Klima und die Umwelt schützen. Aber Wachstum ist gesteigerter Verbrauch, und gesteigerter Verbrauch bedeutet mehr Extraktion von Materialien mit mehr Energieaufwand für mehr Produkte, die mehr Aufwand für die Entsorgung benötigen. Und damit kann man nie im Leben ökologische Probleme bekämpfen. Anja Reinhardt: Jetzt könnte man sagen, der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und das dauert eben, bis man sich an andere Realitäten vielleicht gewöhnt hat oder sie zumindest angenommen hat und verstanden hat, dass man etwas ändern muss. Allerdings können wir ja auch sagen, es gab 2020 im Frühjahr diesen großen Einschnitt mit dem ersten Lockdown. Und da haben wir alle vielfach gehört: Was für eine große Erleichterung das für viele Menschen war, plötzlich eben keine Termine mehr zu haben, nicht mehr die ganze Zeit mit dem Auto hin- und herzufahren. Also alles das, was sozusagen den Energieverbrauch antreibt. Es sieht ja aber so aus, als ob wir daraus gar nichts gelernt hätten. Harald Welzer: Haben wir auch nicht. Und warum sollte man auch? Ich meine, die Menschen kriegen ja von morgens bis abends erzählt, dass es unheimlich gut ist, wenn sie mehr Produkte haben, wenn sie sich mehr durch die Welt bewegen, wenn sie noch weitere Reisen machen. Die Erzählung ist jetzt inzwischen die, dass wir unfassbar leiden, dass unser Bewegungsraum und unsere Tourismus-Möglichkeiten durch Corona eingeschränkt sind. Wir lesen den Wirtschaftsteil der Zeitung, da feiern sich alle dafür, dass trotz Corona es Wachstumsraten gibt, die Aussichten für die nächsten Jahre sind fantastisch, weil es eine riesige Aufholjagd geben wird und so was. Da ist sozusagen das Gegenteil eines lernen Lernprozesses zu verzeichnen. Und dasselbe wird man in Bezug auf das nächste große Problem eben die realen Auswirkungen des Klimawandels. Das wird kleingeredet, es wird ignoriert. Denken Sie an das Ahrtal: Es ist auch eine total verrückte Geschichte, dass wir die Realität des Klimawandels in dieser Weise mit 200 Todesopfern vorgeführt bekommen. Und es ist nicht mal ein Thema im Wahlkampf gewesen. Anja Reinhardt: Wir leben ja auch in einem System, in dem sich in den letzten Jahrzehnten der Staat eigentlich aus dem Prinzip Verantwortung immer mehr herausgehalten hat. Stattdessen muss das Individuum das übernehmen. Übrigens auch das konnte man im Ahrtal sehen. Muss sich das grundlegend ändern? Harald Welzer: Naja, also, wenn man über Regierungshandeln spricht, dann ist es natürlich, glaube ich, erforderlich, dass wir eine Idee von einer Gesellschaft mit großen ökologischen Problemen entwickeln müssen. Also wenn wir zum Beispiel nur das Wort Klimakrise nehmen, dann suggeriert ja schon allein dieses Wort, dass wir es mit etwas Vorübergehendem zu tun haben: Irgendwann wird diese Krise vorbei sein, sonst wäre sie keine Krise. Das ist ja Quatsch. Wir werden mit dem Klimawandel und seinen Folgen leben, und zwar noch sehr, sehr lange, übrigens auch deswegen, weil es bislang noch null Prozent Emissionsreduktion im globalen Maßstab gegeben hat. Also werden diese Probleme anhalten, die damit verbundenen sekundären Probleme, verstärkte Flüchtlingsbewegungen, größere Schäden durch Extremwetterereignisse – alles das wird Realität sein. Das heißt, wir müssen unsere Gesellschaft anders denken. Wir müssen sie als eine denken, die auf der einen Seite die massivsten ökologischen Probleme inklusive Klimawandel viel radikaler bekämpft, als es bislang der Fall ist. Und sie muss gleichzeitig eine sein, die sich darauf einstellt, dass wir eine Gesellschaft sein müssen, die resilienter ist, robuster, widerstandsfähiger, vielleicht auch offener für andere Personengruppen, die notwendigerweise zu uns kommen werden. Es heißt, es ist eine ganz neue Gesellschaftsvorstellung gefordert. Und Politik müsste eigentlich sagen, wer wollen wir denn eigentlich sein im 21. Jahrhundert? Was für eine Gesellschaft wollen wir denn sein? Und diese Perspektive wird ja nicht eröffnet, weil es ist eigentlich die Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die man voraussetzt, die es aber so nie wieder geben wird. Anja Reinhardt: Hat das möglicherweise etwas damit zu tun, dass es sozusagen dieses protestantische Prinzip des schlechten Gewissens gibt in Bezug auf die Zukunft, die ja oft auch als Apokalypse, Klima-Apokalypse imaginiert wird? Harald Welzer: Nein, das glaube ich gar nicht. Die Falle liegt einfach darin, dass wir ein Erfolgsmodell haben: Den meisten Menschen geht es sehr gut. Den Menschen in den sogenannten nachrückenden Gesellschaften geht es auch besser, als es ihnen vor zehn oder 20 Jahren gegangen ist. Und das ist ein Ergebnis dieser Form der Wachstumswirtschaft. Das Problem bei der ganzen Geschichte ist eben nur, und jetzt kommen wir zu den Grenzen des Wachstums zurück, das eben ein grenzenloses Wachstum in einer begrenzten Welt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und wir sind jetzt in einem Stadium angekommen, wo wir die Voraussetzungen für gutes Gelingen des Lebens konsumiert haben. Diese ganze Geschichte fällt uns eben gerade auf die Füße. Die Situation ist so ein bisschen so, als wenn man sich ein paar Jahrzehnte als gesunder Mensch gefühlt hat, und irgendwann sitzt man im Sprechzimmer des Arztes und der sagt, es gibt da ein Problem, sie müssen ihr Leben verändern. Und an genau derselben Stelle befinden wir uns gesellschaftlich, und die Weigerung der Gesellschaft, das zu tun, ist ungefähr genauso wie beim Individuum, der sagt: Aber doch nicht ich, aber das ist doch wahrscheinlich ein Irrtum, ach, das kann doch gar nicht sein, so schlimm wird es schon nicht werden. Also mobilisiert man alle Strategien, um sozusagen den Tatbestand, die traurige Wahrheit zu ignorieren und so lange weiterzumachen, wie es nur irgendwie geht. Anja Reinhardt: Ich habe das auch deswegen gefragt, weil sie sich für eine Methodik des Aufhörens einsetzen und wir aber eigentlich immer noch so ein bisschen in dieser fast schon nachkriegshaften Erzählung leben, dass man sich etwas aufbauen muss? Harald Welzer: Ja, da haben Sie natürlich völlig Recht und auch die Vorstellung, dass Aufhören oder Vermeiden oder Dinge seien zu lassen oder gar nichts zu tun, etwas ganz Schreckliches ist – während das immer weitermachen, das immer weiter sich steigern, das lebenslange Lernen, das Aufbauen von Vermögen, das ist was ganz Tolles. Und das haben wir dann natürlich kulturell völlig verinnerlicht. Das lernen Kinder ja auch schon heutzutage in Kindertagesstätten, dass sie besser sein müssen als andere und sich vervollkommnen und so. Und diese Vorstellung ist eine, die passt einfach nicht in eine ökologisch gefährdete Welt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anja Reinhardt im Gespräch mit Harald Welzer
Unsere Gesellschaft habe Mythen geschaffen, etwa dass man ohne Verzicht leben könne, ohne die Natur zu zerstören, sagte der Soziologe Harald Welzer im Dlf. Dabei habe der Club of Rome bereits vor 50 Jahren die Klimakatastrophe berechnet. Grenzenloses Wachstum in einer begrenzten Welt sei ein Ding der Unmöglichkeit.
"2022-01-02T07:05:00+01:00"
"2022-01-02T15:07:23.861000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-grenzen-des-wachstums-harald-welzer-100.html
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Wünsch Dir was
Das Coronavirus verändert unseren Alltag und zwingt Menschen zum Handeln. Wir begleiten beides mit unserem Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie". (Deutschlandradio / Bildmaterial: CDC) Das Coronavirus verändert unser Leben, unsere Gesellschaft. Für Tage, Wochen, wahrscheinlich Monate. Wir wollen mit diesem Podcast begleiten, wie die Pandemie unser aller Alltag verändert und wir wollen die Geschichten von Menschen erzählen, die gegen die Ausbreitung des Virus handeln: Ärzte, Politikerinnen, Krisenstäbe, Forschende. Unser neuer Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie" erscheint immer montags bis freitags, gegen 16 Uhr. Abonnieren Sie den Deutschlandfunk Coronavirus-Newsletter! Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Dossier - Die wichtigsten Antworten zum CoronavirusWie kann man sich mit dem Coronavirus anstecken? Wie kann man sich schützen? Was tun, wenn man glaubt, sich angesteckt zu haben?
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Gesundheitsstadtrat Falko Liecke will die Gastronomie wieder in Gang bringen. Intensivmediziner Johannes Pott hat sich an das Leben mit Unsicherheiten gewöhnt. Pflegedienstleiterin Waltraud Kannen hofft auf durchsichtige Masken.
"2020-05-06T16:55:00+02:00"
"2020-05-07T10:14:43.435000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-entscheidungen-wuensch-dir-was-100.html
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"Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde"
Die Außenminister Deutschlands und Russlands, Steinmeier und Lawrow, in Jekaterinburg. (picture alliance / dpa / TASS / Donat Sorokin) Die jüngsten Entwicklungen auf der Krim-Halbinsel seien besorgniserregend, so Steinmeier. Nun sei Zurückhaltung das Gebot der Stunde, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Steinmeier hatte bereits vor der Reise seine Sorge über die jüngste Eskalation zwischen Russland und der Ukraine geäußert. Moskau hat nach eigenen Angaben ukrainische Sabotageversuche auf der annektierten Halbinsel Krim aufgedeckt, es wirft Kiew Terrorismus vor. Die Ukraine weist die Vorwürfe zurück. Steinmeier forderte, zunächst die Ermittlungsergebnisse abzuwarten. Lawrow kündigte an, den westlichen Partnern weitere Belege zur Verfügung zu stellen. Er betonte nach dem Gespräch mit dem deutschen Außenminister, der Fokus müsse darauf liegen, Stabilität in der Ostukraine herzustellen. Steinmeier hatte bereits am Morgen bei einer Rede vor Studenten den Ukraine-Konflikt angesprochen und die Einhaltung des Minsker Abkommens gefordert, das weiterhin im Zentrum der Konfliktlösung stehen solle. Lawrow sagte, für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen für Frieden in der Ostukraine sei vor allem die Führung in Kiew verantwortlich. Steinmeier setzt trotz der neuen Spannungen zwischen Moskau und Kiew weiterhin auf eine politische Lösung des Ukraine-Konflikts. "Ich glaube, dass wir den Waffenstillstand in der Ukraine besser und sicherer machen können." Er sehe auch Chancen für politische Fragen wie ein Wahlgesetz und einen Autonomiestatus für die Separatistengebiete Donezk und Luhansk. Syrien: "Die Waffen müssen schweigen" Mit Blick auf die Lage in der umkämpften syrischen Stadt Aleppo verlangte Steinmeier die Einrichtung sicherer Korridore, um die Menschen mit Hilfsgütern zu versorgen. Die Lage in der Stadt sei ein Desaster. "Die traurige Katastrophe in Aleppo, das darf so nicht weitergehen." Er wiederholte seine Forderung nach einer Waffenruhe für eine humanitäre Hilfsaktion in Aleppo, die er bereits am Morgen in einer Rede vor Studenten geäußert hatte. "Ich glaube, die Waffen müssen schweigen, damit die Menschen wenigstens mit dem Notwendigsten versorgt werden können", sagte Steinmeier. "Wir können diesen Konflikt nur gemeinsam lösen." Russland trage dabei eine besondere Verantwortung. Auch der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann betonte im Deutschlandfunk, dass man Russland zur Lösung der Konflikte im Nahen Osten und in Europa brauche.Vor der Kurzvisite in der Hauptstadt der Ural-Region hatte der deutsche Außenminister vorgeschlagen, die bedrängte Zivilbevölkerung in Aleppo aus der Luft zu versorgen. Vergangene Woche hatten die russischen Streitkräfte eine dreistündige tägliche Feuerpause angekündigt, die aber nach Angaben aus den umkämpften Stadtteilen nicht eingehalten wird. Katharina Ebel von der Hilfsorganisation "SOS-Kinderdörfer" sagte im Deutschlandfunk, es sei zweifelhaft, ob eine Luftbrücke eingerichtet werden könne. Zudem wäre die Wirkung minimal. "Das deutsch-russische Verhältnis durchlebt nicht seine besten Zeiten" Lawrow hatte im Vorfeld des Treffens die Bedeutung der bilateralen Beziehungen hervorgehoben. "Das deutsch-russische Verhältnis durchlebt derzeit nicht seine besten Zeiten", sagte er am Sonntag beim Eintreffen in Jekaterinburg. Das sei nicht die Schuld Moskaus, trotzdem gebe Russland dem Verhältnis zu Deutschland hohe Priorität. Steinmeier verstehe, wie wichtig der Kontakt zur jungen Generation für die zukünftigen Beziehungen sei, lobte der russische Minister der Agentur Interfax zufolge. (cvo/kis)
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Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat die Umsetzung des Minsker Friedensabkommens im Ukraine-Konflikt gefordert. Nach einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Jekaterinburg sagte er, die Gewalt müsse beendet werden. Er forderte zudem erneut eine Waffenruhe für die syrische Stadt Aleppo.
"2016-08-15T08:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:47:25.632000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesaussenminister-steinmeier-in-russland-zurueckhaltung-100.html
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"Eine industrielle Produktion von Topathleten"
Die Doku "Geheimsache Doping" schlug hohe Wellen (picture alliance / dpa - Hendrik Schmidt) Nach der Dokumentation "Geheimsache Doping" von Hajo Seppelt in der ARD steht vor allem der Internationale Leichtathletikverband IAAF unter massivem Druck. Der VerbandIAAF möchte alles prüfen, der russische Verband sage es entspricht alles nicht der Wahrheit, so Seppelt im Deutschlandfunk. Seiner Meinung nach solle dadurch innerrussisch Frieden herstellt werden. Dank der Whistleblower konnte man das erste Mal das System von innen beschreiben, wie mit einer Taschenlampe, sagte Seppelt. Daraufhin haben die russischen Medien sich auf einen Kurs eingeschworen, der behauptet, dass die Dokumentation, teilweise sogar die Bundesregierung das behauptet um schlechte Ergebnisse von Sotschi zu rechtfertigen. In Russland müssen Whistleblower momentan Schwierigkeiten befürchten, denn gegen diese Personen solle vorgegangen werden. Die Äußerungen scheinen eine Art Vaterlandsverrat zu sein. Viele haben Angst. umso höher sind die offenen Beschreibungen der Whistleblower in der Dokumentation einzuschätzen, laut Seppelt "die größten in der Geschichte der Anti-Dopingbekämpfung". Er selbst habe keine Angst und habe in zwanzig Jahren der Ausübung seines Berufes nie Probleme gehabt. Wichtig sei, dass die Whistleblower geschützt werden. Jeder müsse erkennen, dass sie nicht nach Russland zurückkehren können. Die Geschehnisse in Russland kommen Seppelt vor wie eine "industrielle Produktion von Topathleten". Der Mensch selber scheine wenig zu zählen, das würde in Russland in eklatanter Weise deutlich.
Hajo Seppelt im Gespräch mit Bastian Rudde
Die Sportwelt ist seit der vergangenen Woche in Aufregung. In Russland ist es offenbar möglich sich von Doping-Tests freizukaufen. Im Deutschlandfunk spricht Filmemacher Hajo Seppelt über die Folgen und seine Recherchen.
"2014-12-07T19:24:00+01:00"
"2020-01-31T14:17:38.977000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-ard-dokumentation-eine-industrielle-produktion-100.html
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Angst vor neuen Zeltstädten
Flüchtlinge im belgischen Zeebrügge warten auf ihre Weiterreise nach Großbritannien. (dpa/picture alliance/Laurent Dubrule) Die rund 70 Kilometer lange belgische Nordseeküste im Landesteil Westflandern lebt vom Tourismus. Wer einmal an einem warmen Sonnen-Wochenende am Meer war, weiß, dass nicht nur halb Belgien hier sommerliche Erholung sucht, sondern auch viele Deutsche. Einer der ersten Bade-Orte nach der französischen Grenze auf der belgischen Seite ist Koksijjde. Marc Vanden Bussche, Bürgermeister von Koksijde, spricht aus, was vor allem viele Flamen befürchten: "Es besteht die Sorge, dass die Flüchtlinge von Calais aus die Küste längs reisen. Vielleicht bleiben sie hoffentlich in Dünkirchen. Wir fürchten aber, dass dort auch die Camps geräumt werden, und dann haben wir sie. Wenn sie zu Hunderten kommen, wäre die Entstehung eines "neuen Calais" schwer zu vermeiden. Dann könnten auch hier Zeltstädte errichtet werden." Vanden Bussches Kollegin, die Bürgermeisterin von Nachbarort De Panne, Ann Vanherte hofft, dass der Kelch an ihr vorübergeht. "Die Flüchtlinge werden weiter Richtung Zeebrügge ziehen. Wir werden trotzdem mit vereinten Kräften zu verhindern suchen, dass Camps entstehen." Die Sorge, dass an der belgischen Küste ‚dschungelartige‘ Zeltstädte im Calais-Stil entstehen könnten – das treibt die Belgier um. Sie fürchten wirtschaftliche Einbußen, die dadurch entstehen könnten, wenn Touristen abgeschreckt würden, mehr als sie wirtschaftliche Einbußen fürchten, die durch Grenzkontrollen mit entsprechenden Wartezeiten entstehen könnten. Viele Illegale, keine Asylbewerber Innenminister Jambon und andere belgische Politiker fürchten, dass Zeebrügge zur neuen Zwischenstation auf dem Weg zum Sehnsuchtsort Großbritannien von Flüchtlingen werden könnte, die den geräumten Teil des Dschungels von Calais verlassen müssen. Denn was für Calais der Euro-Tunnel ist, ist für Zeebrügge die Fährverbindung, um nach Großbritannien zu gelangen. Carl Decaluwé, Provinzgouverneur von Westflandern, weist darauf hin, dass diejenigen, die über die belgisch-französische Grenze kommen, in der Regel Illegale sind und keine Asylbewerber. "Sie sagen eigentlich nur einen Satz: 'Ich möchte nach England'. Die Menschen sind hier illegal und sie möchten auch gar nicht bleiben, sie möchten ausschließlich nach England. Wir müssen probieren, die Lage beherrschbar zu halten." Und so haben die Belgier also seit dem vergangenen Mittwoch mit vorübergehenden Kontrollen am Nord-Ost-Abschnitt der Grenze zu Frankreich begonnen. Viele würden zweifelsohne versuchen, von Calais aus nach Zeebrügge zu gelangen, mutmaßt die Kollegin im französisch-sprachigen Rundfunk – mit öffentlichen Verkehrsmitteln, teilweise mit Hilfe der belgischen Bevölkerung, oder von Schleppern. Knapp unter 300 Polizisten führen systematische Kontrollen durch. 15 Schleuser wurden verhaftet und über 200 Flüchtlinge aufgegriffen und zum Verlassen belgischen Territoriums aufgefordert. Wer zum zweiten Mal aufgegriffen wird, riskiert, in eine geschlossene Abschiebeeinrichtung zu kommen. In Frankreich hat man für die Grenzkontrollen der Belgier kein Verständnis – jedenfalls der französische Innenminister Cazeneuve nicht. "Wir finden die Entscheidung der Belgier und ebenso die Begründung seltsam" Schengen-Regeln lassen vorübergehende Grenzkontrollen zu Man bewege sich mit den Kontrollen im Nordwesten der französisch-belgischen Grenze im Rahmen der Schengen-Regeln, betont der belgische Innenminister Jambon. "Wir wenden Schengen in allen seinen Elementen an. Nein, unsere Aktionen bedeuten nicht den Tod Schengens." In der Tat lassen die Schengen-Regeln vorübergehende Kontrollen an innereuropäischen Grenzen zu – allerdings wenn sie angekündigt sind und verhältnismäßig zu einer vermuteten Bedrohung für die nationale Sicherheit und wenn die EU-Kommission ihr Okay gibt. Die prüft zurzeit, sagte Kommissionssprecherin Mina Andreeva. "Zudem hat die EU-Kommission Kontakt mit den belgischen Verantwortlichen aufgenommen und um weitere Informationen nachgesucht." Gestern gab es ein Treffen von Kommissions-Mitgliedern und Vertretern der belgischen Regierung. Gestern debattierte außerdem der zuständige Ausschuss im belgischen Parlament über das Thema. Es geht dabei auch um das Anliegen der Regierung, die vorübergehenden Kontrollen auf mindestens einen Monat zu verlängern. Den Abgeordneten lag ein Brief des zuständigen EU-Kommissars Avramopoulos vor. Aus dem lassen sich erkennbare Zweifel an der Verhältnismäßigkeit und damit an der Rechtmäßigkeit der derzeitigen Kontrollen an der französisch-belgischen Grenze im Sinne der Schengen-Regeln herauslesen. Bart de Wever, Antwerpens Bürgermeister und Chef der konservativen N-VA, jedenfalls möchte, dass sich Belgien mit seiner Flüchtlings-Politik näher an der der Visegrad-Staaten Osteuropas orientiert, sagt er. Und keinesfalls an Deutschland.
Von Annette Riedel
Nach der Teilräumung des Flüchtlingscamps im französischen Calais zieht es viele Bewohner nach Belgien - eine weitere Zwischenstation auf dem Weg zum Sehnsuchtsort Großbritannien. Gemeinden entlang der belgischen Küste fürchten neue Zeltstädte und weniger Touristen. Verstärkte Grenzkontrollen sollen das verhindern.
"2016-03-01T09:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:16:26.593000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-belgien-angst-vor-neuen-zeltstaedten-100.html
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Hoffnung auf Stabilisierung
"Wir haben die Absicht, freie Wahlen durchzuführen, die den Volkswillen widerspiegeln und korrekt verlaufen. Das ist der einzige Weg für unser Land zu einer demokratischen Zukunft." Das versprach Adli Mansour Anfang Juli, kurz nachdem ihn das Militär zum Übergangspräsidenten ernannte. Wahlmarathon ab Mitte Januar Mitte Januar beginnt ein Wahlmarathon. Zuerst darf das Volk über den neuen Verfassungsentwurf entscheiden. Ein paar Monate später werden das Parlament und der neue Präsident gewählt, in welcher Reihenfolge ist noch unklar. Fünf Mal waren die Ägypter seit 2011 in die Wahllokale geströmt – Stichwahlen nicht mitgerechnet. Sie wählten ihre Volksvertreter, machten Muhammed Mursi von der Muslimbruderschaft zum Präsidenten und stimmten mehrheitlich 2012 für Mursis neue Verfassung. Am Ende waren alle ihre Stimmen wertlos. Das Militär stürzte Mursi nach Massenprotesten. Die Menschen resignieren Kein Wunder, wenn die Menschen resignieren. Dieser Mann aus Kairo wird alle kommenden Wahlen boykottieren. "Keiner von den Leuten, die gewählt werden, interessiert sich für das Wohl des Landes, weder die Muslimbrüder noch irgendein anderer. Sie wollen alle nur an die Macht kommen." Übergangspräsident Mansour versprach freie Wahlen, doch wie frei sind Wahlen, die in einem Klima der Hetze und der Angst stattfinden? Mohamad Elmasry, Dozent an der Amerikanischen Universität von Kairo: "Die Geschichte kennt keinen einzigen Fall, bei dem eine demokratische Umgestaltung gelang, wenn sie auf Ausgrenzung und Unterdrückung basierte." Der Machtkampf heißt offiziell "Kampf gegen den Terror" Seit Monaten tobt ein Krieg, der offiziell "Kampf gegen den Terror" genannt wird. Im Sommer kamen bei drei blutigen Massakern rund 1000 Menschen ums Leben, überwiegend Mursi-Anhänger. Nicht alle, aber die meisten hatten friedlich gegen den Sturz des gewählten Präsidenten protestiert. Tausende Muslimbrüder wurden verhaftet. Die Regierung erklärte die Bruderschaft zur Terrororganisation. "Wer will, dass Muslimbrüder ohne Gerichtsurteil hingerichtet werden, der klicke den 'Like'-Button", schrieb ein ägyptischer Popstar jüngst auf seiner Facebook-Seite. Rund 2500 Menschen kamen der Aufforderung nach, in nicht mal einer Stunde. "Das ist eine durchaus faschistoide Atmosphäre, die den Hass der Leute auf eine einzige gesellschaftliche Gruppe lenkt." Doch der Zorn richtet sich nicht nur gegen Muslimbrüder. Jeder, der das Militär und seine Propaganda kritisiert, muss damit rechnen, als Unterstützer von Terroristen im Gefängnis zu landen. "Es ist eine sorgfältig gestaltete Propaganda. Niemand möchte als Terrorsympathisant gelten. Mit diesem Vorwurf kann man Menschen leicht abstempeln. Die Propaganda soll bewirken, dass die Leute alle möglichen Repressalien hinnehmen." Haftstrafen auch gegen säkulare Regimekritiker Inzwischen verhängte die Justiz die ersten Haftstrafen auch gegen säkulare Regimekritiker. Die Muslimbruderschaft und ihre Sympathisanten brutal aus dem Weg geräumt, Militärkritiker stigmatisiert und dämonisiert, viele einst leidenschaftliche Wähler von Resignation befallen – es sieht ganz danach aus, als würden die Jasager und Unterstützer des Militärs alle kommenden Wahlen unter sich ausmachen. Und dann als Erfolg der Demokratie verkaufen. Amr Moussa, Außenminister unter Mubarak, jetzt Chef der Verfassungskommission, appellierte an seine Landsleute, beim Verfassungsreferendum Mitte Januar doch unbedingt mit "Ja" zu stimmen. Nur das könne die Gefahr abwenden, in der Ägypten sich befindet. Wahrscheinlich werden Millionen Ägypter diesem Appell Folge leisten, denn viele haben Chaos und Gewalt satt. Gewalt, die in den letzten Monaten allerdings überwiegend von Sicherheitskräften verübt wurde. Die Leute sehnen sich nach Normalität, selbst wenn es jene deprimierende Normalität ist, die schon unter Mubarak herrschte.
Von Jürgen Stryjak
Der Präsident abgesetzt, die Muslimbrüder zur terroristischen Vereinigung erklärt. Nach dem Verfassungsreferendum plant die ägyptische Regierung nun Wahlen. Doch ob diese Wahlen frei und fair sind und das Land stabilisieren können, bleibt fraglich.
"2014-01-04T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:20:25.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahlen-in-aegypten-hoffnung-auf-stabilisierung-100.html
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Nouripour (Grüne): "In der Gesamtabwägung sind wir Grüne uns nicht einig"
Grünen-Ko-Parteichef Omid Nouripour erkennt in der Asylrechtseinigung der EU-Innenminister zumindest Verbesserungen (IMAGO / Frank Peter / IMAGO / Frank Peter)
Schulz, Sandra
Die Einigung der EU-Innenminister auf eine Reform der Asylpolitik sorgt für kontroverse Diskussionen innerhalb der Grünen. Für seine Partei sei das eben nicht "irgendein Thema", sagte der Co-Vorsitzende Nouripour dazu im Dlf.
"2023-06-09T08:19:26+02:00"
"2023-06-09T08:38:48.393000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einverstanden-mit-asylplaenen-interview-mit-gruenen-vorsitzenden-omid-nouripour-dlf-8fd97eb3-100.html
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Alte Waffe, neues Ziel
Wenn Patienten schwer am Mers-Coronavirus erkrankt sind, dann bleibt den Ärzten nur eines: Sie bringen die Patienten auf die Intensivstation, wo sie überwacht, beatmet und ihre Organe unterstützt werden. Medikamente gegen Mers gibt es nicht. Jeder zweite, der nachweislich mit dem Mers-Coronavirus infiziert ist, stirbt. "Ich denke, die Ärzte tun, was sie können. Das Problem ist, dass die schweren Fälle oft zu spät in die Klinik kommen. Es handelt sich dabei auch meistens um ältere Menschen oder Patienten, die zusätzlich an anderen Krankheiten wie Krebs oder Diabetes leiden. Das macht eine Behandlung ziemlich schwierig. Ärzte setzen da im Moment auf die Intensivmedizin, aber wir müssen jetzt einen Schritt weitergehen und eine gezielte Therapie für diese Patienten finden." Heinz Feldmann ist Virologe bei den National Institutes of Health in Hamilton, USA. Die Ärzte brauchen Medikamente, die gezielt Mers-Coronaviren bekämpfen – und die schnell verfügbar, also bereits auf dem Markt sind. Heinz Feldmann und sein Team sind, nach diversen Experimenten, fündig geworden. Es handelt sich um die altbewährten antiviralen Mittel Ribavirin und Interferon. "Ribavirin setzt direkt am Virus an und verhindert, dass sich die Viren vermehren. Interferon aktiviert die körpereigene Abwehr, die die Viren zusätzlich bekämpft." Nach ersten Tests in der Zellkultur war klar: Die Mittel wirken am besten gegen Mers-Coronaviren, wenn sie beide gleichzeitig verabreicht werden. Das wird auch schon gemacht, zum Beispiel bei der Behandlung von Hepatitis C. Die Forscher haben dann Rhesusaffen mit Mers-Coronaviren infiziert und die Kombinationstherapie an ihnen getestet. "Rhesusaffen können wie Menschen an MERS-Coronaviren erkranken. Sie haben ähnliche Symptome, aber in einer milderen Form. Die Affen sterben nicht daran, nach ein paar Tagen haben sie die Infektion normalerweise überstanden." Nach drei Tagen haben sie die Affen getötet und obduziert. Sie hatten praktisch keine Symptome, ihre Lungen war kaum angegriffen und sie hatten deutlich weniger Viren im Körper. Die Forscher hoffen, dass die Therapie auch beim Menschen anschlägt. Doch ob die Ärzte auf der arabischen Halbinsel die Medikamente tatsächlich einsetzen, bleibt ihnen überlassen."Ribavirin und Interferon haben Nebenwirkungen, und es gibt Kontraindikationen. Der Ärzte müssen entscheiden, ob und unter welchen Umständen er die Kombinationstherapie einsetzt. Aber: Es ist eine Option. Und es ist die einzige, die wir im Moment haben." Wahrscheinlich wirkt die Therapie am besten, wenn sie den Mers-Patienten so schnell wie möglich gegeben wird. Das ist bei schweren Atemwegserkrankungen die Regel – je früher behandelt wird, desto besser. Ob die Medikamente auch Patienten helfen, die bereits sehr schwer erkrankt sind, ist allerdings offen. "Das ist schwierig zu sagen. Wenn die Viruslast hoch ist, wenn sich die Viren bereits in den Atemwegen und auch sonst im Körper vermehren, dann kommen die Medikamente möglicherweise zu spät." Ribavirin und Interferon seien keine Wundermittel, sagt Heinz Feldmann. Die Suche nach Therapien muss weitergehen. "Es ist ein Anfang. Die Mittel sind weit verbreitet und leicht zu bekommen. Sie werden seit Jahren beim Menschen eingesetzt, und die Nebenwirkungen sind bekannt und in den Griff zu bekommen. Aber hoffentlich werden wir oder andere noch bessere, wirksamere Wirkstoffe gegen Mers-Coronaviren finden."
Von Marieke Degen
Seit mehr als einem Jahr wütet das Mers-Coronavirus auf der arabischen Halbinsel. Die Betroffenen leiden an Lungenentzündung, Atemnot und Organversagen. Nun gibt es einen Hoffnungsschimmer in Sachen Therapie: Zwei altbekannte antivirale Medikamente könnten Mers-Coronaviren offenbar in Schach halten.
"2013-09-09T16:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:34:40.744000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alte-waffe-neues-ziel-100.html
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IW-Energieexperte: "Das wird uns sehr helfen"
Technische Anlagen und ein Kran stehen auf dem Anleger für das LNG-Terminal in der Nordsee vor Wilhelmshaven. Der erste Anleger für Flüssigerdgas (LNG) in Deutschland ist fertiggestellt und eröffnet worden. (picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich)
Schulz, Josephine
Das erste deutsche Flüssiggas-Terminal in Wilhelmshaven sei ein "wichtiger Schritt" für die Energiesicherheit, sagte Malte Küper vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Dlf. Dies gelte trotz derzeit gefüllter Gasspeicher.
"2022-11-15T17:05:30+01:00"
"2022-11-15T17:56:05.120000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erstes-deutsches-lng-terminal-und-tankerstau-interview-mit-malte-kueper-iw-dlf-f532b82d-100.html
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Jüdisch-muslimische Kooperation gegen AfD-nahe Stiftung
Karov-Quareeb soll gegenseitige Vorurteile zwischen Juden und Muslimen abbauen (picture-alliance / dpa / Monika Skolimowska) Das hebräische Wort "Karov" bedeutet so viel wie Nähe, Annäherung, das arabische Wort "Quareeb" das Gleiche. "Karov-Quareeb" heißt deshalb der jüdisch-muslimische Thinktank. Annähern wollen sich beide Seiten, in die Gesellschaft hineinwirken, aber auch in die jeweiligen Glaubensgemeinschaften: "Einer der Gründe, der mich dazu bewegt hat, hier mitzuwirken, ist die aktuelle politische Lage in Deutschland." "Dass man sich erstmal ohne gesellschaftlichen Erwartungsdruck zusammensetzen kann und Vertrauen bilden kann." "Es ist wichtig, dass wir uns als Person kennenlernen können, und dass wir uns persönlich öffnen können und Freundschaften entwickeln können. Gegenpositionen einfach auch sichtbar machen." Wünsche und Motivationen der Mitglieder des jüdisch-muslimischen Thinktanks. Durch persönliche Begegnungen Vertrauen schaffen und auf dieser Basis auch gegenseitige Vorurteile abbauen. In der Öffentlichkeit sei nur die Rede von muslimischem Antisemitismus, sagt zum Beispiel Rebecca Rogowski. Sie studiert Judaistik und Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin: "Ich selber im Gespräch mit anderen Jüdinnen höre oft extrem rassistische Sachen über Muslima und Muslime und möchte auch dagegen etwas tun. Dass wir nicht nur etwas für die Mehrheitsgesellschaft machen, sondern auch innerhalb unserer Communities etwas verändern." AfD-nahe Stiftung sei "antisemitisch und antimuslimisch" Dass die beiden Studienwerke sich zusammentun und einen gemeinsamen Thinktank bilden, hat auch mit einer von ihnen empfundenen Bedrohung von außen zu tun. Unsere Räume werden mit jeder Landtagswahl stärker verengt, sagt Jo Frank. Der Geschäftsführer des jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks meint damit die zunehmenden Wahlerfolge der AfD und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen: "In Anbetracht dieser Entwicklung geht es uns als jüdisches Begabtenförderwerk und als muslimisches Begabtenförderwerk darum, die Räume, die wir bereits haben, zu behaupten, und gleichzeitig darum, neue Räume für uns zu eröffnen. Es macht uns Sorge, große Sorge, was die gesamtgesellschaftliche Entwicklung angeht, was die Verschärfung des Diskurses angeht, und das spüren wir auch unter unseren Stipendiaten", ergänzt Hakan Tosuner, Geschäftsführer des muslimischen Avicenna Studienwerks. Beide machen sich Sorgen, die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung könne demnächst ein Studienwerk gründen und politisch rechts und nationalistisch eingestellte Begabte fördern: "Dass da eine parteinahe Stiftung ist, die eben antisemitisch und antimuslimisch ist. Das ist nicht das Deutschland, das ist nicht die Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen." Geld vom Bund für politisch rechts eingestellte Studenten? Die Sorgen der jüdischen und auch der muslimischen Begabtenförderung über eine mögliche AfD-nahe Studienstiftung sind auch deshalb so groß, weil die beiden Geschäftsführer der Studienwerke wissen, welche Bedeutung eine solche Institution haben kann. Die Stipendiaten bilden Netzwerke, nach ihrem Studium machen sie oft Karriere, bekommen einflussreiche Jobs. Die Studienwerke mit ihren aktuellen und früheren Stipendiaten seien intellektuelle Zentren in ihren jeweiligen Communities, sagt Jo Frank, der Geschäftsführer des jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks. Für ein AfD-nahes Studienwerk bedeute dies: "Man schafft eine Struktur, die jahrzehntelang wirkt. Hier wird dann mit der Möglichkeit eines AfD-nahen Begabtenförderungswerks nationalistisches Gedankengut in Deutschland auf Jahrzehnte gesichert, finanziert von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern." Momentan erhält die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung kein Geld vom Bund. Dies dürfte sich spätestens nach der nächsten Bundestagswahl ändern - Und dann dürfte die AfD auch ein Studienwerk gründen, um politisch rechts eingestellte Begabte zu fördern.
Von Claudia van Laak
Begegnungen zweier Glaubensgemeinschaften will der Thinktank Karov-Quareeb schaffen. Dass sich Studienwerke von Juden und Muslimen zusammentun, hat auch mit einer von ihnen empfundenen Bedrohung von außen zu tun. Es bestehen Sorgen über eine AfD-nahe Stiftung.
"2019-12-09T14:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:23:01.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/religioese-studienwerke-juedisch-muslimische-kooperation-100.html
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Avantgardist aus Montevideo
Das Ensemble Aventure (Marc Doradzillo ) Auf der Suche nach einem lateinamerikanischen Selbstverständnis des Komponierens greift Coriún Aharonián (1940–2017) immer wieder auf Kultur und Historie seiner uruguayischen Heimat zurück. Für den Sohn aus Armenien stammender Eltern gehen gesellschaftliche Verantwortung und künstlerischer Anspruch stets Hand in Hand. Aharonians musikalische Sprache ist in der Idee des Widerstandes verwurzelt; in der Ablösung von Modellen europäischer Kompositionstradition. Ungeachtet weitgehender klanglicher Kargheit charakterisiert seine Musik vor allem eine physische Kraft und Präsenz. Das Freiburger Ensemble Aventure hat kammermusikalische Werke des Komponisten neu eingespielt – im Rahmen seiner mit dem Deutschlandfunk und dem Label Wergo begonnenen Lateinamerika-Reihe. Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung 30 Tage lang in unserer Mediathek.
Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre
Seit seiner Gründung 1986 in Freiburg engagiert sich das Ensemble Aventure für zeitgenössische Musik aus Lateinamerika. Initiiert wurde diese Neugier durch eine Begegnung mit Coriún Aharonián in Montevideo. Werke des Uruguayers hat Aventure vor kurzem im Deutschlandfunk auf CD eingespielt.
"2020-03-21T22:05:00+01:00"
"2020-03-25T15:36:28.879000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/coriun-aharonian-avantgardist-aus-montevideo-100.html
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Die extreme Rechte und ihr Ökologie-Verständnis
Feuer zur Wintersonnenwende (Symbolbild) (imago/Jan Zawadil) „Hi, schönen guten Tag! Ich bin vom Deutschlandfunk hier, weil ich eine Reportage mache, wo es um die Weda Elysia Siedlung geht ...“ Der Mann weit hinter dem Gartenzaun winkt ab, verschwindet schnell wieder in seinem Einfamilienhaus in Wienrode. In dem kleinen Dorf im Harz wollen nur wenige über ihre Nachbarn reden. Gut ein Dutzend Menschen sind hier seit Jahren dabei, eine Siedlung aus sogenannten „Familienlandsitzen“ aufzubauen, das „Weda Elysia Gärtnerhof-Kleinsiedlerprojekt“, so die Eigenbezeichnung. Seit einiger Zeit berichten Medien, so „Spiegel TV“ und die „Welt am Sonntag“, über Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Der Landtag von Sachsen-Anhalt befasste sich erstmals nach einer entsprechenden Anfrage der Linken im Mai 2019 mit dem Phänomen. Er könne zu den Vorwürfen nichts sagen, sagt ein anderer Anwohner. Auf ihn wirkten die Leute freundlich, fleißig und strebsam. Und das entspricht wohl auch dem Selbstverständnis. Siedlung „Weda Elysia“ In einem Video des eingetragenen Vereins, das auf dem eigenen YouTube-Kanal hochgeladen wurde, werden diese Bilder vermittelt: Männer in Trachten stehen auf Feldern, die Sense in der Hand. Andere heben honiggetränkte Waben aus Bienenstöcken. Die Frauen tragen lange Röcke, sitzen an hölzernen Spinnrädern oder hängen zwischen Bäumen Wäsche auf. Auf ihrer Internetseite führen die Betreiber in eigener Sache aus: „Durch das Weda-Elysia-Gärtnerhof-Kleinsiedlungsprojekt sollen sich einzelne Menschen mit Familienwunsch und bestehende Familien auf je einem Hektar Land einen weitgehend autarken Lebens- und Schaffensraum aufbauen können.“ Mehr zum Thema: Völkische Siedler in Brandenburg - Wie eine Sekte ein Dorf übernimmt Völkische Siedler im ländlichen Raum - Der Bio-Nazi von nebenan Dossier - Rechtsextremismus In dem Video treten mehrere Personen auf, die 2014 den Verein „Weda Elysia e.V.“ gegründet haben. Einer von ihnen ist Maik Schulz. 2019 gründet er einen weiteren Verein, den „Lindenquell e.V.“. Der betreibt nach eigenen Angaben einen alten Gasthof in Wienrode, den Weda-Elysia-Mitglieder sanieren. In Auszügen der Satzung des „Lindenquell-Vereins“ heißt es, aus dem Gasthof solle ein „kulturelles Zentrum“ werden. Der Verein wolle etwa Brauchtumspflege, Theater, Kunst und regionale kleinbäuerliche Landwirtschaft fördern. „Die sind freundlich, zuvorkommend und fleißig wie die Bienen“ So äußert sich Ulf Voigt 2021 gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung über die Mitglieder von „Weda Elysia“. Er, der Bürgermeister von Wienrode, sei froh, dass sich jemand um den „alten Schandfleck“, wie er den alten Gasthof nennt, kümmere. Im Harzdorf hört man aber auch andere Töne. Wer da neues Leben ins Dorf bringe, habe man am Anfang nicht gewusst, sagt eine Frau. Sie will namentlich nicht genannt und auch an ihrer Stimme nicht erkannt werden. „Wir waren eigentlich froh, dass der Schandfleck irgendwie wegkommt, dass sich da jemand gefunden hat. Aber dass da natürlich solche Leute dahinterstecken und die kaufen ja zunehmend hier Land im Umfeld, und die nisten sich hier quasi ein und werden immer mehr, und das macht einem schon Sorge.“ Verfassungsschutz: Verein gehört zu den sogenannten völkisch Siedelnden Wie also ist die sogenannte Familienlandsitz-Siedlung „Weda Elysia“ wirklich einzuordnen? Was scheint ihre Anhängerschaft auf dem Land zu suchen? Sind die Vorwürfe, „Weda Elysia“ habe Verbindungen in die rechtsextreme Szene, gerechtfertigt? Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt teilt auf Anfrage mit, dass der Verein zu den sogenannten völkisch Siedelnden gehöre, die durch nationalistische, antisemitische, rassistische und homophobe Ansichten geprägt seien. Und weiter: „Einzelne Angehörige des Vereins zeigen ein aktives und offenes Zugehen auf verfassungsschutzrelevante Personen beziehungsweise Organisationen. Hier ist zum Beispiel der sogenannte „Volkslehrer“, Nikolai Nerling, zu nennen." Der Verfassungsschutz Bayern bezeichnet Nikolai Nerling als „Videoblogger“ und „rechtsextremistischen Aktivisten“. Zudem ist Nerling wegen Volksverhetzung verurteilt worden.* Der selbsternannte Volkslehrer und Videoblogger Nikolai Nerling beim "Heimattanz". Er ist wegen Volksverhetzung verurteilt worden. (imago /snapshot) „Weda Elysia“ verweist auf die Internetseite „Haus Lindenquell“. Auf dessen Telegram-Kanal werden mehrere Projekte vorgestellt, die offenkundig rechtsextremes Gedankengut aufweisen, etwa der „Identitären Bewegung“, die vom Bundesverfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird. Oder auf die eines Vereins, den die bekannte und als solche verurteilte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck gründete. Mittlerweile wurde der Internet-Post entfernt. Auch mit Personen aus der „Reichsbürgerszene“, die die Bundesrepublik als Staat ablehnen, haben Mitglieder „Weda Elysias“ sogenannte „Kennverhältnisse“, heißt es von Seiten des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt. Über die Internetseite „Weda Elysias" ist auch ein Onlineshop zu erreichen, den der nahestehende "Lindenquell e.V." betreibt. Dort werden zwischen Biorohkost und Gartenratgebern Broschüren angeboten.** Darunter: „Es ist gut, ein Deutscher zu sein.“ Darin wird das, so wörtlich: „Trauma“ der Deutschen mit Blick auf ihre Schuld am Holocaust angeprangert. Als Adresse ist der alte Gasthof an einer Landstraße in Wienrode genannt. Der zweistöckige Gasthof ist frisch gestrichen. Im eingezäunten Hof stapelt sich Bauschutt neben Containern. An einem anderen Gebäude auf dem Grundstück bröckelt der Putz. Dort, in einem der Fenster, taucht ein Gesicht auf. Ein Mann mit langem Pferdeschwanz und brauner Cordhose öffnet die Tür: „Ich bin hier, weil ich Berichte über den Ort gehört habe, über den Ausbau der Dorfschenke. Und wollte Sie mal fragen, was Sie hier machen.“ Ein spontanes Interview will der Mann nicht geben, verweist stattdessen auf eine Terminabsprache. Mehrere Interview-Anfragen per E-Mail lehnt „Weda Elysia“ dann jedoch ab. Auch auf einen Fragenkatalog des Deutschlandfunks mit der Bitte um schriftliche Stellungnahme wollen die Zuständigen des Vereins nicht antworten. Es formiert sich Widerstand In der Region formiert sich mittlerweile Widerstand vom „Bündnis Bunter Harz“. Sprecherin Ruth Fiedler ist stellvertretender Kreisvorstand für „Die Linke“ in der Region. Sie berichtet von einem Klima, das sich verschlechtere. Physische Gewalt gegen Kritiker schließt sie jedoch aus: „Und jetzt ist es halt so, dass wirklich die Leute, die es schlimm finden, sich nicht mehr trauen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Weil schon irgendwie ein Druck herrscht vor Ort, dass, wenn sie sich irgendwie gegen Weda Elysia äußern, ihnen eine negative Konsequenz droht.“ Das Harzdorf Wienrode ist kein Einzelfall. Personen aus der rechten Szene ist es gelungen, auch an weiteren Orten in Deutschland Fuß zu fassen – indem sie angeben, sich für die Ökologie und den Biolandbau zu engagieren. Doch warum, ließe sich fragen, finden diese Themen, die in der Regel von der alternativen, grünen Bewegung besetzt sind, auch in Teilen der rechten Szene Anklang? „Weda Elysia“ und die Anastasia-Bewegung „Weda Elysia“ beziehe sich auf die Bücher der "Anastasia"-Bewegung, so der Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt auf Anfrage. Tatsächlich bezieht sich der Verein auf seiner Website auf die Anastasia-Bewegung. Im Online-Shop von besagtem „Lindenquell e.V.“, der über die Website von „Weda Elysia“ erreichbar ist, können die Bücher wiederum bestellt werden.** Mathias Pöhlmann, Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Landeskirche Bayern, ordnet die Bücher ein: Es handele sich um eine esoterische und antisemitische Romanreihe aus Russland, die Hauptprotagonistin: Anastasia, blaue Augen, hohe Stirn, blondes, wallendes Haar. „Und diese Anastasia ist letztendlich eine Art sagenhafte Figur, die in diesen Büchern eine zentrale Rolle spielt. Sie lebt als Einsiedlerin in Sibirien in der Taiga. Sie würde mit den Tieren kommunizieren, würde über einen Heilstrahl verfügen, ernähre sich nur von Früchten und Nüssen.“ Gerade in den späteren Bänden würden dann antisemitische Verschwörungserzählungen beigemischt. „Wonach eine Clique von levitischen Priestern und das sind natürlich jetzt jüdische Tempelpriester, die heimlichen Drahtzieher des Weltgeschehens seien und an der Spitze ein Oberpriester. Sie würden letztendlich alle Versuche von Anastasia im Keim ersticken.“ In den Büchern werde die Welt als dekadent und im Zerfall dargestellt, beherrscht von korrupten Eliten. „Und jetzt folgt also der Rückzug auf die Scholle, möchte ich mal sagen, auf den Familienlandsitz. Es ist so eine Art Ausstiegsprogramm. Und das Kernproblem ist auch, dass die Anastasianer meinen, diese Familienlandsitze seien jetzt die große Lösung für alle Probleme in dieser Welt.“ Im postsowjetischen Russland der 1990er-Jahre erregte die Buchreihe großes Interesse und erfuhr Unterstützung. Einige Anhänger gründeten sogenannte „Familien-Landsitze“. Erst in Russland, dann in anderen europäischen Ländern. Pöhlmann geht von etwa 20 „Anastasia-Landsitzen“ in Deutschland aus. Die völkische „Anastasia“-Bewegung ist heterogen und scheint nicht zentral vernetzt zu sein. Die meisten „Anastasia“-Siedlungen haben auch keine so deutlichen Verbindungen in die rechtsextreme Szene, wie das der Verfassungsschutz für „Weda Elysia“ dokumentiert. Dennoch ist das Spektrum völkischer Siedlungen groß und reicht deutlich über die esoterische Anastasia-Bewegung hinaus. Einige hat der Verfassungsschutz im Blick. In mehreren Landtagen wurden auch Abgeordnete hellhörig. Sie wollten mehr über völkische Siedlungen wissen und stellten Anfragen. In Sachsen-Anhalt geschah das mehrfach, zuletzt im vergangenen April. In einer Antwort schreibt die Landesregierung dazu: „Seit mehreren Jahren versuchen Rechtsextremisten, ihre gesellschaftliche Akzeptanz durch die Mitwirkung in regionalen Ökoprojekten zu erhöhen. Es sind immer wieder Bemühungen erkennbar, Objekte zu erwerben, um dort eine sogenannte naturorientierte und ökologische Lebensweise zu führen.“ Thüringer Verfassungsschutz-Chef: Rechtsextreme Szene eignet sich das Thema Naturschutz an Als Beispiele für völkische Siedlungen, die dem Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt bekannt sind, führt die Landesregierung danach u.a. ein Bauerngehöft des Vorsitzenden der rechtsextremen „Artgemeinschaft“ auf und eben das Siedlungsprojekt von „Weda Elysia“. Siedlungsprojekte wie diese würden Menschen, die etwa an Naturschutz, Biolandbau oder auch am Brauchtum ihrer Region interessiert seien, eine vermeintliche Alternative bieten - davor warnt Stephan Joachim Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen. Der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen, Stephan Joachim Kramer (Amt für Verfassungsschutz Thüringen, Archiv.) „Ich denke da an die Anastasia-Bewegung, aber auch an andere völkische Siedlungsprojekte, die in kleinerem Umfang Land erworben haben, als Selbstversorger mit ökologischem Landbau, versuchen eben, diesen rechtsextremistischen, völkischen Gedanken von Volk und Heimat umzusetzen.“ Gerade siedlungsschwache Regionen würden rechten Siedlungsbestrebungen Raum geben. Auch in Thüringen habe es Ausbreitungsversuche von völkisch nationalistischen Siedlungen gegeben. Für Kramer steht fest, dass die rechtsextreme Szene schon länger versucht, den Naturschutz zu ihrem Thema zu machen. Dasselbe gelte auch für rechte Parteien. „Wir wissen, dass bereits in den 70er-Jahren die NPD in ihren Programmen das Thema Volksgesundheit und Umweltschutz, Landwirtschaft und Naturschutz versucht hat, aus rechter, völkisch-nationalistischer Blickrichtung zu besetzen.“ Dabei gehe es darum, den Natur- und Tierschutz als Schutz des eigenen, also des deutschen, Volkes zu begreifen, so der Thüringer Verfassungsschutz-Präsident. Die rechtsextreme NPD besetze das Thema bis heute, auch wenn sie damit nicht erfolgreich sei. „Aber im Grunde hat das die AfD nahtlos übernommen, weniger mit dem Mief der glatzköpfigen, nationalsozialistischen Schlägertrupps, aber vielmehr mit neuen Themen mit dem Versuch, das Ganze nicht nur in den parlamentarischen Raum, sondern eben in soziale Räume in unserer Gesellschaft zu tragen.“ Gegenmodell zur globalisierten Welt So habe die AfD versucht, das Konzept „Volk und Heimat“ als Gegenmodell zur globalisierten Welt darzustellen: „Und damit werden natürlich die klassischen Globalisierungs-Verschwörungstheorien, der Kampf gegen die liberale Wirtschaft, et cetera, instrumentalisiert.“ Ein Sprecher der Bundespartei AfD betont auf Anfrage, seine Partei gehöre nicht zu der extremen Rechten. Er widerspricht der Einordnung Kramers. „Unsere Blickrichtung gibt der gesunde Menschenverstand vor. Unsere Positionen ergeben sich nicht aus Verschwörungstheorien, sondern aus dem Wunsch, Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Unser Programm verdeutlicht, dass Stephan Kramer in seinen Aussagen irrt. Als AfD denken wir Mensch, Natur, Umwelt, Wirtschaft und Energieversorgung nämlich pragmatisch zusammen.“ In der nationalsozialistischen Ideologie bilde der angeblich „deutsche Boden“, die angeblich „deutsche Natur“ die Grundlage für die propagierte Überlegenheit der angeblich „deutschen Rasse“. Eine Überlegenheit, die im Kampf gegen die widrige, angeblich „deutsche Natur“ erworben worden sei, so der Kulturwissenschaftler Nils Franke. Experten konstatieren, dass sich Rechtsextreme heute auf eben diese Ideologie beziehen, wenn sie von Naturschutz sprechen. Das bestätigt auch Andreas Speit, der zusammen mit Andrea Röpke ein Buch zur völkischen Landnahme veröffentlicht hat. Rechtsextreme würden Ökologie als angeblich „gesamtheitlich“ verstehen, so Speit: „Damit meinen die aber nichts anderes als Natur-, Heimat-, Volks- und Tierschutz. Und dieser Vierklang ist historisch gesehen der alte Anschlag, und wenn man sich die Position genau anschaut, ist das nichts anderes als Blut und Boden.“ So Andreas Speit. Ein Vierklang, der für Rechtsextreme mehr darstelle. „Ich möchte davor warnen, es abzutun, als wenn es sozusagen gerade en vogue ist, weil Bio gerade im Trend ist. Nein, es ist ihr ureigenes Anliegen.“ Das Naturschutzmagazin „Kehre“ Dass ökologische Themen heute – wenn auch unter völlig anderen, demokratischen Vorzeichen - von der politischen Linken und Mitte besetzt werden, provoziert Ärger im neurechten Lager. Für den Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke haben die - wie er sie nennt – „Heimat hassenden Grünen“ den Naturschutz gekapert. Das sagt Höcke in einem Facebook-Post, in dem er das neurechte Naturschutzmagazin „Die Kehre“ bewirbt. 2020 tritt das Magazin die Nachfolge eines NPD-nahen Naturschutzheftes an. Chefredakteur ist Jonas Schick, der in der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ aktiv gewesen ist. Im Magazin „Die Kehre“ vertritt Schick die Auffassung, dass Natur auch menschliche Riten, Brauchtum und Kulturlandschaften beinhalte. Auf die Frage, was das mit der Identität des deutschen Volkes zu tun habe, sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk: „Ich glaube, dass man einfach in der Form dieser Kulturlandschaften, dass sich daraus bestimmte Kulturen ihren Ausdruck geben und dass natürlich darin auch die Identität des deutschen Volkes ja auch herausbildet.“ Kehre-Chefredakteur Jonas Schick war in der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ aktiv (dpa) Chefredakteur Schick weist den Vorwurf, in seinem Magazin kämen klare Bezüge zur „Blut-und-Boden-Ideologie“ zum Ausdruck, zurück. Die Inhalte des Heftes würden sich etwa an die Romantik des frühen 20. Jahrhunderts anlehnen, sagt er. Stephan Joachim Kramer, Thüringens Verfassungsschutz-Präsident, betont dagegen: Das Magazin vertrete sehr deutlich neurechte und rechtsextremistische Positionen. Und damit würde es nicht nur der eigenen rechten Klientel ein Angebot machen: „Eben auch im Sinne eines Erstkontaktes in die Mitte der Gesellschaft hinein, die sich zum Teil mit rot-grünen Ideologien eben nicht identifizieren kann und insofern sehr empfänglich dafür ist, wenn aus der völkisch-konservativ bis rechtsextremen Szene eben hier ein Angebot gemacht wird.“ Mittlerweile liegt das Heft auch in einigen Zeitungsläden aus. Woher das Geld für den raschen Aufbau der Zeitschrift kommt, will sein Chefredakteur nicht sagen. Dass das Geld für rechte Projekte und Siedlungsvorhaben nicht von einzelnen Akteuren alleine stamme, betont wiederum Stephan Joachim Kramer. Er spricht bei der Finanzierung von einem „flächendeckenden Netzwerk“: „Dass sich eben aus Mitgliedsbeiträgen, aus Erlösen von Verkäufen, aus Spenden, aus Erbschaften, aber eben teilweise auch aus massiver finanzieller Unterstützung aus ganz ultrakonservativen Unternehmerbereichen speisen, sodass wir leider davon ausgehen müssen, dass wir es mit doch sehr erheblichen Geldbeträgen zu tun haben.“ Banalisierung des Phänomens liegt hinter den Behörden Thüringens Verfassungsschutz-Präsident Kramer verweist darauf, dass er und seine Kollegen sich heute sehr deutlich gegen die Siedlungsbewegungen zur Wehr setzten, dass Grundstückkäufe durch Rechtsextremisten in abgelegenen Gegenden jedoch schwer zu verhindern seien. Mit Blick auf die Vergangenheit gesteht er ein: Den Behörden sei erst nach und nach klargeworden, dass extreme Rechte auch als vermeintliche Ökolandwirte aufträten – und eben nicht nur mit Glatze und Springerstiefeln. „Sicherlich hat es auch ein Umdenken, und ich will da gar nicht so tun, als wenn das nicht stattgefunden hätte, auch in den Verfassungsschutzämtern gegeben, wie im übrigen auch in vielen Teilen der Gesellschaft, die über lange Strecken den Rechtsextremismus, ja den Rechtsterrorismus, den es seit den 60er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und später auch in der Vereinigung gegeben hat, eigentlich mehr oder weniger abgetan hat als: Naja, das sind so ein paar Verrückte, aber das ist im Grunde genommen nichts Bedrohliches.“ Diese Banalisierung des Phänomens liegt heute hinter den Behörden. Verfassungsschützer warnen zunehmend, dass Teile der extrem rechten Szene versuchen, weitere Anhängerinnen und Anhänger zu finden – unter dem Deckmantel ökologischer Versprechen. [*] Wir haben an dieser Stelle gegenüber einer vorherigen Version eine Klarstellung vorgenommen. Der Videoblogger Nikolai Nerling ist wegen Volksverhetzung schuldig gesprochen worden, den Holocaust in der KZ-Gedenkstätte Dachau mindestens verharmlost zu haben.[**] Wir haben gegenüber einer vorherigen Version in diesem Satz ebenfalls eine Klarstellung vorgenommen.
Von Maximilian Brose
Rechtsextreme müssen nicht mit Springerstiefeln und Glatze auftreten, sondern können auch als vermeintliche "Ökolandwirte" für ihre Sache werben. Verfassungsschützer warnen zunehmend, dass Teile der Szene versuchen, weitere Anhängerinnen und Anhänger zu finden - unter dem Deckmantel ökologischer Versprechen.
"2022-03-08T18:40:00+01:00"
"2022-03-08T19:12:46.190000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/voelkische-siedlungen-rechtsextrem-100.html
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Die Suche nach einem Impfstoff gegen alle Corona-Varianten
Ein Impfstoff, der gegen alle Corona-Varianten hilft? Daran arbeiten Tübinger Forscher. (imago / Ikon Images / Gary Waters) Ende November im ersten Pandemiejahr 2020. Das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech reicht den Antrag auf bedingte Marktzulassung für seinen Covid-19-Imfpstoff ein. Und in Tübingen hat eine Arbeitsgruppe zwei Monate zuvor erste Ergebnisse für eine ganz andere Art von Impfstoff veröffentlichen können. Das Prinzip stammt aus der Krebstherapie: Dort werden Immunzellen, sogenannte T-Zellen, aktiviert, die Tumorzellen erkennen und vernichten können. Das müsste eigentlich auch mit virenbefallenen Körperzellen funktionieren, sagte sich Juliane Walz vom Universitätsklinikum Tübingen: Wissen über Immunzellen genutzt „Wir haben in Vorarbeiten uns letztendlich eine ganz große Kohorte an Patienten angeschaut, die eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht haben und davon genesen waren und haben in deren Blut letztendlich untersucht: Was erkennen denn die T-Zellen, also welche Bestandteile des Virus erkennen die T-Zellen? Und diese haben wir uns dann ausgesucht für unseren Impfstoff.“ Und dabei hat die Medizinerin eine Überraschung erlebt, die in Zukunft noch wichtig werden könnte: Die T-Zellen nutzen nicht nur das prominente Spike-Protein des Virus. Sondern auch andere Bausteine des Erregers. Während herkömmliche Impfstoffe sich allein auf das Spike-Protein konzentrieren, enthält die Vakzine aus Tübingen nun diese große Vielfalt an molekularen Erkennungsmerkmalen, an viralen Bestandteilen. Mutiertes Spike-Protein dann egal Und das führt dazu, „dass wir eben nicht so anfällig sind, wenn dieses Spike-Protein mutiert in den verschiedenen Virusvarianten, weil wir eben verschiedene Proteine abdecken. Und das sehen wir jetzt beispielsweise an der Omikron-Variante. Die haben wir schon untersucht und sehen da, dass unser Impfstoff nicht beeinträchtigt ist.“ Bisherige Impfstoffe sind immer auf eine bestimmte Variante zugeschnitten. Zurzeit laufen die Anpassungsarbeiten an Omikron. Doch mit diesem Ansatz läuft man immer der Entwicklung der Pandemie hinterher. Ob die modifizierten Impfstoffe auch noch schützen, wenn Omikron weitermutiert ist, kann niemand sagen. Juliane Walz aber ist der Überzeugung, dass der Kandidat aus Tübingen zuverlässig vor schweren Verläufen schützt – bei allen Varianten. In einer Phase-1-Studie wurde er bereits erprobt. Sechsunddreißig gesunde Probandinnen und Probanden erhielten das Präparat. Starke Immunantwort in Phase-1-Studie „Unser Impfstoff wird nur einmal appliziert und hat in hundert Prozent dieser Probanden zu einer sehr, sehr starken T-Zell-Antwort geführt. Wir konnten zeigen, dass diese T-Zell-Antwort stärker ist als die T-Zell-Antwort nach einer natürlichen Infektion. Und wir konnten auch zeigen, dass die T-Zell-Antwort stärker ist als die T-Zell-Antwort nach Impfung mit bislang zugelassenen mRNA- oder Vektorimpfstoffen.“ Dazu kommt, dass die T-Zell-Immunität auch lange anhält. Das haben erste Untersuchungen schon zeigen können. Solch eine dauerhafte, breite Immunität durch die Aktivierung von T-Zellen könnte einer bestimmten Risikogruppe ganz besonders zugutekommen: solchen Menschen, deren Immunsystem keine Antikörper bilden kann. Ziel: Schutz auch von Risikopatienten „Und es sind insbesondere Patienten mit angeborenem Immundefekt, aber auch vor allem Patienten mit Krebserkrankungen, die aufgrund der Erkrankung selber oder aufgrund bestimmter Therapien, die verhindern, dass noch Antikörper gebildet werden können, eben nicht profitieren von Antikörper-induzierenden Impfstoffen. Und in dieser Gruppe sehen wir einen sehr, sehr hohen Bedarf für einen Impfstoff, der starke T-Zell-Antworten macht, um diese Gruppe auch zu schützen. Und deshalb untersuchen wir in der aktuell laufenden Phase-2-Studie unseren Impfstoff jetzt ganz gezielt in dieser Patientenkohorte.“ Vor einer Infektion würden solche T-Zell-aktivierenden Impfstoffe nicht bewahren. Aber sie könnten einen verbesserten Schutz bieten für solche Menschen, deren Immunsystem auf bisherige Vakzine nur eingeschränkt reagiert. Wenn die aktuell laufende klinische Untersuchung an Krebs-Patientinnen und -Patienten auch hier einen guten Schutz auf Basis von T-Zellen zeigt, soll eine groß angelegte Phase-3-Studie beginnen – zusammen mit einem Partner aus der Pharmabranche.
Arndt Reuning
Viele Impfstoffhersteller arbeiten zurzeit an Vakzinen, die speziell an Omikron angepasst sind. Wie gut sie gegen zukünftige Varianten des SARS-Coronavirus-2 schützen, ist dabei fraglich. In Tübingen entwickelt ein Team nun einen Impfstoff, der einen breiten Immunschutz bieten soll.
"2022-02-04T16:35:00+01:00"
"2022-02-04T16:35:00.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-suche-nach-einem-impfstoff-gegen-alle-corona-varianten-100.html
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Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer
Christoph Schmitz: Schon den Märchendichter Wilhelm Hauff interessierte seine Lebensgeschichte, die des Joseph Süßkind Oppenheimer. Ein glatter Justizmord hatte den Bankier, Herzogsberater und Finanzverwalter zur Strecke gebracht. Das war 1738 in Stuttgart. Dass ein Jude in einem protestantischen Land, regiert vom katholischen Herzog Karl Alexander, zu solcher Machtfülle hatte kommen können, sorgte für so viel Hass und Neid, dass dem Bankier und Berater, kaum war der Herzog gestorben, der Prozess gemacht wurde. Wilhelm Hauffs Novelle "Jud Süß" erzählt die Geschichte, ohne dass Hauff hätte Akteneinsicht nehmen können. Die Prozessunterlagen nämlich wurden erst 1918 öffentlich gemacht. Lion Feuchtwanger widmete dem Joseph Süßkind Oppenheimer sogar einen Roman, 1925. Dann kamen die Nazis und verdrehten mit Veit Harlans antisemitischem Propagandafilm "Jud Süß" die historischen Tatsachen. Sechs Jahre vor dem Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" von Veit Harlan aber hatte es schon einmal einen abendfüllenden Spielfilm zum Thema gegeben, eine erste Verfilmung des Stoffs, der Titel: "Jew Süss", eine britische Produktion aus dem Jahr 1934 von Lothar Mendes.Vier alte und neue Filme über Süßkind Oppenheim sind am Wochenende im Worms im Programm der Nibelungenfestspiele gezeigt und von Experten diskutiert worden. Rüdiger Suchsland gehörte auch dazu. "Jew Süss" von Lothar Mendes ist eine filmische Rarität, ein Film, der den Antisemitismus eines Veit-Harlan-Films eigentlich verhindern wollte? Das habe ich Rüdiger Suchsland zuerst gefragt.Rüdiger Suchsland: Ja, sicher ein Film gegen Antisemitismus, der fast so ein bisschen das Gegenteil macht, eine auch von vielen Philosemiten als übertrieben positive Darstellung des "Jud Süß" empfundene Biografie. Es ist fast die gleiche Geschichte, basiert auf dem Feuchtwanger-Roman. Lothar Mendes war ein Emigrant, kam aus Deutschland, ist nach England emigriert. Auch sein Hauptdarsteller, Konrad Veit, war Deutscher, der in England in dieser Zeit im Exil lebte, ein Jahr nach der Machtergreifung. Konrad Veit kennen wir alle, einmal als Darsteller des Nazis in dem Film "Casablanca", zehn Jahre später, Gegenspieler von Humphrey Bogart, aber auch schon als einen der wichtigsten Akteure des expressionistischen Kinos. Cali Gari, der berühmte Darsteller dieses somnambulen Serienmörders im expressionistischen Stummfilm, das war Konrad Veit und der verkörpert nun den Juden Jud Süß als eine positive Figur, als eine Figur, der eigentlich ein Leidender ist, der verfolgt wird, der nicht integriert werden kann in die Gesellschaft, und das ist ein sehr interessanter Film, deswegen auch, weil er eben sechs Jahre vor Veit Harlans berüchtigtem "Jud Süß" eigentlich fast das Muster für diesen Stoff gegeben hat. Dieser Film, der wurde zum Beispiel auch in Österreich aufgeführt und in jedem Fall hat Goebbels ihn gesehen und hat ihn auch geschätzt von seiner Qualität her, hat sogar kurzfristig überlegt, ob man den in Deutschland rausbringen könnte, mit neuen Untertiteln versehen, oder einer neuen Synchronisation, die dann tendenziös im Sinne der Nazis gewesen wäre.Schmitz: Der Film war aber in Deutschland verboten?Suchsland: Ja, der Film war in Deutschland verboten. Man weiß aber aus Aufzeichnungen, dass Goebbels ihn kannte und dass er im Grunde das als Muster genommen hat und quasi die ganzen Wertungen umgedreht hat. Aus dem philosemitischen Film wurde ein antisemitischer dann unter Veit Harlan, und wenn man die beiden Filme miteinander vergleicht, dann sieht man, dass sogar einzelne Szenen nachgestellt wurden. Da sind ganz klare Bezüge auf den Film von Lothar Mendes.Schmitz: Ist es ein filmästhetisch starker Film, den Mendes gemacht hat?Suchsland: Es ist ein guter Film, es ist ein historisch wichtiger Film durch diesen Stoff, es ist ein Film, den man in jedem Fall auch heute noch anschauen kann, aber natürlich ist es auch ein früher Tonfilm, als der Tonfilm gerade fünf Jahre alt war, mit entsprechenden Schwächen.Schmitz: Veit Harlans Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" wurde ja auch gezeigt in Worms. Wie wirkt dieser Film heute?Suchsland: Ja, das ist nach wie vor ein schockierender Film, auch in der Gewalt und in der Offenheit, in der dort antisemitische Propaganda in diesem Film natürlich enthalten ist. Es ist ja nach wie vor ein sogenannter Vorbehaltsfilm. Das heißt, er ist nicht verboten in dem Sinn, dass er gar nicht gezeigt werden darf, aber er darf nur gezeigt werden mit einer entsprechenden historischen Einführung, einer Diskussion danach, in der dann einfach ein bisschen das Drumherum erklärt wird, in der auch die Mechanismen, mit denen dieser Film arbeitet, erklärt werden, und es ist ohne Zweifel natürlich ein sehr geschickt gemachter, ein vom Handwerklichen her sehr, sehr gut gemachter Film, der nicht offene Propaganda betreibt, sondern der diesem Juden Jud Süß auch sympathische Züge verleiht, im Grunde genommen mit dieser Propagandavorstellung, man will dadurch das wahre Wesen des Juden im Nazi-Verständnis offenlegen, also einer, der sich in die Gesellschaft hineinschleicht und diese spaltet.Schmitz: Sowohl der Dokumentarfilm "Harlan - Im Schatten von Jud Süß" vom Dokumentarfilmer Felix Möller aus dem Jahr 2008 beleuchtet die Entstehung des Propagandastreifens von Veit Harlan, als auch der ja fast neue, 2010 zum ersten Mal gezeigte Jud-Süß-Film von Oskar Roehler. Im direkten Vergleich, Herr Suchsland, welche Arbeit bringt die genauere Analyse und Deutung dieser Propaganda?Suchsland: Die sind so verschieden und der Film von Oskar Roehler ist ja auch ein Spielfilm, dass man da nicht sagen kann, der eine ist der bessere. Es ist ganz ohne Frage so, dass Felix Möllers "Harlan – Im Schatten von Jud Süß" ein sehr guter Dokumentarfilm ist über Veit Harlan, auch darüber, wie die Familie Veit Harlans mit ihm umgegangen ist, man weiß ja, Thomas Harlan, der im vergangenen Jahr verstorbene Sohn, hat sich eigentlich sein Leben lang – der ist über 80 geworden – an diesem Vater abgearbeitet, wurde selbst Filmemacher, hat Bücher geschrieben über seinen Vater, während Oskar Roehlers Film eine Art Making-of ist, in dem Harlan nur eine Nebenrolle spielt. Die beiden Hauptakteure sind einerseits der Hauptdarsteller, der dann den Jud Süß unter Harlan gespielt hat, Ferdinand Marian, ein Theaterdarsteller, der den Propagandaminister Joseph Goebbels beeindruckt hat mit Theaterrollen, und diese zweite Hauptfigur ist dann eben Goebbels selber, den Moritz Bleibtreu sehr eindrucksvoll, wie ich finde, gespielt hat, fast besser als der Marian-Darsteller. "Jud Süß" von Oskar Roehler ist ja auch ein Film, der das Absurde der Nazi-Diktatur und der die ästhetischen Züge des Faschismus, also diese spezielle faschistische Ästhetik, die in den Filmen, die aber auch in ganz vielen anderen Teilen der Propaganda vorkamen, der die betont und der sie zum Thema macht und der ihre wahren Seiten zeigen möchte und sie deswegen in Form einer Farce auch übertreibt, dass man als Zuschauer auch irritiert ist und teilweise abgestoßen ist.Schmitz: Rüdiger Suchsland über die Filmreihe "Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer" bei den Niebelungenfestspielen in Worms.
Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Christoph Schmitz
Die tragische Justiz-Geschichte des jüdischen Bankers Joseph Süßkind Oppenheimer aus dem Jahr 1738 ist mehrfach verfilmt - und in der nationalsozialistischen Version als subtile Propaganda missbraucht worden. Vier alte und neue Filme über "Jud Süß" gab es jetzt in Worms zu sehen - und einzuordnen.
"2011-07-11T17:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:17:32.553000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-geschichte-des-joseph-suess-oppenheimer-100.html
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Der Tod und die Schule
Ein Trauerfall versetzt eine Schule immer in einen Ausnahmezustand (picture alliance / dpa / Guido Kirchner/dpa) Über 40 Koffer stehen zum Abholen bereit, an jedem hängt ein Zettel, darauf der Name einer Schule. Normalerweise werden in diesen etwa ein Meter hohen Koffern, Werkzeuge, Kabel oder im Theater Schminkutensilien verstaut. Ilona Duffner vom Kreismedienzentrum hat sich bewusst für dieses Modell entschieden, weil es so viele stapelbare Fächer hat. Der Koffer hat es in sich - kommt er zum Einsatz, ist jemand gestorben. "In dem ersten Fach ist das Kreuz, das zweigeteilt ist, was hier auch noch drin ist, ist eine Kerze mit dem Spruch "Spuren im Sand", es ist auch ein LED- Licht dabei, weil man in den Schulen keine Kerzen anbrennen darf." Ein Trauerkoffer - heute händigt die Tübinger evangelische Schulseelsorge 41 Schulen im Landkreis Tübingen jeweils einen eigenen aus. Der Inhalt wurde dabei vom Schulseelsorger Team und dem Kreismedienzentrum Tübingen zusammengestellt. Eine geborgene Atmosphäre soll hergestellt werden Gabi von Kutzschenbach ist Schulleiterin der Grundschule "Hechinger Eck" und in Tübingen geschäftsführend für alle Grundschulen zuständig. Sie weiß, was es für Lehrerinnen und Lehrer, für die ganze Schule bedeutet, wenn die Nachricht vom Tod einer Schülerin oder eines Schülers kommt: "Ich erinnere mich an einen Fall sehr eindrücklich, das war ein zehnjähriger Junge, der im Urlaub bei einem Bombenattentat getötet wurde." Ein Platz bleibt leer. Die Klasse muss betreut werden, je nach Fall steht auch häufig schon die Presse vor der Tür, sagt die Schulleiterin. Dabei sind die Schülerinnen und Schüler gerade in dieser Situation auf ihre vertrauten Lehrerinnen und Lehrer, auf eine geborgene Atmosphäre angewiesen: "Dann haben sie so viele Baustellen gleichzeitig, dass sich da niemand mehr so ganz schnell um Bücher kümmern kann. Und wenn ein Kondolenzbuch gleich ausgelegt werden kann statt erst noch eins zu kaufen, das entlastet enorm." In dem Trauerkoffer, der wahlweise auch Trostkoffer genannt wird, findet sich viel zum Lesen und Vorlesen. Grundschulen bekommen deshalb einen Koffer mit anderen Büchern als etwa weiterführende Schulen. Zur Grundausstattung der Jüngeren gehört etwa das vierfarbiges Bilderbuch "Für immer" von Kai Lüftner mit Illustrationen von Katja Gehrmann. "Vom Umgang mit Tod und Trauer", dieses Buch von Uta Martina Hauf und Jürgen Karasch liegt in dem Koffer für ältere Schülerinnen und Schüler, darin finden sich praktische Beispiele für die Trauerzeit der Klasse, zum Beispiel für meditative Übungen. "Der Markt für Bilderbücher zum Thema Sterben und Tod, der ist unermesslich. Dann habe ich in meinem Unterricht bei den Erzieher und Erzieher die Bücher auch teilweise ausprobiert, mit denen diskutiert und besprochen, wie sieht das aus, wenn man das bei Kindern einsetzt." Kreuz oder nicht? Dabei geht es auch um dem Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die Schwester oder Bruder verloren haben, ein Elternteil, ja auch das geliebte Haustier. Schulseelsorger Martin Kraft hat bei der Zusammenstellung des Koffers vor allem auf den Rat von Menschen anderer Glaubensrichtungen gehört. So liegt neben dem Kreuz im ersten Fach des Koffers auch ein schlichter Holzengel: "Ein Kreuz geht für Muslime gar nicht, haben wir uns beraten lassen von muslimischen Schülerinnen und Experten, und die sagten dann, eine Engelsfigur, das wäre eine mögliche Alternative." Ilona Duffner hat mittlerweile das zweite Fach des Koffers geöffnet. Eine Klangschale kommt zum Vorschein. "Dann hat es hier Herzen aus Stein, als Symbolik der Liebe." Eine beigelegte Broschüre gibt Hinweise auf die mögliche Verwendung. Und doch: Jeder Tod ist anders. Reden, schweigen, zeichnen, weinen, es liegt an den Lehrern, einen Rahmen zu finden. Steinherzen zum Beschriften, eine CD mit ruhiger Musik, ein Stofftier finden sich in dem Koffer, ebenso ein leerer Bilderrahmen für das Porträt des Verstobenen sowie ein Kondolenzbuch und verschiedenfarbige Tücher. Die Schulen im Landkreis Tübingen haben den rund 300 Euro teuren Koffer kostenlos bekommen. Längst haben auch schon Schulen aus den Nachbarkreisen angefragt.
Von Uschi Götz
Steinherzen, eine CD mit ruhiger Musik, ein Stofftier: Diese Gegenstände finden sich in einem sogenannten Trauerkoffer, der Schülern und Lehrern bei einem Todesfall helfen soll. Seelsorger haben bei der Zusammenstellung des Koffers geholfen. Je nach Alter der Schüler, wird der Koffer anders bestückt.
"2018-10-26T14:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:17:34.534000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/trauerkoffer-fuer-lehrer-und-schueler-der-tod-und-die-schule-100.html
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Wenn der Staat das letzte Geleit übernimmt
Hinweisschild zum anonymen Graeberfeld auf einem Friedhof Deutschland Vegesack Bremen guidepost t (imago stock&people) Sonntag, 20. Januar 2019: Rund 50 Menschen sind an diesem kalten Wintertag in die Hermsdorfer Apostel-Paulus-Kirche gekommen. Hier soll heute an eine besondere Gruppe von Verstorbenen des Berliner Bezirks Reinickendorf erinnert werden. Gemeinsam ist ihnen außer dem Todesjahr 2018: alle hatten keine Angehörigen oder niemand von der Familie war aufzufinden. Feierlich leuchten 226 Lichter auf den Stufen vor dem Altar. Neben dem Altar stehen zwei Männer und verlesen die Namen. "Es hat ja jeder Einzelne verdient genannt zu werden", sagt Patrick Larscheid, Leiter des Reinickendorfer Gesundheitsamtes und im Bezirk für die ordnungsbehördlichen Beisetzungen zuständig. "Ordnungsbehördlich" ist eine Bestattung, bei der der Tote von Amts wegen und auf Staatskosten anonym unter die Erde gebracht wird. 2018 waren das allein in Reinickendorf 226 Menschen. Was so kalt und bürokratisch klingt, muss aber nicht zwangsläufig ein würdeloser Akt sein. Deshalb legt der Leiter des Gesundheitsamtes Wert auf eine öffentliche Trauerfeier, bei der auch Freunde, Nachbarn und Bekannte zumindest die Möglichkeit haben, Abschied von den Verstorbenen zu nehmen. Patrick Larscheid: "Dann rücken wir diese anonyme Beisetzung, die die Ordnungsbehördlichen Bestattungen nun mal sind, auch ein wenig in den Mittelpunkt und dann bringen wir vielleicht auch Menschen bei… dass sie tatsächlich auch solche Feiern besuchen können. Denn es steht ja immer der Vorwurf im Raum, die Behörden wollen das alles so dunkel und still machen. Das ist ein Schuh, den ich mir nicht anziehe." In Berlin sterben jedes Jahr rund 37.000 Menschen. Davon werden fast 3.000 ordnungsbehördlich bestattet. Künftig soll in Reinickendorf an jedem dritten Sonntag im Januar der Verstorbenen des Bezirks, die vom Staat beigesetzt wurden, öffentlich gedacht werden. Endlich setze ein Bezirk mal ein Zeichen für die ordnungsbehördlich Bestatteten, meint der evangelische Pfarrer Peter Storck von der Heilig-Kreuz-Passionskirche in Berlin-Kreuzberg: "Fast alle Menschen, auch die Armen, die ohne direkte Angehörige sterben, haben Menschen, die sie betrauern. Freunde, Weggefährten, Nachbarn, aber auch Menschen auf der Straße haben Kumpels und wollen, eigentlich brauchen eigentlich auch einen Ort, wo die Person betrauert werden können… Von daher ist es gut, dass es wenigstens jetzt zum ersten Mal gelungen ist, dass ein Bezirksamt die Namen der Verstorbenen verliest und noch mal eine Form der Trauerfeier gibt…" Die Erfahrung mit Bezirksämtern in Berlin sei sehr unterschiedlich, sagt Peter Storck. Doch an den letzten Willen der Verstorbenen müssten sich eigentlich alle halten: Mit Tabak und Flachmann ins Grab Peter Storck: "Ich hab es oft erlebt, dass der letzte Wille der Verstorbenen doch nicht gewährleistet war, also wenn man z. B. in seinem Testament nieder schreibt, man möchte nicht verbrannt werden, sondern erdbestattet werden, dann muss auch die Ordnungsbehörde… sich daran halten und es muss eine Erdbestattung geben. Das wird oft genug auch ignoriert oder zu spät gemerkt oder wie auch immer. Jedenfalls, ist das schon eine Sache, die nicht geht und die auch gesetzeswidrig ist." Stirbt ein Mensch mittellos und ohne Hinterbliebene, bleibt nur die anonyme ordnungsbehördliche Bestattung – ohne Trauerfeier, ohne Namenstafel, ohne Grabstein. So war es lange die Regel. Dagegen hat die Gemeinde der Heilig-Kreuz-Passionskirche schon 2001 ein Zeichen gesetzt: mit einer von ihnen gepflegten Grabstätte auf dem Evangelischen Friedhof vor dem Halleschen Tor. Peter Storck: "Wir haben eine große Armen- und Obdachlosenarbeit und wir haben ein Wohnheim für ehemals Obdachlose, wo die alt werden können, gepflegt werden und sterben können. Und ein hoher Prozentsatz dieser Personen wird ordnungsamtlich bestattet und jeder, den wir kennen, wo es Bekannte gibt, der soll so bestattet werden, dass andere ihn betrauern, dass der Name noch einmal ausgerufen wird. Und wir haben da immer am Ende auch noch die Möglichkeit, dass jeder was sagen kann, der den Verstorbenen aus einer bestimmten Lebenslage kennt und durchaus wird auch mal ein Päckchen Tabak oder ein Flachmann mit ins Grab gegeben. Die Menschenwürde hört mit dem Tod nicht. Und wenn wir immer das Wort Menschenwürde im Munde tragen, dann gilt das allen Menschen, egal ob sie jetzt mehr oder weniger in der Tasche haben…" Obdachlosigkeit in Berlin (dpa-news / Paul Zinken) Auch Patrick Larscheid, der Leiter des Reinickendorfer Gesundheitsamtes, möchte, dass "ordnungsbehördliche Bestattungen" mehr in den Fokus der Öffentlichkeit kommen. Die lieblose und anonyme Art der Amtsbeisetzungen macht dem Vater von sechs Kindern zu schaffen. Ungefähr jeder 20ste Verstorbene in Berlin wird auf diese Weise beerdigt. Das sei verdammt viel, findet der Mediziner. Und nicht jeder, der einsam stirbt, hat keine Familie. Von einigen der fast 3.000 Verstorbenen, für die die Bezirksämter eine Amtsbeisetzung anordnen, werden letztendlich doch noch Angehörige gefunden. Patrick Larscheid: "Der Werdegang ist immer gleich. Die Polizei meldet sich oder es meldet sich ein Krankenhaus und sagt, wir haben hier einen Verstorbenen, von dem wir zu Lebzeiten gar nichts wussten oder von dem wir immerhin wussten, dass es keine Familie gibt. Familie ist wichtig, weil das Bestattungsgesetz in Berlin formuliert, wer die Pflicht zur Bestattung hat und das sind lediglich Familienangehörige und auch nicht sehr weitreichend. Also Onkel, Tante, Nichte, Neffe… da ist man gegenseitig nicht mehr bestattungspflichtig. Wenn wir diese Meldung kriegen ist das so, dass wir aus Zeitgründen meistens sofort die Ordnungsbehördliche Bestattung in Auftrag geben und parallel versuchen zu ermitteln, was relativ einfach ist, ob es überhaupt Verwandte gibt. Wer zahlt? Für enge Verwandte besteht Bestattungspflicht – man kann sich nicht einfach weigern, die Kosten der Beerdigung zu übernehmen, weil man sich mit dem Toten zerstritten hat, erklärt der Leiter des Reinickendorfer Gesundheitsamtes. Wobei er betont, dass jedes Amt dabei einen Ermessensspielraum hat: Patrick Larscheid: "Es ist ja nicht denkbar, wenn eine Frau als kleines Mädchen missbraucht wurde, dann hat sie keine Nachweise darüber und dann ist es eben auch unvorstellbar und unmenschlich, so etwas zu verlangen. Es ist allerdings nicht so, dass ich nicht schon davon gehört hätte, dass man genau das getan hat… Es gibt aber die andere Variante, wo wir relativ schmallippig reagieren, das ist, wenn Kinder und Eltern und das ist der häufigste Fall, sich einfach nicht leiden konnten. Das kann nicht Problem der Gesellschaft sein, das ist immer noch ein familiäres Problem und da sind wir eiskalt und fordern Kosten ein und holen die uns auch mit Zwang, zur Not." Eine ordnungsbehördliche Bestattung in Berlin ist billig. Ein aus Holzplatten geklebter und getackerter Sarg muss für die Einäscherung genügen. Anschließend kommen mehrere Urnen gleichzeitig unter die Erde, ohne Blumen und Musik, nichts, was zusätzliche Kosten verursacht. So ist es häufig. Ein Routine-Vorgang der Friedhofsverwaltung. Patrick Larscheid: "In München liegen wir um die 3.000 Euro für eine Ordnungsbehördliche Bestattung, alles inclusive. In Hamburg sind es etwa 2500 und der große Rest der größeren deutschen Städte, weil nur die ernsthaft vergleichbar sind mit Berlin, pendelt sich irgendwo dazwischen ein. Hier in Berlin liegen wir aktuell bei 867 Euro, da ist alles dabei. Da ist auch die Grabstätte dabei. Das ist schlichtweg nicht möglich." Möglich offenbar schon. Doch wie kommt so ein Dumpingpreis überhaupt zustande? Patrick Larscheid: "Wir sprechen in Berlin, was diesen Vertrag, der mit einem Bestatter besteht, von fast 3.000 Menschen pro Jahr. Und dieser Vertrag besteht aus zwei Teilen. Das eine ist die Durchführung der sog. Ordnungsbehördlichen Bestattung, das zweite ist der beweissichere Transport und die Lagerung von Leichen für die Berliner Polizei. Auch das ist eine große Zahl an Verstorbenen. Wir machen eine Ausschreibung, immer wieder und die Ausschreibung hat ein erhebliches Volumen. Der Bestatter, der zurzeit diese Bestattung durchführen darf im Land Berlin, hat gesagt, für die Abholung eines Verstorbenen und den Transport in einen Kühlraum berechnet er einen Euro. Jetzt ist es dem Unternehmer freigestellt für einen Euro diese Leistung zu erbringen. Man muss aber weder Mathematiker noch Betriebswirt sein, um sich denken zu können, dass das mit dem einen Euro wohl nicht richtig funktionieren kann." Was ist drin im Sarg? Wenn es nur noch um billig geht, bleibt die Würde des Toten auf der Strecke. Patrick Larscheid: "Ich bin nicht der Einzige, der allergrößte Schwierigkeiten mit dieser Ausschreibungsmethode der Ordnungsbehördlichen Bestattung hat. Wir wissen, dass es wegen der Masse der Verstorbenen und wegen des Prinzips des geringsten Preises einfach Auswüchse gibt und das Fehler passieren. Hässliche, schlimme, unangenehme Fehler passieren in diesem ganzen Geschäft. Das mag etwas makaber klingen, aber ich sag es mal ganz konkret: Wir kaufen für jeden Verstorbenen ein Totenhemd, jeder kriegt eine Decke mit in ein Kremationssarg und auch ein Kissen. Es ist auch schon vorgekommen, dass diese Dinge gefehlt haben. Das kontrollieren wir einfach, in dem wir im Krematorium die Särge aufmachen und reinschauen und gucken, was ist drin... stichprobenartig kontrollieren. Wir können niemandem da eine Absicht unterstellen. Das ist sehr, sehr schwierig, aber wir möchten wenigstens, dass die magere Leistung, die wir kaufen für die Verstorbenen, eingehalten wird. Das ist die Untergrenze dessen, was überhaupt sein muss." Es gibt Menschen, die keine Angehörigen mehr haben und vieles für sich im Vorfeld klären, berichtet Peter Storck, Pfarrer in der Heilig-Kreuz-Passionskirche und im Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte: "Zum Beispiel habe ich jetzt eine Frau, die hat was ganz Tolles erlebt. Sie hat alleine gelebt, war Intensiv-Krankenschwester, hat sich ein Leben lang um andere gekümmert. Jetzt wäre sie allein gestorben, aber Nachbarn haben sie aufgenommen und haben sie im Sterben begleitet. Wunderbar. Und sie hat in ihrem letzten Willen aber zum Ausdruck gebracht, dass sie auf einem bestimmten Friedhof beerdigt werden will und die Mehrkosten, die tragen jetzt Freunde, Bekannte usw. Und da ist das Ordnungsamt durchaus auch bereit, also so zu kooperieren, dass das Ordnungsamt seinen Teil zahlt und die Freunde und Angehörige die Mehrkosten." Der Alte Domfriedhof in Berlin Mitte wurde 1843 angelegt, er ist der älteste katholische Friedhof Berlins. Seit zwei Jahren werden hier Verstorbene ordnungsbehördlich in alten Grabstätten beigesetzt. Es sind hunderte, erklärt Galina Kalugina, Verwaltungsleiterin der katholischen Friedhöfe: "Zum Beispiel hier sind die Erdbestattungen gewesen, auch Ordnungsbehördliche Bestattungen und konnte so sein, wo wirklich keiner kommt, oder einer von diesen Stellen hier so, bepflanzt, gepflegt… wo schon die Freunde, Arbeitskollegen, sich um die Stellen kümmern. Das sind hier Urnenanlagen. Sehen Sie?" Die Urnen sind vor einem verwitterten Denkmal beigesetzt. Im dichten dunkelgrünen Pflanzenteppich stehen eng nebeneinander Namensschilder: Galina Kalugina: "Jede Urne ist mit einem Namenschild versehen, mit einem Bodendecker bepflanzt, sie wird durch den Friedhof gepflegt… Ist immer zu erkennen, wer wo liegt. Jeder hat eine einzelne Grabstelle." In manchen dieser Urnengemeinschaftsanlagen gibt es keine individuellen Spuren der Toten, außer einem grünen Schild mit Namen, an der Stelle, wo die Urne in die Erde versenkt wurde. Auf den Gräbern fehlen Geburts- und Todesdaten. Hier und da ein paar Blumen, ein Kerzenlicht, die Gewissheit, dass jemand einen der Verstorbenen besucht hat. Und dann steht mitten in der Kollektivgrabanlage, die kaum Raum lässt für Individualität, ein kleiner Igel aus Stein, mit Inschrift. Hier wurde eine Tierfreundin beerdigt. In der Friedhofskapelle findet gerade eine Andacht statt. Es soll an die Verstorbenen erinnert werden, die auf dem Alten Domfriedhof ordnungsbehördlich beigesetzt worden sind. Eine kleine Feier, zehn Menschen sind gekommen. Friedhöfe kämpfen ums Überleben. Immer weniger Menschen entscheiden sich für eine Erdbestattung, die mehr Platz benötigt als eine Urne. Verstorbene lassen ihre Asche ins Meer streuen. Überall entstehen Friedwälder. Hat sich der Kirchenvorstand der St. Hedwig Gemeinde, zuständig für den Alten Domfriedhof, deshalb um die Amtsbeisetzungen beworben? Sind Bestattungen hier günstiger als auf anderen Friedhöfen? Oliver Wüstling ist Verwaltungsleiter im Dompfarramt. Er sagt: "Ganz üblicher betriebswirtschaftlicher Umgang, den der Kirchenvorstand ja dem Vermögen der Kirchengemeinde gegenüber hat, ist eben geschaut worden, welche Friedhöfe sind eigentlich in welcher Form, wie stellen die sich derzeit dar, und dabei ist eben aufgefallen, dass auf dem Friedhof in der Liesenstraße durchaus auch darüber nachgedacht werden könnte, wie man eigentlich in alten Grabanlagen, in denen schon seit Jahren keine Ruherechte mehr existieren, wie man eben mit diesen Anlagen umgeht." Mit Respekt auf dem letzten Weg Doch auch wenn die Beerdigung wenig kostet und es keine Angehörigen gibt, die auf einen würdevollen Ablauf achten, werden die Toten auf dem Alten Domfriedhof mit Respekt auf ihrem letzten Weg begleitet, sagt Oliver Wüstling: Oliver Wüstling: "Man muss sich das Ganze sehr pietätvoll vorstellen und vermutlich auch ganz anders, als man es so mit der Konnotation, die man sonst so aus der Presse entnimmt, sich vielleicht vorstellt. Wenn ich also zu einer Ordnungsbehördlichen Bestattung komme ist das Erste, wo ich hinkomme, die Kapelle, in der die Urne aufgebahrt ist. In einer stillen Atmosphäre, eventuell mit leiser musikalischen Untermalung, das hängt teilweise davon ab, wie man es an dem Tag gestaltet. Und nach einer gewissen Zeit der Stille und Andacht wird die Urne dann zur Grabstelle gebracht, bei der es sich um eine solche alte Grabanlage aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert handelt, in der dann die Urne beigesetzt wird." Kolumbarium Urnenwand Kolumbarienwand AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT (imago stock&people) Der Amtsleiter des Reinickendorfer Gesundheitsamtes, Patrick Larscheid, weiß um die schwierige wirtschaftliche Situation der Friedhöfe. Aber bei einer Bestattung, die mit allem Drum und Dran keine 900 Euro kosten darf, sei zu vermuten, dass es für die Behörden eher kaum eine Rolle spiele, wie pietätvoll Verstorbene unter die Erde gebracht werden. Auch der evangelische Pfarrer Peter Storck sieht die Bemühungen der katholischen Kirchengemeinde St. Hedwig, mit wenig Kosten möglichst würdig ordnungsbehördlich zu bestatten: "Ich glaube, die Kollegen vom Alten Domfriedhof geben sich da schon Mühe, aber die Ordnungsämter wählen ja nur den Alten Domfriedhof aus, weil er die niedrigsten Gebühren in der Stadt hat. Es wäre viel schöner, wenn die Leute auch in ihren Stadtbezirken beerdigt werden dürften, aber das lässt das Ordnungsamt ja aus Kostengründen wieder nicht zu. Also das finde ich gut, dass da wenigstens diese Namensschildchen sind. Die sind ja ein Kompromiss, weil nicht mehr bezahlt wird, aber die haben natürlich auch nur eine kurze Halbwertzeit, also von daher fände ich schon einen Stein besser und Geburts- und Sterbedatum wage ich ja kaum (lacht) zu wünschen, weil es einfach eben bei uns doch eben sehr spartanisch zugeht." Sie bräuchten eine zweite Grabstätte auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor. Um das zu finanzieren, benötigen sie Spenden, sagt der Pfarrer der Kreuzberger Kirchengemeinde Heilig-Kreuz-Passion. Bisher hätten sie aber auf ihrer Grabstätte für die Verstorbenen auch kein Geburts- und Todesdatum eintragen lassen. "Die Namen sind das Wichtige, angesichts der Ewigkeit" Peter Storck: "Da haben wir aber immerhin in Gold die Namen und die auch auf einem edlen Stein. Also die Namen sind eigentlich das Wichtige, angesichts der Ewigkeit ist die Lebensspanne sowieso eine kurze. Diese Grabstelle selber ist sehr bunt bepflanzt, jeder bringt da oft was mit und man merkt auch viele Leute gehen zu der Grabstelle und pflanzen was ein, oder lassen was da und das ist einfach ein lebendiges Grab. Ein bisschen ungewöhnlich, aber eigentlich ganz schön und man merkt, es ist kein verlassener Ort." Kirchengemeinden, persönlich-engagierte Menschen sowie Beschäftigte von Bezirksämtern wie Patrick Larscheid setzen sich für bessere Bedingungen bei "ordnungsbehördlichen Bestattungen" ein. Denn ein Abschied auf Erden sollte doch für jeden Menschen würdevoll sein. Patrick Larscheid: "Ich weiß dass es an vielen Stellen auch Menschen gibt, die ehrenamtlich schon in den Startlöchern stehen und sagen, fragt uns doch einfach! Natürlich machen wir Euch da irgendeine Art der Feier, das kriegen wir hin, auch ohne Staat kriegen wir das hin und wir kriegen es auch ohne Bezahlung hin. Aber es wird am Ende wohl nicht ohne ein wenig Geld gehen. Es soll einfach ein Bewusstsein dafür da sein, dass das alles Bürgerinnen und Bürger sind, die bis zum Ende dazu gehören und die verdienen alle auch einen anderen Abgang, als es zur Zeit der Fall ist."
Von Charly Kowalczyk
"Ordnungsbehördliche Bestattungen" heißen Beisetzungen für Tote ohne Angehörige. Der Staat übernimmt die Kosten, die Verstorbenen sollen möglichst preiswert unter die Erde gebracht werden. Billig und würdevoll - geht das?
"2019-05-29T20:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:50:48.704000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verstorbene-ohne-angehoerige-wenn-der-staat-das-letzte-100.html
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"Urteil wird zu mehr Rechtsunsicherheit führen"
Hartz IV-Sanktionen dürften nur das allerletzte Mittel sein, meint der Sozialwissenschafter Stefan Sell (picture alliance / dpa / Uli Deck) Mario Dobovisek: Am Abend habe ich darüber gesprochen mit Stefan Sell. Er ist Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz und dort intensiv mit Arbeitsmarktfragen befasst. – Das Bundesverfassungsgericht habe ein sehr weises und ausgewogenes Urteil gefällt, kommentiert Arbeitsminister Hubertus Heil heute. Ich habe Stefan Sell gefragt, ob er sich seiner Meinung anschließen kann. Stefan Sell: Na ja. Ich würde das jetzt etwas analytischer versuchen auszudrücken. Da muss man vielleicht etwas kritisch anmerken: Das Bundesverfassungsgericht macht sich ein bisschen einen schlanken Fuß. Das Urteil strotzt vor Formulierungen mit Begriffen wie "die Jobcenter können", "die Jobcenter dürfen" - also unbestimmte Rechtsbegriffe, die dazu führen werden, dass jetzt für die Jobcenter, für die Mitarbeiter dort eine Menge Mehrarbeit kommt, weil sie in jedem Einzelfall zwar mehr Möglichkeiten haben abzuwägen, aber das heißt natürlich auch, sie müssen viel mehr dokumentieren, nachhalten, falls die Betroffenen dann in Widerspruch und Klage gehen. Das wird ein Stück weit zu mehr Rechtsunsicherheit führen, weil jetzt noch mehr als heute schon, wo wir eine starke Streuung haben zwischen den Jobcentern, was die Sanktionen angeht, werden wir sehen, dass es noch mehr darauf ankommt, an welchen Sachbearbeiter kommen Sie, in welcher Region leben Sie. Dobovisek: Aber Fakt ist: Wir haben jetzt erst mal einen Deckel. Mehr als 30 Prozent dürfen den Regelleistungen nicht abgezogen werden – mit der Einschränkung, dass es bei jüngeren Hartz-IV-Empfängern anders aussieht. Ist das zumindest erst mal ein erster Schritt für ein gerechteres Hartz IV, zumindest aus Sicht der Betroffenen? Sell: Ja, auf alle Fälle, wobei man die Einschränkung machen muss: Wenn denn der Gesetzgeber jetzt den Ball nutzt, der hier aus Karlsruhe geschossen wurde, und das SGB II, das Hartz-IV-Gesetz entsprechend verändert, … Dobovisek: Das Sozialgesetzbuch. Sell: Genau! Dann wäre das eine Möglichkeit, wenn er auch die anderen Fälle nimmt, die Terminversäumnisse und so weiter, und dort eine einheitliche Neuregelung schafft. Denn das ist klar, das zeigen auch die Forschungsbefunde: Diese 60 Prozent oder gar 100 Prozent Sanktionierung, die gehen einfach nicht. Die wirken im Regelfall nicht so – das beklagt auch das Gericht in seiner Urteilsbegründung , dass keine wirklich überzeugenden Wirkungsbefunde vorgelegt wurden, dass die dann zu einer Verhaltensänderung führen. "Wir verlieren ganz viele junge Menschen, die dann teilweise obdachlos werden" Dobovisek: Weil diese Fälle, ich nenne es mal so, Fälle, die betroffenen Menschen ohnehin verloren sind? Sell: Ja, das ist natürlich auch eine Typfrage. Nehmen Sie zum Beispiel die jungen Menschen. Da wissen wir: Ein kleiner Teil lässt sich tatsächlich durch die harten Sanktionen auf den "rechten Weg" wieder setzen. Aber wir verlieren ganz viele junge Menschen, die sich dann abmelden, die teilweise obdachlos werden, die bei keiner Behörde mehr aufschlagen, die auch in die Kleinkriminalität rutschen und so weiter, erheblich negative gesellschaftliche Folgen. Und bei den Sanktionen, die die meisten Fälle darstellen, Meldeversäumnisse, da sollten wir nicht vergessen, dass dort auch oft Menschen sind – ich will das nicht entschuldigen, sondern versuchen zu erklären -, die zum Beispiel wegen psychischer Erkrankungen oder wegen totaler Überschuldung kein amtliches Schreiben mehr aufmachen, völlig panisch reagieren und dann auch noch mit Sanktionen belegt werden. Dobovisek: Nun muss man das aber trotzdem relativieren, weil dem Jobcenter reicht ja oftmals einfach eine plausible Erklärung. Sell: Ja, aber da kommt es drauf an. Wenn Sie einen Jobcenter-Mitarbeiter haben, der dafür offen ist, dann ja. Aber es gibt – das zeigen auch die Statistiken – enorme Sanktionierungsunterschiede zwischen einzelnen Jobcentern, die nicht dadurch erklärbar sind, dass in dem einen nun deutlich schlechtere Hartz-IV-Empfänger sind, die alle nicht wollen. Das hängt auch dann sehr stark von der Haltung und von der Einstellung ab, die vor Ort in einem bestimmten Jobcenter vorherrschen. Dobovisek: Dann machen wir es mal konkret. Wann sind denn aus Ihrer wissenschaftlichen Perspektive Sanktionen sinnvoll? Sell: Es gibt ja die Grundpositionen, die sagen, generell kann man ein Existenzminimum nicht wirklich noch kürzen. Diese Position wurde heute verfassungsrechtlich abgeräumt. Aber ich persönlich bin der Meinung: Wenn man Sanktionen einsetzt, dann darf das A wirklich nur das allerletzte Mittel sein, und hier ist das Urteil durchaus hilfreich. Es darf auch über 30 Prozent auf keinen Fall hinausgehen. Wir reden ja hier über das Existenzminimum, was dann noch mal gekürzt wird. Und dann muss es zeitlich befristet sein. Das hatten wir auch früher in der Sozialhilfe. Vor Hartz IV gab es auch diese Möglichkeit. Da hat man dann aber gesagt damals: Wenn jemand drei Monate oder länger sein Verhalten nicht ändert, dann ist das zwar schlimm und man kann sich darüber ärgern, aber das sind A so wenig Fälle und B, man wird diese Fälle wahrscheinlich auch durch 50 oder 60 Prozent Sanktionen nicht lösen können. Das muss ein System ein Stück weit aushalten und man muss versuchen, andere Zugänge zu den Leuten zu finden. Wenn Sanktionierung, dann als letztes Mittel und nicht in der Größenordnung. Wir hatten im vergangenen Jahr 900.000 neue Sanktionen, die verhängt wurden, oder Sanktionen überhaupt, die verhängt wurden, und das ist natürlich schon eine erhebliche Zahl. Die müsste man auf alle Fälle deutlich reduzieren können. "Bei den Reformen im bestehenden System gibt es starke Widerstände" Dobovisek: Den Sozialdemokraten hängen die Hartz-Reformen ja weiter schwer wie Blei an den Beinen. Gerne wollen die Genossen das Gewicht abwerfen und fordern längst eine Abkehr von Hartz IV. Jetzt könnte man das Urteil ja zum Anlass nehmen, darüber noch mal ernsthaft nachzudenken. In welche Richtung sollte es denn gehen? Sell: Wir müssen auf dem Boden bleiben. Die anstehende gesetzliche Neuregelung des Sozialgesetzbuches II wird schon gar nicht so einfach sein. Natürlich wird man die konkreten Vorgaben des Verfassungsgerichts umsetzen können, aber schon bei der von mir angesprochenen Sondergruppe der unter 25-Jährigen, wo übrigens alle, fast alle Beteiligten sagen, das hätten wir schon längst entschärfen müssen, das ist kontraproduktiv in der Gesamtwirkung, selbst die Bundesagentur fordert das, da gab es in der Vergangenheit deswegen keine Bewegung, weil Bayern und die CSU da massiv Widerstand geleistet hat. Und ich kann mir vorstellen, wenn der Bundesarbeitsminister jetzt eine Korrektur notwendigerweise auf den Weg bringt, dass genau an der Stelle auch innerhalb der GroKo schon ein Grundsatzstreit entbrennt, weil die CSU hier und auch Teile der Union Widerstand leisten werden bei einer Verbesserung der Situation auch für die jungen Menschen im Hartz-IV-Bezug. Sie sehen schon: Bei den Reformen im bestehenden System gibt es sehr, sehr starke Widerstände und auch Lähmungskräfte. Darüber hinaus eine Reform, da würde ich ganz pragmatisch sagen, und das ist ja heute erst mal gar nicht angesprochen worden logischerweise, da würde es vor allem um die Höhe von Hartz IV gehen. Denn dort gibt es tatsächlich von vielen Fachleuten die berechtigte Kritik, dass eine ehrliche, echte Berechnung der Bedarfe zu höheren Hartz-IV-Sätzen führen würde, wenn man das machen würde, und darum müsste es eigentlich bei einer anstehenden Hartz-IV-Reform gehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Sell im Gespräch mit Mario Dobovisek
Zwar begrüßte Sozialwissenschaftler Stefan Sell im Dlf die Begrenzung der Hartz-IV-Sanktionen durch das Bundesverfassungsgericht. Doch das Urteil strotze vor unbestimmten Rechtsbegriffen. Auf die Mitarbeiter der Jobcenter käme damit eine Menge Mehrarbeit zu - sie müssten jeden Einzelfall stärker abwägen.
"2019-11-05T23:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:57.778000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesverfassungsgericht-zu-hartz-iv-urteil-wird-zu-mehr-100.html
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Die Risikogruppe steht im Ring
Trotz Lockdown ziehen die Veranstalter das Sumo-Turnier in Tokio durch (dpa / picture alliance / Yomiuri Shimbun) Das Sumoringen hat in Japan eine Jahrtausende alte Tradition. Noch heute wirkt kaum ein Anblick erhabener als der eines Ringers im Mawashi, dem Gürtel aus Seide, den die massigen Ringer auf ihren nackten Körpern tragen.Dieses Bild der Kraft zeigt sich auch dieser Tage wieder. Seit Montag läuft für zwei Wochen das "Tokyo basho", eines der sechs wichtigen Turniere im Kalender der Sumo-Saison. Und das obwohl Japan seit Wochen in seiner dritten Infektionswelle der Pandemie steckt und die Regierung dem Land am Donnerstag vergangener Woche auch einen erneuten Lockdown verordnet hat. Ausnahmezustand befeuert Olympia-DebatteAufgrund steigender Corona-Zahlen hat die Nationalregierung in Tokio den Ausnahmezustand erklärt – sieben Monate vor dem Start der Olympischen Spiele. Die Euphorie in der Bevölkerung ist verschwunden. Im Sumostall grassiert das Virus schon Menschen sollen abends zuhause bleiben, Betriebe sollen schließen. Aber die starken Typen des Sumo steigen trotzdem seit Montag in den Ring. Und auf den Rängen der 11.000 Plätze fassenden Arena Ryogokukan im nördlichen Zentrum Tokios dürfen sogar 5.000 Besucher dabei zusehen.Als ob das Coronavirus dem Sumo, das doch nur so vor Kraft, Härte und Unverwundbarkeit strotzt, nichts anhaben könnte. Weit gefehlt. Kurz vor Turnierbeginn erklärte der nationale Sumoverband, dass diesmal 65 Ringer den Kämpfen fernbleiben müssen. Allein im Sumostall Arashio wurden Anfang des Monats zwölf Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Im Rahmen einer Testkampagne aller Athleten, Trainer und Betreuer kamen noch einmal mehrere Ringer anderer Ställe hinzu. Allen voran fehlt beim aktuellen Turnier der Ringer Hakuho, der den Sport seit Jahren dominiert. Er erkrankte letzte Woche und kam gleich in stationäre Behandlung. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Risikogruppe Sumoringer Zweifel am Sinn der Veranstaltung werden laut, denn die Sumoringer gelten als besonders gefährdet. Zwar sind die Athleten körperlich fit, allerdings sind ihre Organe schon wegen des hohen Bauchumfangs täglich besonderem Druck ausgesetzt. Vergangenes Jahr im Mai war Sumoringer Shobushi der erste Profisportler, der mit Covid-19 infiziert war und starb. Als unmittelbare Todesursache wurde multiples Organversagen in Folge einer Lungenentzündung angegeben. Kurz darauf veröffentlichte die Ärztepraxis Sanbongi aus Nagoya einen Text zu gesundheitlichen Risiken für Sumoringer in der Pandemie, in dem es hieß: "Die einzige Person, die in Japan in ihren Zwanzigern mit dem Coronavirus gestorben ist, war ein Sumoringer. Er hatte Diabetes. Dabei noch beruflich Gewicht zuzunehmen, ist höchst gefährlich." Olympia in Tokio - Vorfreude in der MinderheitDie Organisatoren der Olympischen Spiele von Tokio wollen die Veranstaltung um jeden Preis durchziehen. Dafür suggerieren sie mittlerweile eine Normalität, die ihnen noch auf die Füße fallen könnte. Schließlich tritt Diabetes bei Sumoringern häufiger auf, besonders nach der Karriere. Nach Shobushis Tod meldete sich auch der russische Ex-Sumoringer Anatoly Mikhakhanov zu Wort: "Es ist nicht leicht, gesund zu bleiben, wenn du das Leben eines Sumoringers führst." Lieber Rücktritt als krank werden Die Ernährung bezeichnete er als gesundheitsschädigend. Gesundheitliche Bedenken, bezüglich seiner Teilnahme am aktuellen Turnier, hatte auch der 22-jährige Sumoringer Kotokantetsu. Nach einer Herz-OP hatte dieser Bedenken gegenüber dem Verband angemeldet. Er befürchte, eine Infektion mit dem Coronavirus könnte für ihn lebensbedrohlich werden. Kotokantetsu berichtet: "Der Verband sagte: 'Du kannst nicht dem Turnier fernbleiben, nur weil du Angst vorm Coronavirus hast.'" Man habe schließlich Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Über Twitter erklärt der Ringer dann: "Ich hatte nur die Wahl, teilzunehmen oder zurückzutreten." Er hat sich für das Karriereende entschieden.
Von Felix Lill
Mitten in der Corona-Pandemie findet in Japan ein großes Sumo-Turnier statt, obwohl mehrere Ringer mit Covid-19 infiziert sind. Die Sumoringer gelten wegen ihres Übergewichts und teilweiser Vorerkrankungen als besonders gefährdet. Doch die Veranstalter nehmen darauf keinerlei Rücksicht.
"2021-01-14T22:57:00+01:00"
"2021-01-15T12:04:21.142000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sumoringen-in-japan-die-risikogruppe-steht-im-ring-100.html
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Kampfpilotin Sawtschenko nicht auf Parteilinie
Nadija Sawtschenko kämpft für einen Untersuchungsausschuss, der die Firmen von Präsident Petro Poroschenko in Steueroasen durchleuchten soll. (GENYA SAVILOV / AFP) Während ihrer Zeit in russischer Haft wurde die Kampfpilotin Nadija Sawtschenko für viele Ukrainer zu einem Idol. Nun, zurück in der Heimat, erweist sich die 35-Jährige als eine äußerst streitbare Abgeordnete. Nach der Parlamentssitzung gestern erklärte sie: "Einen halben Tag hat es gedauert, bis wir dem Abgeordneten Onyschtschenko die Immunität entzogen haben. Das hätte man in fünf Minuten machen können. Wir müssten bis zu 200 Gesetze täglich verabschieden, um weiterzukommen. Wir sollten an jeder Tür einen Soldaten mit einem Maschinengewehr postieren und die Abgeordneten eine Woche nicht aus dem Saal gehen lassen. Das fordert doch im Grunde die ganze Nation." Sawtschenko will nicht nur Partei-Maskottchen sein Die Vaterlands-Partei hatte Nadija Sawtschenko bei der Parlamentswahl vor zwei Jahren auf ihre Liste gesetzt, da saß die Soldatin bereits in russischer Haft. Die Parteivorsitzende Julia Tymoschenko wollte sich so als besonders patriotisch profilieren. Auch andere ukrainische Politiker sonnten sich im Glanz der Frau, die den russischen Richtern den Mittelfinger gezeigt hatte. So Präsident Petro Poroschenko, der ihr gleich nach der Entlassung einen hohen Orden verlieh: "Lange 709 Tage haben wir gebangt, gebetet und Protestaktionen organisiert, damit dieser Tag kommen konnte. Nadija Sawtschenko ist zurück in der Ukraine und mit ihr die Hoffnung auf unseren Sieg. So wie wir sie zurückgeholt haben, werden wir auch das Donezbecken und die Krim wieder unter ukrainische Kontrolle bringen." Poroschenko ahnte jedoch sehr bald, dass Nadija Sawtschenko nicht nur Maskottchen sein will. Sie schlug seinen Vorschlag aus, erst einmal ins Ausland zu reisen. Vielmehr teilt sie im Parlament mächtig aus und verschont selbst den Präsidenten nicht. Sie kämpft für einen Untersuchungsausschuss, der Poroschenkos Firmen in Steueroasen durchleuchten soll. Aber auch in ihrer eigenen Fraktion eckt sie an. Ein Radiointerview mit ihr sorgte für einen regelrechten Skandal. Auf die Frage, wie im Donezbecken Frieden einkehren könnte, sagte sie: "Wir sollten direkten Kontakt zu den Volksrepubliken Donezk und Luhansk aufnehmen, ohne die Beteiligung Dritter oder Vierter, und abseits des Minsker Friedensprozesses. Wir müssen eine Verständigung finden." Konsequenter Einsatz für Verständigung Direkte Verhandlungen mit den Seperatistenführern - Sawtschenko wiederholte damit eine alte Forderung von Russland, gegen die sich die Ukraine stets gewehrt hatte. Nadija Sawtschenko ging noch weiter: Sie verlangte eine Amnestie auch für diejenigen Separatisten, die aktiv gegen die Ukraine kämpfen. Eine Ausnahme will sie nur für Kämpfer, die das Kriegsrecht verletzt hatten. Seitdem setzt sich Sawtschenko, die in Russland als blutrünstige Nationalistin verschrien war, konsequent für Verständigung ein: "Wenn der Westen der Ukraine Waffen liefert, dann kann das zum Dritten Weltkrieg führen. Besser ist es, uns wirtschaftlich zu helfen und die Sanktionen gegen Russland fortzusetzen. Natürlich muss Russland verstehen, dass es sich falsch verhalten hat. Aber ich bin eher für persönliche Sanktionen gegen die Mächtigen, die weniger die russische Gesellschaft treffen, denn für sie sind Sanktionen wirklich schmerzhaft." Distanzierung und Gerüchte von Parteikollegen Auch damit stellt sich Sawtschenko gegen die große Mehrheit der ukrainischen Politiker. Parteichefin Tymoschenko distanzierte sich schon von einigen ihrer Äußerungen. Andere deuten an, die Kampfpilotin könnte eine russische Agentin sein und sei in Russland geschult worden. So der Abgeordnete Wadim Rabinowytsch: "Ich habe keine Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen: Sie war zwei Jahre lang immer wieder im Hungerstreik und ist trotzdem in hervorragender physischer Verfassung. Außerdem sind da ihre rhetorischen Fähigkeiten. Wie gedankenschnell sie auf Fragen antwortet! Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich das selbst beigebracht hat." Die 35-Jährige kümmern solche Gerüchte nicht. Sie hat sich gerade als neue Verteidigungsministerin für ihr Land in Spiel gebracht.
Von Florian Kellermann
In russischer Haft wurde Nadija Sawtschenko zur Heldin für die Ukraine. Seit Ende Mai ist die Kampfpilotin wieder frei. Als Abgeordnete im Parlament schlägt die 35-Jährige nun vollkommen unerwartete Töne an, lässt sich von niemandem vereinnahmen und sorgt mit ihren öffentlichen Auftritten für Irritationen.
"2016-07-07T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:39:41.469000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukrainisches-parlament-kampfpilotin-sawtschenko-nicht-auf-100.html
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Die Religion und der Kapitalismus
Papst Franziskus hat mit seiner Kapitalismus-Kritik auch Diskussionen in der Fachwelt angestoßen (dpa / Ettore Ferrari) "Ebenso wie das Gebot 'du sollst nicht töten' eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein 'Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen' sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht." Mit diesen scharfen Worten hat Papst Franziskus das kapitalistische Weltwirtschaftssystem angegriffen. In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium vom November vergangenen Jahres, einem 160seitigen programmatischen Text, protestiert Franziskus gegen die – wörtlich - "Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel." Franziskus spricht auch als Lateinamerikaner, seine Perspektive orientiert sich an den bitteren Erfahrungen der Menschen in der Dritten Welt. Forderung nach einer Neuordnung "Mich fasziniert, wie er da die Situation darstellt, und zwar von den am schlechtesten Gestellten her, von den am wenigsten Begünstigten her. Das ist also die Option für die Armen jetzt einmal wirklich ausbuchstabiert: Wenn es den Schwächeren in dieser Gesellschaft so miserabel geht, wie das gegenwärtig weltweit der Fall ist, dann ist irgendetwas an diesem System korrupt oder dann ist das ein System, das gleichsam die Vorstellung überhaupt einer Gerechtigkeit in der Welt gar nicht verwirklicht." Friedhelm Hengsbach, Jesuit, emeritierter Professor der philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt, ist ein führender Vertreter der katholischen Soziallehre. Hengsbach hat in den vergangenen Jahrzehnten die wechselnden Regierungen ebenso kritisiert wie den machtkonformen Kurs der Amtskirchen. Stimmen wie seine sind seit der Finanzkrise wieder lauter geworden. Sie fordern eine ethische Neuordnung der Wirtschaft, orientiert an sozialer Gerechtigkeit und berufen sich in der öffentlichen Diskussion auf die christliche Lehre. "Die Religion ist in ganz anderer Weise wieder auf die öffentliche Agenda gekommen als man sich das vor 20 Jahren hätte vorstellen können. Das hängt natürlich zusammen mit Globalisierungsfolgen, in anderen Gegenden der Welt ist es eben nicht so wie in der Bundesrepublik Deutschland, wo man nach wie vor von einer Entkirchlichung sprechen kann, die Leute treten nach wie vor sehr zahlreich aus den Kirchen aus, aber das heißt eben überhaupt nicht, dass die Religion nicht im Weltmaßstab eine ganz große politische Rolle spielt, immer gespielt hat, und jetzt eben auch in Deutschland deutlich wird, dass sie sie immer noch spielt." Religion in öffentlicher Diskussion zurück Barbara Stollberg-Rilinger ist Historikerin an der Universität Münster und zugleich Sprecherin des Exzellenzclusters Religion und Politik. Der Exzellenzcluster erforscht interdisziplinär von der Antike bis in die Gegenwart in zahlreichen Einzeluntersuchungen das Verhältnis von Religion und Politik. Das umfassende Forschungsunternehmen ist dem wissenschaftlichen Eingeständnis geschuldet, dass die Modernisierungstheorie an entscheidender Stelle falsch war. Denn sie ging davon aus, dass der Säkularisierungsprozess weltweit fortschreite und die Religion immer mehr an öffentlicher Bedeutung verliere und schließlich zur privaten Glaubenssache ins stille Kämmerlein verbannt werde. In Wahrheit jedoch ist die Religion in die öffentliche Diskussion zurückkehrt, wo es um soziale und auch um Wirtschaftsfragen geht. "Das hängt natürlich mit Migrationsphänomen zusammen, es hängt auch mit religiösen Funktionen zusammen, die in Zeiten der Finanzkrise wieder aktuell erscheinen, also religiöse Kapitalismuskritik, die wieder in neuer Weise hervorgeholt wird und wieder aktuell zu sein scheint, nachdem man das jahrzehntelang gar nicht mehr zur Kenntnis genommen hatte." Im Rahmen des Exzellenzclusters leitet Karl Gabriel, Seniorprofessor für christliche Sozialwissenschaften ein spezielles Forschungsprojekt, das die religiösen und konfessionellen Einflüsse auf die Entwicklung des Wohlfahrtstaates in verschiedenen europäischen Ländern herausarbeitet. Zu den Wurzeln des deutschen Sozialstaats, so Gabriels These, gehören sozialethische Vorstellungen beider Konfessionen in einer spezifischen Mischung. Staat für soziale Lage verantwortlich "Die protestantische Seite: Dort ist es die Verantwortung des Staates, gerade die lutherische Tradition, dass der Staat eine Gesamtverantwortung für die Menschen hat, und dass er in diese Verantwortung für die soziale Lage der Menschen auch gerufen werden kann und gerufen werden soll, das ist der lutherische Protestantismus, weshalb er auch immer staatsnah gewesen ist, manche sagen, eine paternalistische Tradition begründet hat. Im Katholizismus sind es wohl am stärksten die beiden Begriffe Solidarität und Subsidiarität, also auf der einen Seite Solidarität, die Verflechtungen in der modernen Gesellschaft sind so groß, dass die Menschen wechselseitig füreinander Verantwortung übernehmen müssen, und das müssen dann auch die größeren Einheiten und der Staat leisten." Was das zweite Prinzip, also die Subsidiarität angeht, so gibt es immer wieder Streit: Wie ist die Selbsthilfe und die Eigenverantwortung von Gruppen und von jedem Einzelnen zu verstehen. Konkret gesagt: Hat sich jemand ausreichend genug um Arbeit bemüht, bevor er staatliche Unterstützung genießt? Gerard Schröder erklärte, es gebe kein Recht auf Faulheit. Dafür erntete er viel Beifall, zumal seine Devise scheinbar übereinstimmte mit dem populären Paulus-Wort: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Friedhelm Hengsbach erhebt Einwände: "Im Thessalonicher-Brief sagt Paulus: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Und das klingt auch halbwegs vernünftig. Aber ist die Situation derer, die als Arbeitssuchende registriert werden, identisch mit denen, die nicht arbeiten wollen? Dieses Schandmal, das man den Leuten, die arbeitslos sind, aufdrückt, als seien sie persönlich für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich, das ist blamabel für eine Gesellschaft, die erst einmal so reich ist und zweitens mit dieser Lüge sich gleichsam die Hände recht wäscht." Spaltung der Gesellschaft Hengsbach befürchtet, dass die gegenwärtige Wirtschaftspolitik die soziale Spaltung der Gesellschaft vertieft. Seit ihren Anfängen hat die christliche Sozialethik kritisiert, dass das herrschende Wirtschaftssystem ungerecht sei, weil es eine Minderheit, die Kapitaleigner begünstige und die Mehrheit, die Arbeitnehmer benachteilige. Im Gegensatz zum Marxismus hat diese christliche Kapitalismuskritik allerdings die Marktwirtschaft, also das Prinzip des ökonomischen Wettbewerbs stets bejaht und die Idee einer sozialistischen Planwirtschaft abgelehnt. Die christliche Sozialethik kritisiert vielmehr das Machtverhältnis, das mit dem Kapitalismus verbunden ist, und ihre bekanntesten Vordenker auf katholischer Seite, Oswald von Nell-Breuning und der ehemalige Kölner Kardinal Joseph Höffner setzen an diesem Punkt mit ihren Reformvorschlägen an. Karl Gabriel: "Bei Joseph Höffner haben wir immer den Versuch über Vermögensbildung, die Arbeitnehmer in eine Situation zu bringen, in der sie aus dieser ungleichen Lage herauskommen und beide haben schon in den Fünfzigerjahren die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland, in der Bundesrepublik, scharf kritisiert. Aber Nell-Breuning würde weitergehen in der Antwort, wie man damit umgehen kann: Er würde sagen, es bedarf einer breiten Mitbestimmung innerhalb der Betriebe wie in der Gesellschaft, die den Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit neu organisiert, bisher sei eben der Kapitalismus doch etwas wie eine Veranstaltung, die zugunsten einer kleinen Minderheit, auch in der Welt, organisiert wird. Dies muss aber organisiert werden im Interesse aller."
Von Peter Leusch
Als Papst Franziskus Ende vergangenen Jahres deutliche Kritik am weltweiten Kapitalismus äußerte, bekam er dafür viel Aufmerksamkeit. Die Forderung: Das System müsse das Wohl des Menschen stärker beachten. An der Uni Münster haben jetzt Fachleute unter anderem über die Soziallehre der Kirchen gesprochen.
"2014-02-13T20:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:26:08.215000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaftskritik-die-religion-und-der-kapitalismus-100.html
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Regierung sperrt auch Youtube
Kritiker der islamisch-konservativen Regierung in der Türkei dürften über den Schritt der Behörden heute wenig überrascht sein, hatten doch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und andere hochrangige Politiker die Plattform Youtube schon häufiger kritisiert. Wie türkische Medien berichten, brachte wohl ein zuletzt veröffentlichtes Gespräch über das weitere Vorgehen im Syrienkonflikt das Fass zum Überlaufen. Darin ging es um einen möglichen Militäreinsatz im Nachbarland, über den Außenminister Ahmet Davutoglu und Geheimdienstchef Hakan Fidan gesprochen hatten. Das türkische Außenministerium erklärte nach der Veröffentlichung des Mitschnitts, dass "Staatsfeinde" diesen online gestellt hätten. "Das ist eine Kriegserklärung an die Türkische Republik", sagte Davutoglu und drohte den Tätern mit harten Strafen. Kritik von der EU Ähnlich wie Twitter wurde Youtube in der Vergangenheit aber auch dazu verwendet, Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitlieder zu verbreiten. Zu Twitter hatte Erdogan seinerzeit gesagt, er werde den Kurzmitteilungsdienst "und solche Sachen" mit der Wurzel ausreißen. Die Twitter-Sperre von vergangener Woche ist aber nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts in Ankara unzulässig und muss aufgehoben werden. Auch Staatspräsident Abdullah Gül hatte Erdogan für die Sperre scharf kritisiert. EU-Kommissarin Neelie Kroes, zuständig für die digitale Wirtschaft, nannte die Entscheidung der türkischen Regierung einen weiteren, verzweifelten und bedrückenden Schritt. Sie unterstütze alle Befürworter von Freiheit und Demokratie. Another desperate and depressing move in #Turkey. I support all supporters of real freedom & democracy #TurkeyblockedYouTube— Neelie Kroes (@NeelieKroesEU) 27. März 2014 Die Sperren von Twitter und Youtube werden aber auch mit einem weiteren Ereignis in Verbindung gebracht: Am kommenden Wochenende finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Für Erdogans Regierung ist das ein wichtiger Test herauszufinden, ob die Korruptionsaffäre seiner Partei AKP geschadet hat.
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Die türkische Regierung schränkt die Freiheit im Internet weiter ein. Nach dem Kurznachrichtendienst Twitter ist nun die Videoplattform Youtube von den Behörden gesperrt worden. Dort waren Mitschnitte von Telefonaten online gestellt worden, die Regierungspolitiker geführt hatten.
"2014-03-27T19:43:00+01:00"
"2020-01-31T13:33:14.596000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-regierung-sperrt-auch-youtube-100.html
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Lernen von der kurdischen Gleichberechtigung
Derik in Nordsyrien: Die Region in Nordsyrien ist weiterhin sehr unsicher. (Ekrem Heydo) "Dann heiße ich sie sehr herzlich willkommen in Kreuzberg in der Schokoladenfabrik." Bei Keksen und kaltem Wasser sitzen die beiden Bürgermeister von Derik im Frauenzentrum Schokofabrik in Berlin-Kreuzberg. Anke Petersen erzählt den beiden Kurden aus dem Norden Syriens von der Arbeit des Zentrums: "Das Frauenzentrum gibt es seit 1981 und es basiert auf der Frauenbewegung und der Besetzerbewegung." Die beiden Ko-Bürgermeister Rojîn Çeto und Feremez Hemo machen sich eifrig Notizen. Nach einer knappen Stunde ergreift Bürgermeisterin Çeto das Wort und berichtet vom Leben in ihrer Heimatregion: "Bevor wir autonome Region waren, hatten wir Frauen gar kein Stimmrecht, in den Institutionen nichts zu sagen. Das ist jetzt völlig anders. Jetzt haben wir überall unseren Platz. Wir haben in jedem Ort Räte der Frauen. Wir sorgen für die Verteidigung der Region und organisieren uns autonom." Frauen arbeiten für Frauen, helfen einander und sind auch überall die Chefinnen. Was in Deutschland in dieser Reinform eigentlich nur in Frauenzentren wie hier in Kreuzberg funktioniert – in der autonomen Kurdenregion Rojava in Nordsyrien ist es fast überall Realität. Im Kurdengebiet sind die Frauen an der Macht Die Kurden haben dort eine Gesellschaft frei von patriarchalen Strukturen geschaffen, erzählt Co-Bürgermeisterin Rojîn Çeto: "In unseren neuen, autonomen Strukturen in Rojava ist jedes wichtige Amt doppelt besetzt. Auf jeder Ebene und egal in welchem Bereich - sei es Wirtschaft, Verwaltung oder Verteidigung. Und natürlich wird auch das Bürgermeisteramt bei uns immer von einer Frau und einem Mann besetzt. Wir haben überall 50 Prozent Frauen, mindestens." Mitten im Syrienkrieg, im Kampf gegen den IS, haben die Kurden im Norden Syriens eine autonom geführte Region geschaffen, in der das Assad-Regime so gut wie nichts zu sagen hat. Mit dieser weltweit einmaligen Gesellschaftsordnung. Als Irene Böhm davon hörte, wollte sie es zunächst gar nicht glauben, erzählt sie, während die Delegation aus Syrien das Zentrum besichtigt. Böhm hat mit Unterstützung der Linkspartei im Bezirk die Städtepartnerschaft ins Leben gerufen. "Ich konnte es kaum fassen, dass es in Nordsyrien eine Region gibt, in der Frauenrechten eine so hohe Bedeutung zugemessen wird – jede Position mit Doppelspitze. Das ist ein Modell, da haben wir noch nicht mal ernsthaft dran gedacht. Da hab ich gedacht, da muss ich mich engagieren und versuchen mitzuhelfen, damit das erhalten bleibt. Denn es ist wirklich sehr, sehr bedroht." Vor einer Woche haben die beiden Bürgermeister die Städtepartnerschaft Derik-Friedrichshain-Kreuzberg offiziell unterzeichnet – gemeinsam mit der grünen Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann. Ein sehr wichtiger Schritt, erzählt Claudia Orlowski vom Partnerschaftsverein: "Es geht darum, das Schweigen der Bundesregierung zu Rojava zu durchbrechen und ein öffentliches, politisches Signal zu setzen. Der große Erfolg mit der Städtepartnerschaft hier in Berlin ist, dass praktisch auf der Verwaltungsebene eine ganz offizielle Städtepartnerschaft geschaffen wurde. Etwas, was rein theoretisch gar nicht geht." Partnerschaftsabkommen diplomatisch heikel Und zwar, weil die Kurdenregion Rojava international nicht anerkannt ist. Auch nicht von der Bundesregierung. Ein diplomatisch heikles Unterfangen also. Der Bezirk hat deshalb extra ein Gutachten vom Außenministerium eingeholt: "Wir haben eine Städtepartnerschaft zwischen Friedrichshain-Kreuzberg und "Derik in Nordsyrien". Wir können nicht schreiben "Derik in der autonomen demokratischen Föderation", weil das ginge zu stark in Richtung Anerkennung. Wir haben es dann auch vermieden, um keine diplomatischen Schwierigkeiten hervorzurufen." Der Bezirk will die syrische Partnerstadt künftig mit gemeinsamen Projekten unterstützen. Das erste: Bäume pflanzen, erklärt die Bürgermeisterin: "Wir werden jetzt mit Hilfe von Kreuzberg Bäume pflanzen. Das war zu Zeiten des Assad-Regimes nicht möglich. Und das ist nur der Start für viele weitere Projekte." Den üblichen Austausch von Schülern und Fußballclubs wird es zwischen Derik und Berlin allerdings erstmal nicht geben. Dafür ist die Region zu unsicher. Trotz Kriegsgefahr Vorbild für Emanzipation Bis vor einigen Monaten führte die Türkei aus dem Norden Krieg gegen die Kurden in Rojava. Und die Türkei ist nicht die einzige Bedrohung, sagt Bürgermeister Feremez Hemo: "Zwar gibt es den IS in unseren Gebieten nicht mehr, aber es gibt noch sehr viele Sympathisanten. Die Ideologie ist immer noch da – und muss bekämpft werden. Und seit 20 Tagen gibt es überall Brände in ganz Rojava. Unsere Felder werden in Brand gesetzt, um unsere wirtschaftliche Grundlage, unsere Lebensgrundlage zu zerstören." Nach gut einer Woche geht es für die kleine kurdische Delegation jetzt wieder zurück nach Hause. Sie hätten schon einiges erfahren darüber, wie in Deutschland Politik und Verwaltung funktionieren, sagt Bürgermeister Hemo. Doch letztlich könne Deutschland durchaus auch von Derik lernen: "Wenn wir uns die Straßen, die ganzen Hochhäuser anschauen und welche Autos hier lang fahren, ist Deutschland besser entwickelt. Aber wenn wir uns anschauen, wie es um die Rechte der Frauen steht - dass sie sich selbst organisieren und auch wie sich unsere Bevölkerung selbst bildet und immer wieder hinterfragt – da sind wir viel weiter. Unsere Gesellschaft ist emanzipierter."
Von Manfred Götzke
Berlin-Kreuzberg schließt mit der syrischen Stadt Derik eine Partnerschaft. Das ist diplomatisch heikel, denn das Gebiet der Kurden ist international nicht anerkannt. Die Berliner Lokalpolitik will damit ein Zeichen setzen - denn in der Geschlechter-Gleichberechtigung sind die Kurden viel weiter.
"2019-06-20T14:16:00+02:00"
"2020-01-26T22:58:17.280000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-kurdische-staedtepartnerschaft-lernen-von-der-100.html
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Zwischen Gewalt und Aufstand
Israelische Polizisten sichern seit Tagen die Straßen der Altstadt Jerusalems - nun werden Besucher auch auf Waffen kontrolliert. (afp / Thomas Coex) Junge Palästinenser greifen jüdische Israelis mit Messern an, sie werfen Steine auf fahrende Autos, Brandsätze auf Soldaten. 145 solcher Attacken haben Armee und Polizei in Israel allein gestern gezählt. In Jerusalem, wo die Gewalt auf den Straßen schon seit vergangenem Sommer kaum mehr aufhört, ruft Bürgermeister Nir Barkat die jüdischen Bewohner der Stadt jetzt dazu auf, Schusswaffen zu tragen. "Das ist wichtig, gerade jetzt in einer Zeit der Spannungen. Die Erfahrung zeigt ja, dass bei einigen Vorfällen die Attentäter durch ausgebildete Waffenbesitzer zu Fall gebracht wurden, also nicht durch Polizisten. Wer jetzt einen Waffenschein besitzt und eine Waffe trägt, leistet gewissermaßen Reservedienst." Sicherheit, der Begriff spielt die größte Rolle. In Jerusalem und anderen Städten schicken Eltern ihre Kinder heute nicht zur Schule, um mit diesem Streik mehr Geld für Wachleute zu fordern. In Tel Aviv bezahlt die Verwaltung einen bewaffneten Sicherheitsdienst vor den Kindergärten. Sicherheitsvorkehrungen in der Altstadt An den Toren der Altstadt von Jerusalem sollen ab sofort alle Besucher nach Waffen durchsucht werden, Metall-Detektoren wie am Flughafen werden aufgestellt. Und Ministerpräsident Netanjahu will die Gefahr von Provokationen auf dem Tempelberg klein halten: Er verbietet seinen Minister und - zunächst allen jüdischen Abgeordneten des Parlaments - den Zutritt zum Tempelberg. Erst auf Druck aus den eigenen Reihen dehnt er dieses Verbot auch auf die arabisch-palästinensischen Abgeordneten aus, die damit von ihren eigenen heiligen Stätten ausgesperrt werden. Das arabische Knesset-Mitglied Ayman Udeh. "Netanyahu hat kein Rückgrat. Und er hat kein Recht, die arabischen Abgeordneten vom Besuch der Al-Aqsa-Moschee abzuhalten. Netanyahu lässt sich von den Siedlern vorführen und führt uns damit in den Abgrund." Wenn in Israel überhaupt die Frage nach den Ursachen der Gewalt gestellt wird, dann antwortet beispielsweise die stellvertretende Außenministerin Hotovely, Hauptursache sei der palästinensische Präsident Abbas: Er hetze gegen Israel und wiegele die Palästinenser auf. Die israelische Militär-Aufklärung widerspricht dem hinter vorgehaltener Hand, der ehemalige General Amos Yadlin ganz offen: "Das ist der falsche Ansatz: Eine Aufwiegelung auf palästinensischer Seite ist nicht der Auslöser. Die Hauptursache für die Attacken ist, dass die palästinensische Autonomiebehörde gerade zusammenbricht. Die politische Führung der Palästinenser hat überhaupt keinen Einfluss mehr. Es ist der Terror Einzelner. Dahinter steht keine strategische Führung. Die Autonomiebehörde hat inzwischen viel weniger Einfluss auf die Straße." Furcht vor weiteren Ausschreitungen Aus Ramallah, dem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde heißt es, man könne sich dem eigenen Volk nicht entgegenstellen. Man werde die Stimmung aber keinesfalls weiter anheizen. Eine Strategie, wie eine weitere Eskalation verhindert werden könnte, hat aber auch die Palästinenserführung nicht. In Jerusalem gab es am Mittag eine weitere Messerattacke, ein orthodoxer Religionsschüler wurde schwer verletzt. Für den morgigen Freitag, für die Zeit nach den Freitagsgebeten in den Moscheen, sind neue blutige Ausschreitungen zwischen aufgebrachten palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Armee zu befürchten.
Von Christian Wagner, Tel Aviv
Die Gewalt auf den Straßen Jerusalems nimmt kein Ende: Bei einer Messerattacke wurde heute ein orthodoxer Religionsschüler schwer verletzt. Bürgermeister Nir Barkat hat die jüdischen Bewohner der Stadt jetzt dazu aufgerufen, Schusswaffen zu tragen.
"2015-10-08T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:03:15.151000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jerusalem-zwischen-gewalt-und-aufstand-100.html
90,968
"Wir sollten erst recht das tun, was wir immer getan haben"
Jäger betonte, dass die Sicherheitslage nicht erst seit den Terroranschlägen von Paris angespannt sei. Dschihadisten riefen seit Wochen vermehrt in deutscher Sprache zu neuen Anschlägen auf. Auch ihn befalle deshalb gelegentlich "ein mulmiges Gefühl", räumte der NRW-Innenminister ein. Solange es aber keine konkreten Hinweise auf bevorstehende Anschläge gebe, werde er Weihnachtsmärkte und Fußballspiele mit seiner Familie besuchen. Jäger rief dazu auf, jetzt "erst recht das zu tun, was wir immer getan haben". Andernfalls hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht. Laut Jäger haben die deutschen Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren mehrere Anschläge erfolgreich verhindert. Sie würden auch weiter daran arbeiten, Planungen von Islamisten "mit allen nachrichtendienstlichen Mitteln im Keim zu ersticken". Das Interview in voller Länge: Jasper Barenberg: Einen traurigen Tag für Deutschland und für den Fußball nannte es Liga-Präsident Reinhard Rauball, als durch den Terroralarm und die Absage des Länderspiels in Hannover aus dem gewollten Signal der Entschlossenheit, der Unbeugsamkeit nach dem Terror von Paris ein Signal der Verwundbarkeit geworden war. In Berlin tagt das Sicherheitskabinett. Innenminister Thomas de Maizière sagt, die Bedrohungslage ist ernst, wirklich ernst. Ist es also noch sicher, ins Fußballstadion zu gehen, auf den Weihnachtsmarkt oder ins Konzert? Vor dem nächsten Spieltag der Fußballbundesliga an diesem Wochenende diskutieren die Vereine über schärfere Sicherheitsmaßnahmen. In Nordrhein-Westfalen werden allein in der Ersten Liga am Samstag drei Partien angepfiffen: in Köln, in Mönchengladbach und in Gelsenkirchen. Der SPD-Politiker Ralf Jäger ist Innenminister in Nordrhein-Westfalen und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen. Ralf Jäger: Schönen guten Morgen! Ich grüße Sie. Barenberg: Herr Jäger, wie viel Zeit verbringen Sie im Moment damit, sich um die Sicherheit der anstehenden Bundesligaspiele zu kümmern und um die Sicherheit bei anderen Großveranstaltungen in Nordrhein-Westfalen? Jäger: Paris hat meinen Arbeitstag in erheblicher Weise jetzt beeinflusst. Es prägt schon den ganzen Tagesablauf zurzeit. "Ich werde mich nicht einschüchtern lassen" Barenberg: Und wie groß ist Ihre Sorge und wie groß ist der Versuch, Gegenmaßnahmen zu treffen? Jäger: Ich sorge mich. Ich habe auch wie die meisten Menschen in diesem Land wahrscheinlich ein mulmiges Gefühl gelegentlich. Aber Tatsache ist, dass wir zwar eine ernste Gefahrenlage haben, eine ernste Sicherheitslage, nicht erst seit Freitag letzter Woche, nicht erst seit Paris, sondern schon seit vielen Wochen, weil Dschihadisten sehr aggressiv deutschsprachig zu Anschlägen in Deutschland aufrufen im Netz. Aber es gibt keine konkreten Hinweise und solange es diese konkreten Hinweise nicht gibt, halte ich es so, dass ich genau mich so verhalte wie vorher auch. Ich werde morgen Abend bei meinem Heimatverein das Spiel besuchen. Der MSV Duisburg spielt bei Fortuna Düsseldorf. Und ich werde auch nächste Woche bei der Eröffnung des Weihnachtsmarktes in Duisburg mit meiner Familie dort hingehen. Ich werde mich da nicht einschüchtern lassen. Barenberg: Müssen wir uns alle, müssen sich die Menschen trotzdem auf Einschränkungen einstellen, angefangen von schärferen Einlasskontrollen in Fußballstadien, aber auch möglicherweise einer stärkeren Präsenz der Polizei im öffentlichen Raum, auf Bahnhöfen, in Einkaufszentren oder in Theatern? Jäger: Wir werden die Präsenz der Polizei auf Weihnachtsmärkten, auf den großen Weihnachtsmärkten erhöhen. Ja, das werden wir. Aber viel wichtiger ist es, wenn wir Anschläge, die möglicherweise geplant wären in Nordrhein-Westfalen oder in Deutschland, verhindern wollen, das zu tun, was wir auch in der Vergangenheit getan haben, nämlich durch verdeckte Maßnahmen, durch Informationsbeschaffung, Analyse, Bewertung, Auswertung zu arbeiten. Es gab zwölf Anschlagsversuche in Deutschland in den letzten Jahren. Einer ist gelungen mit zwei toten Gis in Frankfurt. Bei zweien hatten wir schlichtweg Glück. Aber neun Anschläge haben wir in Deutschland verhindert, weil die Sicherheitsbehörden im Vorfeld gut zusammengearbeitet haben, Informationen ausgetauscht haben und wir sozusagen im Vorfeld bereits die Nase daran bekommen haben, dass da jemand was plant und dadurch vereiteln konnten. Das ist das Wichtigste zurzeit, dass wir diese Informationen, die sprunghaft angestiegen sind, zurzeit auswerten. Barenberg: Das heißt, auf konkrete Einschränkungen müssen sich die Menschen gar nicht so sehr einstellen? Die werden gar nicht kommen? "Die hassen die Art und die Weise, wie wir leben" Jäger: Nein. Wir haben schon seit vielen Monaten mit den offenen Sicherheitsmaßnahmen ein hohes Niveau erreicht. Das werden wir halten und wir werden jeden Tag daran arbeiten, dass wir, so wie wir erfolgreich in den letzten Jahren Anschläge verhindert haben, das möglichst auch weiterhin tun können. Barenberg: Der Geschäftsführer des BVB, Hans-Joachim Watzke, der hat gesagt, wir müssen als Zivilgesellschaft Courage zeigen. Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie Normalität leben wollen in Ihrem persönlichen, in Ihrem privaten Leben. Heißt das auf der anderen Seite auch, es wird Mut brauchen in Zukunft, um in ein Fußballstadion zu gehen, um auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen? Jäger: Ich glaube, nicht Mut. Jeden fasst ein mulmiges Gefühl an, wenn es große Menschenversammlungen gibt. Davon bin ich überzeugt. Das geht ja mir genauso. Aber wir würden, wenn wir jetzt in Angst und Panik verfallen, wenn wir uns einschüchtern lassen würden, würden wir doch genau das Ziel dieser Terroristen begünstigen. Wir würden ihnen in die Hände spielen, nämlich die wollen doch genau das erreichen, dass wir uns in unserer Freiheit einschränken. Die verachten unsere Demokratie. Die hassen die Art und die Weise, wie wir leben. Deshalb sollten wir gerade erst recht das tun, was wir immer getan haben. Barenberg: Der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der hat gestern gesagt, wenn der IS uns treffen kann, wenn der IS Terroranschläge in Deutschland durchführen kann, dann wird er es tun. Wenn man daneben die Aussage von Bundesinnenminister Thomas de Maizière nimmt, dass er sagt, wenn wir alle wüssten, was er weiß, dann würden wir dadurch verunsichert. Was für ein Bild ergibt sich daraus für uns? Jäger: Ja, ich glaube, dass die Äußerung von Herrn de Maizière nicht ganz glücklich war, der in einem Zwiespalt war, einerseits die Öffentlichkeit zu informieren, andererseits Quellen nicht bekannt zu geben. Entscheidend ist, dass natürlich der IS in Europa und damit auch in Deutschland gerne Anschläge verüben möchte, dazu auffordert, aber der Resonanzboden in Deutschland für diesen IS darauf nicht reagiert, und das ist ja auch gut so. Der reagiert auch deshalb nicht, weil wir sie im Blick haben, weil wir bisher erfolgreich diese Anschläge, wenn sie geplant waren, entdeckt haben. Und wir müssen einfach daran weiterarbeiten, dass wir mit allen Mitteln des Nachrichtendienstes versuchen, solche Planungen im Keim zu ersticken, und ansonsten uns nicht einschüchtern lassen von diesen Leuten. "Der politische Salafismus ist nicht das Problem" Barenberg: Aus Frankreich erfahren wir und lernen wir jetzt dieser Tage, dass es weitere Terrorzellen gibt. Eine ist gerade von der französischen Polizei ausgeschaltet worden. Möglicherweise wurde ein weiterer Anschlag in Paris dadurch vereitelt. Wo sehen Sie, wenn man sich diese organisierten Strukturen vor Augen führt, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten, was die Situation in Deutschland und in Frankreich im Moment angeht? Jäger: Ich glaube, dass in beiden Ländern die Situation ähnlich ist. Beide Länder haben eine relativ große salafistische Szene, die man nicht einfach verbieten kann, wie man Rechtsextremismus und Linksextremismus auch nicht einfach verbieten kann. Der politische Salafismus ist ja nicht das Problem. Das sind etwa 7000 Menschen in Deutschland von vier Millionen Muslimen, also eine ganz, ganz kleine Minderheit. Und unter diesen 7000 gibt es noch einmal möglicherweise 2000 Personen, die bereit wären, mit Gewalt ihre Ideologie umzusetzen. Da wo wir es wissen, da wo wir es erahnen, haben wir diese fest im Blick, genauso wie in Frankreich. Frankreich ist stark involviert in die Auseinandersetzung in Syrien, nimmt selbst teil an den kriegerischen Auseinandersetzungen und ist deshalb zurzeit auch eher Ziel als Deutschland. Damit will ich aber nicht sagen, dass wir uns zufrieden zurücklehnen können, sondern eine hohe Anschlagsgefahr gibt es natürlich auch für Deutschland. Barenberg: Und wir werden uns gewöhnen müssen an dieses Gefühl? Jäger: Ja, daran werden wir uns gewöhnen müssen. Der syrische Konflikt tobt seit fünf Jahren jetzt und er wird nicht in nächster Zeit beendet sein. Der IS verliert militärisch an Boden und versucht gerade deshalb zunehmend zu Anschlägen in Europa aufzufordern, um uns zu verunsichern, und wir sollten uns einfach von denen jetzt nicht einschüchtern lassen. Barenberg: ... sagt der SPD-Politiker Ralf Jäger, der Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Danke für das Gespräch heute Morgen. Jäger: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralf Jäger im Gespräch mit Jasper Barenberg
NRW-Innenminister Ralf Jäger hat an die Bürger appelliert, ihr Leben trotz der angespannten Sicherheitslage weiterzuleben wie bisher. Der SPD-Politiker sagte im Deutschlandfunk: "Wenn wir uns einschüchtern lassen, spielen wir den Terroristen nur in die Hände." Die Polizei werde auf den großen Weihnachtsmärkten ihre Präsenz verstärken.
"2015-11-19T06:50:00+01:00"
"2020-01-30T13:09:51.833000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nrw-innenminister-ralf-jaeger-zur-terrorgefahr-wir-sollten-100.html
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Einsatz mit gestutzten Flügeln
Oberstleutnant Le Floch ist eine Frau. "Bienvenue..." Eine von zwei Transall-Pilotinnen am Standort Orléans. Helle, wache Augen, blau-weiße Uniform. Ohrringe. Sie war in Mali im Einsatz, schult Theorie und bildet für die Praxis aus - auch für den Kampfeinsatz. Solène Le Floch öffnet das Tor im Zaun. Ein Gelände eigens für den A 400 M, der Traditions-Stützpunkt der französischen Luftstreitkräfte hat den Bauern umliegende Ackerfläche abgekauft. In den flammneuen Gebäuden ist der erste Simulator untergebracht. Kampfjetpiloten und Piloten für die "Falcon" des Staatspräsidenten könnten hier üben, aber in erster Linie wird der Flug im A 400 M simuliert, für französische und deutsche Piloten. Oberstleutnant Solène Le Floch im Schulungsraum (Deutschlandradio/Ursula Welter) Oberstleutnant Le Floch stellt Major Carsten Golusinski vor. Er kann den A 400 M bereits fliegen, ist als Austauschoffizier in die französischen Streitkräfte integriert, darf unter französischer Flagge fliegen: "Die Einsätze müssen sich natürlich decken mit den deutschen Einsätzen." Afghanistan ginge, Irak ginge nicht. NATO-Geheimnisbereich, Oberstleutnant Le Floch muss ihren Geheim-Code eingeben. Im Gebäude wartet Ausbilder Christophe Puibeni. "Mechanik gegen Elektronik" Eine Grundausbildung, dann für jedes Land, je nach Anforderung, eine andere Schulungsschicht, aber am Ende, sagt Puibeni, geht es darum, die Piloten für den Kampfeinsatz auszubilden, Piloten, die die Militärtransporter selbst bei Nacht und unter allen Bedingungen be- oder entladen können. Der A 400 M, sagt Oberstleutnant Le Floch, ändere alles: "Bei der Transall haben wir über Öl für den Motor gesprochen, hier wird der Pilot zum Systemmanager - Mechanik gegen Elektronik. Wo früher die Hydraulik wirkte, gibt jetzt der Computer den Befehl an die Steuerflächen weiter." Die Maschine ist ein komplexes Flugzeug, mit allen Finessen und Möglichkeiten der zivilen Luftfahrt ausgestattet, nur: Wichtige, militärische Komponenten fehlen noch. Sicher", räumt der französische Offizier ein, ein wenig enttäuschend sei das schon, dass etwa Fallschirmspringer noch nicht abspringen und Material noch nicht abgeworfen werden kann. "Die Auftraggeber für den A 400 M sind halt mehrere Länder, die unterschiedliche Auffassungen von Militärtransporten haben." Nächstes Jahr werde das Flugzeug aber wohl alle taktischen Anforderungen besitzen, gibt sich Puibeni optimistisch. Draußen auf dem Flugfeld stehen zwei der fünf französischen A 400 M auf dem Rollfeld in der strahlenden Sonne. Frankreich hat die Maschinen bereits im Irak erprobt, setzt sie in Afrika ein. Oberstleutnant Francois Brun führt, wie ein stolzer Vater, um das Flugzeug, auf die Ladefläche, die Stufen hoch ins Cockpit. "Logistischer Vorteil ist immens" Ein französischer Panzer "Leclerc" passe zwar nicht hinein, zu schwer, aber ansonsten nur Lob. 18 Meter lang ist der Frachtraum, Hubschrauber, kleine Panzer hätten Platz, Container, medizinisches Material, das Flugzeug ist so ausgelegt, dass es zur fliegenden Intensivstation werden kann. Brun kommt gerade aus Djibuti zurück, mit der Transall ging das früher so: Beladen in Orléans, Zwischenlandung auf Kreta, Übernachtung, Zwischenlandung Ägypten, dann Dschibuti. "Letzte Woche war ich binnen acht Stunden da", schwärmt Brun. Die Verzögerung des Militärprojekts, die Kostensteigerungen, Triebwerksprobleme, die Uneinigkeit der Staaten in puncto Ausrüstung, die fehlenden taktischen Möglichkeiten bis heute - hier in Orléans wollen die Piloten davon nicht viel wissen. "Die sind sehr stolz auf das was sie mit dem A 400 M haben, und meines Erachtens können sie es auch sein, weil der logistische Vorteil ist jetzt schon immens - es gibt sicher Probleme, aber der Ansatz ist durchaus anders, sehr positiv und das wünsche ich mir auch im Deutschen natürlich... Das Ziel ist aber eigentlich, dass die Maschinen identisch ausgerüstet sind. Bei der Transall hat es sich irgendwann auseinander bewegt, das soll beim A 400 M nicht sein." Zukunftsmusik. Und während die neue Generation der europäischen Militärtransporter in der Sonne funkelt, macht sich die ganze Truppe auf den Weg an die Töpfe - Mittagszeit am Luftwaffenstützpunkt Orléans.
Von Ursula Welter
Der Militärtransporter A 400 M von Airbus ist der neue Stolz der französischen Luftstreitkräfte. Fünf Maschinen nutzen sie bereits seit 2013. Doch den Flugzeugen fehlen immer noch etliche militärische Komponenten.
"2014-10-22T07:40:00+02:00"
"2020-01-31T14:09:35.061000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/militaertransporter-a-400-m-einsatz-mit-gestutzten-fluegeln-100.html
90,970
"Das ist ein frontaler Angriff auf das System"
Neben Razzien und der Aufarbeitung organisierter Kriminalität wolle man auch versuchen, Aussteigerprogramme einzurichten, so Herbert Reul (CDU) (dpa) Dass man das Thema Clankriminalität angehen müsse, sei ihm "vielleicht im Sommer 2018" bewusst geworden, sagte der NRW-Innenminister. Die Dimension sei in NRW noch nicht so schlimm wie in Berlin, "aber sie ist viel zu groß". Man müsse jetzt handeln. Man kümmere sich mit Razzien darum, mit "tausend Nadelstichen, einfach Unruhe in dieses Publikum zu bringen". Die Clans müssten wissen, dass sie nicht machen könnten, was sie wollten. Reul betonte: "Bei uns herrscht nicht das Gesetz der Familie, sondern das Gesetz des Staates." Darüber hinaus erforsche man systematisch organisierte Kriminalität. Familienclans stellten abgeschottete Bereiche dar, sagte der CDU-Politiker. Sie stabilisierten und schützten sich gegenseitig und hätten in den letzten Jahrzehnten eine Parallelwelt aufgebaut. Sie akzeptierten keine andere staatliche Autorität. "Am Ende sind sie der Auffassung, wir bestimmen, was Recht ist und wir haben auch das Recht, Gewalt anzuwenden." Dies seien "zwei frontale Angriffe auf unseren Rechtsstaat". Einrichtung von Aussteigergerprogrammen Alle staatlichen Organe wie "Polizei, Zoll, Finanzamt, Ordnungsämter, Gesundheitsämter machen den Pfiff aus bei der Sache", sagte Reul in Bezug auf die Gegenmaßnahmen. Neben Nadelstichen mit Razzien und der Aufarbeitung organisierter Kriminalität wolle man auch versuchen, Aussteigerprogramme einzurichten. "Das ist irre schwierig", so Reul. Die Familien entließen niemanden freiwillig aus ihren Strukturen. Reul ging im Interview der Woche auch auf den Konflikt um den Hambacher Forst ein. Er erklärte, dort seien Menschen unterwegs, die glaubten, sie könnten für einen guten Zweck bestimmen, was Recht sei. Wenn der Staat dies zulasse, breche er zusammen. Nach dem Bericht der Kohlekommission sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Wald erhalten bleibe, erklärte Reul. Schwere Polizei-Fehler bei Kindesmissbrauch in Lüdge Der Innenminister äußerte sich außerdem über den jahrelangen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde. Reul sagte, er rechne damit, dass die Zahl der Opfer noch steigt. Es habe schwere Fehler der Polizei gegeben. "Das ist Behördenversagen an allen Ecken und Kanten." Deswegen sei auch gegen Polizisten Strafanzeige gestellt worden, die im Jahr 2016 Hinweisen nicht nachgegangen seien. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Das vollständige Interview lesen Sie hier: Küpper: Ja, Clan-Kriminalität, arabische Großfamilien, Parallelwelten in Berlin, aber auch in Nordrhein-Westfalen, vor allem im Ruhrgebiet - das war und ist in letzter Zeit ein großes Thema. Vor zwei Wochen erst hier in Nordrhein-Westfalen die größte Razzia in der Landesgeschichte, über 1.300 Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. In dieser Woche dann ein wissenschaftliches Symposium zu dem Thema. Das Erste bundesweit. Darüber werden wir sprechen. Jedoch vorab muss ich Sie auf die Missbrauchsvorfälle oder muss ich auf die Missbrauchsvorfälle zu sprechen kommen, die in dieser Woche bekannt wurden. In NRW, in Lügde sollen auf einem Campingplatz zehn Jahre lang Kinder sexuell missbraucht worden sein. Die Ermittlungen laufen aktuell - auch gegen die Polizei, die mehrere Hinweise bekommen haben soll, aber denen nicht weiter nachgegangen ist, keine offiziellen Ermittlungen eingeleitet haben. Sind die Behörden bei diesem Thema nicht sensibilisiert genug? Reul: Also, erst mal, das ist ein unvorstellbares, monströses Verbrechen, was da passiert ist. Und ich selber bin da auch schwer angerührt, habe selber drei Töchter. Also, da bleibt einem ja die Sprache weg. Und natürlich haben Sie recht, das ist Behördenversagen an allen Ecken und Kanten. Küpper: Kann man dagegen was machen oder ist das so wie überall: Fehler passieren? Genaue Überprüfung des Versagens Reul: Also, natürlich passieren überall Fehler, aber bei solchen Themen, muss ich sagen, sind die nicht akzeptabel. Deswegen sind wir auch gegen die Polizisten, das ist ja mein Bereich, für den ich zuständig bin, direkt vorgegangen. Da ist Strafanzeige gestellt. Und wir prüfen jetzt ganz genau, woran das gelegen hat, um daraus auch Konsequenzen zu ziehen. Küpper: Ihr Kabinettskollege hier in Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, der Familienminister, der fordert ein härteres Strafmaß - auch und gerade wegen der lebenslangen Auswirkungen des Missbrauchs. Aber zeigt dieser Fall nicht, dass man eigentlich bei der Bekämpfung besser werden muss, dass man die Behörden vielleicht auch irgendwie besser vernetzen muss? Reul: Also, erstens: Hätte jeder seinen Job gemacht, wäre auch nichts passiert. Fernab aller neuen Sachen. Hätte die Polizei, die beiden Polizisten, die Anmerkungen ernst genommen, wären dem nachgegangen, hätten ausgeforscht, wären wir viel früher - 2016 - schon weiter gewesen. Zweitens: wenn die Jugendämter sorgfältig geprüft hätten. und ich will es nicht weiter vollständig machen. Natürlich kommt dazu auch, dass Behörden sich vernetzen, und dass es besser ist, wenn der eine weiß, was der andere macht. Aber am allerwichtigsten ist, dass jeder seinen Job ordentlich macht. Über 13.000 gesicherte Kinderpornografie-Dateien Küpper: Wie läuft die Aufklärung jetzt in diesem Fall? Reul: Ja, das ist - unter uns gesagt - eine Riesenarbeit. Wir haben als erste Konsequenz dafür gesorgt, dass die Polizei Bielefeld hier zuständig ist. Wir haben Nachbarbehörden plus LKA beauftragt, bei der Auswertung dieser Riesendatenmenge mitzuhelfen. Wir haben ja über 13.000 gesicherte Kinderpornografie-Dateien. Das sind 14 Terabyte, also 14 Millionen Megabyte. Das ist Wahnsinn. Und damit wir das möglichst schnell auswerten können, denn bisher haben wir 29 Opfer und die Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch, dass das mehr sein werden. Küpper: Das zeigt einfach die Dimension dieses Falles. Reul: Exakt. Küpper: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, zu Gast der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul. Herr Reul, Sie haben es in dieser Woche auf Ihrem Symposium gegen Clankriminalität sehr verkürzt, sehr vereinfacht formuliert. "Ich bin für handeln, nicht für nachdenken." Seit wann ist Ihnen bewusst, dass dieses Thema "Clankriminalität", dass das eines Ihrer Schwerpunktthemen ist, dass man das angehen muss? Reul: Na ja, vielleicht so im Sommer. Ich kann es nicht genau sagen. Also, richtig bewusst geworden ist es mir, als wir dann die erste Razzia in Essen gemacht haben und man gesehen hat, man das selber gespürt und gesehen hat, was da los ist. Die Dimension ist Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in Berlin, aber sie ist eben viel zu groß. Und da kann man jetzt nur mit, ja, da nützt ja auch nichts abzuwägen, was könnte man mal tun, irgendwie noch eine Tagung und noch mal irgendwas, sondern muss einfach anfangen. Und das meinte ich mit handeln. Wir müssen jetzt systematisch anfangen. Das eine ist: Wir kümmern uns mit solchen Razzien darum, 1.000 Nadelstiche, einfach Unruhe in dieses Publikum zu bringen. Die müssen wissen: Die können nicht machen, was sie wollen. Die bestimmen nicht, was los ist. Bei uns herrscht nicht das Gesetz der Familie, sondern das Gesetz des Staates. Und zweitens machen wir natürlich das, was Polizei immer macht: Systematische, organisierte Kriminalität erforschen. Clan-Strukturen "im Grunde in den letzten Jahrzehnten" Küpper: Aber was ist das Besondere an dieser Form der organisierten Kriminalität? Es gibt andere Formen, bekannte Formen, weltweit bekannte Formen. Mafiakriminalität beispielsweise, Rockerkriminalität. Was ist das Besondere an diesem oder in diesem Fall? Reul: Es sind abgeschottete Bereiche, die Familien-Clans. Das sind Gruppen, die zu sind, die keinen ranlassen, die sich gegenseitig stabilisieren und schützen und die im Grunde in den letzten Jahrzehnten - das ist ja ein Projekt von 30 Jahren - eine Parallelwelt aufgebaut haben. Angefangen davon, dass sie ihren Lebensunterhalt erst mal durch so eine soziale Grundsicherung absichern, aber dann eben durch kriminelle Machenschaften schwer aufbessern. Zweitens, dass sie untereinander, wenn Streitigkeiten sind, auch so eine eigene juristische, eine eigene Gerichtsbarkeit quasi haben, dass sie überhaupt keine andere staatliche Autorität akzeptieren, und dass ihnen jedes Mittel recht ist, um zu Ergebnissen zu kommen. Am Ende sind sie der Auffassung: "Wir bestimmen, was Recht ist und wir haben auch das Recht, Gewalt anzuwenden." Das sind zwei frontale Angriffe auf unseren Rechtsstaat. Küpper: Die Zahlen sind signifikant. Alleine in Nordrhein-Westfalen sollen es ja mehr als 100 Clans geben. Das ist die Zahl, die jetzt von den Behörden genannt wurde. Und wir sprechen von knapp 15.000 Straftaten in, ja, zwei, drei Jahren - von 2016 bis 2018. Sie selbst sind auch jemand, der immer vor falschen Versprechungen warnt, vor falschen Erwartungen. Aber ist dieser Kampf noch zu gewinnen? Reul: Also, wenn man glaubt, man könnte solche Kämpfe nicht gewinnen, dann, finde ich, kann man - um es platt zu sagen - im Bett liegenbleiben oder der Staat kann sich auflösen. Das geht ja nicht. Wir haben die Aufgabe, die Pflicht… "Organisierte Kriminalität aufbereiten, das dauert" Küpper: Also, haben Sie gar keine Alternative als handeln? Reul: Ich finde, wir haben keine Alternative, als uns darum zu kümmern. Man muss jetzt nur nachdenken: Wie kriegt man es am schnellsten, am effektivsten hin? So, und darum haben wir uns ja für die drei Schritte, drei Wege, drei Säulen entschieden. Einmal diese Nadelstiche, also permanente Unruhe. Als wir es das erste Mal gemacht haben, hat, glaube ich, noch manch einer so mitleidig geguckt. Übrigens ist das ja dann nicht nur Polizei, sondern Polizei, Zoll, Finanzamt, Ordnungsämter, Gesundheitsämter, also alle staatlichen Organisationen zusammen. Das macht eigentlich den Pfiff aus bei der Sache, dass alle gemeinsam unterwegs sind und an ganz, ganz, ganz vielen Stellen auch Nadelstiche setzen, Unruhe verbreiten. Und das Zweite ist eben: Systematisch organisierte Kriminalität aufbereiten, das dauert auch, das ist auch mühsam. Da braucht man langen Atem. Da müssen auch die Daten, die möglicherweise bei Razzien. Fakten, die wir da finden, müssen dafür auch benutzt werden. Und last but not least eine irre-schwere Aufgabe: Wir wollen auch versuchen, ob wir nicht so was wie so Aussteigerprogramme hinkriegt. Ist schwer. Ich habe eben gesagt, das sind Familien, die sind abgeschottet. Die lassen keinen raus. Und umgekehrt, jeder weiß auch: Ich bin hier auch sicher aufgehoben. Mafiöse Einflüsse auf Politik, Verwaltungen, Polizei Küpper: Ist das Thema - wir haben gerade die Zahlen genannt, nichtsdestotrotz, wenn man da noch mal ein bisschen weiter schaut, ist das Thema so signifikant für unserer Gesellschaft? Wenn wir jetzt Essen nehmen, was hier in Nordrhein-Westfalen so als eine Art, ja, Hauptstadt der Clans gilt, dann ist Essen, wenn wir auf die Statistik schauen, die viertsicherste Großstadt in Deutschland, die sicherste in Nordrhein-Westfalen, auf der anderen Seite eben diese Clan-Hauptstadt. Also, die Frage: Ist das Thema wirklich für unsere Gesellschaft so bedrohlich? Reul: Es gibt ganz, ganz viele Themen, die die Menschen auch hautnah berühren, also Einbrüche oder Taschendiebstähle, klar. Aber die Qualität dieser Kriminalität ist eben eine andere. Da geht es nicht nur um den einen Drogenhandel oder das eine Mal nicht verzollten Tabak, sondern da geht es darum, dass da eine Gruppe ist, die den Anspruch hat, an die Stelle des Staates zu treten. Das ist ein frontaler Angriff aufs System. Das ist viel, viel mehr als alles andere. Das ist der Anspruch: Ich bestimme, was Recht ist. Ich sage, ich darf Gewalt anwenden. Und Sie merken das an anderen Stellen der Gesellschaft ja auch. Es gibt ja auch. nehmen Sie mal Stichwort "Hambacher Forst". Auch da sind Leute unterwegs, die meinen, weil sie was Gutes vorhaben, könnten sie Gewalt anwenden, könnten sie bestimmen, was los ist. Wenn der Staat das zulässt, bricht er zusammen. Den modernen Staat zeichnet aus, dass er das Gewaltmonopol des Staates hat, dass es das Recht gibt, dass Recht bestimmt. Und deswegen ist das für mich fundamental. Es mag sein, dass es in der Summe der einzelnen Kriminalitäten, der einzelnen Straftaten gar nicht so viele sind im Moment, aber daraus kann im Übrigen - gucken Sie sich mal Berlin an - auch etwas entstehen, was noch viel weiter geht, wo dann, ja, Einflüsse genommen wird auf Gesetzgebung, auf Politik, auf Verwaltungen, auf Polizei, dass da überall diese Menschen auch sind und ihre Verbindungen spielen lassen. Wir kennen das alle auch von der Mafia in Italien - wenn ich den Vergleich mal ziehen darf, obwohl der auch nicht hundertprozentig passt. Aber die Strukturelemente sind ähnlich. "Und dann passiert so was wie 'AfD wählen'" Küpper: Es gibt dieses geflügelte Begriffspaar von "rechtsfreien Räumen". Jetzt müssen wir nicht darüber philosophieren, ob das wirklich stimmt, aber Sie haben gerade Beispiele genannt, wo das immer wieder angefangen wird. Zum einen die Clan-Kriminalität. Der Hambacher Forst, die Kölner Silvesternacht - zumindest teilweise - waren auch so Schlagworte. Warum hat dieses Wortpaar zuletzt so eine Art Konjunktur erfahren? Reul: Weil die Leute es gemerkt haben. Weil die Leute das gespürt haben. Weil die Leute, die ja alle wissen, der Staat ist irgendwann mal erfunden worden, um uns zu sichern vor Feinden von außen und innen, nicht mehr funktioniert an der Stelle. Und das führt dann dazu, dass die Leute sagen: "Pass mal auf, dem Staat, dem staatlichen Organ, den Politikern kann ich nicht mehr trauen." Und dann passiert so was wie "AfD wählen". Mich wundert das überhaupt nicht. Küpper: Das heißt, diese politischen Auswirkungen, parteipolitischen Auswirkungen, das ist ein Ergebnis eines solchen Nichthandelns? Reul: Ja, parteipolitisch ist vielleicht noch zu eng. Wenn es da nicht um. wenn es um irgendeine Partei geht, wäre es ja egal. Aber das ist ja halt eine Partei mit einem bestimmten Hintergrund. Und ich muss sagen, das ist jetzt vielleicht ein bisschen weit hergeholt, aber, um es zu verstehen: Wir hatten in der deutschen Geschichte schon mal so einen Vorgang, dass irgendwann die Menschen dem Staat nicht mehr vertraut haben, dann das Heil in einer Partei gesucht haben und am Ende wissen wir, wo das alles ausgegangen ist. "Ich sehe keinen anderen Weg, um da voranzukommen" Küpper: Das heißt, Ihr konsequentes Handeln ist da auch: Wehret den Anfängen. Reul: Ja, hundertprozentig. Ich habe nicht aus Versehen von Brüssel da aus dem Europaparlament zur Innenpolitik hier in Nordrhein-Westfalen gewechselt. Ich glaube, dass man an der Stelle ganz, ganz viel noch hinkriegen kann - nicht schnell. Da muss man aufpassen. Sie haben das ja eben gesagt. Die Menschen, wenn die diese Bilder sehen von der Clan-Razzia - da bin ich auch manchmal ein bisschen unsicher, ob man es in dem Maße machen muss, was Öffentlichkeit angeht, weil natürlich danach erwarten: "Morgen ist die Welt in Ordnung. Die räumen jetzt da auf und dann ist es vorbei." Das ist aber gar nicht wahr. Es ist nur "die öffentliche Bemerkbarkeit machen". Küpper: Ein anderer Punkt ist, wir befinden uns ja in einem Rechtsstaat, ist der Punkt der, ja, Vorverurteilung. Wenn Sie eine solche Razzia machen, die medial auch stark abgebildet wird, das haben wir gerade gehört, ist das dann nicht schnell eine Vorverurteilung, wenn Sie beispielsweise in eine Disco gehen mit laufenden Kameras? Reul: Ja. Das Problem ist nicht ganz zu leugnen. Ganz am Anfang, als sie im Landeskriminalamt mir die ganze Szenerie erklärt haben, haben die mich auch darauf aufmerksam gemacht. Die haben gesagt, wenn sie anfangen, Clan-Kriminalität zu betreiben, dann steht am Anfang immer die Definition: Was ist der Clan? Und dann kommen sie zu dem Punkt: Das sind Familien. Dann legen sie Namen fest. Und dann stigmatisieren sie. Und dann kommt da auch der eine oder andere mit ins Geschäft, der vielleicht gar nicht so, der gar nicht zu der kriminellen Machenschaft gehört. Aber, wenn sie es nicht machen, brauchen sie gar nicht anzufangen, weil sie nicht arbeiten können. Ich habe bisher keinen besseren Weg gefunden als so vorzugehen. Und ich glaube, wir müssen in Kauf nehmen, dass der eine oder andere, die eine oder andere Shisha-Bar erwischt wird, der vielleicht sich ordentlich verhält. Aber dann passiert ihm ja nichts. Übrigens, bei Verkehrskontrollen - ein blödes Beispiel jetzt vielleicht - da halten wir auch alle Autofahrer an, auch diejenigen, die nicht betrunken sind. Küpper: Das heißt, der Vorwurf des Racial Profiling, der ja da mitunter mitschwingt, der ist durchaus berechtigt, weil Sie natürlich nach gewissen Kriterien dann auch auswählen müssen, wenn Sie sagen, wir bekämpfen Clan-Kriminalität? Reul: Ja, dass wir nach Kriterien auswählen müssen, stimmt. Und dass wir deswegen auch Namen haben und Familien haben und die Lagebilder danach entwickelt werden, das stimmt. Ich sehe keinen anderen Weg, um da voranzukommen, weil wir ansonsten gar kein Packende bekommen, bei diesem sehr durchwobenen, ich sage mal, kriminellen Geflecht, das da entsteht. "Wir brauchen ja Bürger, die mitmachen" Küpper: Es ist so, Sie wollen nicht zurückschauen, sagen Sie auch immer, aber man muss irgendwann mal anfangen und das Ganze hat seine Ursachen ja auch Jahre, Jahrzehnte zurückgelegt. Glauben Sie denn, dass jetzt bundesweit auch, Ihre anderen Länderkollegen, dass man da sensibilisiert genug ist bei diesem Thema? Auch aus Berlin kommen ja Nachrichten. Reul: Doch, ich glaube schon. Also, wenn man bedenkt, dass in den 80er Jahren diese Clans sich da in Nordrhein-Westfalen angesiedelt haben, sich keiner gekümmert hat, übrigens auch nicht zu deren Integration irgendeiner Gedanken verschwendet hat, und dann hat man es sich entwickeln lassen, und dann hat man nie eingegriffen. Und jetzt, also, in Berlin ist schwer was los. In Bremen die Kollegen waren auch bei dem Kongress dabei. Bei uns sind sehr viele engagiert. Waren am Anfang auch nur ein, zwei Präsidien. Jetzt sind praktisch im Ruhrgebiet alle unterwegs. Selbst in Landkreisen passen die jetzt auf und versuchen einfach ein bisschen aufmerksamer als früher zu sein, schneller einzugreifen. Doch, da hat sich wesentlich viel verändert. Die Befindlichkeit ist eine andere und die Chance - das ist ja auch hilfreich -, dass die Öffentlichkeit sagt: Ja, macht das. Und diejenigen, die Vorwürfe erheben und sagen, also bedarf viel zu viel Aufwand oder die anderen, die sagen, das ist doch Stigmatisierung, die sind die kleine Minderheit. Und da muss man durch. Das muss man ertragen. Küpper: Warum ist es so wichtig, das Ganze auch in der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen? Reul: Wir brauchen ja Bürger, die mitmachen. Wir brauchen ja Leute, die sagen: So geht das nicht. Oder die sagen: Da ist was passiert. Die auch Meldung machen, die sich nicht verstecken, die keine Angst haben, die sich nicht von denen, die das Schutzgeld erpressen - um mal ein Beispiel zu nehmen - auch erpressen lassen. Und, wenn die nicht das Gefühl haben, da kümmert sich der Staat drum, die staatlichen Organe stehen dahinter, die Politik ist dabei, dann werden die ducken. Und dann entwickelt sich eine Kultur, wie wir sie bei der Mafia haben oder hatten. Und das darf nicht sein. Küpper: Das heißt, Ihre Botschaft ist eine zweideutige. Zum einen an die jeweiligen Handelnden, sprich die potenziell Kriminellen, aber eben auch in die breite Bevölkerung zu den Bürgerinnen und Bürgern: Wir tun was. Reul: Ja, natürlich. "Konsequentes Handeln, und zwar in jedem Bereich" Küpper: Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat an diesem Wochenende in einem Spiegel-Interview gesagt, es bräuchte genau das mal, es bräuchte klare Ansagen. Und er nannte da ein Beispiel, das er mal gemacht hatte bei Sexualstraftätern, wo er gesagt hatte: "Wegsperren, und zwar für immer." Und er meinte damit, dass man eben auch mal was sagen dürfte, zuspitzen, wenn es vielleicht auch ein wenig verkürzt und falsch ist, um eben den Menschen zu signalisieren, dass sie sich in ihrem Land sicher fühlen können. Herr Schröder muss Ihnen ja geradezu aus dem Herzen sprechen. Reul: Ja, kommt immer darauf an. Muss man sich gut überlegen. Bei der Sprache ist mir selber. passiert einem selber dann auch mal eine Zuspitzung, wo man nachher sagt: Hättest du vielleicht so nicht sagen sollen. Das ist wieder eine Sache. Ich finde auch weniger die Sprache wichtig als vielmehr das konsequent Handeln. Wir haben uns selber, ja, als Maxime genommen: Nulltoleranzstrategien. Man kann auch sagen: konsequentes Handeln. Und zwar in jedem Bereich. Ob du falsch parkst, oder ob Clansrecht missachten, ob im Hambacher Forst Leute fremdes Gelände besetzen und Menschen mit Gewalt angreifen, das ist genauso zu verurteilen wie die Rechten, die in Dortmund demonstrieren und Parolen skandieren, bei denen ich mir gedacht habe, so was gäbe es nie wieder. Und übrigens auch der Fall von Lügde ist ein Beispiel. Hätte der Polizist oder das Jugendamt am Anfang immer sofort konsequent gehandelt - Punkt, Punkt, Punkt. Küpper: Sie haben gerade Themen angesprochen, auf die wir noch zu sprechen kommen wollen. Aber noch ganz kurz zum Thema Clan-Kriminalität. Auch das hatten Sie schon genannt. Es geht ja nicht nur um Repression, sondern es geht ja eben auch darum, Perspektiven aufzuzeigen, Dinge sozusagen besser machen zu können. Auch das ist Ihnen ja immer schon ein Anliegen gewesen. Wie könnte man denn Aussteigerprogramme konzipieren? Sie haben es selber gesagt, die Problematik ist natürlich da - durch Familienbande. Reul: Wenn ich es wüsste, hätte ich es schon gemacht. Es ist schwer, denn der Anfang ist das Problem. Wie kriegen wir junge Leute da raus - wenn die sich geborgen fühlen, wenn es ihnen da ja auch gut geht - in Anführungsstrichen? Ich habe das Beispiel genannt. Sie wollen einem jungen Mann anbieten, er bekommt eine ordentliche Lehre als Busfahrer. Dann guckt er auf die Rolex und sagt: heute nicht. Der hat also eine Rundumversorgung. Der hat eine Ausstattung. Der hat finanzielle Möglichkeiten. Vermutlich geht es nur dann, wenn über Mütter auch so ein Szenario entsteht, nach dem Motto: Das ist doch auf Dauer kein Zustand, diese permanente Unruhe. Und vielleicht tragen wir durch die Nadelstiche bei dazu. Karriere außerhalb der kriminellen Karriere Küpper: Aber ist das nicht nur eine Facette, die Betreuung? Sondern gibt es vielleicht oder fehlen die Perspektiven vonseiten des Staates, dass man sagt, mitunter wird da ja beklagt, dass man nicht arbeiten dürfe, weil man eben seit Jahren, seit Jahrzehnten nur geduldet ist? Reul: Klar. Das ist natürlich die Grundfrage. Die rechtlichen Bestimmungen müssen so sein, dass derjenige, der da aussteigen will, auch seinen Berufsweg gehen kann, seine Ausbildung bekommt, also im Grunde eine Karriere außerhalb der kriminellen Karriere entwickeln kann. Küpper: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, zu Gast Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen. Herr Reul, Sie haben es gerade eben genannt, den Hambacher Forst, das kleine Waldstück nahe Köln, was zu einem großen Symbol geworden ist in den Diskussionen rund um den Kohleausstieg, den Braunkohleausstieg. Im vergangenen Herbst gab es da eine große Räumung. Jetzt gerade haben Sie wieder gesagt, Sie sind für konsequentes Handeln allerorts. Der Wald ist jetzt teilweise auch schon wieder besetzt. Wann wird da dann demnächst geräumt? Reul: Ja, das muss man in Ruhe überlegen. Außerdem, mit Ankündigung macht so was ja auch gar keinen Sinn. Mir geht es auch nicht darum… Küpper: Aber Fakt ist, es wird geräumt werden? Weil Sie sagen, Sie sind für konsequentes Handeln. Reul: Also, da Leute da sich nicht an Recht halten, also die besetzen fremdes Gelände, die bauen Einrichtungen auf, also Häuser, die auch noch gefährlich sind. Die handeln kriminell. Das alles sind zig Bedingungen oder Cut-Kriterien, die sagen: Da muss Polizei dann handeln. Und das werden wir dann auch machen. Das Schwierige ist, dass das Ganze so verbrämt wird, weil ganz, ganz viele andere, die sich um Klima kümmern und Verhinderung von Braunkohleabbau verhindern wollen, die die Bäume nicht fällen wollen, dass die einfach sich mit angegriffen fühlen. Und ich finde, wir brauchen so ein Stück Unterscheidung. Diejenigen, denen es da um die guten Dinge geht, die müssen sich doch trennen von denen, die da Gewalt anwenden, von denen, die da im Wald sind und da Schilder hinhängen "Kill the Cop" oder die sagen, das ist hier der Kampf gegen den Kapitalismus. Und, wenn wir das trennen, wenn uns dabei ein bisschen geholfen wird, wäre es natürlich viel leichter und wir brauchten auch viel weniger Aufwand, um zu sagen: Passt mal auf, hier braucht im Wald keiner mehr zu sein. "Wahrscheinlichkeit, dass der Wald stehenbleibt, ist relativ hoch" Küpper: Ist es für Sie eine Alternative, angesichts der aktuell laufenden Diskussion, da erst einmal sozusagen darauf zu verzichten, das zu dulden aus sicherheitspolitischer Sicht? Reul: Wir haben ja Geduld. Wir haben ja jetzt ganz lange Zeit Pause gemacht. Und die Waldbesetzer… Küpper: Wegen der Handlungen in der Kohlekommission? Reul: Ja, die Waldbesetzer haben ja damals gesagt, wir sollten doch mal bitte die Ergebnisse der Kohlekommission abwarten. Die sind jetzt da. Und die sind relativ klar. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Wald stehenbleibt, ist relativ hoch. Ich entscheide das nicht, sondern das Unternehmen. Und, wenn Sie sich dieses Jahr mal anschauen, dann werden Sie feststellen, im März beginnt schon wieder die Rodungsperiode. Sperre, dann darf gar nicht mehr gerodet werden und kein Baum gefällt werden wegen der Vegetationsperiode, die dann beginnt. Also, was soll da dieses Jahr noch passieren? Also, dann muss keiner im Wald bleiben, um den Wald zu retten. Dieses Jahr passiert da garantiert gar nichts. Küpper: Das heißt, da geht es um was anderes? Reul: Ja, klar geht es um Politik. Da geht es um antikapitalistischen Kampf. Da geht es um "Kill the Cop" und Ähnliches mehr. Beunruhigung über die Muslimbrüder Küpper: Dann schauen wir weiter. Ein weiterer Punkt auch in Ihrem Bundesland. Der Umgang mit der Türkisch-islamischen Union der Anstalten für Religionen, kurz DITIB. Das ist immer wieder ein Thema, ein Aufreger-Thema auch. Anfang des Jahres gab es dort eine Konferenz, unter anderem mit führenden Köpfen der Muslimbruderschaft. Sie haben kurz danach gesagt, gefordert, dass der Verfassungsschutz zwingend tätig werden müsse, wenn türkisch-nationale Aktivitäten die türkischstämmige Bevölkerung spalten. Warum ist der Verfassungsschutz noch nicht tätig? Reul: Ja, weil es in dem Maße. das muss nachgewiesen werden. Im Übrigen setzt die Politik nicht den Verfassungsschutz ein, sondern der Verfassungsschutz handelt von sich aus. Da gibt es klare rechtliche Trennung - Gott sei Dank auch. Es bedrückt mich schon, weil wir auf der einen Seite in Nordrhein-Westfalen und auch in Deutschland dringend angewiesen sind, Kommunikation mit türkisch-stämmigen Organisationen und Bürgern zu haben. Da gibt es nicht so viele Verbände und Organisationen. DITIB ist eine davon. Das ist der eine Teil. Wir müssten eigentlich, sollten eigentlich. es ist wichtig, dass wir im Gespräch bleiben, um voranzukommen, auch, um die Einflüsse, die die Türkei versucht hier zu, ja, auszuüben, dass wir die im Griff halten können. Auf der anderen Seite kann es nicht sein, dass da sich in diesem Schutzschild oder in diesem Raum etwas entwickelt, was nicht akzeptabel ist. Nun hat man diesen Kongress. Da waren die zwei Muslimbrüder. Das ist ein Vorgang, der sehr beunruhigt. Darüber wird geredet und wir schauen mal, wie es weitergeht. Küpper: Sie sagen, man müsse mit DITIB sprechen. Dennoch, wie glaubwürdig sind diese Leute denn für Sie? Auch nach den Vorfällen in der jüngeren Vergangenheit und auch größeren Vergangenheit. Reul: Das ist auch unterschiedlich. Es gibt solche und solche. Es gibt einen Teil der DITIB-Leute, mit denen würde ich nicht reden, denn die sind nicht glaubwürdig. Die verstehen sich als Handlanger der türkischen Regierung und Ende, aus. Und es gibt andere, die auch versuchen, sich ein bisschen abzusetzen. Es gibt ja auch erste - ich sage mal - einzelne Moschee-Gemeinschaften, die versuchen, ein Stück einen eigenen Kurs zu fahren. Wenn das gelänge, das wäre der richtige Weg. "Vorgängerregierungen haben nicht genug Polizisten eingestellt" Küpper: Herr Reul, wir haben jetzt viel über Großeinsätze der Polizei gesprochen - im Hambacher Forst, gegen die Clan-Kriminalität. Es gibt auch noch andere Geschichten. Vor allem seit der Kölner Silvesternacht hat man fast den Eindruck, dass jedes große Ereignis in Ihrem Bundesland durch eine verstärkte Polizeipräsenz, ja, geschützt werden muss. Seien es eben Jahreswechsel, der Karneval steht vor der Tür. Wie schafft man das? Denn die Anzahl der Polizisten wächst zwar, aber die Nachfrage ist ja noch viel größer. Reul: Kann ich nicht ändern. Ich kann nur mit den Polizisten arbeiten, die da sind. Die Vorgängerregierungen haben nicht genug eingestellt. Wir haben jetzt ein Problem. Und wir haben jetzt dafür gesorgt, dass neue eingestellt werden. Die brauchen aber Jahre, bis sie fertig sind. Also müssen wir in der Zwischenzeit ordentlichen Einsatz organisieren. Und die Polizisten machen Einsatz plus, plus. Also, die… Küpper: Überstunden? Reul: Ja, natürlich. Die machen wahnsinnige Überstunden. Und wir versuchen da auch ein Stück entgegenzukommen, weil auf Dauer es ja auch nicht richtig sein kann, dass Polizisten zu viel arbeiten. Ich meine, auch das sind Menschen, die mit ihrem Körper ordentlich umgehen müssen. Küpper: Gab es denn schon mal Situationen, Engpässe, in denen Sie Einsätze nicht fahren konnten, weil nicht genug Leute da waren? Reul: Nein, bis jetzt nicht, weil es ja auch in Deutschland ein Geflecht gibt. Das wird meistens vergessen. Bei den Großeinsätzen helfen uns ja auch andere Bundesländer. Dann gibt es ja auch noch die Bundespolizei. Bei den Großeinsätzen, bei den Clans, da sind ja auch die Finanzämter dabei, die Ordnungsämter. Das ist ein ganz anderes Personal, das da noch dabei ist. Und Hambacher Forst, Großdemonstrationen, Erdogan-Einsatz, da waren immer Hundertschaften aus anderen Bundesländern dabei. "Es geht alles immer nur Schritt für Schritt" Küpper: Dann, Herr Reul, zum Abschied, zum Ausstieg aus diesem Gespräch noch ein anderes Thema ganz kurz, was Sie Ihr ganzes politisches Leben begleitet hat, der Kampf gegen die Zeitumstellung. Knapp zwei Monate sind es noch, dann wird am 31. März wieder die Zeit umgestellt. Vielleicht zum letzten Mal auf die Sommerzeit. So sehen es zumindest die Pläne der Europäischen Union vor. Bis April sollen sich die Mitgliedstaaten dann entscheiden, welche Zeit sie künftig haben wollen. Sehen Sie sich am Ziel Ihres Kampfes? Reul: Ach, es geht alles immer nur Schritt für Schritt. Politik ist das Bohren dicker Bretter - hat ein kluger Mann gesagt. Und ich hätte, als ich damit anfing 2004, gar nicht geglaubt, dass es so schnell geht, weil es ja auch kein phänomenal wichtiges Thema ist. Aber eins, das viele Menschen bedrückt und deshalb, na, wir sind einen Riesenschritt schneller vorangekommen, als ich geglaubt habe. Schauen wir mal. Küpper: Sagt Herbert Reul, Nordrhein-Westfalens Innenminister, hier im Deutschlandfunk im Interview der Woche. Vielen Dank für das Gespräch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Herbert Reul im Gespräch mit Moritz Küpper
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte im Dlf, dass man der Clankriminalität mit Aussteigerprogrammen begegnen wolle. Dies geschehe neben der Durchführung von Razzien und der Untersuchung organisierter Kriminalität. Reul nannte die Aktivitäten der Clans einen "Angriff auf den Rechtsstaat".
"2019-02-03T11:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:36:11.773000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reul-cdu-zu-clankriminalitaet-das-ist-ein-frontaler-angriff-100.html
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Schwerpunktthema: Windräder stehen nicht in Städten
Windräder und Stromleitungen bei Nauen in Brandenburg (picture alliance / dpa / Bernd Settnik) Mit der Energiewende ist es so, wie mit vielen zunächst ungewissen, aber sehr notwendigen Dingen, von denen man hofft, dass sie gut ausgehen - einer Operation, einer Fahrt mit der Achterbahn oder einem dramatischen Film zum Beispiel. Wofür es den prägnanten Zustandsbericht "spannend" gibt. "Als sozialwissenschaftliche Forscher, als raumwissenschaftliche Forscher finden wir die Energiewende so enorm spannend, weil es so dynamisch ist und so viel Impetus verliehen bekommen hat. So viel hat sich verändert seit 2011, was wahrscheinlich nicht rückgängig zu machen ist - egal, welche politischen Signale jetzt gesendet werden." Dr. Timothy Moss ist Leiter der Forschungsabteilung am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, kurz IRS, in der die Energiewende empirisch erforscht wird, und zwar unter der Überschrift "Materialität, Macht, Menschen". Es geht also um die Mechanismen, wie die zentrale politische Vorgabe "Energiewende jetzt" von oben nach unten weitergereicht und dort realisiert wird. Denn das ist eines ihrer wesentlichen Merkmale: So zentral das Anliegen, das Anschieben der Energiewende ist, so dezentral erfolgt die Realisierung des Mammut-Vorhabens. "Und das ist etwas, was für uns eine ganz spannende Forschungsfrage ist. Welche räumlichen Unterschiede entwickeln sich und warum? Warum sind manche Kommunen sehr erfolgreich in der Nutzung von diesen Chancen, warum andere nicht? Welche Unterschiede gibt es beispielsweise zwischen der Nutzung in Dörfern und Städten? Die Energiewende ist aus unserer Sicht ein stark ländlich geprägtes Phänomen. Da stellt sich natürlich die Frage: Was ist die Rolle von Städten, von Großstädten eigentlich in der Energiewende? Das wird relativ selten thematisiert. Das finden wir auch eine sehr spannende Frage." Nicht weniger spannend findet der in Nordwest-England geborene Timothy Moss die Sicht von außen, vom Ausland her auf die deutsche Energiewende, wie oben und unten zusammenwirken. "Es ist zentrales politisches Projekt, und das ist an sich nicht schlecht. Damit hat es eine enorme Schubkraft. Wenn man das mit Großbritannien etwa vergleicht - da gibt es das nicht in diesen Dimensionen, da verlässt man sich auf kleine Initiativen, und damit bleibt es Stückwerk, natürlich. Allerdings ist das politische System hier sehr ausgerichtet auf Entwicklung von zentralen institutionellen Regelungen mit der Annahme, dass es vor Ort genauso aufgegriffen wird, wie zentral gedacht." Die Forscher machen das am Begriff des "Gemeinwohls" fest: So sind Sonne und Wind reine öffentliche Güter, die frei zugänglich für alle sind und am besten geeignet scheinen, auch zum Wohle der Gemeinschaft eingesetzt zu werden - zum Klimaschutz, der CO2-Minderung, einer Energieversorgung nach ökologischen Kriterien. So weit, so gut, sagt Ludger Gailing, der stellvertretende Abteilungsleiter. "Aber sobald wir mit den Menschen auf der lokalen, der regionalen Ebene sprechen, da kommen plötzlich ganz andere Gemeinwohlziele nach vorne, und das sind Gemeinwohlziele, die in erster Linie auf so etwas wie Teilhabe im weitesten Sinne gerichtet sind: Partizipation - man möchte vor Ort beteiligt sein, was man häufig nicht ist bei diesen ganzen Prozessen, die dort stattfinden. Aber man möchte auch ökonomisch beteiligt sein: Wertschöpfung schaffen, Beschäftigungsziele erreichen usw. Insofern kann man fast schon sagen: Das sind zwei unterschiedliche Energiewendediskurse, die da stattfinden. Die zentralen Diskurse gehen da etwas dran vorbei, und auch die Reglungen, die Gesetze, die Institutionen, die damit zu tun haben, sind häufig noch nicht darauf ausgerichtet." Könnte die "Fachagentur Windenergie an Land" ein Schritt in diese Richtung werden? In ihr arbeiten Vertreter von Bund, Ländern und Verbänden zusammen. Sie nahm Ende vergangenen Jahres ihre Arbeit auf und soll zwischen den unterschiedlichen Akteuren vermitteln. Sollte sie jedoch vor allem dafür eingesetzt werden, um bloße Akzeptanz der Planungsverfahren nach dem Motto "Anders geht’s nicht" zu schaffen, würde sie ihr Ziel verfehlen, sagt Ludger Gailing. Denn was jetzt oft geschieht, ist eine Restflächenplanung: Wo weht genügend Wind, wo wohnen nur wenige Menschen, wo kann ich also Windmühlen hinsetzen und wo nicht? "Das sind dann die Bereiche, auf die sich die Planung konzentriert, und natürlich ist dann der Zug für eine echte Beteiligung vor Ort schon abgefahren, weil eigentlich so eine gewisse Sachlogik herrscht: Es gibt ja nur noch diese Flächen, und die müssen dann auch genommen werden. Wir müssen diese Logik umdrehen. Wir müssen es ernst nehmen, dass für die Menschen vor Ort die Energiewende ein Teilhabeprojekt sein muss. Und deshalb können wir nicht nur eine rein technokratische Restflächenplanung machen – also, ich übertreibe. Man müsste viel stärker für gewisse Öffnungsklauseln plädieren, dass man auch dort Windparks zulässt, wo das die Menschen vor Ort wollen." Dafür gibt es bereits viele gelungene Beispiele vor allem in Süd- und Norddeutschland, vereinzelt aber auch in Brandenburg: die Stadt Prenzlau nordöstlich Berlins zum Beispiel, die sich zur "Stadt der erneuerbaren Energien" erklärt hat, oder die "Bioenergieregion Ludwigsfelde" im Süden der Hauptstadt. Andererseits gibt es in Brandenburg allein mehr als 50 Vereinigungen, die gegen Windparks protestieren, gegen die "Verspargelung" der Landschaft. Sie sind auch gegen die Kolonisation durch Investoren, die massenhaft Geld eingesammelt haben und nun - oft im "fernen Osten" - anderen Menschen Anlagen quasi vor die Haustür setzen. Warum das so unterschiedlich ist, hat das IRS u.a. in der Studie "Neue Energielandschaften - neue Akteurslandschaften in Brandenburg" näher erforscht. Daran beteiligt war auch Dr. Matthias Naumann: "Da geht’s einmal um die Frage von Standorten: Wo kommt das Windrad hin? Wo kommt die Biomasseanlage hin? Es geht um die Beteiligung: Wer profitiert von der Errichtung eines Windrades? Wer liegt nur im ‚Windschatten‘ davon? Es geht um die politische Beteiligung: Wer plant diese Anlagen? Wer ist bei der Aushandlung von Standorten beteiligt und wer nicht? Aber es geht auch um die Identität von Landschaften: Ist unsere Region eine Energieregion oder ist unsere Region eine Tourismusregion?" Auf jede dieser Fragen habe es keine eindeutigen Antworten gegeben, sondern meist ein Sowohl-als-auch. Die Region um Cottbus war und ist eines der großen Braunkohlenreviere Deutschlands, beherbergt andererseits das Biosphärenreservat Spreewald. Parallel zum Kohleabbau entstehen aus stillgelegten Tagebauen große Seen - was weiter in Richtung Tourismus führt. Und auf den Abraumkippen entstehen weithin sichtbar Wind- und Solarparks. Sören Becker, Mitautor der Studie, spricht von "überlappen": "Dass die Spuren der fossilen Energieerzeugung in Brandenburg teilweise regional überschrieben werden durch diese erneuerbaren Anlagen, die wiederum anders verteilt sind im Raum. Und diese Dynamik wird derzeit ausgehandelt auf der lokalen Ebene." Anders die ländliche Region um Berlin: Auch hier wird kräftig in erneuerbare Energien investiert, zumal mit der Millionenmetropole der Stromabnehmer schlechthin vor der Haustür liegt. Doch die Städter, sagt Matthias Naumann, suchten etwas ganz anderes jenseits der City: "Die Berliner, die aufs Land ziehen, erwarten, dass sie im Park wohnen. Die Realität im ländlichen Raum ist dann doch eine andere: Die ist durch landwirtschaftliche Realitäten geprägt, und in zunehmenden Maße auch durch energiewirtschaftliche Aktivitäten geprägt. Und das führt zu Konflikten, die auf unterschiedliche Raumansprüche zurückgehen." Schließlich kommt auch noch das Geld ins Spiel. In der Uckermark hatten es Windkraftgegner in den Kreistag geschafft. Als einer von ihnen viel Geld für die Verpachtung seines Grundbesitzes eben für Windräder geboten bekam, "kippte" er sozusagen um und scherte aus der Front der Gegner aus. Kein Einzelfall, sagt Ludger Gailing: "Wir haben in verschiedenen Gesprächen auch festgestellt, dass zum Teil die gleichen Akteure, die in einer sehr großen Vehemenz auf Landschafts- und Heimatargumenten, sozusagen, ihre gesamte Argumentation stützen, dass deren Argumentation komplett kippt, wenn die Akteure vor Ort von der Energiewende monetär profitieren. Häufig ist es so: Man profitiert vor Ort nicht, und dann haben diejenigen leichtes Spiel, die diese Landschaftsargumente nach vorne stellen können." "Was dabei interessant ist, dass diese Konflikte eine sehr hohe lokale Dynamik haben; dass Interviewpartner uns gegenüber berichten, dass die Frage, wer profitiert von den Anlagen, wer nicht, Dorfgemeinschaften fast zerreißt. Da kulminieren wahrscheinlich auch Konflikte, die es vorher schon gegeben hat. Mitunter sind die Windkraftanlagen nur der Anlass für Leute, die sich benachteiligt fühlen - auch in anderer Hinsicht ...", … ergänzt Matthias Naumann. Auf der Suche nach einem "Raumordnungskonzept Energie und Klima" für die Gemeinsame Landesplanung Berlin/Brandenburg wurden zwei sogenannte kulturlandschaftliche Handlungsräume untersucht: im Nordosten Berlins der Barnim, sowie die Prignitz, die sich nördlich der Elbe in Richtung Hamburg erstreckt. Diese kann als "Installationslandschaft" klassifiziert werden, sagt Andreas Röhring. Auch er forscht am IRS. "Im Prinzip kann man sagen, dass sich die historische Kulturlandschaft der Prignitz in weiten Teilen von einer Agrarlandschaft zu einer durch Windenergie, aber auch große Bioenergie- und Photovoltaikanlagen geprägten Energielandschaft entwickelt hat. Dort wird etwa zweieinhalb Mal so viel Strom produziert, wie man dort selbst verbraucht. Aufgrund von Defiziten regionaler wirtschaftlicher Teilhabe ist die Prignitz bisher aber weitgehend eine Installationslandschaft externer Investoren mit den daraus resultierenden Akzeptanzproblemen und Konflikten." Der Grundkonflikt lautet: Die Prignitzer verstehen die Region mit ihrem "verhaltenem Charme" und ihrer "einzigartigen Kulisse für Natur-, Kultur- und Gesundheitsurlaub" als für Individualtouristen geeignet. Da stören viele Windräder und Fernleitungen nur, vor allem, wenn der Strom großteils "verschickt" wird. Vor Kurzem feierte die Bürgerinitiative "Hochspannung tief legen" nach jahrelangem Kampf einen Erfolg: In der West- und Ostprignitz wird es keine neuen Freileitungen mehr geben. 60 Kilometer waren geplant, um den überschüssigen Windstrom abzutransportieren. Bestehende Leitungen werden verstärkt, neue kommen unter die Erde. Durch diesen Prozess ist die Prignitz ein kleines Stück weg von genannter Installationslandschaft hin zu einer Gestaltungslandschaft gekommen, wie es die IRS-Forscher nennen. Matthias Naumann:. "Es geht uns um eine politische Diskussion: Welche Ansprüche haben wir an Energieversorgung - über das natürlich grundlegende Ziel von einer sicheren und zuverlässigen und preiswerten Energieversorgung hinaus. Möchten wir damit etwas zum Klimaschutz beitragen? Möchten wir damit positive Effekte für die regionale Wirtschaftskraft schaffen? Möchten wir das Landschaftsbild damit erhalten bzw. möglichst schonen? Und darüber kommt man dann zu einer Organisationsform am Ende dieses Prozesses." Als eine Art "Organisationsform" könnte man auch die erneute Gründung von städtischen Betrieben wie den Energieversorgern und Netzbetreibern betrachten; mehr als zwei Dutzend waren es bislang in Brandenburg. Ein Grund für solche Rekommunalisierungen war die Unzufriedenheit, dass mit der Privatisierung soziale Handlungs- und Gestaltungsspielräume eingeengt wurden. "Zum anderen, und das ist die Besonderheit der Energieversorgung, liegt der Reiz hier drin, dass Kommunen mit einer Versorgung, die auf erneuerbaren Energieträgern beruht, durchaus auch Geld verdienen können; Geld, das dann dem Schwimmbad oder dem öffentlichen Nahverkehr zugutekommen kann, aber darüber hinaus - politischer gedacht - die Energiewende vor Ort ein Stück weit selber gestalten können. Und das spricht auch ein Misstrauen gegenüber den klassischen Playern in der Energieversorgung aus, dass man Vattenfall, Eon, RWE diese Energiewende schlechtweg nicht zutraut." Allerdings ist auch das Gegenteil der Fall: Wo Kommunen eng und gut mit diesen Großen zusammenarbeiten, sehen sie für ihre sozialen Belange kaum einen Anlass für eine schnelle und komplette Energiewende. Die neue Bundesregierung scheint mittelfristig das eine wie das andere zu fördern, was allerdings erst mit der Neufassung des EEG, des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verbindlich wird; es soll zu Ostern vorgelegt werden. In Bezug auf die Windenergie zeichnen sich zwei Tendenzen ab: Die Befürworter werden ihre Projekte forcieren, weil es restriktivere Genehmigungen geben kann, wie vor allem die Vorstöße von Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer deutlich machen: Größere Abstände zu Wohnbauten und ein höherer Wirkungsgrad der Anlagen sollen kommen. Genau das bestärkt aber die bisherigen Ablehner von Windkraftanlagen, Entscheidungen hinauszuzögern. Zwei Aspekte werden nach Ansicht von Timothy Moss nach wie vor zu gering geschätzt: Energieeffizienz und Energieeinsparung. Ein Geburtsfehler der Energiewende: "Es war sehr intensiv, aber relativ eindimensional. Es ging darum, erneuerbare Energien auszubauen und dafür notwendige Netze bereitzustellen. Das ist und war sehr angebotsorientiert und nicht nachfrageorientiert. Diese ganzen Fragen über Energieeffizienz, zu fragen, wie kann man den Strom-, den Wärmebedarf enorm dämpfen - das spielte rhetorisch eine Rolle, aber instrumentell so gut wie gar nicht. Und es sind die Instrumente wie das EEG, die letztendlich die große Rolle spielen." Ineffizient wäre es, wenn neue Stromverteilnetze von Nord nach Süd nach der Bedarfslage ihrer einstigen Planung aufgebaut würden; wie in der Prignitz wehren sich Bürger in Thüringen seit Jahren dagegen. Auch im Süden werde die Energieversorgung mehr und mehr auf erneuerbare Energien umgestellt, sodass diese neuen Leitungen in absehbarer Zukunft nicht mehr gebraucht und nur Last in mehrfacher Hinsicht würden. "Dann haben wir sogenannte Pfadabhängigkeiten geschaffen, die sehr schwer aus der Welt zu schaffen sind. Gerade beim Netzausbau muss man unheimlich aufpassen, dass man nicht sogenannte weiße Elefanten für die Zukunft schafft. Also dass man nicht zu hohe Investitionen aufbringt und Anlagen schafft, die betrieben werden müssen, die wir vielleicht in Zukunft nicht in diesem Ausmaß brauchen. Wenn sie einmal da sind, sind sie unheimlich schwer aus der Welt zu schaffen. Und sie prägen weitere Strukturen. Das heißt, wenn wir sie haben, wird es sehr, sehr schwierig sein, tatsächlich rein dezentrale Strukturen stärker zu fördern." Daran führt jedoch ebenso wenig ein Weg vorbei, wie an der Ausweitung der Kommunikation aller beteiligten Akteure, sind sich die Forscher vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung sicher - auch wenn Planungen und Energiewende an sich länger dauern werden. Ihren Beitrag dafür sehen die Sozialwissenschaftler und Raumforscher wie Sören Becker und Matthias Naumann in einem Leitfaden, der ihre punktuellen Untersuchungen verallgemeinern und 2016 vorliegen soll. "Wir haben jetzt keinen Masterplan, wie so eine Organisation aussehen könnte. Aber wir vermuten sehr stark, dass letztendlich diese Beteiligung ein ganz zentraler Faktor ist, wie solche Organisationsformen aussehen können." Was heißt das, eine Energiegenossenschaft zu betreiben? Was heißt das, ein kommunales Unternehmen zu führen, das wirklich die Energiewende gestalten kann und keine schlechte Kopie von Vattenfall ist. Ich glaube, das sind jetzt die Mühen der Ebene, in der wir uns befinden. Aber wir sind davon überzeugt, dass gerade lokale Beispiele wie Bürgerenergiegenossenschaften gegründet werden können, die auch einkommensschwache Haushalte mit integrieren können, dass das sehr spannende Fragen sind, die über den Erfolg der Energiewende ganz zentral mit entscheiden werden.
Von Christian Forberg
Dass die Energiewende in Regionen stattfindet, in denen Menschen in oft sehr unterschiedlichen Situationen leben und mit den Veränderungen zurechtkommen müssen, wird oft übersehen. Genau diesen Problemen und sozialen Fehlstellen widmen sich Forscher des Leibniz-Institutes für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner bei Berlin.
"2014-01-09T20:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:20:52.960000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/energiewende-schwerpunktthema-windraeder-stehen-nicht-in-100.html
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"Schlechtes Jahr für die Menschenrechte"
Der Menschenrechtskommissar des Europarats in Straßburg beklagt Menschenrechtsverletzungen vor allem in Russland, der Ukraine, Aserbaidschan und der Türkei. (dpa picture alliance / Rainer Jensen) Der Menschenrechtskommissar des Europarats legt jährlich seinen Bericht vor, um auf Missstände in den Mitgliedsstaaten aufmerksam zu machen. "2014 war ein schlechtes Jahr für die Menschenrechte in Europa", stellt Nils Muiznieks in seinem gerade in Straßburg vorgelegten Bericht fest. Darin spiegelt sich auch die gerade intensiv diskutierte EU-Flüchtlingspolitik wider. In dem Bericht heißt es, das Mittelmeer sei ein gewaltiges Massengrab für Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut geblieben. Die offiziell genannte Zahl von 3.000 Toten dürfte in Wirklichkeit viel höher liegen, da viele seeuntüchtige Boote in stürmischem Wetter gesunken oder an felsigen Ufern zerschellt seien, ohne Spuren zu hinterlassen. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 seien dank der italienischen Aktion "Mare Nostrum" Zehntausende Menschenleben gerettet worden. Allerdings hätten andere Staaten Italien damit alleine gelassen und insgesamt zu wenig getan, um zu helfen. Die auf "Mare Nostrum" folgende Mission "Triton" nannte Muizineks "völlig unzureichend", außerdem ging es dabei nicht in erster Linie darum, Menschenleben zu retten. Aktivisten in Aserbaidschan und Russland verfolgt Der Menschenrechtskommissar beklagte auch die Verletzung von Grundrechten in der Kaukasus-Republik Aserbaidschan. Dort seien viele Aktivisten verfolgt und inhaftiert worden, unter ihnen auch Experten, die mit dem Europarat zusammengearbeitet hätten. Auch in der von prorussischen Separatisten besetzten Ostukraine, in Russland und auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim habe es mehr Anschläge auf Menschenrechtsaktivisten gegeben, kritiserte Muizineks. Der "entsetztliche Anschlag" auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" habe gezeigt, welchen Bedrohungen Journalisten heute ausgesetzt seien. Vor allem in Russland und Ungarn würden kritische Journalisten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen zunehmend eingeschüchtert oder strafrechtlich verfolgt. Solche Vorfälle habe es auch in der Türkei gegeben. Muiznieks sagte, in einem Europa, das sich selbst als Raum der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie preise, hätten all die genannten Menschen nicht sterben dürfen. Er forderte die Europaratsländer auf, die Grundrechte besser zu schützen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind. Der Europarat ist kein Gremium der Europäischen Union. In ihm sind inklusive der EU-Länder insgesamt 47 Staaten zusammengeschlossen, von Albanien über Russland bis zur Ukraine.
null
2014 war nach Einschätzung des Europarats ein schlechtes Jahr für die Grundrechte. In seinem Jahresbericht beklagt Menschenrechtskommissar Nils Muiznieks unter anderem, dass Flüchtlinge im Mittelmeer und Menschen in der Ukraine unter Not und Gewalt gelitten haben.
"2015-04-23T10:51:00+02:00"
"2020-01-30T12:33:15.526000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europarat-schlechtes-jahr-fuer-die-menschenrechte-100.html
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Religionsworkshops im Problemviertel
Fünf Symbole stehen auf dem Friedhof Gerliswil, Gemeinde Emmen, für die Weltreligionen Judentum, Christentum, Hinduismus, Islam und Buddhismus, von links (picture alliance/dpa/Keystone/Urs Fueller) Eric Bettancourt unterrichtet Zehnjährige in einer Schule der Pariser Vorstadt Clichy sous Bois. In seiner Klasse hätten sich mehrere Schüler kategorisch geweigert, die Schweigeminute für die Opfer des Terroranschlags einzuhalten, sagte er im französischen Fernsehen: "Sie haben gesagt, die Morde seien gerechtfertigt, weil es verboten sei, den Propheten mit Zeichnungen oder Worten zu beleidigen." Ähnliches berichtet der Direktor einer Mittelschule in Straßburg: Seine Schüler hätten kein Verständnis für den Laizismus, also die gesetzlich vorgeschriebene Trennung von Kirche und Staat. "Für sie haben religiöse Vorschriften Vorrang vor den Regeln unserer Gesellschaft. Da müssen wir ansetzen und handeln. Aber die Schule allein kann es nicht ausrichten. Wir brauchen die Mithilfe von Eltern, Vereinen, Geistlichen." Diese Überzeugung vertritt Marine Quenin schon lange. Die junge Frau ist Unternehmerin im sozialen Bereich. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit hat sie vor fünf Jahren den Verein "Enquete" gegründet, was so viel heißt wie Nachfragen, Erforschen. "Enquête" organisiert Workshops, in denen Kinder spielerisch mit den wichtigsten Figuren, Riten, Vorschriften und Festen der drei Weltreligionen, aber auch mit dem Atheismus vertraut gemacht werden. An diesem Mittwoch unterrichtet Marine Quenin in einem Sozialzentrum der Stadt Paris. Es liegt in einem Einwandererviertel. In den Straßen sind viele Schwarze, Araber und Asiaten zu sehen. In einem großen Häuserblock ist eine Synagoge untergebracht. Sie würde kaum auffallen, stünden nicht vier Soldaten mit Maschinengewehren davor. Für den Workshop haben sich allerdings nur muslimische Mädchen eingeschrieben, sie sind neun bis zwölf Jahre alt. Marine Quenin fasst den Stoff der vorhergegangenen Stunde zusammen und fragt die Kinder ab. "Erinnert ihr euch, wie das heißt: an einen einzigen Gott glauben? Monotheismus. Wie nennt man jemanden, der glaubt, dass Gott nicht existiert? Richtig, das ist ein Atheist, und was sagt er? Sagt er wirklich: Ich weiß nicht, ob ich glaube? Nein, er sagt: Ich glaube, es gibt keinen Gott. Wohingegen ein Gläubiger sagt: Ich glaube, Gott existiert. Kann man beweisen, dass Gott existiert? Oder dass er nicht existiert?" Warum es Bilder von Gott nur im Christentum gibt Nein, das kann man nicht, sagen die Mädchen. Marine Quenin erzählt jetzt die Geschichte des Patriarchen Abraham, der auch Ibrahim genannt wird, und den Juden, Christen und Muslime als Stammvater betrachten. Dabei unterstreicht sie Gemeinsamkeiten in den Auffassungen der drei Weltreligionen, weist auf Unterschiede hin. Dann zieht sie Puzzleteile aus der Tasche. Die Mädchen legen ein berühmtes Gemälde zusammen. Es ist die Opferszene des Isaak, ein christliches Bild, sagt Marine Quenin. "Gibt es solche Bilder bei den Muslimen? Warum denn nicht? Christen dürfen Gott abbilden, in Kirchen seht ihr Bilder und Statuen, aber bei Juden und Muslimen ist das nicht erlaubt. Wenn wir demnächst eine Synagoge und eine Moschee besichtigen, werdet ihr feststellen, dass es dort keine Abbildungen gibt." Die Mädchen sind wissbegierig und aufgeschlossen. Genau wie die Jungen, die sie in Grigny unterrichtet, sagt Marine Quenin. Die Vorstadt Grigny ist ein ganz besonders schwieriges Pflaster, dort ist auch einer der drei Attentäter aufgewachsen. Quenin und ihre Mitstreiter liefern den Kindern reine Wissenselemente. Sie wollen ihnen damit auch helfen, die Laizität besser zu verstehen, dieses typisch französische Modell, das die Koexistenz der verschiedenen Glaubensauffassungen organisieren soll. Die Gründerin von "Enquete" ist überzeugt, dass die Arbeit des Vereins heute wichtiger ist denn je, weil es die Spannungen in der französischen Gesellschaft verringern kann. "Religiöser Analphabetismus führt dazu, dass man die heutige Welt nicht richtig begreifen kann. Der Wissensmangel kann Intoleranz bewirken: Man versteht den Anderen nicht und fühlt sich deshalb von seinen Riten bedroht. In Frankreich wurde noch nie so viel über Laizität gesprochen wie heute, mit viel Unverständnis und vielen Spannungen insbesondere was den Islam betrifft." Marine Quenin will erreichen, dass die Ateliers in die Grundschulen Einzug halten, und zwar als Workshop nach dem Unterricht. "Religionskunde ist immer noch ein heikles Thema, da braucht es politischen Mut. Aber wir werden sie bekommen, diese Workshops, das ist nur eine Frage der Zeit." Homepage des Vereins Enquête  (französischsprachig)
Von Bettina Kaps
Die Trennung von Staat und Kirche hat in Frankreich seit 1946 Verfassungsrang. Der Verein "Enquete" vermittelt mangels offiziellem Religionsunterricht in Workshops Schulkindern das nötige Wissen zu den Weltreligionen. Auch in dem Problemviertel, aus dem die Charlie-Hebdo-Attentäter kamen.
"2015-01-19T09:10:00+01:00"
"2020-01-30T12:17:34.218000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/laizismus-in-frankreich-religionsworkshops-im-problemviertel-100.html
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Unbequeme Fragen im Sportausschuss
Der Sportausschuss des Deutschen Bundestages hat bei einer öffentlichen Anhörung zur Fußball-Weltmeisterschaft dem Ausrichterland Katar gesellschaftliche Fortschritte bescheinigt (picture alliance / ZB /motivio) Es wird besser in Katar, aber es ist längst noch nicht alles gut. So lassen sich die Stellungnahmen der Sachverständigen zusammenfassen, die sich im Sportausschuss zu Wort meldeten. Wegen Menschenrechtsverletzungen steht der Wüstenstaat international in der Kritik. Allen voran das so genannte Kafala-System, das Hunderttausende von Arbeitsmigranten aus Asien fest an Arbeitgeber in Katar bindet. Mindestlohn, leichterer Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit, Maßnahmen zum Hitzeschutz: Katja Müller-Fahlbusch von Amnesty International berichtete von ersten positiven Entwicklungen. „Insgesamt erkennen wir an, dass die katarische Regierung zentrale Reformen angestoßen hat, die katarische Regierung selbst sagt ja, sie hat das Kafala-System, also dieses Vormundschaftssystem beendet, da gehen wir nicht mit, diese Einschätzung teilen wir nicht, wir sehen Reformen des Kafala-Systems, wir sehen aber keine Auflösung des Kafala-Systems, und zwar insbesondere weil ein zentrales Element dieses Kafala-Systems, nämlich das strukturelle Macht-Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitsmigrantinnen nicht aufgelöst wurde, nicht angegangen wurde.“ Fußball-WM in Katar Der Protest nimmt Formen an Fußball-WM in Katar Der Protest nimmt Formen an Die Kritik an der Fußball-WM in Katar ist weit verbreitet, aber sichtbaren Widerstand leistet bislang kaum jemand. Nun formiert sich ein Netzwerk namens „Nicht unsere WM!“. Dennoch erkennt die Amnesty-Expertin für die Region die Reformbemühungen des Emirats an.„Denn das Kafala-System gilt ja nicht nur in Katar, es gilt in vielen Ländern der Golfregion, aber auch darüber hinaus des Nahen Ostens, und da ist Katar tatsächlich das einzige Land, das solche Reformen angestoßen hat, auch das gehört zur Geschichte mit dazu.“ IOC, FIFA und die Menschenrechte Der Sündenfall als Wendepunkt? IOC, FIFA und die Menschenrechte Der Sündenfall als Wendepunkt? 2022 – ein Sportjahr, das mit Winterspielen in Peking beginnt und mit einer Fußball-WM in Katar endet. Es wird ein Jahr, in dem nicht nur der Sport im Fokus steht – denn die Gastgeber und Organisatoren müssen sich heftiger Kritik stellen, mit Blick auf die Menschenrechte. Was tun FIFA und das IOC? Aber wie weit wird Katar mit den Reformbestrebungen gekommen sein, wenn im Winter die Fußball-WM über die Bühne geht? Und vor allem: was passiert, wenn die WM vorbei ist? Der Deutsche Fußballbund setzt auf Dialog statt Boykott. Gemeinsam mit anderen Verbänden der UEFA, so DFB-Generalsekretärin Heike Ullrich, wird er versuchen, Nichtregierungs- und Wanderarbeiterorganisationen vor Ort zu unterstützen. „Uns ist wichtig, dass aus unserer Sicht ein Boykott nicht hilfreich ist, aus unserer Position heraus, der teilnehmenden Verbände, sondern dass es wichtiger ist, mit gemeinsamer Stimme, mit gemeinsamen Fragestellungen vor Ort Dinge voran zu bewegen und insbesondere den Menschen vor Ort zu helfen, denn darum geht es ja schlussendlich.“ Offen ist allerdings, ob sich der DFB auch an finanziellen Entschädigungen beteiligen wird – für die Hinterbliebenen der wegen der Menschenrechtsverstöße gestorbenen Arbeiter. Hier müsse zunächst einmal die FIFA vorlegen, findet Heike Ullrich. Im Herbst, vor Beginn des WM-Turniers, ist geplant, dass DFB-Präsident Bernd Neuendorf gemeinsam mit der für Sport zuständigen Bundesinnenministerin Nancy Faeser Katar besuchen wird. Bericht von Amnesty International Zwangsarbeit bei Sicherheitsleuten für WM in Katar Bericht von Amnesty International Zwangsarbeit bei Sicherheitsleuten für WM in Katar Amnesty International berichtet von Menschenrechtsverletzungen und ausbeuterischer Arbeit bei privaten Sicherheitsfirmen in Katar. Beschuldigt werden auch Unternehmen, die an der Sicherheitsinfrastruktur für die WM 2022 beteiligt sind. Deutsch-Katarische Wirtschaftsbeziehungen Wettbewerb um Milliarden Katar steht wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Weniger im Fokus: westliche Konzerne, die von Milliarden-Aufträgen rund um die Fußball-WM profitieren. Auch die deutsch-katarischen Wirtschaftsbeziehungen sind besser, als viele glauben. Fußball-WM 2022 in Katar Wie Deutschland in Zukunft mit Katar umgehen wird Deutschland bildet eine neue Energie-Partnerschaft mit dem umstrittenen WM-Gastgeber Katar. Die Kritik am Emirat dürfte dadurch noch moderater werden. Von Boykott ist auf einmal keine Rede mehr, denn die Abhängigkeiten auf Seiten Deutschlands sind auf einmal enorm.
Von Wolf-Sören Treusch
Die Debatte um den richtigen Umgang mit der umstrittenen Winter-WM in Katar spaltet die Fußball-Nation. Grund genug für den Sportausschuss des Bundestages, sich in einer öffentlichen Anhörung mit Katar zu beschäftigen.
"2022-07-04T22:50:00+02:00"
"2022-07-04T23:29:51.227000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportausschuss-zu-fussball-wm-in-katar-100.html
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Auswärtsspiel in den USA
Zum ersten Mal hat die Tischtennis-Bundesliga außerhalb Deutschlands gespielt. (Deutschlandradio/ Jan Bösche) Der Hallensprecher heizt die Zuschauer an: In Deutschland sei es laut beim Tischtennis, es gehe um die Energie - seit ihr bereit für die Bundesliga? Zum ersten Mal spielt die Tischtennis-Bundesliga außerhalb Deutschlands. Der Post SV Mühlhausen und der ASV Grünwettersbach treten gegeneinander an - vor amerikanischem Publikum, vor den Toren Washingtons. Anlass ist die 20. Ausgabe der nordamerikanischen Teammeisterschaften. Zeigen, "wie toll der Sport ist" Organisator Richard Lee: "Die Bundesliga im Tischtennis ist eine der stärkten Ligen der Welt. Wir wollen die Profis herbringen, um zu zeigen, wie professionell und toll dieser Sport ist." Das Turnier ist das größte seiner Art in den USA, hier treten über 1000 Spieler an. Tischtennis ist in den USA eher eine Randsportart. Ziel der Sponsoren ist es, für Aufmerksamkeit zu sorgen. Darum haben sie auch die Reise der deutschen Spieler bezahlt. Martin Werner, Manager von Grünwettersbach, war sofort von der Idee begeistert: "Es ist eine riesen Aktion, einmalig, wir schreiben gemeinsam Geschichte. Ich hoffe, dass es auch nicht das letzte Mal ist, dass man ein Spiel auslagert. Die TTBL ist eine der stärksten Ligen der Welt, und sowas auf so einer Plattform zu präsentieren, hat schon was." Für Mühlhausen und Grünwettersbach geht es um Werbung und Erfahrung - aber natürlich auch um wichtige Punkte. Das Spiel ist ein offizielles Ligaspiel, eigentlich ein Heimspiel der Mühlhäuser. Manager Thomas Stecher sagt, Ärger habe es dafür von den Fans nicht gegeben: "Die Resonanzen waren durchweg positiv. Es hat sich keiner beschwert, dass wir auf ein richtiges Heimspiel verzichten. Dass -glaube ich- über 20 Fans mitgefahren sind, auf eigene Kosten, das zeigt ja auch die Verbundenheit mit dem Verein. Wir sind glücklich, die Fans sind glücklich, dass ist ein einmaliger Ausflug." Allerdings: Ein Ausflug, der sich für die Mannschaft aus Mühlhausen nicht ausgezahlt hat, zumindest in der Bundesliga. Das Spiel geht an Grünwettersbach, mit 1 zu 3. Den entscheidenden Punkt holte Nationalspieler Ricardo Walther. Er bezwang den Österreicher Daniel Habesohn in vier Sätzen. Hohes Niveau begeistert die Fans Ärgerlich für Shiraz - der Tischtennis-Fan aus Texas hat sich gerade für Mühlhausen als seine Mannschaft entschieden: Er sei für das gelbe Team - auch wenn er noch nicht wisse, wer das sein. Viele Fans sind begeistert, die Teams live sehen zu können. David schaut Bundesliga-Tischtennis sonst im Internet: Es sei exzellent. Er dachte immer, er müsse dafür mal nach Deutschland kommen. Anja sagt, es sei wundervoll: Das Niveau sei so hoch - sie freue sich immer, solche Spiele anschauen zu können. Die Fans beim Turnier können von den deutschen Mannschaften noch mehr sehen: Mühlhausen und Grünwettersbach treten nämlich auch beim Turnier an, spielen gegen andere international besetzte Mannschaften. Das Ziel: Das Preisgeld von 15.000 Dollar.
Von Jan Bösche
Zum ersten Mal hat die Tischtennis-Bundesliga außerhalb Deutschlands gespielt: Mühlhausen und Grünwettersbach sind in den USA gegeneinander angetreten. Es ging um Werbung und Erfahrung - aber natürlich auch um wichtige Punkte.
"2017-11-25T19:38:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:29.907000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tischtennis-bundesliga-auswaertsspiel-in-den-usa-100.html
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Islamfeindlichkeit nimmt zu
Lucie Kamesova kann die Veränderung jeden Tag auf der Straße spüren. Seit der Heirat mit ihrem palästinensischen Mann vor zwölf Jahren trägt sie freiwillig ein Kopftuch. Nie war der Hidschab ein Problem im Kontakt mit ihren Landsleuten – doch jetzt hat sich die Stimmung in der tschechischen Gesellschaft gedreht: "Ich spüre den Hass persönlich sehr stark. Die Menschen verfolgen mich mit feindseligen Blicken und manche rufen mir Schimpfworte hinterher. Das sind ohne Zweifel die Folgen der Anti-Islam-Kampagne seit dem letzten Jahr. Vor allem Präsident Zeman schürt eine anti-islamische Stimmung in Tschechien." Symbol einer gefährlichen Entwicklung Tatsächlich hat sich das Staatsoberhaupt zum Sprachrohr einer islamkritischen Debatte in Tschechien gemacht. In seinen Reden warnt er regelmäßig vor einer Bedrohung der tschechischen Gesellschaft durch den islamistischen Terror. Das Kopftuch ist für den Linkspolitiker nur das Symbol einer gefährlichen Entwicklung: "Es beginnt mit dem Hidschab und endet mit der Burka. Das ist eine schräge Fläche, auf der man immer weiter abrutscht. Heute zweifelt kaum jemand mehr daran. Ein bestimmter Teil des Islam missbraucht die Religion zum Angriff auf unsere Gesellschaft." Kaum kritische Reaktionen Beifall erhält Milos Zeman aus fast allen politischen Lagern. Nur wenigen Medien äußern sich kritisch. Lautstark verteidigen Politiker die Entscheidung einer Schuldirektorin, eine muslimische Schülerin wegen ihres Kopftuchs vom Unterricht auszuschließen. Besonders weit geht der Vorsitzende der konservativen Partei ODS Petr Fiala: "Das ist doch nicht unsere größte Sorge das Recht auf ein Kopftuch zu verteidigen. Es ist schließlich ein Symbol das unsere Kultur bedroht. Wir müssen die islamistische Gefahr auch in anderen Ländern stoppen. Wenn wir uns nur zuhause verteidigen, ist es schon zu spät." Eine Bürgerinitiative "Wir wollen den Islam in Tschechien nicht" hat mittlerweile über 80.000 Unterstützer. Der wachsende gesellschaftliche Druck sorgte wohl auch für das Ende der staatlichen Unterstützung für ein Hochschulprojekt über die Situation der Muslime in Tschechien. Nach inoffiziellen Schätzungen leben nur rund 10.000 Muslime in dem zehn Millionen-Einwohner-Land. Doch die winzige Minderheit wird für die Mehrheitsgesellschaft zum Blitzableiter, so der Direktor des tschechisch-arabischen Kulturzentrums Shadi Shanaah: "Die Mehrheit bei uns denkt nicht, dass jeder Muslim ein Terrorist ist – aber immer mehr Menschen glauben, wir haben ein islamisches Problem und werden durch den Terror bedroht. Sie fordern dafür eine Lösung. Es droht deshalb tatsächlich die Gefahr, das bestimmte Grundrechte für Muslime in Tschechien nicht mehr gelten." Sündenböcke der Gesellschaft Die 32-jährige Konvertitin Lucie Kamesova fühlt sich schon jetzt als Opfer der populistischen Anti-Islam-Stimmung in ihrer Heimat. Ihre Familie werde jeden Tag zur Zielscheibe verbaler Angriffe und Belästigungen. Auch körperlich sei bereits attackiert worden. Die Zukunft ihrer drei Kinder in Tschechien sei nicht sicher: "Die ganze Situation erinnert mich irgendwie an die Nazizeit in Deutschland. Damals gab es auch zunächst Hetzkampagnen gegen die Juden. Heute sind wir die Sündenböcke der Gesellschaft. Ich hoffe nicht, dass es für uns so enden wird wie damals für die Juden im vorigen Jahrhundert."
Von Stefan Heinlein
Nur rund 10.000 Muslime leben in Tschechien. Doch die Minderheit bekommt immer öfter den Unmut der Bevölkerung zu spüren. Öffentliche Anfeindungen, Schulverweise muslimischer Kinder und mediale Hetzkampagnen: Hauptsprachrohr dieser islamfeindlichen Entwicklung in Tschechien ist ausgerechnet Staatsoberhaupt Milos Zeman.
"2014-11-11T09:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:12:54.586000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tschechien-islamfeindlichkeit-nimmt-zu-100.html
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Der Tanker wird schlanker
Siemens will sich von seiner Kraftwerkssparte trennen - ein wichtiger Teil von Joe Kaesers Plan, seinen Konzern zu verschlanken. (imago images / Rainer Weisflog) Tobias Armbrüster: Viel Bewegung, viel Wirbel gibt es derzeit beim Industriekonzern Siemens. So wird heute nicht nur die Halbjahresbilanz vorgelegt, sondern auch der geplante Umbau des Konzerns erläutert. Günter Hetzke aus unserer Wirtschaftsredaktion, was ist hier bereits bekannt? Günter Hetzke: Ja, gestern tagte ja der Aufsichtsrat und danach wurde schon mitgeteilt, dass sich Siemens von seiner Kraftwerkssparte trennt, sie auch neu gestaltet und die neue Gesellschaft dann an die Börse bringen will. Armbrüster: Kommt dieser Schritt überraschend? Hetzke: Spekuliert wurde darüber schon länger. Denn Siemens-Chef Joe Kaeser baut den Konzern gerade um, lässt kein Stein auf dem anderen. "Vision 2020+" heißt das Gesamtkonzept, mit dem Siemens wettbewerbsfähig bleiben oder wettbewerbsfähig gemacht werden soll, was ja nicht zuletzt auch für die immerhin noch rund 380.000 Mitarbeiter von Siemens wichtig ist – also, nicht nur für die Kapitalseite. Grob zum Ziel: Siemens ist ja auf sehr vielen unterschiedlichen Geschäftsfeldern tätig, von der Gesundheit über Energie bis zum Verkehrsbereich, gilt – ähnlich wie ThyssenKrupp - als Mischkonzern und schwerfälliger Tanker. Und genau diese Schwerfälligkeit, die soll abgeschafft werden. Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG, baut den Münchener Konzern um (dpa/Sven Hoppe) Armbrüster: Wie will Siemens denn flotter als bisher handeln? Hetzke: Der Konzern hat sich in sechs Bereiche, sechs Geschäftsfelder, neu gegliedert, in die Automatisierung von Fabriken beispielsweise oder die Vernetzung von Gebäuden oder Städten, also Infrastruktur. Bei der Zugsparte, da müssen wir noch schauen, was da genau geplant ist nach der geplatzten Fusion mit der französischen Alstom. Aber, um im Bild zu bleiben, aus dem einen Tanker sollen sechs flottere Schiffe werden, die selbstständiger als vorher tätig werden können, mehr Freiheiten bekommen. Und um den Ehrgeiz der einzelnen Chefs anzustacheln, wurde die Devise ausgegeben: Je besser die Zahlen, umso größer die Freiheiten. Armbrüster: Und eines dieser Schiffe ist dann die Kraftwerkssparte? Hetzke: Genau, wobei die Sparte dann rechtlich eigenständiger segelt als andere. Dieser Bereich steckt ja schon seit einiger Zeit in der Krise. Vor allem große Turbinen für Gas- oder Kohlekraftwerke sind derzeit nicht so gefragt. Eine Zeit lang war ja sogar von einem Verkauf dieser Sparte an einen japanischen Konzern die Rede. Nun also die Abspaltung, das heißt, die neue Energiesparte "Gas & Power" soll im nächsten Jahr eigenständig an die Börse gebracht werden, gehört dann nicht mehr zur Siemens AG. Eingegliedert in diese neue Gesellschaft wird dann der gesamte Energiebereich und damit auch die Windkraftsparte von Siemens. Armbrüster: Was heißt das nun für die Arbeitsplätze? Hetzke: Das wird turbulent. Denn auf der einen Seite will Siemens bundesweit rund 10.000 Stellen streichen, auf der anderen Seite mehr als 20.000 neue Arbeitsplätze schaffen. In der Summe sieht das Gesamtbild damit gut aus, aber für den einzelnen Mitarbeiter kann das böse ausgehen, je nach dem, wo er arbeitet ist eine Versetzung – von der Verwaltung in die Produktion, in den digitalen Bereich beispielsweise - nicht einfach so möglich. Armbrüster: Und laufen die Gewerkschaften gegen diese Pläne nun Sturm? Hetzke: Nein, sie tragen das Konzept mit. Es gibt zwar Unwägbarkeiten, so die Arbeitnehmervertreter. Aber das neue Konzept bietet bessere Perspektiven für die Beschäftigten als alle anderen Pläne. Aber ob die Rechnung dann wirklich am Ende aufgeht für den Konzern und für die Beschäftigten, das weiß derzeit niemand.
Günther Hetzke im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Siemens-Chef Joe Kaeser verfolgt einen ehrgeizigen Plan: Der Mischkonzern soll seine Schwerfälligkeit ablegen. Dafür will sich Siemens von seiner Kraftwerkssparte trennen und den Bereich an die Börse bringen. Die Gewerkschaften gehen mit - trotz aller Risiken für die Arbeitsplätze.
"2019-05-08T08:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:50:54.104000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/siemens-der-tanker-wird-schlanker-100.html
90,978
Die Standortsuche für radioaktiven Abfall
Das atomare Zwischenlager Gorleben - hier werden 113 Castorbehälter rund um die Uhr elektronisch überwacht (picture alliance / dpa / Sina Schuldt) Deutschland sucht ein Endlager. Für den giftigsten Müll, der je produziert wurde. Für hochradioaktiven Abfall, für die Treibstoffreste aus deutschen Kernkraftwerken. Weltweit gibt es noch kein einziges betriebsbereites Endlager für diesen Müll. Am Montag veröffentlicht die Bundesgesellschaft für Endlagerung, die BGE, den "Zwischenbericht Teilgebiete": eine erste, sehr grobe Auswahl von 70, 80, vielleicht 90 Gebieten, deren Untergrund sich für ein Endlager eignen könnte. Aktuell lagert der hochradioaktive Atommüll in 18 oberirdischen Lagerhallen. Verteilt über ganz Deutschland. Das wohl bekannteste, das Zwischenlager Gorleben, nahm den Betrieb 1995 auf. Hinein geht es nur nach einer Überprüfung durch das niedersächsische Landeskriminalamt und einer sorgfältigen Personen- und Rucksackkontrolle vor Ort. Aufgereiht wie auf einem Schachbrett stehen 113 Abfallbehälter in der Halle. Jeder einzelne über 100 Tonnen schwer. Die Castor- oder HAW, also Highly Active Waste-Behälter, werden rund um die Uhr elektronisch überwacht. Zeitbombe Zwischenlager? - Atommüll in der Warteschleife7.000 Kubikmeter Atommüll – irgendwo muss diese Altlast aus deutschen Kernkraftwerken hin. Bei der Suche nach einem geeigneten Endlager steht Deutschland wieder fast bei Null, und so werden die Zwischenlager ungeplant zu Langzeit-Lösungen. Welche Risiken damit verbunden sind, muss dringend geklärt werden. "Wir wollen immer die doppelte Sicherheit haben. Und aus dem Grund montieren wir über den Primardeckel noch diesen Sekundärdeckel. Und zwischen diesen beiden Deckeln, da herrscht ein Überdruck, da sind sechs Bar Helium drin. Das heißt, wir können zu jedem Zeitpunkt garantieren, dass Primär- und Sekundärdeckel dicht sind. Denn ansonsten würden wir das über einen Druckabfall merken." Erst 2031 soll ein Endlagerstandort feststehen Dr. Tristan Zielinski ist Referent für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung. Bis zu 300 Grad heiß seien die Abfälle in den Castorbehältern, aber in Gorleben und den 17 anderen Atommüllzwischenlagern sicher untergebracht. Die Hallen würden einem Flugzeugabsturz zwar nicht standhalten können. Die Behälter aber schon. "Man hat beispielsweise getestet, ob der Deckelbereich eines Behälters den Aufprall einer Triebwerkswelle übersteht. Und da war der sichere Einschluss des radioaktiven Materials stets gewährleistet." Noch wird in deutschen Kraftwerken täglich hochradioaktiver Müll produziert, 2022 soll der letzte deutsche Atommeiler abgeschaltet werden. Rund 27.000 Kubikmeter hochradioaktiver Müll werden dann insgesamt entstanden sein, gefüllt in 1.900 Castor- oder HAW-Behälter. Der Müll, der noch Jahrmillionen strahlt, muss erst einmal in den oberirdischen Zwischenlagern aufbewahrt werden. Denn erst 2031 soll ein Endlagerstandort feststehen, frühestens 2050 wird die Anlage in Betrieb gehen. Wenn der enge Zeitplan der Suche wirklich eingehalten wird. Es ist der zweite Anlauf, der die Fehler der Vergangenheit, die Fehler der ersten Suche, vermeiden soll: über 30 Jahre lang hatte die deutsche Politik allein auf den Salzstock im niedersächsischen Gorleben als Endlager für hochradioaktiven Müll gesetzt. Ein Vergleich unterschiedlicher Standorte wie in Frankreich, der Schweiz, wie in Schweden oder Finnland fand nicht statt. Dazu kam: Die Entscheidungen bei der bisherigen Suche in Gorleben fielen hinter verschlossenen Türen und die Politik übte Druck auf die am Endlagerprojekt beteiligten Wissenschaftler aus. Die Mängel des Salzstocks Gorleben wurden heruntergespielt. Auch dagegen richteten sich die Anti-Atom-Proteste, vor allem im Wendland, in Gorleben. Ein Stollen des Erkundungsbergwerks Gorleben. In Norddeutschland, wo Gorleben liegt, gib es ein starkes Vorkommen von Salzformationen. (imago/photothek/Thomas Trutschel) Auslöser des radikalen Kurswechsels in der deutschen Atompolitik ist die Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011. Kurz zuvor hatte Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer schwarz-gelben Regierung noch die Laufzeiten der AKWs verlängert, den rot-grünen Ausstieg rückgängig gemacht. Nach Fukushima werden dann acht von 16 AKWs sofort abgeschaltet – und der endgültige Ausstieg aus der Kernkraftnutzung bis 2022 vereinbart. Eine Endlagerkommission erarbeitet von da an die Grundzüge des Standortauswahlgesetzes. Am 28. Juni 2013 wird es mit breiter Mehrheit vom Bundestag beschlossen. Umweltminister ist damals Peter Altmaier. "Wir haben jetzt einen verlässlichen Rahmen, der sicherstellt, dass wir das beste Endlager suchen und nicht eines, das aus politischen Gründen favorisiert wird." Die Verharmlosung des AtommüllsWird es den Menschen in einer Million Jahren noch geben? Seinen Atommüll jedenfalls schon. Dabei könnten sich die langlebigen radioaktiven Stoffe zu harmloseren "zermahlen" lassen. In den Jahren danach werden neue Behörden gegründet und die Zuständigkeiten genau abgesteckt - weitgehend geräuschlos und von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Am Montag, den 28. September, wird die Debatte über die neue Endlagersuche aber wieder an Fahrt aufnehmen. Dann wird die BGE, die Bundesgesellschaft für Endlagerung, ihren "Zwischenbericht Teilgebiete" bekanntgeben. "Teilgebiete sind regional unterschiedlich große Gebiete von homogener geologischer Struktur, entweder im Salz, im Ton oder im kristallin, das ist landläufig Granit, indem wir vermuten können, dass wir dort ein Endlager auffahren, das über sehr lange Zeiträume sehr stabil und sehr sicher dort stehen kann." Bremen wird vermutlich zu den Teilgebieten gehören Steffen Kanitz leitet den Bereich "Standortauswahl" bei der BGE. Wie viele Teilgebiete im ersten Verfahrensschritt ausgesucht werden, will er nicht sagen. Nur so viel: Es handele sich um eine hohe zweistellige Zahl. Alle verfügbaren geologischen Daten des deutschen Untergrunds wurden von den über 70 Geologinnen und Geologen der BGE durchforstet. "Wenn sie von Norden nach Süden durchgehen, dann ist es erdgeschichtlich genau so, dass sie in Norddeutschland ein starkes Vorkommen von Salzformationen haben, also Salzablagerungen in großen Mächtigkeiten. Weiter südlich gibt es dann in den Bundesländern beispielsweise auch Nordrhein-Westfalen, aber auch anderen Tonsteinformationen von großer Mächtigkeit. Wir haben Granitvorkommen in Bayern, teilweise in Baden-Württemberg, teilweise aber auch in Sachsen." Natürlich gibt es auch Orte, die für die Suche nicht infrage kommen: Erdbeben- und Bergbaugebiete und Gegenden, die von Vulkanismus geprägt sind. Im ersten Schritt, betont Kanitz, werde ein sehr grobes Raster angelegt. Es geht einzig und allein um die geologischen Begebenheiten unter Tage und erst im nächsten Schritt darum, ob die Städte, Fabriken oder Kulturdenkmäler darüber einem potenziellen Endlager im Wege stünden. "Das heißt also, wenn wir gleich gute Wirtsgesteinkonfigurationen in endlagerrelevanten Tiefen haben, werden wir diejenigen bevorzugen, wo es keine große Siedlungsstruktur gäbe, wo es keine schutzwürdigen Kultur- und Landschaftsdenkmäler gäbe." Fehlende Endlager für Atommüll - Report warnt vor hohem SicherheitsrisikoDie Atomkraft gehört in vielen Ländern noch immer zum Energiemix dazu. Doch was mit dem Atommüll passiert, ist nicht geklärt – kein einziges Land betreibt bisher ein Endlager. Und die Zwischenlager würden langsam gefährlich voll, warnt ein Report der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Hansestadt Bremen wird deshalb aller Voraussicht nach zu den Teilgebieten gehören, die in der ersten Runde bekannt gemacht werden. Immerhin liegt unter Bremen ein mächtiger Salzstock. Dass die Stadt aber tatsächlich im Rennen bleibt, ist unwahrscheinlich. Die Kriterien, die ein Endlager erfüllen muss, sind im Standortauswahlgesetz festgeschrieben. Trotzdem werde es immer wieder Abwägungsspielräume geben, sagt Steffen Kanitz von der BGE. "Also wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben zu glauben, nur, weil es feste Kriterien mit festen Werten gibt, spielt der Faktor Mensch keine Rolle. Das tut er. Und wir müssen insofern sicherstellen, dass das immer durch eine Qualitätssicherung geht, die zum einen intern durch unterschiedliche Bearbeiter funktioniert, aber auch extern durch Fachleute. Aber vor allem eben auch durch die Beteiligungsformate." Zuständig für diese Beteiligungsformate und für die Aufsicht über das Suchverfahren ist das Bundesamt für die sichere Endlagerung, kurz: BASE, mit Sitz in Berlin. Geleitet wird es von Wolfram König, dem einstigen Chef des Bundesamts für Strahlenschutz. König gehörte zu den ersten, die ein neues Suchverfahren, einen bundesweiten Standortvergleich eingefordert hatten. "Wir haben die Aufgabe, als BASE darauf zu achten, dass der Vorhabenträger, die Bundesgesellschaft für Endlagerung die gesetzlichen Vorgaben umsetzt und einhält. Und wir haben die Aufgabe, im Verfahren die Öffentlichkeitsbeteiligung sicherzustellen. Wir müssen darauf achten, dass die Beteiligten dem Anspruch, dem hohen Anspruch des Gesetzes gerecht werden, die Grundlagen für eine Beteiligung auch herzustellen, nämlich alles offenzulegen und dann auch die Diskussionen zu ermöglichen über diese Ergebnisse." Alles wird archiviert und später abrufbar sein Im ersten Halbjahr 2021 soll in drei "Teilgebietskonferenzen" darüber diskutiert werden, wie und mit welchen Methoden die Bundesgesellschaft für Endlagerung die Teilgebiete bestimmt hat. Schon Mitte Oktober findet dazu in Kassel ein erstes Vorbereitungstreffen statt. An die betroffenen Kommunen hat Wolfram König schon Einladungen verschickt. Aber auch alle anderen, so sieht es das Standortauswahlgesetz vor, sind willkommen. Wegen des erwarteten großen Andrangs und wegen der Corona-Pandemie wird die Auftaktkonferenz in Kassel im Internet übertragen – mit der Möglichkeit, sich online zu beteiligen. Alles werde archiviert und später noch abrufbar sein, erklärt Wolfram König. Wie sich das Plenum in Kassel dann organisiert, welche Arbeitsgruppen gebildet werden und wie mit Abstimmungen verfahren wird, darüber bestimmt nicht das BASE, sondern die Teilnehmenden vor Ort. Entscheidend für das weitere Suchverfahren sind dann aber erst die drei Konferenzen im kommenden Jahr. Denn die Ergebnisse dieser Debatten soll die Bundesgesellschaft für Endlagerung ins weitere Verfahren einspeisen. "Das Gesetz fordert alle Beteiligten auf, immer wieder zu fragen, ob es inzwischen Erkenntnisse gibt, die ein anderes Vorgehen notwendig machen. Es ist ein sogenanntes selbstlernendes System, was als Anspruch an alle formuliert wird. Etwas, was ich bisher auch nicht unbedingt aus dem behördlichen Zusammenhängen kenne, das ist auch ein neues Momentum." Dauerthema Atommüll - Streit um Sicherheit von ZwischenlagernDie Endlager-Suche für hoch radioaktiven Atommüll wird mindestens noch Jahrzehnte dauern. Doch der Widerstand der Bevölkerung in Gemeinden rund um bestehende Zwischenlager wächst. Anderswo in Deutschland neue Zwischenlager zu bauen, lehnt der Chef des Bundesamts für kerntechnische Entsorgungssicherheit aber ab. Zusätzlich sollen, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, sogenannte Rücksprünge im Suchprozess möglich sein. Über das Ergebnis jedes einzelnen Schritts im Suchverfahren muss der Deutsche Bundestag entscheiden. Zum Beispiel dann, wenn die Bundesgesellschaft für Endlagerung aus den vielen benannten Teilgebieten den dann enger gefassten Kreis der sogenannten Standortregionen ausgewählt hat. Auch in dieser Phase soll das BASE dafür sorgen, dass Menschen vor Ort das Verfahren kritisch begleiten können. "Schon dort ist, um eine Beteiligung gut zu gestalten, vorgegeben, dass jeweils diese Regionen Geschäftsstellen bekommen, externe wissenschaftliche Unterstützung, um sich selber auch eine Meinung bilden zu können. Also es gibt verschiedene Formate von Gremien, die eingerichtet werden, Konferenzen, die sicherstellen sollen, dass die verschiedenen Akteure dieser Region dann auch mit den mit dem Vorhabenträger mit anderen in wirklich eine fachliche Diskussion einsteigen können." In den Standortregionen finden obertägige Erkundungen statt. Mit Spezialfahrzeugen voller Messtechnik wird der Untergrund durchleuchtet, werden vielleicht schon erste Probebohrungen gemacht. Dann wird die Auswahl weiter eingegrenzt: Die BGE benennt mindestens zwei Orte, die auch unter Tage erkundet werden. Vorausgesetzt, der Bundestag gibt grünes Licht dafür. Die Kommunen und Regionen werden viele Fragen haben Begleitet wird die gesamte Suche schon heute durch eine weitere Institution: das Nationale Begleitgremium. 18 Mitglieder hat das NBG. Aus Politik und Wissenschaft, von Kirchen und Umweltgruppen. Mit dabei sind auch drei zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger. Das NBG fungiert als Mittlerin zwischen dem "Bundesamt für die sichere Endlagerung" und der "Bundesgesellschaft für Endlagerung" auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite. Geleitet wird das Nationale Begleitgremium vom Professor für Technikfolgenabschätzung, Armin Grunwald, und der Professorin für Umwelt- und Klimapolitik, Miranda Schreurs. Die US-Amerikanerin forscht seit den 1990er-Jahren zur deutschen Klima- und Energiepolitik und lehrt an der Technischen Universität München. "Aus Sicht des Nationalen Begleitgremiums ist es so, dass wir einen Prozess sehen, der sich entwickelt. Er entwickelt sich besser als das, was wir in der Vergangenheit gesehen haben, als Prozesse total ‚top-down‘ liefen. Und alles wurde von der Verwaltung, von den Bürokraten entschieden. Und heutzutage hat man einen viel offeneren Prozess als in der Vergangenheit." Schreurs bezweifelt jedoch, dass den Kommunen genug Zeit bleibt, um sich in das Verfahren, in die Methodik und die Feinheiten der Abläufe einzuarbeiten, um dann Anfang 2021 in den Teilgebietskonferenzen gute Fragen stellen zu können. Dazu kommt: das Nationale Begleitgremium hat zwar ein Akteneinsichtsrecht für alle Dokumente des BASE und der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Aber, so Miranda Schreurs, das Budget und auch die Personalstärke des NBG würden kaum ausreichen, um zum Beispiel nach Bekanntgabe des "Zwischenberichts Teilgebiete" alle Geodaten der BGE auch einsehen und prüfen zu können. Trotz der Hilfe von externen Geologinnen und Geologen. "Es wird sehr wichtig nach der Veröffentlichung des Zwischenberichts, dass wir diese Möglichkeit haben. Wenn Regionen sagen: ‚Wir möchten wissen: was ist eigentlich mit unserer Region? Aus Sicht unserer Geologen hat man hier eine Störung! Warum sind wir drin?" Dann möchten wir natürlich Akteneinsicht nehmen, um das anzuschauen!" Schon ganz bald rechnet Miranda Schreurs mit diesen Anfragen von Kommunen und Regionen. Wenn 60, 70, vielleicht 80 Teilgebiete im Zwischenbericht der BGE auftauchen, befürchtet sie, wird das NBG kaum in der Lage sein, alle Anfragen zu beantworten. Einmal im Monat kommen die NBG-Mitglieder zusammen, diskutieren über die neuesten Entwicklungen, über neue Gutachten, neue Anfragen aus der Zivilgesellschaft. Für eine Aufwandsentschädigung von 500 Euro. Das mache es schwer, das Endlagersuchverfahren auf gleicher Augenhöhe mit BGE und BASE zu begleiten. "Man macht das am Wochenende, man macht das abends, man nimmt ein, zwei Tage in der Woche und packt das obendrauf, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Aber wir haben etwas, was vielleicht die BGE und das BASE nicht haben, nicht auf dem gleichen Niveau: und das ist ein Vertrauen in der Bevölkerung. Und das hat einen Wert!" Dieses Vertrauen wird im neuen Suchverfahren eine zentrale Rolle spielen. Nachdem die letzte, nur auf Gorleben fixierte Suche vor allem Misstrauen gesät hat. Vor allem im Wendland, bei den Aktivistinnen und Aktivisten des Gorleben-Widerstands, ist dieses Misstrauen noch immer groß. Wolfgang Ehmke, Sprecher der "Bürgerinitiative Umwelt Lüchow-Dannenberg": "Alle wissen, dass dieses Standortauswahlgesetz politisch ausgehandelt wurde. Also auch die geowissenschaftlichen Suchkriterien wurden politisch ausgehandelt. Union, SPD und Grüne haben ja gemeinsam dieses Gesetz abgestimmt. Und einer der Aspekte war wahrscheinlich, müssen wir so annehmen, das so zu drehen, dass Gorleben möglichst lange im Spiel bleibt. Wir finden das unglaublich unfair, aber finden kaum Gehör!" Im Juni 1980 gab es Proteste im Hüttendorf der "Republik Freies Wendland" nahe Gorleben, das Atomkraftgegner aus Protest gegen das geplante Atommüll-Lager errichtet hatten (picture-alliance / dpa / Dieter Klar) Bayern hält im Koalitionsvertrag fest, dass ein Endlager nicht denkbar ist Tatsächlich hatten vor allem Baden-Württemberg und Bayern bei den Verhandlungen über das Gesetz darauf bestanden, Gorleben weiter im Rennen zu lassen. Ein Grund zur Sorge sei das aber nicht, heißt es von Wolfram König, dem Leiter der neuen Suche. Wenn der Salzstock nicht geeignet sei, würde er früher oder später ohnehin ausscheiden. Und zwar aus wissenschaftlichen und nicht aus politischen Gründen. Sein Gegenspieler aus dem Wendland kritisiert aber auch, dass die Zivilgesellschaft auf den geplanten Konferenzen kaum auf Augenhöhe mit dem BASE oder der BGE verhandeln könne. Denn dazu fehle vielerorts die wissenschaftliche Expertise über komplexe geologische Zusammenhänge. Noch schärfer urteilt Jochen Stay von der Initiative "ausgestrahlt" über die neue Suche. "Es gibt Konferenzen, dort kann viel geredet werden. Aber diese Konferenzen haben letztendlich nichts zu sagen! Die Ergebnisse dieser Konferenzen kann die Bundesgesellschaft für Endlagerung letztendlich alle verwerfen und man muss sich darüber nicht verständigen über diese Einwände. Und mit der Wissenschaftsbasiertheit hat es immer dann ein Ende, wenn in jeder Phase der Bundestag entscheidet, welche Gebiete weiterkommen und wir jetzt schon aus unterschiedlichen Gebieten, nicht nur aus Bayern, sondern auch aus anderen Gebieten die Bundestagsabgeordneten vernehmen können, die sagen: ‚Na, ich werde dann schon im Parlament dafür sorgen, dass mein Wahlkreis da raus ist‘." In Bayern haben CSU und die Freien Wähler bereits im Koalitionsvertrag festgehalten, dass ein Endlager in ihrem Bundesland gar nicht denkbar ist. Und vor wenigen Tagen stellte Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber das ganze Suchverfahren in Frage. Der Politiker der Freien Wähler verwies erneut auf Gorleben als vermeintlich geeignetes Endlager. Und das, obwohl die Untersuchungen dazu längst nicht abgeschlossen sind, obwohl nicht Bayern, sondern die Bundesgesellschaft für Endlagerung diese Frage beantworten muss. Obwohl auch Bayern dem Standortauswahlgesetz im Bundesrat zugestimmt hat. Jochen Stay von der Initiative "ausgestrahlt. "Umso wichtiger ist es, eine gesellschaftliche Verständigung hinzubekommen und nicht am Ende doch wieder von oben herab zu denken: ‚Wir drücken das jetzt an irgendeinem Standort durch!‘ Das ist ja schon mal schiefgegangen. Und meine Befürchtung ist, dass es auf die Weise, wie man es jetzt versucht, auch wieder schiefgehen wird." Rebecca Harms weiß um das Misstrauen. Ende der 1970er-Jahre hat sie die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mitgegründet und jahrzehntelang gegen das alte Suchverfahren gekämpft. Sie saß für die Grünen im niedersächsischen Landtag und im EU-Parlament. Sie ist sich sicher, "dass das, was Wolfram König vom BASE macht, dass man das in überhaupt keiner Weise vergleichen kann, geschweige denn gleichsetzen kann mit dem, wie Behörden und Experten aufgetreten sind in den 70er-Jahren. Das ist wirklich ein Unterschied wie Tag und Nacht. Und deswegen bestehe ich auch darauf, dass wir diesem neuen Verfahren überhaupt erstmal eine Chance geben müssen!" Am Ende komme es darauf an, ob und wie sich die Menschen auf den Teilgebiets- und später auf den Standortkonferenzen ins Verfahren einmischen, so Rebecca Harms. Und ob die Ergebnisse dieser Debatten in den Suchprozess für ein deutsches Atommüllendlager einfließen, ob die Versprechen eines transparenten und wissenschaftsbasierten Verfahrens wirklich eingehalten werden.
Von Axel Schröder
Wenn 2022 die letzten deutschen Atommeiler vom Netz gehen, stellt sich die Frage: An welchen Standorten kommt ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll infrage? Eine Vorauswahl will die Bundesgesellschaft für Endlagerung nun bekannt geben. Das Problem: Eine erfolgreiche Suche scheint fast unmöglich.
"2020-09-27T18:45:00+02:00"
"2020-09-29T16:40:35.235000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlager-fuer-atommuell-die-standortsuche-fuer-radioaktiven-100.html
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"Ein beispielloser Affront gegenüber Merkel"
Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Rede von CSU-Chef Horst Seehofer auf dem Parteitag in München. (picture alliance / dpa / Sven Hoppe) Gerd Breker: Zehn Jahre und ein Tag ist sie Kanzlerin, die Physikerin der Macht. Für Angela Merkel war es ein weiter Weg, aber ein gerader Weg von Kohls Mädchen zur Kanzlerschaft, und dann behandelt wie ein Schulmädchen. Horst Seehofer, der CSU-Chef, nutzte den Parteitag letzten Freitag, um seine Kanzlerin zu belehren. Eifrige Kollegen, die normalerweise die Stoppuhr nutzen, um die Länge des Beifalls zu messen, sie kamen auf ganze 13 Minuten, die sich Angela Merkel, auf der Bühne stehend, die Belehrung anhören durfte. Dann war es ihr genug. Sie hatte offenbar Ohren und Nase voll. - Am Telefon sind wir nun verbunden mit Michael Spreng, ehemaliger Chefredakteur der "Bild"-Zeitung und Wahlkampfberater von Edmund Stoiber. Guten Tag, Herr Spreng. Michael Spreng: Guten Tag, Herr Breker. Breker: War das ein Zickenkrieg zweier Schwestern, die gar nicht merken, dass sie sich dabei selber schaden? Spreng: Nein. Ich glaube, der Begriff Zickenkrieg ist zu harmlos. Ich finde, was Horst Seehofer gemacht hat, war ein beispielloser Affront, denn er beschädigt damit die Amtsautorität der Bundeskanzlerin. Wie soll Frau Merkel in der Welt Respekt genießen, wenn sie sich zuhause vom Chef einer Regionalpartei so abkanzeln und demütigen lassen muss. Politikberater Michael Spreng (pa/ZB) Breker: Dann muss die Not für Horst Seehofer aber groß sein. Fürchtet er um die absolute Mehrheit in Bayern? Spreng: Ich glaube, das spielt eine Rolle, aber es spielt auch eine andere Rolle. Ich glaube, das ist auch eine charakterliche Frage. Es ist ja bekannt, dass er in Bayern auch ähnlich mit seinen Ministern umspringt und sie öffentlich demütigt, und er hat wohl geglaubt, er hätte jemand aus seinem Kabinett vor sich, als er so mit der Bundeskanzlerin umgesprungen ist. Breker: Offenbar will Horst Seehofer zumindest in Bayern so eine Art Brandmauer gegen die AfD ziehen. Kann das gelingen? Spreng: Es gibt ja einige Beispiele aus der Geschichte deutscher Landtagswahlen, dass das meist nicht gelingt, sondern dass je weiter eine konservative Partei versucht, rechten Gedanken nachzulaufen, umso größer wird die Gefahr, dass das Original gewählt wird. So ist es ja einmal in Baden-Württemberg passiert, es gibt auch andere Beispiele. Ich glaube nicht, dass diese Taktik aufgeht. "Sie hat die Chance, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen" Breker: Die Popularität der Bundeskanzlerin, sie fällt, in der Bevölkerung, aber auch in der Union. spreng: Ja! Es gibt starken Widerstand, auch in der CDU, gegen ihre Flüchtlingspolitik. Aber unabhängig davon findet die Mehrheit der Bevölkerung und erst recht der CDU nach wie vor Angela Merkel als Bundeskanzlerin gut. Es gibt so eine Stimmung wie "Frau Merkel ist prima, aber sie muss zur Vernunft kommen". Nur zu der Vernunft, zu der ihr einige raten, will sie nicht kommen. Sie will keine Obergrenzen nennen und sie will auch nicht von ihrer offenen Politik des vergangenen Sommers abgehen. Da ist ein Dissens. Breker: Ihre Flüchtlingspolitik, kann das die Kanzlerin durchhalten, oder ist sie nicht schon klammheimlich dabei und überlässt ihrem Innenminister, da Grenzen zu ziehen? Spreng: Ich glaube, es wird entscheidend sein, wie sich die Lage im Frühjahr darstellt. Frau Merkel hat jetzt über den Winter einige Monate Zeit, an der Sicherung der Außengrenzen zu arbeiten, mit der Türkei zu verhandeln, die Lage in den Flüchtlingslagern zu verbessern. Wenn aber im Frühjahr erneut Hunderttausende von Flüchtlingen an die deutsche Grenze kommen, dann kann es eng für sie werden. Und in der Zeit sind ja dann auch drei wichtige Landtagswahlen für die CDU. Das wird die Frage sein oder das wird der Termin sein, an dem man die Frage beantworten kann. Breker: Die Nagelprobe dafür, ob der Stern der Kanzlerin sinkt, ob wir eine Art Kanzlerinnendämmerung mitmachen? Spreng: Ja. Wir haben es ja bei Gerhard Schröder erlebt, der damals über Nordrhein-Westfalen gestolpert ist, über die Wahlniederlage. Insofern besteht die Gefahr, dass Baden-Württemberg Angela Merkels Nordrhein-Westfalen werden könnte. Aber so weit ist es noch nicht. Nach wie vor hat sie die Chance, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, und zwar ohne ihre Prinzipien aufgeben zu müssen, und das wäre für sie auch das Gefährlichste, denn dann würde sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren und das ist ihr stärkstes Kapital. Nagelprobe Europäische Flüchtlingspolitik Breker: Die Flüchtlingspolitik der Angela Merkel war eine relativ einsame Entscheidung, ganz anders als sie sonst agierte. Sonst hat sie abgewartet, Stimmung aufgenommen, und die Physikerin der Macht trifft eine einsame Entscheidung. Hat sie sich verzockt damit? Spreng: Ja, sie ist erstmalig ins Risiko gegangen, was bisher nicht ihre Art war, gespeist aus ihrer Haltung, auch aus Emotionalität, aber rational basiert. Sie weiß und sie ist zur Erkenntnis gekommen, die Flüchtlingskrise ist national nicht zu lösen, also erweckt sie auch nicht den Eindruck. Und das wirft sie auch ihren internen Kritikern vor, die so tun, als könne man das national lösen, was nicht geht. Insofern, wie soll man sagen, ist sie auf der vernünftigeren Seite. Breker: Aber ist es nun die Nagelprobe, ob es gelingt, eine Art europäische Flüchtlingspolitik hinzubekommen, oder nicht? Spreng: Ja, das ist die entscheidende Frage. Wenn das scheitert, wenn die anderen europäischen Staaten sich weiter verweigern, wenn die Hotspots nicht funktionieren, wenn es mit der Türkei, mit der Einigung mit der Türkei nicht klappt, dann würde ja der Plan von Angela Merkel scheitern. Und wenn der Plan scheitert, gerät auch sie in die Gefahr des Scheiterns. Breker: Die Einschätzung von Michael Spreng war das. Er ist Politikberater und war Wahlkampfberater von Edmund Stoiber. Herr Spreng, ich danke für dieses Gespräch. Spreng: Ich danke, Herr Breker. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Spreng im Gespräch mit Gerd Breker
Horst Seehofer hat mit seiner Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik auf dem CSU-Parteitag die Amtsautorität der Bundeskanzlerin beschädigt, findet Politikberater Michael Spreng. Seehofer habe sie gedemütigt, sagte er im DLF. Merkel müsse dennoch an ihrer Flüchtlingspolitik festhalten - sonst verliere sie ihre Glaubwürdigkeit.
"2015-11-23T13:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:10:34.351000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/seehofer-auf-dem-csu-parteitag-ein-beispielloser-affront-100.html
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Mutkos Wahrheiten
Russlands Präsident Wladimir Putin posiert mit russischen Olympiasiegern in Sotschi 2014. (AFP - MIKHAIL KLIMENTYEV) Doping auch bei den russischen Olympiasiegern 2014 in Sotschi? Russlands Sportminister Vitalij Mutko weist das heute als "absurd" und "unbegründet" ab. Er vertraue den russischen Athleten. Und auch in dem vor zwei Wochen aufgezeichneten ARD-Interview sagt er, Russland habe im Gegenteil alles darauf gesetzt, eben gerade bei den Winterspielen ehrliche Medaillen zu gewinnen. Ja, Russland habe ein Doping-Problem, so der Minister, aber: "Als wir uns auf Sotschi vorbereitet haben, da haben wir den Skisport revolutioniert. Wir wussten, dass wir in der Heimat keine falschen Siege wollen." Wiederholt spricht Mutko in dem ARD-Interview, wie schon in früheren Stellungnahmen, von einem "menschlichen Faktor", der für das Doping verantwortlich sei. Eine staatliche Mitschuld lehnt er ab. "(...)Wir hatten nie eine Politik der Vertuschung. Wir haben solche Sportler nie gedeckt und das werden wir auch in Zukunft nie tun." Staatlich gelenktes Doping? Die New York Times wirft Russland in ihrem Enthüllungsbericht jedoch staatlich gelenktes Doping vor. Und auch die WADA hatte in ihrem von der ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping" angestoßenen und im November 2015 veröffentlichten Bericht von staatlichem Einfluss auf das russische Antidoping-Labor geschrieben. ARD-Reporter Hajo Seppelt konfrontiert Mutko in dem Interview damit, sagt, er habe Zeugenaussagen, die belegen, dass Mitarbeiter des Ministeriums dabei halfen, Dopingkontrollen zu verhindern oder sogar zu vertuschen. Dazu Mutko: "Es ist unmöglich, auf die WADA, bzw. auf die Rusada Einfluss zu nehmen. Das sind Märchen, die Sie erzählen." Russland, so Mutko immer wieder, sei "ein offenes Land", bereit zur Zusammenarbeit, um das Vertrauen in den russischen Sport wieder herzustellen. Als Beleg verweist er auf die Maßnahmen, die Russland in den letzten Monaten in Absprache mit der WADA ergriffen habe: Ein Gesetz zur Strafverfolgung von Doping-Sündern werde bald verabschiedet; und unter anderem sei die russische Anti-Doping-Agentur Rusada personell runderneuert worden. Dass als kommissarische Leiterin der Rusada ausgerechnet eine Frau eingesetzt wurde, die früher nachweislich Sportler vorab über anstehende Dopingtests informierte, bekümmert ihn nicht. Aufklärung? Fehlanzeige Doch Aufklärung zählt nicht zu Mutkos Prioritäten, auch das sagt er in dem Interview ganz deutlich: "Das alles wurde untersucht, es wurden bestimmte Entscheidungen gefasst, Ihr Film hat geholfen, wir haben viele Dinge eingesehen. Wir wollen ein starkes, unabhängiges und transparentes Anti-Doping-System aufbauen. Wenn man uns hilft, schaffen wir es schneller. Aber wenn nicht, dann schaffen wir das trotzdem. Und dieses ständige "wer was wo vertuscht hat", das interessiert mich nicht, muss ich ehrlich sagen." Zum Interview mit Vitalij Mutko bei sportschau.de Update: Doping-Experte Hajo-Seppelt machte am Freitagmorgen im Deutschlandfunk klar: Wenn sich die Vorwürfe bestätigen sollten, dass russische Sportler staatlich gedopt worden seien, müssen nicht nur Sportler, sondern auch das russische Nationale Olympische Komitee von den Olympischen Spielen suspendiert werden. Die Zeit der alten Sportstrukturen sei vorbei, betonte der ARD-Dopingexperte im Deutschlandfunk. Der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbunds, Michael Vesper, mahnt angesichts massiver Doping-Vorwürfe gegen Russland zur Zurückhaltung. Vesper sagte ebenfalls am Freitamorgen im Deutschlandfunk, die Berichte seien besorgniserregend. Doch sollte es keine Vorverurteilungen geben. Bei der Aufklärung sei nun die Welt-Anti-Doping-Agentur gefragt.
Von Gesine Dornblüth
Es wäre ein weiterer schwerer Schlag für den russischen Sport: Die New York Times berichtet von staatlich gesteuertem Doping russischer Athleten bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi. Zufällig gerade heute veröffentlicht sportschau.de auch ein Interview, dass ARD-Doping-Experte Hajo Seppelt vor zwei Wochen in Moskau mit Russlands Sportminister Vitalij Mutko aufgezeichnet hat. Darin hat er ihn zu zahlreichen Vorwürfen befragt.
"2016-05-13T12:46:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:11.652000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-und-doping-mutkos-wahrheiten-100.html
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Schulz beschert den Genossen Frühlingsgefühle
Daumen hoch für die SPD: Mit Martin Schulz als Kanzlerkandidaten steigen für die Sozialdemokraten die Umfragewerte und Mitgliederzahlen stetig. (dpa/picture alliance/Kay Nietfeld) 350.000 Nutzer folgen Martin Schulz beim Kurznachrichtendienst Twitter. Angela Merkel zeigt hingegen Mut zur Lücke: Sie besitzt nicht einmal ein Zwitscher-Konto. Doch dass die Kanzlerin und ihre Partei in den Umfragen derzeit so viel schlechter abschneiden als die SPD, hat einen ganz anderen gewichtigen Grund, meint Politikberater Michael Spreng, einstmals Wahlkampf-Stratege der Union im SWR: "Es gibt eine latente Merkel-Müdigkeit und die ist durch Herrn Schulz virulent geworden, ausgebrochen. Insofern könnte auch eine richtige Wechselstimmung entstehen. Es ist jetzt an der CDU, klar zu machen, warum ein Wechsel falsch wäre und da fehlen noch ein paar Argumente von der CDU." Je müder die Union in diesen Tagen wirkt, umso wacher zeigt sich der SPD-Kanzlerkandidat. Der neueste ARD-Deutschlandtrend von Infratest dimap gibt ihm zusätzlichen Rückenwind. Die Genossen verzeichnen einen neuen Mitgliederboom. Und: 65 Prozent der Deutschen befürworten eine Reform der Agenda 2010. Unter Jubel seiner Parteifreunde hatte Schulz Anfang der Woche Korrekturen angekündigt. Unter anderem sollen Arbeitslose, anstatt Hartz-IV-Empfänger zu werden, länger Geld vom Staat erhalten: "Darum werden wir die Möglichkeit, der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen, wenn ich nach dem 24. September Bundeskanzler bin." "Dass ich die SPD glücklich mache, das macht mich glücklich" Dieses Selbstbewusstsein fällt Martin Schulz nicht schwer, angesichts der Umfragen. Erstmals seit über zehn Jahren liegt die SPD wieder vor der Union. Infratest dimap ermittelte diese Woche 31 Prozent für CDU und CSU, das sind drei Prozentpunkte weniger im Vergleich zum Deutschlandtrend Anfang Februar. Die SPD legt hingegen um vier Prozentpunkte zu. Frühlingsgefühle bei den Genossen: Martin Schulz: "Dass ich die SPD glücklich mache, das macht mich glücklich." Michael Spreng analysiert: "Er macht keinen Wahlkampf für Hartz-IV-Empfänger oder für Abgehängte, sondern für diejenigen, die Arbeit haben und diejenigen, die Angst haben, die Arbeit zu verlieren. Das ist ja der Kern, auf den er sich konzentriert. Und da ist das nur konsequent auch das Thema Arbeitslosengeld I wieder in die Debatte einzuführen." Der Politikberater legt zugleich den Finger in die Wunde der Union und erinnert an Lockerungen in der Hartz-IV-Gesetzgebung, die zuletzt ein Christdemokrat initiierte: "Ich erinnere dran, dass die letzte Verlängerung der Bezugsdauer 2008 beschlossen wurde von der Großen Koalition, auf Initiative damals des CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers. Also insofern tut sich die CDU auch ein bisschen schwer, jetzt Herrn Schulz zur Abrissbirne zu erklären." Kellner: Kämpfen und raus aus der Blase Die Linkspartei freut sich einerseits über die Wechselstimmung. Gefragt nach einem klaren Bekenntnis zu Rot-Rot-Grün und der Haltung der Linken zur NATO, weicht Parteichefin Katja Kipping im ARD-Morgenmagazin allerdings aus: "Es gibt ja auch andere internationale Abkommen. Zum Beispiel, dass wir die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit endlich deutlich erhöhen, um weltweit auch was gegen Hungertod bei Kindern zu tun." Doch die Linke ist derzeit in der Defensive. Im Deutschlandtrend verharrt sie bei sieben Prozent. Und seit der Diskussion um die Hartz-IV-Reformen, geht bei der Linkspartei die Angst um, dass ihr schärfstes Schwert gegen die SPD, also die Kritik an der Agenda 2010, stumpf wird. Schließlich die Grünen: Ihre Umfragewerte weisen seit Monaten steil nach unten, bei Infratest dimap kommt die Ökopartei aktuell auf acht Prozent. Dagegen hilft nur eines, meint Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner: "Also kämpfen und raus aus der Blase – das ist eine Aufgabe, für die nächsten Wochen und Monate. Auch mit unserem Wahlprogramm. Und der zweite Punkt ist: Wir müssen ins Gespräch mit den Leuten kommen." Stirnrunzeln auch bei den anderen kleinen Parteien. Die FDP liegt im Deutschlandtrend unverändert bei sechs Prozent. Die Afd kommt auf elf Prozent und verliert einen Prozentpunkt.
Von Barbara Schmidt-Mattern
Mit Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidaten könnte eine richtige Wechselstimmung entstehen, meinen Experten. Schulz beschert den Sozialdemokraten aktuell einen Mitgliederboom und auch im ARD-Deutschlandrend mehr Prozentpunkte als der Union. Auch weil er die richtigen Themen anspricht: beispielsweise eine Reform der Agenda 2010.
"2017-02-24T12:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:35.342000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-schulz-beschert-den-genossen-fruehlingsgefuehle-100.html
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Die Cellistin und Komikerin Rebecca Carrington
Nach ihrem Musikstudium in England und den USA spielte sie in mehreren renommierten Orchestern, gleichzeitig begann sie, als Musik-Kabarettistin aufzutreten und präsentierte 1996 ihre erste eigene Show. Rebecca Carrington und Joe, das Cello, bekamen später Zuwachs durch den Sänger Collin Brown. Heute treten die drei mit unterschiedlichen Programmen auf, in denen sie dem Instrument und der eigenen Stimme Töne aus allen Musikgenres entlocken - von Klassik über Jazz über Folklore bis nach Bollywood. Dass ein Cello und seine Besitzerin zusammen einen grandiosen Dudelsack ergeben können, beweist Rebecca Carrington ebenso wie ihre Musikalität und ihre Vertrautheit mit den großen Komponisten und Musikern der Welt.
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Carringtons bester Freund heißt Joe. Er ist ein ganzes Stück älter als sie, genauer gesagt, mehrere Jahrhunderte. Aber das schadet einem Cello ja bekanntermaßen nicht - ganz im Gegenteil. Die innige Beziehung zwischen Rebecca und ihrem Cello begann, als sie sechs Jahre alt war.
"2011-08-27T10:05:00+02:00"
"2020-02-04T01:51:15.214000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-cellistin-und-komikerin-rebecca-carrington-100.html
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Segen und Fluch der künstlichen Intelligenz
Protagonist Avarus sucht nach seinem verschollenen Bruder (Cristin Wendt/Cross Cult 2019) Der Kampf gegen den Klimawandel geht nicht nur Umweltaktivisten nicht schnell genug; auch die junge Generation macht mobil - siehe: die Fridays-For-Future-Proteste. Wie der Kampf gegen die Zerstörung der Welt in ferner Zukunft aussehen könnte, zeigt die Climate-Fiction-Comic-Serie "Message" als fiktives Szenario. Darin soll eine Künstliche Intelligenz namens "Kiem" die Welt retten. Doch die KI wendet sich wie ein Virus gegen den Menschen als Wurzel des Übels. Der Kampf Mensch gegen Technik beginnt in Gestalt des Soldaten "Avarus". Sie wolle die Geschichte ihres Comic-Debüts nicht unbedingt als Warnung vor dem technologischen Fortschritt verstanden wissen, sagte Cristin Wendt im Deutschlandfunk. Aber: "Man muss alles mit Vorsicht genießen; wir sind alle vernetzt, unsere Daten geben wir frei, alles soll automatisiert werden." Doch die Lösung des Klimaproblems liege in den Händen der Menschen und nicht einer künstlichen Intelligenz. Cristin Wendt kann der aktuellen Fridays-For-Future-Bewegung von Schülerinnen und Schülern gegen die klimnaschutzverdrossene Politik etwas abgewinnen. "Es geht darum, dass wir es uns teilweise zu einfach machen. Wenn wir nichts dagegen tun, dann hat die Zukunft ein böses Ende." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. Cristin Wendt, Ronja Büscher: "MESSAGE 1"Cross Cult, 2019, 80 Seiten, 20 Euro.
Cristin Wendt im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
Die künstliche Intelligenz "Kiem" soll die Welt von der Klimakatastrophe retten - und schlägt doch gegen die Menschen zurück. Was Cristin Wendt im ihrer Comic-Serie "Message" aufgreift, habe eine reale Botschaft, sagte sie im Dlf: "Wir wissen, wer der größte Feind des Klimas ist: Das sind wir."
"2019-03-04T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:40:37.884000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/climate-fiction-comic-message-segen-und-fluch-der-100.html
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Ramsauer: "Lesemöglichkeiten unter Gefängnisbedingungen"
Ein Mottowagen für eine Demonstration gegen TTIP. Abgeordnete haben Schwierigkeiten, Zugang zu den Dokumenten zu bekommen. (dpa / Henrik Josef Boerger) Es sei eine krasse Ungleichbehandlung zwischen den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Mitgliedern des US-Kongresses, stellte der Vorsitzende des zuständigen Bundestagsausschusses, Peter Ramsauer, fest. Letztere haben nämlich Zugang zu den geheimen TTIP-Verhandlungsdokumenten. Nach seinem Gespräch mit EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström forderte er deshalb: "Wir haben klar gemacht, dass eine Behandlung und gegebenenfalls Zustimmung des Deutschen Bundestages nur möglich sein wird, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ungehinderten Zugang zu den Verhandlungsdokumenten bekommen." Bisher dürften nur etwa 130 Beamte der Bundesregierung in der Berliner US-Botschaft die Dokumente einsehen. Und das auch nur zweimal in der Woche von jeweils zehn bis zwölf Uhr. Bei den sogenannten konsolidierten Verhandlungstexten handelt es sich um Papiere, in denen EU und USA ihre jeweiligen Verhandlungspositionen festhalten. Handelskommissarin Malmström habe ihm zugesichert, dass vonseiten der EU-Kommission keine Einwendungen gegen einen Zugang für Bundestagsabgeordnete bestünden, erklärte Ramsauer: "Allerdings müsse ihrer Meinung nach dem - nachdem es sich um gemeinsame Dokumente zwischen EU und USA handelt - die US-amerikanische Seite zustimmen." USA müssen zustimmen Zwar habe der US-Botschafter in Berlin erklärt, dass dem nichts entgegenstehe, so Ramsauer. Bereits gestern sei er aber darüber informiert worden, dass ein Zugang für Abgeordnete wenn, dann nur in den Räumen des Außenministeriums eingerichtet werden könne, "in Gegenwart eines Sicherheitsoffiziers, der den jeweiligen Abgeordneten dann beaufsichtigt, ihm vorher auch das Handy entzieht und ähnliche Dinge. Mein erster Kommentar war: Solche Lesemöglichkeiten unter Gefängnisbedingungen werden wir nicht akzeptieren." Nun liegt es also an der US-Seite, ob die Abgeordneten des Bundestages weitergehenden Einblick erhalten. Hier gibt es allerdings große Vorbehalte, fürchtet man doch, dass Abgeordnete geheime Informationen an die Öffentlichkeit weitergeben könnten. Auch die Abgeordneten im Europaparlament, die TTIP ebenfalls zustimmen müssen, hatten zunächst keinen Zugang zu den Dokumenten erhalten. Erst nach lautstarken Protesten war im Europaparlament ein Leseraum eingerichtet worden, in dem die Parlamentarier unter scharfen Sicherheitsbedingungen Verhandlungstexte einsehen können.
Von Thomas Otto
Die USA sind offenbar einverstanden, dass auch Abgeordnete des Bundestages Einsicht in vertrauliche Texte zu den Verhandlungen über das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP bekommen. Das sagte der CSU-Politiker Peter Ramsauer nach einem Treffen mit EU-Kommissarin Cecilia Malmström in Brüssel. Die Bedingungen seien allerdings nicht akzeptabel.
"2015-11-12T18:10:00+01:00"
"2020-01-30T13:08:52.203000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einsicht-in-ttip-dokumente-ramsauer-lesemoeglichkeiten-100.html
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Spekulationen über Maidan-Heckenschützen
Auf dem Maidan in Kiew erinnern Blumen an die Toten. (dpa / picture alliance / Andrey Stenin) Quelle dieser Anschuldigung ist der estnische Außenminister Urmas Paet, der sich auf die Ärztin Olga Bogomolez beruft. "Sie – Olga Bogomolez – sagte, als Arzt könne man beurteilen, dass das die gleiche Handschrift war. Der gleiche Typ Munition. Und was wirklich sehr beunruhigend ist, ist, dass jetzt die neue Koalition nicht untersuchen möchte, was exakt geschehen ist. Es gibt mehr und mehr Hinweise, dass hinter den Heckenschützen nicht Janukowitsch stand. Dass das jemand von der neuen Koalition war." Oleg Musii, der neue Gesundheitsminister, macht der Kollegin deswegen schwere Vorwürfe. "Das war ein großer Fehler und Irrtum von Olga Bogomolez. Ich verurteile diese Darstellung, ich finde sie nicht anständig. Sie ist falsch und widerspricht allem, was ich mit eigenen Augen gesehen habe." Er wolle eine öffentliche Ermittlung. Die tödlichen Verletzungen bei Demonstranten wie Polizisten seien identisch, das bestätigt auch Gesundheitsminister Musii. Doch seine Schlussfolgerung ist eine ganz andere: "Das zeugt davon, dass ein und derselbe Heckenschütze auf Polizisten und Demonstranten schoss. Aber es ist falsch, dass die Heckenschützen aus den Reihen der Demonstranten kamen. Schon das Zahlenverhältnis zeigt, wie unsinnig das ist. Es wurden 41 Demonstranten erschossen und vier Polizisten. Wenn die Scharfschützen aus den Reihen der Demonstranten gekommen wären, hätten sie weniger Demonstranten getötet und vermutlich sehr viel mehr Polizisten." Oleg Musii, von Haus aus Anästhesist, organisierte drei Monate lang die Rettungseinsätze auf dem Maidan, richtete die Sanitätsstellen ein, koordinierte die Verteilung der vielen gespendeten Medikamente, die Versorgung der Verletzten, den Abtransport der Toten. "Ich habe alle, jeden einzelnen Toten, mit eigenen Augen gesehen. Ich habe sie in das Leichenschauhaus zur Obduktion überstellt. Ich war bei der Protokollierung der Verletzungen anwesend. Ich weiß, wo jedes Opfer gefunden wurde. Deswegen stellt sich die Situation für mich so dar: Über 40 Menschen sind an diesem 20. Februar von Scharfschützen erschossen worden. Ich gehe von mehreren Heckenschützen aus, denn einige Schüsse trafen frontal auf die Körper. 30 bis 40 Prozent der Schüsse sind offenbar von Dächern aus abgegeben worden. Die Verletzungen der vier Polizisten sind identisch mit denen der Demonstranten." Wer hat die Toten auf dem Gewissen? Minister Musii ist überzeugt davon: "Die vielen Toten aufseiten der Demonstranten zeugen davon, dass die Heckenschützen vonseiten des Regimes kamen und auf beide Parteien geschossen haben. Das waren angeheuerte Scharfschützen, die die Regierung eingesetzt hat, um den Konflikt zusätzlich anzuheizen. Sie waren Profis. Solche gibt es beim ukrainischen Geheimdienst und beim russischen. Der provoziert gerade einen möglichen bewaffneten Konflikt, hat die Krimbesetzung vorbereitet. Dass Janukowitsch nach Russland geflohen ist, zeugt davon, dass er für den russischen Geheimdienst gearbeitet hat." Musii weiß, dass das bisher alles Vermutungen sind. Er fordert eine Untersuchung und öffentliche Gerichtsprozesse, davon hänge auch das Vertrauen in die neue Regierung ab. Die Wahrheit müsse nun ans Licht: "Das ist jetzt das Wichtigste, denn die Wahrheit öffnet die Augen und ermöglicht einem, Fehler zu vermeiden." Er selbst steht als Zeuge zur Verfügung und fordert die Sanitäter, die im Einsatz waren, auf, auszusagen. "Es müssen die sein, die alles gesehen haben. Das betrifft mich, aber auch die freiwilligen Helfer, die ganz vorn an den Barrikaden gewesen sind, wo die Toten lagen." Erst wenn Oleg Musii weiß, wer die Toten auf dem Maidan auf dem Gewissen hat, kann die eigentliche Arbeit im Ministerium beginnen, die Reform des Gesundheitswesens. Das ist bisher nur in punkto Korruption einsame Spitze.
Von Sabine Adler
Am 20. Februar wurden 41 Demonstranten und vier Polizisten auf dem Maidan erschossen. Nach Aussagen der Ärztin Olga Bogomolez könnten die dafür verantwortlichen Heckenschützen aus den Reihen der Demonstranten gekommen sein. Ein schwerwiegender Verdacht, den die neue Regierung schnell aus dem Weg räumen muss.
"2014-03-11T06:15:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:09.570000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-spekulationen-ueber-maidan-heckenschuetzen-100.html
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Keine Zuschüsse mehr für Europafeinde?
Rechtspopulisten im Europäischen Parlament: die Britin Janice Atkinson (UKIP), die Französin Marine Le Pen (Front National), der Niederländer Geert Wilders (PVV) (dpa / picture alliance / Olivier Hoslet) Der Widerstand kommt reichlich spät, dafür aber jetzt mit aller Macht. Der Chef der größten Fraktion im Europäischen Parlament ist demnach nicht länger bereit, die verbalen Attacken von den Abgeordneten der europafeindlichen Parteien gegen die EU weiter hinzunehmen. Manfred Weber, CSU, will sich wehren und die Gegner dort attackieren, wo es ihnen am meisten wehtut: bei den finanziellen Zuwendungen für ihre Parteiarbeit: "Es kann nicht angehen, dass die Europäische Union die eigenen Feinde der Europäischen Union mit EU-Geldern auf Dauer finanziert. Es ist legitim, dass alle Meinungen erlaubt sind in der öffentlichen Debatte. Dass auch alle Positionen, die Europa grundlegend infrage stellen, grundsätzlich erlaubt sind. Wir sind eine offene und demokratische Einheit in der Europäischen Union. Das heißt, jeder darf gegen Europa sein. Die Frage ist aber, ob Europa so dumm ist, die eigenen Gegner zu finanzieren". Hundertausende für Europakritiker Dabei hat Weber vor allem zwei Gruppierungen im Blick – einmal das Europa der Freiheit und der direkten Demokratie unter dem ehemaligen UKIP-Chef Nigel Farage, für die auf europäischer Ebene wiederum die Allianz für direkte Demokratie gegründet worden ist. EU-Zuschuss 2015: knapp 821.000 Euro. Und im Visier des EVP-Chefs auch der europäische Zusammenschluss unter der Allianz für die Freiheit, der wiederum Front-National-Chefin Marie le Pen angehört. Öffentliche Mittel 2015: rund 494.000 Euro. "Wir hatten da einige Events in den letzten Wochen, wo nationalistische rechtsradikale Parteien Events in Europa durchgeführt haben, die mit EU-Geldern finanziert worden sind. Und das ist für mich inakzeptabel. Das ist einfach eine Perversion der Sache, wenn wir unseren eigenen Gegnern auch noch Gelder in den Rachen schmeißen." Deshalb soll die EU-Kommission jetzt möglichst schnell einen Vorschlag zur Änderung der Parteienfinanzierung auf EU-Ebene vorlegen. Bislang sind dort die Vorgaben für die Parteien, die wiederum finanzielle Zuschüsse ermöglichen, recht allgemein gehalten. Das könnte man ändern, heißt es jetzt in der EVP, etwa mit einer Verpflichtung einer europäischen Partei auf die Grundsätze des Vertrages von Lissabon, der auch die Ziele und Werte der Union beschreibt. Noch viel juristische Feinarbeit Doch die Abgrenzung zwischen Zensur und Strafe sei nicht einfach zu bewerkstelligen, warnt auch der Verfassungsexperte der SPD im EU-Parlament, Jo Leinen, der aber den Vorstoß aber grundsätzlich unterstützt: "Wir dürfen hier keine Gesinnungspolitik betreiben. Wer die EU kritisiert, der soll das weiter machen und hoffentlich auch Erfolg haben. Wer die EU zerstören will und die Grundwerte der EU negiert und verletzt, der muss nicht belohnt werden. Der soll dann sehen, wo er sein Geld herbekommt. Aber nicht aus dem Europa-Topf." Es dürfte letztlich noch reichlich juristische Feinarbeit notwendig sein, bevor ein entsprechender Vorschlag auf dem Tisch liegt. Leinen selbst sieht übrigens auch an anderer Stelle Handlungsbedarf. Demnach sollten alle EU-Abgeordnete, die für den Brexit gekämpft haben, mit Beginn der eigentlichen Ausstiegsverhandlungen zwischen der EU und Großbritannien auf Führungspositionen im Parlament verzichten. Das sei eine Frage des politischen Anstandes, meint der SPD-Abgeordnete, aber notfalls müsse über Änderungen in der Geschäftsordnung nachgeholfen werden. Was dann juristisch sicherlich auch nicht unumstritten sein dürfte.
Von Jörg Münchenberg
Dass europafeindliche Parteien gegen die EU wettern und dafür auch finanziell von der EU unterstützt werden, halten einige Europaabgeordnete für nicht länger hinnehmbar. Europa dürfe nicht so dumm sein und die eigenen Gegner finanzieren, heißt es. Aber ganz so einfach ist das nicht.
"2017-03-15T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T10:19:03.283000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-eu-und-ihre-kritiker-keine-zuschuesse-mehr-fuer-100.html
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Mit weiblicher Doppel-Spitze in die Regierung?
Bewerben sich um die Führung der Linken: Janine Wissler (l) und Susanne Hennig-Wellsow (r) (dpa/Rumpenhorst/Schutt) Die Gründungsvorsitzenden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky verband vor allem der Erfolg - die Opposition zu Hartz IV führte die Linke zwischenzeitlich in ungekannte Höhen. "Wenn uns Linken vorgeworfen wird, wir wollten den Sozialstaat der Siebziger Jahre zurück, dann sage ich klipp und klar: Ja, wir werden die Sozialstaatsidee verteidigen und sie entwickeln." Klaus Ernst und Gesine Lötzsch wiederum teilten das Schicksal, von den parteiinternen Grabenkämpfen überfordert gewesen zu sein: "Jeden Tag wird versucht, Zwietracht zwischen uns zu säen: Uns in Reformer, Dogmatiker, Chaoten und Spinner einzuteilen. Aber ich sage euch: lasst euch davon nicht beeindrucken. Wir brauchen das Lob unserer politischen Konkurrenten nicht." Ära Kipping-Riexinger geht zu Ende Und schließlich seit 2012 Katja Kipping und Bernd Riexinger. Ein Tandem, das aus heftigen innerparteilichen Verwerfungen zwischen PDS- und WASG-Teil entstand. Und das zwar manchen alten Konflikt entschärfte, aber neue Bruchlinien nicht verhindern konnte - zum Beispiel 2018 im Streit mit der Galionsfigur Sahra Wagenknecht. Katja Kipping damals: "Nach diesem Parteitag muss doch Schluss damit sein, dass die demokratische Beschlusslage zur Flüchtlingspolitik dieser Partei beständig öffentlich in Frage gestellt wird." Bernd Riexinger und Katja Kipping vor einem Wahlplakat ihrer Partei Die Linke. (AFP / JOHANNES EISELE) Am Schluss der Ära Kipping-Riexinger steht eine veränderte Partei: Die Linke von 2020 ist eine deutlich andere als 2012, sagt der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland von der Universität Jena: "Man braucht nur mal auf einen Parteitag zu gehen, um sich das optisch vor Augen zu führen. Da sind sehr viel jüngere Leute, sehr viel bunter ist das alles. Die Leute, die in der PDS noch sozusagen die Sozialisierung in der DDR erlebt haben, sind zwar noch vorhanden, spielen aber im Grunde keine große Rolle mehr." In der Regierung in Bremen Und Gregor Gysi, seit kurzem als außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion wieder stärker im politischen Tagesgeschäft aktiv, bilanziert: "Also, wir sind nach wie vor im Osten stärker als im Westen. Aber im Westen haben wir jetzt nicht mehr die Schwierigkeiten in den Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen. In Bremen sitzen wir sogar in der Regierung, ich bitte Sie. Das ist medial kaum aufgefallen - stellen Sie sich mal vor, vor 15 Jahren hätte Bayern Deutschland verlassen, wenn wir in Bremen in die Regierung gegangen wären. Inzwischen nimmt man das eher als selbstverständlich hin." Kurs der Linken "In der Partei gibt es viele, die gerne mitregieren würden" Der Politologe Torsten Oppelland geht davon aus, dass die Linke den Weg in Richtung Regierungsbeteiligung auch nach ihrem Führungswechsel einschlagen wird. Die Linkspartei hat sich als feste Größe in der Nische etabliert. Man sitzt in 10 von 16 Landesparlamenten. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die Partei im Osten altert und stagniert: Dem ersten linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in Thüringen steht der Verlust einer soliden Stammwähler-Basis im Rest des Ostens entgegen. Die Rolle der erfolgreichen Außenseiter-Partei übernimmt dort inzwischen die AfD. Probleme im Westen Im Westen hat die Linke in den meisten Flächenländern Probleme, überhaupt über fünf Prozent zu kommen. So wie der Trend insgesamt nach unten zeigt: Bundesweite Umfragen verorten die Linke bei sieben bis acht Prozent. Bei der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen fiel man jüngst sogar auf 3,8 Prozent. Für die Bochumer Außenpolitikerin Sevim Dağdelen, die als Vertraute Sara Wagenknechts gilt, ein Zeichen des aktuellen Niedergangs. "Dass die Sozialdemokratie in NRW ungefähr eine halbe Million Wählerinnen und Wähler verloren hat und die Linke nicht nur nicht davon profitieren konnte, sondern sogar noch verloren hat, ist natürlich alarmierend. Und das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Parteispitze seit Jahren überhaupt keine Strategien entwickelt hat angesichts zahlreicher Wahlniederlagen." Innerparteiliche Konflikte köcheln weiter Die innerparteilichen Konflikte, sie köcheln also weiter: Statt über die Haltung zur Migration wird nun darüber diskutiert, wie ökologisch die Linke sein darf. Und ein Jahr vor der Bundestagswahl geht es natürlich wieder einmal um die ewige Frage: Mitregieren im Bund, ja oder nein? Susanne Hennig-Wellsow und der pragmatische "Thüringer Weg" Susanne Hennig-Wellsow wurde bundesweit bekannt, als sie Thüringens Kurzzeit-Ministerpräsidenten Kemmerich bei dessen Wahl den Blumenstrauß vor die Füße warf. Die weibliche Doppelspitze, die am übernächsten Samstag auf einem wegen Corona verkürzten Parteitag gewählt werden soll, gibt Antworten aus unterschiedlichen Richtungen: Die 43-jährige Susanne Hennig-Wellsow, Fraktions- und Parteivorsitzende in Thüringen, macht als Ost-Linke aus dem Regierungsanspruch keinen Hehl. Kein Wunder: Zwar machte erst der Blumenwurf vor die Füße des FDP-Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich sie bundesweit bekannt. Im Hintergrund trägt sie aber bereits lange dazu bei, dass Bodo Ramelow relativ reibungslos regieren kann. Die 39-jährige Janine Wissler wiederum ist Fraktionsvorsitzende der Linken in Hessen. Sie hat sich als klassische Oppositionspolitikerin profiliert. Politische Veränderung heißt für sie zunächst einmal, gemeinsam mit sozialen Bewegungen Druck aufzubauen. Erster gemeinsamer Auftritt der Kandidatinnen in Thüringen Der erste gemeinsame Kandidatinnen-Auftritt auf dem Thüringer Landesparteitag Mitte September lieferte für diesen Unterschied Anschauungsmaterial. Hennig-Wellsow warb bei ihrem Heimspiel offen für eine Regierungsoption: "Was aber glaube ich die Sehnsucht, tatsächlich in der Partei Die Linke ist: Gemeinsam voranzuschreiten. Dafür stehe ich. Und ich stehe auch dafür, dass wir begreifen, dass wir eine Durchsetzungsperspektive brauchen. Dass wir nach 30 Jahren in der Opposition zumindest in die Lage versetzt werden können an einer Regierung beteiligt sein zu können, wenn wir es wollen." Janine Wissler – ihr Herz schlägt links Die Fraktionschefin der Linken im hessischen Landtag, Janine Wissler, will neue Bundesvorsitzende ihrer Partei werden. In mehr als einem Jahrzehnt Parlamentsarbeit hat sie sich Respekt quer durch die Fraktionen verschafft. Die Hessin Janine Wissler dagegen mied das Thema Regieren. Sie betonte Grundsätzliches: "Ich denke, so eine Linke brauchen wir. Die konkrete Verbesserungen erkämpft, aber gleichzeitig auch deutlich macht: Wir wollen eine grundsätzlich andere Gesellschaft. Und wir haben eine Vision davon, wie es ganz anders funktionieren kann. Und so ne Linke wünsche ich mir: In Thüringen, in Hessen und auch im Bund." Grundsätzlich gilt die Linke mehrheitlich als regierungsbereit - die Frage ist aber, um welchen Preis. Umwandlung der Nato in ein kollektives Sicherheitssystem mit Russland, ein Ende aller Bundeswehr-Einsätze im Ausland, ein Verbot von Waffenexporten: Gerade in der Außenpolitik enthält das Grundsatzprogramm viele Positionen, die gerade für die West-Linke identitätsstiftend sind, aber in einem grün-rot-roten Bündnis kaum zu halten wären. Der Politologe Torsten Oppelland: "Insofern ist die Aufstellung, die die Partei jetzt nimmt mit einer Vorsitzenden, die stärker diesem linken Flügel zugerechnet wird und einer, die stärker dem pragmatischen Flügel zugerechnet wird, schon ganz klug gewählt. Denn man kann in keine Koalition gehen, wenn man den linken Flügel nicht irgendwie einbindet. Und das ist die Aufgabe, die Frau Wissler in dem neuen Vorstand übernehmen wird." Breite Mehrheit für die weibliche Doppelspitze gilt als sicher Trotz Kritik aus dem Wagenknecht-Lager: Eine breite Mehrheit für die weibliche Doppelspitze Hennig-Wellsow/Wissler gilt als sicher. Danach gilt es, eine äußerst heterogene Partei bis zur Bundestagswahl auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Eine Heterogenität, die längst mehr ist als Ost und West, so Janine Wissler: "Wir sind ja nicht nur aus PDS und WASG entstanden, sondern es gibt Leute, die Jahrzehnte lang in der SPD waren, es gibt ehemalige Grüne, es gibt sehr, sehr viele Gewerkschafter, Umweltbewegte, Menschen aus der Frauenbewegung, aus der Friedensbewegung, die wirklich auch aus unterschiedlichen Traditionen der Linken kommen." Und Susanne Hennig-Wellsow sagt: "Ich habe da echt Bock drauf. Und insofern ist das glaube ich ‘ne gute Grundlage, tatsächlich auch wieder positive Stimmung in die Partei zu bringen, tatsächlich das Potenzial, was diese Partei hat und gerade nicht schöpft, wieder zu heben und aus der etwas verschlafenen Partei durchaus eine Partei zu machen, die den Aufbruch will; die Leute mitnimmt und die tatsächlich darstellen kann, dass wir eine Partei sind, die es in der Bundesrepublik braucht und auf die man nicht verzichten kann."
Von Johannes Kuhn
Viel spricht dafür, dass zwei Frauen die Partei in die Bundestagswahl 2021 führen werden. Mit Offenheit für eine Regierungsbeteiligung? Vor dem Bundesparteitag gibt es dazu in der Partei unterschiedliche Meinungen - auch bei den Kandidatinnen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler.
"2020-10-22T19:15:00+02:00"
"2020-10-23T11:35:48.516000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-linke-13-jahre-nach-gruendung-mit-weiblicher-doppel-100.html
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Fels des Anstoßes
Jerusalemer Tempelberg mit Felsendom und Klagemauer (picture alliance / dpa/ Marius Becker) Auf einem der Dächer in der Jerusalemer Altstadt steht Ami Meitav. Von hier oben hat er einen guten Blick auf den Tempelberg. Dieses Bergplateau erstreckt sich am südöstlichen Ende der Altstadt. Er zeigt auf die golden glitzernde Kuppel des muslimischen Felsendoms. "Wow. Sehen Sie, wie hoch der Felsendom heute ist. Und nun stellen Sie sich vor, dass statt des Felsendoms der Tempel dort stünde. Weiße Wände, noch mal 24 Meter höher als der höchste Punkt der Kuppel." Meitav ist Jude. Früher hat er für den israelischen Geheimdienst gearbeitet. Jetzt hat er ein Buch über den Tempelberg geschrieben, und arbeitet als Tour Guide hier in der Altstadt. Beim Anblick des Tempelbergs kommt er ins Schwärmen. "Es muss der Wahnsinn gewesen sein. Es war das wunderschönste Bauwerk der ganzen Welt." Vor ihm liegt der heiligste Ort der Juden. Ein Ort, der durch zahlreiche Geschichten mit dem jüdischen Glauben verbunden ist: Schon Adam, den ersten Menschen, habe Gott aus der roten Erde dieses Berges Adam geformt – so steht es im Talmud, der jüdischen spätantiken Schriftensammlung zur Auslegung der Thora. Manche glauben, hier oben befände sich der "Schöpfungsstein", der Nabel der Welt. Der Tempelberg soll auch der Berg Moriah sein, auf dem Gott der Bibel zufolge Abrahams Treue auf die Probe stellte und ihm erst befahl, seinen Sohn Isaak zu opfern, dann jedoch Isaak leben ließ. König David legte auf dem Berg den Grundstein und König Salomon ließ im Jahre 957 vor der Zeitrechnung den ersten Tempel errichten, so berichtet es die Bibel. 1. Könige 6: "Und Salomo baute das Haus und vollendete es. Und er baute die Wände des Hauses innerhalb mit Zedernbrettern; vom Fußboden des Hauses bis an die Wände der Decke überzog er sie innerhalb mit Holz; und er überzog den Fußboden des Hauses mit Zypressenbrettern." Anfang des 6. Jahrhundert vor Beginn der Zeitrechnung eroberten die Babylonier Jerusalem und zerstörten das Bauwerk. Doch bereits 50 Jahre danach begannen die Juden ihren zweiten Tempel zu bauen – der bis zur Zerstörung durch die Römer im Jahre 70 nach der Zeitrechnung auf dem Berg stand. Manche orthodoxe Rabbiner glauben, dass die Bundeslade und die Tafeln der Zehn Gebote auf dem Gelände des Tempelberges begraben liegen. Und sie sagen, auf dem Berg ruhe bis heute die "Schechina", die göttliche Anwesenheit. Der Tempelberg und dessen westliche Befestigungsmauer, die Klagemauer, waren seit der Vertreibung durch die Römer ein Ort der Sehnsucht für alle Juden, die in der Diaspora verstreut waren, sagt Ami Meitav. "Deshalb ist klar, dass das der Ort ist, an den Juden die letzten 2000 Jahre ihre Gebete adressierten. Der Tempelberg ist der wertvollste Schatz, den die Juden haben. Bis heute beten Juden in die Richtung, wo einst der Tempel stand. Ausgerechnet hier, an dem Ort, an dem der Tempel der Juden stand, bauten die Muslime zwei ihrer wichtigsten Moscheen: den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Nicht als Provokation gegenüber den Juden, sondern aus praktischen Gründen. Als die Muslime 600 Jahre nach Zerstörung des jüdischen Tempels ihre Heiligtümer hier errichteten, war der Tempelberg noch immer mit Schutt bedeckt. Ein freier Platz zum Bauen innerhalb der Jerusalemer Altstadt. Für dieses Bergplateau verwenden Muslime nicht den Namen Tempelberg – sondern sprechen vom "Edlen Heiligtum", Haram Al-Sharif. Die 17. Sure des Korans erzählt die zentrale Geschichte, die den Berg und den Islam miteinander verbindet. Es ist die "Nachtreise" des Propheten Mohammed. "Preis sei dem, der seinen Diener bei Nacht von der heiligen Moschee zur fernsten Moschee, die wir ringsum gesegnet haben, reisen ließ, damit wir ihm etwas von unseren Zeichen zeigen." Der Koran nennt wenig Details. Jerusalem wird nicht erwähnt, die Schrift spricht nur von der "fernsten Moschee". Die islamische Tradition hat sie aber schon früh in Jerusalem verortet, sagt Nadim Shiban, Direktor des Jerusalemer Islam Museums. "Der Prophet Mohammed kam nach Jerusalem. Er kam von Mekka und flog über den Berg. Er ritt auf einem Pferd." Dieses fliegende Zauberpferd namens Buraq stieß sich mit seinem Huf auf einem Felsen ab und stieg mit Mohammed in den Himmel auf. Dort traf sich Mohammed mit seinen Vorgängern: Abraham, Moses und Jesus. Sie werden im Islam als Propheten geschätzt. Über dem Felsen, der bis heute den Fußabdruck des Zauberpferdes tragen soll, errichteten die Muslime erst ein Zelt. Ende des 7. Jahrhunderts dann eine Kuppel. Es ist der Felsendom. Das markante Wahrzeichen mit der goldenen Kuppel. Muslime auf der ganzen Welt hängen Darstellungen des Felsendoms in ihre Wohnungen. Dabei ist, laut Mohammed, das graue langgestreckte Gebäude nebenan, sogar noch heiliger: Die Al-Aqsa-Moschee, sagt er, sei die zweitälteste Moschee, und die drittwichtigste Moschee des Islam. Für viele Muslime handelt es sich bei der Al-Aqsa-Moschee nicht nur um das graue Gebäude auf der Südseite des Tempelberges, stattdessen umfasse die Al-Aqsa-Moschee den gesamten Tempelberg. Sie weißen darauf hin, dass das Gebäude selbst keine Minarette habe und sehen die Minarette in den vier Ecken des Bergplateaus. So erheben manche Muslime einen absoluten Anspruch auf den Tempelberg. Der Mufti von Jerusalem geht so weit zu behaupten, dass ein jüdischer Tempel niemals auf diesem Gebiet stand. Ami Meitav darf den Tempelberg nur am Vormittag betreten – zusammen mit Touristen, die in einer Schlange schon früh morgens darauf warten, dass sich das Mughrabi Tor für sie öffnet. Alle anderen Zugänge in den engen Altstadtgassen im Markt von Jerusalem sind tabu für Nichtmuslime wie Meitav. Nähert er sich einem dieser Tore, stellen sich israelische Grenzpolizisten ihm in den Weg. "Sie haben hier die Checkpoints aufgebaut, um Juden oder Touristen, die sich verirrt haben, schon hier aufzuhalten, und nicht erst direkt am Tor." Israel hatte 1967, im Sechs-Tage-Krieg die Souveränität über ganz Jerusalem gewonnen – auch über den Tempelberg. Soldaten hissten die israelische Flagge auf dem Felsendom, doch dann befahl der damalige israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan, dass seine Soldaten den Tempelberg wieder verlassen sollten. Die Verwaltung des Berges übertrug er der jordanischen Waqf-Stiftung. Dayan ordnete an, dass Juden den Berg zwar betreten – aber auf dem Gelände nicht beten dürfen. Er wollte verhindern, dass aus dem Nahost-Konflikt ein religiöser Konflikt wird. Im Kern gilt dieser Status quo bis heute. Doch schon damals war Dayans Entscheidung unter Juden umstritten. "Wenn es eine Möglichkeit gäbe, auf dem Tempelberg zu beten, dann würden ein 2000 Jahre alter jüdischer Traum wahr werden." Aber Meitav sagt auch, dass es eben keine Möglichkeit gebe. Denn nicht nur der säkulare Dayan verbot jüdisches Gebet auf dem Tempelberg. "Es ist vor allem ein religiöses Problem. Die meisten Rabbiner aus allen Strömungen des Judentums verbieten es, den Tempelbergs überhaupt nur zu betreten – seiner Heiligkeit wegen. Solange es keinen neuen Tempel gibt, und solange der Messias nicht da ist, verbietet das jüdische Gesetz es, auf den Tempelberg zu gehen." Da unbekannt ist, wo genau der Tempel stand, kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein jüdischer Besucher aus Versehen das Allerheiligste betritt, den einen Raum, der nur der Hohe Priester und nur an Yom Kippur betreten durfte, dem heiligsten Tag im Judentum. Im Mainstream-Judentum ist klar: Menschen können den Tempel nicht wieder erbauen, sondern Gott baut den Tempel auf, wenn der Messias kommt. Eine endzeitliche Hoffnung. Aber in die Diskussion, was Juden tun können, damit der Tempel wieder errichtet wird, kommt nun Bewegung, sagt Dr. Amnon Ronen von der Fakultät für vergleichende Religionswissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Die große Frage ist, was man nun tun soll? Muss der nächste Tempel vom Himmel fallen? Oder können die Juden etwas unternehmen, das das ganze beschleunigt?Es gibt zwei verschiedene Lager in der jüdischen Welt: Die Ultra-Orthodoxen, die vertreten, dass wir nichts unternehmen dürfen. Sie sind kategorisch dagegen, den Tempelberg zu besuchen und dort zu beten. Eine ihrer wichtigsten Rabbiner, Rabbi Ovadia Yosef hat sogar Polizisten verboten, den Berg zu betreten.Und auf der anderen Seite gibt es national-religiöse Juden, die glauben, dass wir es Juden erlauben und sie ermutigen sollten, auf dem Berg zu beten. Vielleicht sollten wir sogar eine kleine Synagoge dort bauen. Eine kleinere Gruppe unter ihnen will sogar mit den Vorbereitungen beginnen, den nächsten Tempel zu bauen." Eine dieser radikalen Gruppen hat sich auf dem Tempelberg selbst gefilmt und das Video bei Youtube veröffentlicht. Sie laufen am äußeren Rand des Geländes. Hunderte Muslime stehen in einigen Metern Entfernung – zurückgehalten von israelischen Grenzpolizisten. Allahu akbar, Gott ist am Größten, rufen die Muslime. "Sie schreien, weil sie wissen, dass wir bald den neuen Tempel hier bauen werden." Sagt einer aus der Gruppe von Rabbi Chaim Richman. "Alleine, dass wir schon hier sind, ist Teil der Bauarbeiten. Es geht schon los. Bevor du ein Gebäude baust, musst du dir das Gelände anschauen. Du musst drum herumlaufen. Wenn du um etwas herumläufst, sagst du, dass es dir gehört." Parolen einer radikalen jüdischen Minderheit. Doch genau das ist es, was die Muslime befürchten. Viele glauben, dass Israel tatsächlich den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee zum Einstürzen bringen will – und einen jüdischen Tempel errichten wird. Das speist die Angst und den Zorn vieler muslimischer Palästinenser. Premierminister Netanjahu hingegen erklärt wiederholt, dass er den Status Quo auf dem Tempelberg nicht antasten will.
Von Florian Elsemüller
Einst thronte dort der jüdische Tempel. Heute stehen auf dem Tempelberg in Jerusalem die Al-Aqsa-Moschee und der muslimische Felsendom. Juden beten an der Klagemauer – einer früheren Befestigungsmauer des Tempels. Das Areal bedeutet beiden Religionen viel. Immer wieder kommt es zu Konflikten.
"2016-01-06T09:35:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:13.959000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tempelberg-in-jerusalem-fels-des-anstosses-100.html
90,989
Die Hypo Real Estate fünf Jahre danach
Wenn die Kurse klappern, fiebern die Händler vor Optimismus oder sie schlottern vor Angst. 2008 war es die Angst. Im Januar hatte der große deutsche Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate heftige Abschreibungen in dreistelliger Millionenhöhe gemeldet. Dabei hatte der Münchner Konzern bisher immer so getan, als könne ihm die Krise am amerikanischen Immobilienmarkt nichts anhaben. Das war ein Schock für die Börse. Um ein Drittel rauschten die HRE-Aktien, damals noch im DAX, nach unten. Fidel Helmer von Hauck & Aufhäuser berichtete damals aus 40 Jahren Börsenpräsenz:"Dass ein DAX-Wert so einen Einbruch innerhalb eines Tages verzeichnet, habe ich noch nicht erlebt. Also, das war schon erschütternd."Es blieb nicht bei den Abschreibungen in dreistelliger Millionenhöhe. In der Nacht zum 28. September 2008 kam heraus, dass die HRE, immerhin ein Institut mit 400 Milliarden Euro Bilanzsumme, ohne Hilfe kollabieren werde. Und das in einer Situation, wo der Bankenmarkt sowieso im Umbruch war. Die Commerzbank schickte sich an, die Dresdner Bank zu übernehmen. Die Belegschaften protestierten, hatten Angst um ihren Arbeitsplatz:"Also, es ist deutliche Angst zu spüren. Man merkt es auch an den Gesichtern. Es ist sehr bedrückend in den Abteilungen."Die Märkte schlotterten, weil nach der Pleite der IKB im Vorjahr, nach der Flucht der SachsenLB unter die Fittiche LBBW, nach der Pleite der Lehman-Bank zwei Wochen zuvor, nach den Gerüchten um hohe Verluste bei WestLB und BayernLB, weil nach alledem überhaupt nichts mehr sicher schien. Der Chef einer Pensionskasse sagte mir heute vor fünf Jahren, er rate, sich einen Lebensmittelvorrat anzulegen – wenn nicht staatliche Hilfe käme. Sie kam:"Mit der Entscheidung der Bundesregierung, Risiken aus der Liquiditätsaktion der Banken für die Hypo Real Estate abzusichern, konnte gestern eine Ausbreitung der Finanzkrise auf Deutschland abgewendet werden."So der damalige Regierungssprecher Ulrich Wilhelm am 29. September 2008. Die Hypo Real Estate wurde in eine faule Bad Bank auf Risiko des Steuerzahlers aufgeteilt, und in eine gesunde Pfandbriefbank, die demnächst wieder verkauft werden soll, hoffentlich gewinnbringend für den Steuerzahler. Bisher hat er knapp 20 Milliarden Euro bei der Hypo Real Estate im Feuer. Der ehemalige Chef, Georg Funke, hatte dagegen lange beschwichtigt: "Die Märkte sind unberechenbar geworden. Dies schließt im Übrigen auch die Möglichkeit ein, dass wir kurzfristig positive Gegenentwicklungen sehen."Das hofft er nun auch für sich. Er sitzt auf Mallorca, hat sich als Immobilienmakler versucht. Und klagt: auf eine Abfindung von 3,5 Millionen und eine monatliche Rente von 47.000 Euro. Die Bank sieht das anders und will von dem ehemaligen Chef 220 Millionen Euro Schadensersatz. Für die Börse ist das Schnee von gestern. Ratingagenturen bescheinigen der Bankenlandschaft stabile Verhältnisse, auch wenn es Wolken gibt. Harm Semder von Standard & Poor’s:"Deutschland hat – und das ist bemerkenswert – in den letzten Jahren seine starke Position als Bankenindustrie insgesamt verteidigt."Und wenn die Kurse jetzt klappen, dann fällt oft ein Rekord ab. 9.000 DAX-Punkte gelten als bald erreichbar.
Von Michael Braun
Vor fünf Jahren gerieten erstmals Meldungen an die Öffentlichkeit, die offenbarten, wie groß die Probleme der Münchner Hypo Real Estate waren. Später sollte sie zum Sinnbild der Finanzkrise werden.
"2013-09-27T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:37:38.401000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-hypo-real-estate-fuenf-jahre-danach-100.html
90,990
Tote nach Schlauchboot-Havarie
Afrikanische Flüchtlinge in einem Schlauchboot (dpa / picture-alliance / Darrin Zammit Lupi) Die Flüchtlinge waren eigenen Angaben zufolge mit einem Schlauchboot unterwegs gewesen, auf dem sich ein Unfall oder eine Explosion ereignet haben soll. In jedem Fall soll das Schlauchboot Luft verloren haben, berichtet der ARD-Korrespondent Tilmann Kleinjung. Noch bevor die Retter eintrafen, seien bereits zig Menschen ins Wasser gefallen und ertrunken. Das Unglück habe sich offenbar bereits am Sonntag auf dem Meer zwischen Libyen und Sizilien ereignet. Ein maltesisches Handelsschiff nahm die Überlebenden und die eines weiteren Schlauchbootes auf und brachte sie nun nach Catania. Aufnahmelager in schlechtem Zustand Zudem brachten zwei Militärschiffe aus Malta und Italien mehr als 1.000 Flüchtlinge nach Italien. Fernsehsender berichteten live, wie ein Marineschiff mit 652 Einwanderern aus Ländern südlich der Sahara im Hafen von Salerno festmachte. Bei der Versorgung der Flüchtlinge stößt Italien an seine Grenzen und pocht auf mehr Hilfe aus Europa. Außenminister Paolo Gentiloni sagte, um die Krise zu lösen, reiche es nicht, die Zahl der Schiffe für die Rettung zu erhöhen. Vielmehr müssten zum Beispiel mehr Mittel zur Aufnahme der Flüchtlinge bereitgestellt werden. Kurzfristig sucht das Innenministerium Plätze für 9.000 Flüchtlinge in ganz Italien. Doch die Aufnahmelager in Sizilien seien voll, und viele entsprächen nicht den Mindestanforderungen, sagte eine Save the Childen-Sprecherin. Im Mittelmeer hatte es in den vergangenen Wochen mehrere Flüchtlingskatastrophen gegeben, bei denen Hunderte Menschen ertranken. Die EU-Staaten beschlossen daraufhin, ihre Marinemission im Mittelmeer auszuweiten. So wurden die Mittel für die EU-Grenzschutzmission "Triton" verdreifacht, ihr Einsatzgebiet blieb jedoch auf die Zone vor der italienischen Küste beschränkt. Trotz der tödlichen Unglücke reißt der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer nicht ab. (tzi/ach)
null
Im Mittelmeer hat es offenbar erneut ein tödliches Flüchtlingsunglück gegeben. Etwa 40 Menschen seien ums Leben gekommen, berichteten Überlebende nach ihrer Ankunft auf Sizilien den Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisation Save the Children. Andere sprachen von "sehr vielen Toten".
"2015-05-05T16:32:00+02:00"
"2020-01-30T12:35:19.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mittelmeer-tote-nach-schlauchboot-havarie-100.html
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Türkische Asylbewerber offenbar illegal zurückgewiesen
Die griechische Regierung lehnt die türkischen Putschisten ab. (AFP / Andreas Solaro) Beide Vorfälle sollen ähnlich abgelaufen sein, sagt Giorgia Spyropoulou von der griechischen Liga für Menschenrechte, einer in Griechenland sehr bekannten Organisation: "Glaubwürdige Quellen informierten uns darüber, dass asylsuchende Türken über den Fluss Evros nach Griechenland gekommen waren. In Griechenland haben sie ihren Wunsch geäußert, Asyl zu beantragen. Die griechischen Polizeibeamten haben aber das Asylgesuch nicht registriert, sondern die asylsuchenden Menschen wieder zurück in die Türkei gebracht, wo sie festgenommen wurden." In beiden Fällen soll es sich um Personen handeln, die in der Türkei als Putschisten gelten. Zum einen um den Journalisten Murat Capan, der bei der Zeitschrift "Nokta" gearbeitet hat. Wegen seiner Artikel wurde der Journalist in seiner Heimat des Terrorismus und der Teilnahme am Putschversuch beschuldigt und in Abwesenheit zu über 22 Jahren Haft verurteilt. Capan soll zusammen mit zwei Freunden und einer türkischen Familie mit drei Kindern aufs Schlauchboot gezwungen und auf der türkischen Uferseite wieder abgesetzt worden sein. Im zweiten Vorfall seien es insgesamt zehn Personen gewesen, darunter ein Hochschulprofessor, ein türkischer Offizier und drei Lehrer, einer zusammen mit seiner Frau und seinen vier minderjährigen Kindern. Große internationale Empörung Die internationale Empörung ist groß: Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muiznieks, richtet auf der offiziellen Facebook-Seite der Organisation einen Appell an Griechenland, mit den illegalen Zurückweisungen aufzuhören. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk hat reagiert. Leo Dobbs, UNHCR-Sprecher in Griechenland: "Internationales, aber auch nationales Recht sehen vor, dass jeder, der in Griechenland Asyl sucht, auch die Möglichkeit haben muss, dies zu beantragen. Dies scheint diesmal nicht der Fall gewesen zu sein. Und das ist nicht das erste Mal. Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Berichte über illegale Push-Backs. Wir haben der griechischen Regierung mitgeteilt, dass uns das beunruhigt." Dass es nun um türkische Staatsbürger geht, macht die Situation richtig heikel, sagt Spyropoulou von der griechischen Liga für Menschenrechte. Es sei nicht auszuschließen, dass es noch mehr solcher Zurückweisungen gegeben hat, die nie an die Öffentlichkeit gekommen sind: "Wir wissen, dass die Türkei in einem Ausnahmezustand ist. Diese Menschen können keine faire Verhandlung erwarten, viele bekommen überhaupt keine Verhandlung. Da ist es absolut inakzeptabel, dass der griechische Staat türkische Bürger zurück in die Türkei bringt." Offiziell weist Griechenland die Vorwürfe zurück. Tatsächlich aber sind Türken, die in ihrer Heimat als Putschisten gelten, bei der griechischen Regierung nicht gerne gesehen. Das wurde am Montag nochmals deutlich, beim Amtsbesuch des türkischen Premierministers Yildirim in Athen. Griechische Regierung ist gegen die Putschisten Auf der gemeinsamen Pressekonferenz wurden Yildirim und sein griechischer Amtskollege Tsipras danach gefragt, was mit den acht türkischen Offizieren passieren werde, die in Griechenland Asyl beantragt haben. Die Türkei hat die Auslieferung der mutmaßlichen Putschisten gefordert. Die obersten griechischen Richter lehnten dies aber ab. Der griechische Premierminister antwortete: "Die griechische Justiz ist unabhängig. Abgesehen von diesem konkreten Fall aber war unsere politische Haltung von Anfang an gegen die Putschisten. Diese Menschen sind in unserem Land nicht willkommen." Und doch sollen griechischen Medien zufolge mittlerweile über 400 türkische Bürger in Griechenland Asyl beantragt haben. Für die schon angespannten Beziehungen zwischen den zwei Ländern eine Zerreißprobe. Der Journalist Dimitris Aggelidis von der linksliberalen Zeitung "efimerida ton sintakton" - auf Deutsch: Redakteurszeitung - verfolgt seit Jahren die griechische Flüchtlingspolitik. Für ihn haben die Pushbacks an der nordöstlichen Grenze des Landes System: "Zwischen zwei Demokratien sollten die guten Beziehungen allein auf den Regeln des Rechtsstaates und der internationalen Verträge basieren und nicht darauf, dass diese Regeln verletzt werden. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass diese Polizisten von sich aus solche Initiativen ergreifen oder dass der griechische Staat nicht in der Lage ist, diese illegalen Aktivitäten zu stoppen."
Von Rodothea Seralidou
Immer wieder versuchen türkische Staatsangehörige nach Griechenland zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen. Nun wird von Fällen berichtet, in denen diese Asylsuchenden illegal zurück in die Türkei gedrängt wurden - dahinter sehen manche ein System, die Empörung ist groß.
"2017-06-22T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:33:32.592000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-tuerkische-asylbewerber-offenbar-illegal-100.html
90,992
Die Türkei ist mehr als Krise
"Wir bekommen ein einseitiges Bild und das finde ich total schade, weil dieses Land eben nicht nur Krise ist", bedauert Türkei-Korrespondentin Karin Senz. Diese habe zwar auch einen großen Anteil am Alltag der Menschen, aber sie "feiern auch trotzdem noch, die treffen trotzdem noch Freunde und die gehen weg und der Aspekt, der kommt mir manchmal einfach zu kurz ", erklärt Senz. Um selbst ein positives Gegengewicht zu setzen, arbeite sie gerade an einem Beitrag zum Thema Urlaub im Baumhaus am Mittelmeer: "Er hat so gar nichts mit Krise zu tun, aber er zeigt einen ganz wichtigen Aspekt, nämlich die traumhafte Natur." Gefahren verdrängen Von der angespannten Situation für Journalistinnen und Journalisten lasse sie sich in ihrer Arbeit nicht beeinflussen. Den Gedanken, selbst einer Gefahr ausgesetzt zu sein, den schiebe sie auch ein Stück weit weg: "Sonst kann man eben genau nicht so unbefangen arbeiten und das will ich, also sonst muss ich das Land verlassen." Und das wäre schließlich für alle Beteiligten ein herber Verlust: "Dann würden sie einen der größten Fans der Türkei verlieren". Natürlich sei sie kein Fan der aktuellen Geschehnisse, aber des Landes und der Menschen schon.
null
Über die politischen und wirtschaftlichen Krisen in der Türkei zu berichten, sei zwar wichtig, meint Türkei Korrespondentin Karin Senz, andere Geschichten gingen dabei aber unter – zum Beispiel über die traumhafte Natur und die herzlichen Menschen.
"2018-08-22T15:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:07:22.333000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/korrespondentenalltag-die-tuerkei-ist-mehr-als-krise-100.html
90,993
Japan zwischen Begeisterung und Ignoranz
In einem Restaurant in Tokio läuft die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele im Fernsehen. (www.imago-images.de) Lautstarker Protest in Japan - den gibt es selten, doch Olympia hat die Gesellschaft gespalten. In Gegner, Befürworter und die Shoganais, die "Da kann man nichts machen"-Gruppe. Doch dann holt Japan Medaillen und Medaillen. Kazuko: "Ich habe schwimmen und Tischtennis geguckt und genau aufgepasst." Midori: "Ich hab ein bisschen Skateboard, Fußball und Judo gesehen." Statt im Stadion sitzen die Japaner wegen Corona eben vor dem Fernseher. Und nutzen jede kleine Chance, doch irgendwie dabei zu sein. Auf Zehenspitzen stehen sie hinter einer Wand, um die BMX-Wettkämpfe zu verfolgen, drängen sich an der Radstrecke… Prägen im Fanshop Olympiamünzen und kaufen ein, was das Zeug hält. In Tokio steigen die Coronazahlen Und die Coronazahlen steigen. Innerhalb von einer Woche verdoppelt sich die Inzidenz in Tokio, sie liegt Ende der Woche bei 180 und mehr als 5.000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. Doch Regierungschef Suga erinnert erstmal nur an sein Versprechen: "Sicher und sorgenfrei." So sollte Olympia sein und ist es auch. Die eingereisten Ausländer bleiben in ihrer Blase, es gibt kaum Corona-Ansteckungen und wenn, dann kommen sie meist von außen, also durch Japaner. Der Premier ist aber auch mit seinen Landsleuten zufrieden. "Eingeschränkte Fahrpläne, Homeoffice und die Mitarbeit der Bevölkerung haben dazu geführt, dass sich im Zentrum von Tokio nicht mehr Menschen aufhalten als vor Olympia. Die Spiele sind aus meiner Sicht auf jeden Fall nicht verantwortlich für den Anstieg der Coronazahlen." Die Spiele nicht, aber die Regierung, findet dieser Japaner: "Sie implementiert keine anständigen Maßnahmen, jeder muss sich selbst um seine Gesundheit kümmern." Japaner haben sich gefragt, wieso sie zu Hause bleiben sollen und gleichzeitig Olympia stattfindet Die Stadt Tokio ist im Dauernotstand, das nervt die Menschen, denn die meisten Restaurants und Bars sind geschlossen, Alkohol soll nicht verkauft werden. Sie verstehen diese Politik immer weniger, sagt der Kolumnist Osamu Aoki, und das sei auch kein Wunder. "Auf der einen Seite wird ein solches Fest wie Olympia mit mehreren tausend Menschen abgehalten, aber gleichzeitig sollen die Japaner zu Hause bleiben. Da haben sich viele gefragt, was das soll und sich einfach nicht mehr dran gehalten. Es ist ihnen egal geworden, und deshalb steigen die Zahlen jetzt auch weiter." Wie sich das auf die Wiederwahl Sugas und die Unterhauswahlen im Herbst auswirken wird, vermag Aoki nicht zu sagen. Dieser Japaner blickt auf jeden Fall pessimistisch in die Zukunft seines Landes. "Ich gehe davon aus, dass Japan wirtschaftlich einbrechen wird. Die Goldmedaillen sind so das letzte Feuerwerk."
Von Kathrin Erdmann
Erst war die japanische Bevölkerung Feuer und Flamme für die Spiele, dann komplett dagegen und nun ein bisschen von beidem. Was bleibt außer den sieben neu gebauten Stadien und dem Olympischen Dorf? Und hat die Regierung ihr Versprechen von sicheren Spielen eingelöst?
"2021-08-08T19:42:00+02:00"
"2021-08-09T08:49:42.152000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ende-der-olympischen-spiele-japan-zwischen-begeisterung-und-100.html
90,994
Grüne Jugend kritisiert Ampel-Beschlüsse
Die ganze Nacht verhandelten die Ampel-Parteien während ihres Koalitionsausschusses im Kanzleramt (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld) Die Ergebnisse seien enttäuschend, sagte der Bundessprecher der Grünen Jugend, Dzienus, den Zeitungen des "Redaktionsnetzwerks Deutschland". Dzenius warf der Koalition vor, ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht zu werden. Statt eines schnelleren Ausbaus der Autobahn brauche es mehr Tempo beim Klimaschutz. Wirtschafts- und Verkehrsverbände lobten die Beschlüsse des Koalitionsausschusses dagegen. Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Adrian, sprach von einem "positiven Signal". Vieles gehe in die richtige Richtung. Die Ökonomin Veronika Grimm meinte, die Reform des Klimaschutzgesetzes sei eine gute Sache, sofern die Emissionsreduktionsziele eingehalten würden. Die Ergebnisse machten Mut, dass die Koalition handlungsfähig sei. Der Präsident des "Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen", Jandura, bezeichnete es als überfällig, das Autobahnnetz beschleunigt wieder instand zu setzen und auszubauen. Das Bündnis "Allianz pro Schiene" lobte die Abschaffung des Zwangs, Einnahmen aus der Lkw-Maut in Bundesfernstraßen zu investieren. Dass sie jetzt auch in umweltfreundliche Alternativen fließen dürften, sei ein Riesenfortschritt. Bahnchef Lutz sprach von einer echten Weichenstellung für das Schienennetz der Zukunft". Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Fuest, hat mehrere der geplanten Maßnahmen der Ampelkoalition zum Klimaschutz begrüßt. Sowohl die Novellierung des Klimaschutzgesetzes als auch die Erhöhung der Lkw-Maut gingen in die richtige Richtung. Diese Nachricht wurde am 30.03.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.
null
Die Jugendorganisation der Grünen hat die Beschlüsse des Koalitionsausschusses kritisiert, ähnlich wie zuvor zahlreiche Umweltverbände.
"2023-03-30T19:00:46+02:00"
"2023-03-29T23:36:34.078000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gruene-jugend-kritisiert-ampel-beschluesse-100.html
90,995
"Schwächung des NATO-Bündnisses"
Eine Strategie hinter dem Abzugsplan der US-Regierung sei nicht erkennbar, sagte Klaus Naumann, früherer Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, im Dlf (imago / Stocktrek Images ) Die USA planen offenbar, einen größeren Teil ihrer in Deutschland stationierten Truppen abzuziehen. Die Rede ist von etwa 9.500 US-Soldaten, die Deutschland verlassen würden, das wäre etwa ein Viertel der US-Einsatzkräfte hierzulande. Ein Teil von ihnen werde nach Polen und in andere Staaten von Verbündeten verlegt, ein anderer Teil kehre in die USA zurück, hatte ein Regierungsmitarbeiter gesagt. Offiziell bestätigt sind diese Pläne aus dem Weißen Haus noch nicht, aber es gibt mehrere Berichte, die schon Details dieser Abzugspläne liefern. Klaus Naumann war einer der prägendsten Bundeswehrgeneräle der vergangenen Jahrzehnte, er war unter anderem in den 90er-Jahren Generalinspekteur und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Coronakrise - Die Welt in UnordnungUm den Multilateralismus stand es schon vor der Corona-Pandemie schlecht. Vor allem die USA und China machen lieber ihre eigene Politik. Die Coronakrise verschärft diese Situation noch. Für die EU könnte das eine Chance sein. Tobias Armbrüster: Herr Naumann, wenn es jetzt tatsächlich zu diesem amerikanischen Truppenabzug kommt, wäre das überraschend? Naumann: Insgesamt natürlich nicht, denn das Gerücht, dass Präsident Trump die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und in Deutschland verringern möchte, steht ja seit mehr als einem Jahr im Raum. Was zu beanstanden ist, das klang ja eben auch schon an: Es gibt im Bündnis festgelegte Spielregeln, mit denen man derartige Schritte konsultiert und vorab informiert. Und es ist auch eine vertragliche Verpflichtung der USA, die Bundesregierung vor Verringerungen zu informieren, das ergibt sich aus den Stationierungsvereinbarungen. Das ist nicht erfolgt, aber wir sprechen gegenwärtig ja noch von Absichten, die noch nicht offiziell bestätigt sind. "Weiterer Verstoß gegen den Geist der Bündnisverpflichtungen" Armbrüster: Dass diese Information aus Washington nicht erfolgt ist, was bedeutet das für Sie? Naumann: Ich halte das für einen weiteren Verstoß gegen den Geist der Bündnisverpflichtungen, die beide Seiten eingegangen sind. Ein Bündnis funktioniert nun einmal auf der Grundlage von Vertrauen und gegenseitiger enger Information und Abstimmung. Derartiges hat man von den Vereinigten Staaten ja nun in den Zeiten der Trump-Regierung öfters erlebt. Insofern auch keine Überraschung, aber dennoch bedauerlich und eine Schwächung des Bündnisses. Und Herr Wadephul hat sicher recht: Derartige Schritte freuen nur zwei auf dieser Welt, das sind Russland und China. Gewinner der Truppenverlegung könnte am Ende Putin sein Armbrüster: Herr Naumann, wenn es tatsächlich zu diesem Truppenabzug kommt, welche Folge hätte das für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands? Naumann: Wenn diese Truppen nach Polen verlegt werden oder zum Teil nach Polen verlegt werden, dann hat das keine dramatischen Auswirkungen für Deutschland und für Europa. Man muss allerdings fragen, ob das dann noch in Übereinstimmung steht mit der NATO-Russland-Akte, die ja eine permanente Stationierung von amerikanischen Truppen in Polen nicht vorsieht. Wenn die Zahl erheblich aus Europa verringert wird, dann ist der Gewinner der ganzen Sache Putin. Und im Gegensatz zu der doch recht laienhaften und beinahe dümmlichen Äußerung, die wir von Herrn Bartsch vorhin gehört haben, vermindern sich mit solchen Schritten dann die Chancen auf Abrüstung und Rüstungskontrolle. Das ist allerdings für einige deutsche Politiker ja kein Thema, denn die glauben ja, man könne Abrüstung vorantreiben und damit Sicherheit erreichen, was natürlich auch ein absoluter Trugschluss ist. Jeder amerikanische Abzug schwäche die NATO-Strategie Armbrüster: Aber es wäre ja de facto tatsächlich eine Verringerung von Soldaten in Deutschland, das heißt ... Naumann: Wissen Sie, Herr Armbrüster, es geht ja nicht um die Zahl der Soldaten, es geht darum, welche Kampfkraft dahintersteckt. Die amerikanischen Truppen sind sicherlich die am modernsten ausgestatteten und kampffähigsten des NATO-Bündnisses. Von daher gesehen ist eine Schwächung des gesamten Dispositivs der NATO natürlich mit jedem amerikanischen Abzug verbunden. "Verteidigungsfähigkeit im NATO-Europa nicht so arg gut" Armbrüster: Sie müssen uns jetzt noch mal genauer erklären, was sich da jetzt in Osteuropa tut. Sie sagen, Putin könnte der große Gewinner sein, woran liegt das? Naumann: Putin rüstet doch sehr einseitig und sehr deutlich auf, vor allem im nuklearen Bereich. Das ist aber offensichtlich einigen deutschen Politikern bisher weitgehend entgangen, die glauben, man könnte in einer solchen Situation einer Aufrüstung mit Atomwaffen, die ausschließlich auf Europa gerichtet sind, Sicherheit durch Abrüstung erreichen. Mich macht diese Situation besorgt, weil sie im Grunde genommen an das erinnert, was wir in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren erlebt haben und dann glücklicherweise überwunden haben durch einen Doppelansatz von Abrüstung und glaubhafter Verteidigungsfähigkeit. Aber mit der glaubhaften Verteidigungsfähigkeit ist es heute im NATO-Europa und eben auch in Deutschland nicht mehr so arg gut bestellt, insofern haben wir auch für Verhandlungen nichts auf die Waagschale zu werfen. Vorwand zur Aufrüstung für russisches Militär Armbrüster: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, mit so einer Truppenverlegung nach Polen würden die USA Russland eine weitere Entschuldigung, einen weiteren Vorwand liefern, um weiter aufzurüsten. Ist diese Schlussfolgerung so korrekt? Naumann: Na ja, also wissen Sie, das russische Militär nutzt jede Gelegenheit, um das Gespenst einer angriffsbereiten NATO an die Wand zu malen, das ist das alte Feindbild, das aus den Köpfen des russischen Generalstabs offensichtlich nie verschwunden ist. Und wenn man angesichts Kräftedispositivs, das von dem Oblast Kaliningrad bis in die westlichen Bezirke der russischen Föderation reicht, das Kräfteverhältnis sieht, dann müssen die sich weiß Gott nicht fürchten, wenn ein- bis zweitausend zusätzliche amerikanische Soldaten nach Polen verlegt werden. Eine Angriffsfähigkeit entsteht daraus gewiss nicht, aber man wird das so darstellen und das als Rechtfertigung nutzen, um weitere Aufrüstungsschritte voranzutreiben. "Die Amerikaner brauchen Europa" Armbrüster: Herr Naumann, jetzt haben wir über Deutschland und Osteuropa gesprochen. Was würde ein solcher Truppenabzug denn für die US-Armee selbst bedeuten und für die US-Verteidigungsstrategie? Naumann: Das Wort Strategie im Zusammenhang mit US-Präsident Trump in den Mund zu nehmen, das ist gewagt. Ich von diesem Mann noch nichts gesehen, was auf irgendwie strategische Weisheit schließen lässt, aber lassen wir das beiseite. Die Amerikaner brauchen Europa als Drehscheibe für ihr weltweites strategisches Dispositiv. Und wenn sie hier Kräfte abziehen aus der idealen Drehscheibe Deutschland, dann schwächen sie ihre eigene strategische Handlungsfähigkeit. Dazu kommt, sie werden erhebliche Kosten verursachen, denn hier haben sie ein im Grunde gemachtes Nest, zu dem ja auch Deutschland nicht unerhebliche finanzielle Mittel in den letzten Jahren beigetragen hat. Wenn sie das woanders wiederaufbauen wollen, das gilt übrigens auch für Polen, müssen sie erst mal Geld in die Hand nehmen. Ob man das als klug bezeichnen kann in einer Zeit, in der auch Amerika, genauso wie wir, sein Geld für andere Dinge brauchen könnte, wage ich zu bezweifeln. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Naumann im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die Absicht der US-Regierung, die Präsenz ihrer Truppen in Europa und Deutschland zu verringern, sei zwar keine Überraschung, sagte der ehemalige Bundeswehrgeneral Klaus Naumann im Dlf. Doch sie schwäche das NATO-Bündnis. Damit verminderten sich auch die Chancen auf Abrüstung und Rüstungskontrolle.
"2020-06-06T12:10:00+02:00"
"2020-06-08T20:58:48.083000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/moeglicher-us-truppenabzug-aus-europa-schwaechung-des-nato-100.html
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"Unsere Familie möchte Deutschland danken"
António Eduardo Sá sprach am 12.9.2014 am Bahnhof Köln-Deutz mit dem DLF - 50 Jahre nachdem sein Großvater dort als "millionster Gastarbeiter" geehrt wurde. (Portugiesische Gemeinde/Cristina Krippahl) Freitag, 12. September, 12 Uhr. Bahnhof Köln-Deutz. Der Mann hat eine strapaziöse Reise hinter sich, wirkt aber alles andere als müde. António Eduardo Sá hat etwas für ihn sehr Wichtiges getan und blickt zufrieden in den blauen Spätsommerhimmel. Der Portugiese ist am Mittwochabend in Lissabon in den Zug gestiegen. Dort hat ihn auch der deutsche Botschafter verabschiedet. António Eduardo Sá ist der Enkel des "millionsten Gastarbeiters", der vor 50. Jahren in die Bundesrepublik kam und an den diese Woche in allen deutschen Medien erinnert wurde. Mit der Reise folgt der 44-jährige der Einladung der portugiesischen Gemeinde. Sie feiert morgen in Köln ein Doppeljubiläum: der Beginn der Einwanderung aus Portugal und "ihr" millionster Gastarbeiter, beides ist jetzt 50 Jahre her. António Eduardo Sá will aber vor allem seinen Großvater ehren und den Deutschen danken. Das ist seine Mission. "Mein Großvater hat oft betont, dass das Land perfekt organisiert sei." Dem Deutschlandfunk sagte Sá nach der Ankunft, sein Großvater Armando Rodrigues de Sá und viele andere Portugiesen hätten in den 1960er-Jahren aus wirtschaftlicher Not, aber auch wegen der Salazar-Diktatur das Land verlassen müssen. Es seien mutige Männer gewesen, die viel auf sich genommen hätten, um die Familien ernähren zu können. In der Bundesrepublik seien sie gut aufgenommen worden. "Mein Großvater hat immer gut über die Deutschen gesprochen, er fühlte sich gut behandelt und hat oft betont, dass das Land perfekt organisiert sei." Die Familie freut sich über das Interesse aus Deutschland am "millionsten Gastarbeiter". Zu runden Jubiläen, aber auch sonst kämen immer wieder deutsche Journalisten in den kleinen Heimatort Vale de Madeiros. Das habe sich auch nach dem Tod des Großvaters im Jahr 1979 nicht geändert, berichtet Sá. Er sei immer überrascht, wie sehr sich die Deutschen auch allgemein mit den Themen Einwanderung und Integration beschäftigten. In Portugal ist der "millionste Gastarbeiter" kaum bekannt. Sá überrascht das nicht. Für die portugiesische Gesellschaft sei das Eingeständnis schwer, dass das Land seine Menschen nicht alle ernähren könne. Es sei schließlich eine Schande, dass es in jeder Generation viele Emigranten geben müsse. Der Enkel muss immer mit Arbeitslosigkeit rechnen Der Enkel des "millionsten Gastarbeiters" weiß, wovon er spricht. Er ist zwar in Portugal geblieben, doch als Lehrer hangelt er sich auch mit Mitte 40 noch von Zeitvertrag zu Zeitvertrag und muss immer mit der Arbeitslosigkeit rechnen. So wie ihm geht es vielen und immerhin hat er noch Arbeit. An diesem Wochenende wird aber gefeiert. António Eduardo Sá freut sich auf die Veranstaltungen der Deutsch-Portugiesen in Köln. Auch sein Vater und die Tante kommen. Die beiden hochbetagten Kinder des "millionsten Gastarbeiters" nehmen allerdings nicht den Zug, sondern fliegen nach Köln. Gemeinsam wollen sie auch einen Abstecher nach Bonn machen. Dort im "Haus der Geschichte" steht inzwischen das Moped, das Armando Rodrigues de Sá 1964 bei seiner Ankunft in Deutschland geschenkt bekam.
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Vor 50 Jahren kam Armando Rodrigues de Sá als millionster Gastarbeiter in der Bundesrepublik an. Nun hat sein Enkel dieselbe Bahnreise von Lissabon nach Köln-Deutz absolviert. Er will seinen Großvater ehren - und hat auch den Deutschen einiges zu sagen.
"2014-09-12T15:00:00+02:00"
"2020-01-31T14:03:28.648000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-enkel-des-millionsten-gastarbeiters-unsere-familie-100.html
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Spannend bis zur letzten Minute
Schon vor der Wahl wurde in Virginia demonstriert. (picture alliance / dpa / Michael Reynolds) Die Demokraten beschließen ihren Wahlkampf mit prominenter Besetzung und mit einem musikalischen Feuerwerk - Hillary Clinton hat Präsident Barack Obama und die Rockstars Bon Jovi und Bruce Springsteen zur Abschlusskundgebung nach Philadelphia/Pennsylvania eingeladen. Donald Trump hingegen blieb auch auf den letzten Stationen seines Wahlkampfs bei der gewohnten Besetzung: bei Donald Trump solo. Er kam am letzten Wahlkampftag auf fünf Veranstaltungen in sogenannten Swing States, also in jenen besonders umkämpften Bundesstaaten, in denen die Präsidentschaftswahlen an diesem Dienstag entschieden werden. Es werde ein "Brexit plus, plus"-Ergebnis geben, sagte Donald Trump in Anspielung auf den unerwarteten Ausgang beim EU-Referendum der Briten. Und er blieb bei seinen Feindbildern - bei crooked Hillary, der verlogenen Hillary, wie er sie seit Monaten nennt. Und beim "korrupten Establishment in Washington", das Donald Trump ab morgen wie einen Sumpf austrocknen möchte. Kein Wort zur E-Mail-Affäre Hillary Clinton ging bei ihren letzten Wahlkampfauftritten mit keinem Wort auf die überraschende Wende in ihrer E-Mail-Affäre ein. Erst am Sonntag hatte ihr FBI-Chef Comey erneut attestiert, sich in ihrer Zeit als US-Außenministerin keine justiziablen Fehltritte im Umgang mit ihren E-Mails geleistet zu haben. Die Kampagnen-Manager Clintons reagierten zwar erleichtert - können sich aber nicht sicher sein, ob dieser Freispruch für die Kandidatin überhaupt noch beim Wähler ankommt. Hillary Clinton selbst blieb denn bei ihrer Botschaft, dass es bei diesen Präsidentschaftswahlen um eine folgenschwere Richtungsentscheidung gehe: zwischen der spalterischen Programmatik Donald Trumps und ihrem Credo der amerikanischen Einheit. Wahlkampf der Skandale An diesem Dienstag geht ein monatelanger Wahlkampf zu Ende, der der härteste, schmutzigste und perfideste Wahlkampf der jüngeren amerikanischen Geschichte war. Er war geprägt von Skandalen auf beiden Seiten - bei Hillary Clinton war es vor allem die E-Mail-Affäre, die sie schwer belastete, aber auch die etwas dubiosen Praktiken in ihrer Familienstiftung. Bei Donald Trump waren es sexistische Äußerungen, die ihn ins Straucheln brachten. Aber auch unverhohlene Lügen und gezielte Tabubrüche, die er im Namen der Political Incorrectness geradezu zelebrierte. Auf Florida kommt es an Es ist für viele ein Phänomen, dass Donald Trump mit seinem Anti-Establishment- und Ressentiment-geladenen Wahlkampf immer noch derart gut im Rennen liegt. Hillary Clinton ist zwar Favoritin - sie liegt bei allen Umfragen zwischen zwei und vier Prozentpunkten vorne. Doch nicht zuletzt ihr erschöpfendes Wahlkampfprogramm auf den letzten Metern zeigt: Das Rennen ist noch nicht gelaufen. Es entscheidet sich vor allem in Florida. Bekommt sie dort die 29 Stimmen der sogenannten Wahlmänner, dürfte ihr der Sieg kaum mehr zu nehmen sein. Gewinnt dort Trump, wird es enger. Es bleibt also spannend bis zur letzten Minute.
Von Thilo Kößler
Der wohl schmutzigste Wahlkampf der jüngeren US-Geschichte ist zu Ende. Zum Abschluss zeigte sich Hillary Clinton noch einmal mit prominenten Unterstützern wie Barack Obama und Bruce Springsteen - während Donald Trump bei der gewohnten Besetzung blieb: Trump solo. Fest steht: Es bleibt knapp.
"2016-11-08T05:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:03:09.410000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-wahl-spannend-bis-zur-letzten-minute-100.html
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Turbo für die Reha
Die ernüchternden Ergebnisse einer Studie aus den USA ließen das Interesse an der Hirnstimulation schwinden. (imago / Science Photo Library) Der Plan klang verwegen. Patienten, deren Hände nach einem Schlaganfall gelähmt waren, sollte ein kleines Loch in den Schädel gebohrt werden. In dieses Loch wollten die Ärzte dann eine schmale Elektrode implantieren. Das Kalkül: "Wenn man direkt unter die Schädeldecke auf die Hirnrinde eine Elektrode legt und dort das Gehirn stimuliert, dass das in Kombination mit Training der gelähmten Hand zu einer Verbesserung führen sollte. Das war das Konzept", sagt Friedhelm Hummel, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Um eine gelähmte Hand wieder möglichst gut benutzen zu können, müssen Schlaganfallpatienten eine aufwendige Reha absolvieren. Sie müssen ausdauernd und geduldig trainieren. Durch dieses Training wird das geschädigte Gehirn quasi umprogrammiert und lernt von Neuem, die Bewegung der Hand zu steuern. Dieses Umlernen sollten die schwachen Stromstöße aus der implantierten Elektrode erleichtern - und zwar indem sie die Erregbarkeit der Hirnrinde erhöhen und den intakt gebliebenen Nervenzellen helfen, sich neu zu organisieren. Damit sollte das Training effizienter und die Hand des Patienten beweglicher werden - so jedenfalls die Idee. "Interessantes Konzept, vielversprechendes Konzept. In kleinen Studien hat sich schon ganz gut gezeigt, dass das funktionieren könnte. Das hat dann dazu geführt, dass in Deutschland an wenigen Zentren - in Hamburg, Freiburg, Berlin - eine neue Studie mit einem detaillierten Studiendesign aufgelegt wurde und auch schon ein Patient in Hamburg implantiert wurde." Nach US-Studie sprangen Investoren ab Das war 2008. Insgesamt 20 Patienten wollten die Mediziner eine Hirnelektrode einsetzen und prüfen, ob sie mit der Stromstimulation ihre Hände wieder besser bewegen konnten. Doch dazu kam es nicht. Denn kurz zuvor schien eine US-Studie gezeigt zu haben, dass die Hirnstimulation nur wenig bringt: Bei vielen Patienten war das Training mit Stromunterstützung kaum oder gar nicht effizienter gelaufen als ohne. Das aber, meint Friedhelm Hummel, dürfte nicht an der Methode an sich gelegen haben, sondern an einer mangelhaften Ausführung der Studie in den USA: "Um Zeit zu sparen vermutlich, wurde in dieser US-Studie drauf verzichtet, während der Operation genau zu gucken, ob ich mit der Elektrode tatsächlich in der motorischen Hirnrinde liege, wo ich die Handfunktion steuern. Das hat sich retrospektiv als ein Fehler gezeigt." Doch damals hatte der vermeintliche Misserfolg der US-Studie eine gravierende Folge: Der Herstellerfirma der Hirnelektrode sprangen die Investoren ab. Und dadurch musste die deutsche Studie, bei der den Patienten die Elektrode viel gezielter eingesetzt werden sollte, nach nur einem Patienten abgebrochen werden. "Halte ich für sehr schade, weil es ein vielversprechendes Konzept ist. Man kann nur hoffen, dass man in Zukunft noch mal eine Unterstützung findet, um so eine Studie durchzuführen, oder ob sich dann wieder eine Firma interessiert." Aufgeklebt, statt eingepflanzt Dennoch haben die Forscher das Prinzip seitdem fortentwickelt. Allerdings auf andere Weise - und zwar nichtinvasiv, also mit aufgeklebten statt mit implantierten Elektroden. "Das sind Elektroden, die ungefähr fünf mal fünf Zentimeter groß sind. Dann wird ein schwacher Strom wie von einer Neun-Volt-Batterie in einer bestimmten Zeit appliziert. Und damit kann man die Fähigkeit der Hirnrinde, die unter der Elektrode liegt, sich umzuorganisieren, verbessern." Das elektrische Feld wird also nicht unterhalb der Schädeldecke erzeugt, sondern oberhalb. Zurzeit läuft in Europa eine große klinische Studie, die die Wirksamkeit des Verfahrens prüfen soll. "Unsere Hypothese ist, dass die Kombination aus Hirnstimulation mit Training selbst ein Jahr nach dem Schlaganfall einen Vorteil bringt." Dieser Vorteil dürfte je nach Patient recht unterschiedlich ausfallen, schätzt Hummel - und hofft auf Verbesserungen zwischen 10 und 50 Prozent. Mit einem Ergebnis der aktuellen Studie ist in zwei Jahren zu rechnen. Sollte das Konzept dann aufgehen - wäre damit die Idee der implantierten Elektrode vom Tisch? Nicht unbedingt, meint Hummel. Es könnte sein, dass etwa in schweren Fällen eine eingepflanzte Elektrode einen größeren Effekt bringt als eine aufgeklebte. Nur: Um das zu beweisen, müssten die Forscher erst mal die Mittel für eine neue Studie zusammenbekommen.
Von Frank Grotelüschen
Stromstöße aus einer ins Gehirn eingepflanzten Elektrode sollten Schlaganfallpatienten dabei helfen, verlorene Fähigkeiten wieder zu lernen. 2008 wollten Mediziner dieses Training in einer deutschlandweiten Studie prüfen. Doch dazu kam nicht - auch wenn die Wissenschaftler das Konzept weiterhin für vielversprechend halten.
"2015-03-17T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T12:26:58.203000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hirnimplantat-turbo-fuer-die-reha-100.html
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Umsetzung fraglich
Start der einrichtungsbezogenen Impfpflicht: Von 15. März an müssen Beschäftigte in den Einrichtungen des Gesundheits- und Pflegebereichs nachweisen, dass sie vollständig gegen das Coronavirus geimpft sind. (picture alliance/dpa)
Jeske, Ann-Kathrin
Ab dem 15. März gilt die einrichtungsbezogene Impfpflicht: Pflegekräfte müssen ihren Arbeitgebern dann nachweisen, dass sie vollständig geimpft sind. Doch Betretungs- oder Beschäftigungsverbote für ungeimpfte Mitarbeiter wird es vorerst nicht geben. Dafür ist die Personaldecke in der Pflege zu dünn und die Versorgung der Patienten darf unter keinen Umständen riskiert werden.
"2022-03-15T07:48:00+01:00"
"2022-03-15T07:55:27.053000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/start-einrichtungsbezogene-impfpflicht-dlf-79586939-100.html
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Ex-CIA-Agent packt aus
Wer hätte gedacht, dass Hollywoodklischees manchmal so nahe an der Realität sein können? Dieser Eindruck zumindest drängt sich auf, wenn der Ex-CIA-Agent sein Verhör eines Terrorverdächtigen beschreibt:"Ich bin ein amerikanischer Geheimdienstoffizier. Ich bin von der CIA." Ich sah ihn einen Moment lang schweigend an."Die CIA hat Sie entführt und hergebracht. Wissen Sie, was die CIA ist?" CAPTUS nickte. "Wir haben Sie über längere Zeit hinweg beobachtet. Wir wissen alles über Sie. Wir wissen viele Dinge. Wir haben beschlossen, dass es an der Zeit ist, Ihre Arbeit mit Al-Quaida zu beenden."Im Spätherbst 2002 erhielt Glenn L. Carle den Auftrag, einen arabischen Geschäftsmann zu verhören, angeblich ein hochrangiger Al-Quaida-Kader. Einen Job, auf den sich der erfahrene CIA-Agent freute – wie er schreibt, vor allem aus Idealismus, in dem Bewusstsein, einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Terror zu leisten. CAPTUS, so der CIA-Codename des Inhaftierten, war in einem Geheimgefängnis bei einer befreundeten Macht eingesperrt worden. Außerhalb des Radarschirms der Weltöffentlichkeit, rechtlos, hilflos. Carle macht ihm im Verhör klar, dass dessen Schicksal in seinen Händen liegt."CIA-Agenten reisen nicht um die Welt, um ihre Zeit zu verschwenden. Sie werden meine Zeit nicht verschwenden, denn ich werde wissen, ob Sie meine Zeit verschwenden, und dann werde ich sehr wütend werden. Und es wird nicht angenehm für Sie sein, wenn Sie mich oder meine Vorgesetzten wütend machen."Andeutungen machte er nicht nur gegenüber seinem Gefangenen. Auch in seinem Buch hält er vieles im Vagen – notgedrungen. Carle ist zwar längst kein Agent der CIA mehr, ihm könnte aber auch noch nach seinem Ausscheiden eine Anklage wegen Geheimnisverrats drohen: Deshalb überließ er das Buchmanuskript vor der Veröffentlichung seinem früheren Arbeitgeber zur Durchsicht. Zwei Jahre dauerte der "Clearing"-Prozess, in dem das Manuskript wechselseitig immer und immer wieder redigiert wurde. In seiner Endfassung enthält der Text viele schwarze Balken, die dokumentieren, dass Carle gerne noch mehr gesagt, noch präziser seine Innensicht des Anti-Terror-Kampfes vorgetragen hätte. Erstaunlich schnell gelang es Journalisten, nachdem das Buch im Sommer 2011 in den USA veröffentlicht wurde, die kryptischen Andeutungen zu dechiffrieren. Ihre Rechercheergebnisse fasst der Lektor der deutschen Ausgabe, Frank Strickstrock vom Rowohlt-Verlag, in einem Nachwort wie folgt zusammen:"Der etwa 45-jährige Paschtune Haji Pacha Wazir, ein afghanischer Staatsbürger, ist eine Art Privatbankier, ein geachteter Mann. (...) Ein solches informelles Kapitaltransfersystem (...) zieht auch Kunden an, die in der Illegalität operieren, Kriminelle zum Beispiel – oder Terroristen. (...) Die CIA ist davon überzeugt, eine Schlüsselfigur des Terrors gefangen zu haben. (...) Für sie ist Wazir nicht mehr und nicht weniger als der Bankier Bin Ladens."Was der CIA-Agent möglichst schnell aus CAPTUS herauspressen soll. Der "Interrogator" setzt auf maßvollen Druck und möchte den Gefangenen von einer Zusammenarbeit überzeugen. Doch seiner Zentrale geht das nicht schnell genug. Gegen Carles Rat wird CAPTUS aus dem Geheimnisgefängnis in Marokko in ein anderes in Afghanistan gebracht, in das berüchtigte "Hotel California", wie es die CIA zynisch nennt. Hier ist CAPTUS Tag und Nacht Dauerbeschallung ausgesetzt, Schlafentzug, Kälte, Isolation. Qualen, die ihn weichkochen sollen für die anschließenden Verhöre. In Hollywoodfiktionen wird Gewalt gerne ästhetisch zelebriert, als Sinnenschmaus serviert; CIA-Agent Carle hingegen hat das reale Leiden seines Gefangenen ernüchtert und deprimiert, wie er bei einer Buchpräsentation bei der New America Foundation berichtet:"Das ist keine Geschichte über Action und Kühnheit, auch wenn Sicherheitskräfte darin vorkommen und Schusswaffen, Flugzeuge, Verhöre, Verhörtechniken – all das ist drin. Aber ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um diese Dinge in den Mittelpunkt zu stellen. Mein eigentliches Thema ist: Was haben wir uns bei dieser Sache selber angetan - und wie ist es dazu gekommen? Und noch wichtiger: Wie sollen wir jetzt damit umgehen?"Stilistisch setzt Carles Buch keine Glanzlichter. Seine Sätze wirken bisweilen arg verschachtelt. Bei Detailbeschreibungen müht sich Carle oft angestrengt um Genauigkeit, bleibt dann wieder an anderer Stelle allzu vage - notgedrungen, weil ihm der CIA-Zensor nicht mehr erlaubte. Doch kann man dem behördlichen Lektorat kaum in die Schuhe schieben, dass der Text in Gänze nicht aus einem Guss erscheint: Unverbunden stehen reportagehafte Reiseepisoden neben flammenden ethischen Appellen und nüchternen Ablaufprotokollen. Ein herausragender Literat ist Carle nicht – aber als Kronzeuge sticht er hervor. Von Bedeutung ist das Buch nicht dadurch, wie Carle schreibt, sondern was. Die Schreibtischtäter in der Zentrale ordneten die Gewaltexzesse gegen CAPTUS an, obwohl Carle ihn für unschuldig hielt und seine Vorgesetzten in Telegrammen beschwor, den Mann nicht quälen zu lassen. Es dauerte sechs Jahre, bis sich die Bürokraten ihren Irrtum eingestanden und CAPTUS alias Wazir auf freien Fuß setzten. Wie weit Carle im Detail an der Folter seines Gefangenen beteiligt war, bleibt durch die Schwärzungen des Manuskripts im Dunkeln. Doch klar wird, welche Konsequenz er daraus zieht: Durch Folter Informationen erpressen zu wollen, dient nicht der Wahrheitsfindung und ist nicht zu rechtfertigen – auch nicht durch den viel beschworenen "Kampf gegen den Terror".Glenn L. Carle: "Interrogator. In den Verhörkellern der CIA", Rowohlt Verlag, 448 Seiten, 22,95 Euro, ISBN: 978-3-498-00941-0
Von Daniel Blum
Glenn L. Carle, hochrangiger Regierungsberater und langjähriger CIA-Agent erzählt in seinem Buch "Interrogator" über seine Arbeit als Vernehmer in den Geheimgefängnissen der CIA. In den USA wurde es als großes Enthüllungsbuch gefeiert. Allerdings bleibt er teilweise aufgrund des CIA-Zensors recht vage.
"2012-03-26T19:15:00+02:00"
"2020-02-02T14:09:11.690000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ex-cia-agent-packt-aus-100.html
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Sterben auf Augenhöhe
Das Tier ist Träger von Bedeutungen und Charaktereigenschaften, aber als Tier ist es dem Menschen bloß zu- und untergeordnet. In den Kriegen des letzten Jahrhunderts ändert sich das - im Sterben der Tiere spiegelt sich das der Menschen. Nicht zuletzt im Angesicht ihres Todes wird die Bestialität des Krieges erfahren. Der Tod der Bienen widerspiegelt die Auslöschung ganzer Gemeinschaften. Das Verenden der Pferde findet statt in einer Gewalttragödie, die Beteiligte ebenso wie Unbeteiligte trifft. Im Auge der dahinsiechenden Kreatur enträtselt der Soldat sein bevorstehendes Schicksal. Nun wird gestorben auf Augenhöhe. Wir Menschen leben und sterben inmitten eines Ozeans sterbender Tiere, sensibler Lebewesen, deren brutales und meist zu frühes Ableben von uns vielfach verursacht und oftmals mit Gleichgültigkeit quittiert wird. Der Kahn, der mit der toten Kreatur über den Styx fährt, ist übervoll und wird stets voller. Elisabeth Kolbert hat in ihrem Buch "Das sechste Sterben" die Massenexstinktion beschrieben, die in unseren Tagen unzählige Tierarten in beschleunigtem Tempo heimsucht, Tierarten, die zu unseren vermeintlichen Gunsten endgültig ihren Platz im Dasein räumen müssen. Kolbert spricht von der "unkrautartig wuchernden Spezies" Mensch, die die Gangart der Artenvernichtung mittlerweile ins Diabolische gesteigert habe. Unsere Welt fällt dadurch einer Verarmung anheim, die mittlerweile nahezu ontologische Ausmaße angenommen hat: Sie wird trotz des umfassenden Lärmens, zu dem wir uns entschlossen haben, immer eintöniger und stiller. In diesem wachsenden Schweigen kommen uns die Gefährten abhanden, die uns die Schönheit der Welt zu zeigen vermochten und mit ihr die Tröstung durch animalisches Leben. Es gebietet die historische Gerechtigkeit, das Bild unseres Zeitalters nicht zu überblenden mittels Mutmaßungen über eine Vergangenheit, die oftmals das Produkt unserer Wünsche ist und der durch diese beflügelten Projektionen. Das Tier war unvordenkliche Zeiten lang hauptsächlich Material für den Menschen, sobald die tierische Gefahr, die uns umlauerte, einigermaßen gebannt und die Bestien von einst erfolgreich domestiziert, also kleingezüchtet waren. Tiere galten fortan als Nahrungsmittel, als Arbeits- und Kriegsmaterial. Als Nahrungsquelle werden sie inzwischen wieder hochgezüchtet und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als Arbeitsmaterial, vor allem als Kriegsmaterial, haben sie in etlichen Teilen der Welt ausgedient. Tiere erfahren geringe Wertschätzung Neben der Herabstufung zum Materialbestand menschlicher Zivilisationsprozesse und zur lebendigen Waffe in den ungezählten Schlachten seit Menschengedenken hat es immer auch eine Hinaufstufung gegeben. Tiere wurden zu Trägern von Bedeutungen religiösen oder philosophischen Zuschnitts, besonders jedoch zu Bildern lasterhafter oder tugendhafter Charaktereigenschaften. Aber sowohl in ihrer Materialfunktion als auch in ihrer Zeichenhaftigkeit war der Raum für eine Wertschätzung der Tiere als Lebewesen eigener Dignität eher gering. Hing das eigene Schicksal von einem individuellen Tier ab, entstand manchmal eine Anhänglichkeit seitens des Menschen. Aber zarte, emotional gefärbte Beziehungen hatten doch eher Seltenheitswert. Bis vor wenigen Jahrzehnten war sogar die Fähigkeit der Tiere, Schmerzen zu empfinden, höchst strittig geblieben. Erst in Zeiten der Sattheit, die ihrerseits auf einem gewaltigen Tierkonsum aufbauten, entstanden kleine Zonen schonenden oder gar kommunikativen Umgangs. Zum Freizeitgenossen eignet sich das Tier inzwischen allemal. Von alldem unterscheiden sich das Leben und das Sterben der Tiere in Zeiten des modernen Krieges. Tiere, vor allem die Pferde, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre letzten Kriegsdienste erfüllten, wurden zu Schicksalsgenossen, zu Brüdern und Schwestern im Verderben. Es scheint so, als seien die Gattungsgrenzen angesichts der extremen Situation für eine Weile durchlässig geworden, als suchten Menschen die Nähe zu der sterbenden und massakrierten animalischen Welt, um das Ausmaß der Gewalt zu verstehen und das eigene, bevorstehende Los zu entziffern. Die Berichte über das Erlöschen tierischen Lebens kommen weitgehend ohne einen Anthropomorphismus aus, der Tiere als Projektionsfläche für das Geschick des Menschen benutzt. Das Mitleiden mit ihnen ist vielmehr spontan und legt Zeugnis von einer geteilten Katastrophe ab, in der die Trennung der Gattungen einem Bündnis im Untergang weichen muss. Vielleicht bewahrheitet sich hier, was Max Weber in seiner berühmten religionssoziologischen "Zwischenbetrachtung" über den Krieg notierte, nämlich, dass es dort gelegentlich zu einer "Arbeit des Erbarmens", zu einer "alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen" käme. In den literarisch‑rapportierenden Stimmen von Isaak Babel, Curzio Malaparte und Claude Simon werden wir zu Zeugen dieses Geschehens, diesmal über die Speziesgrenze hinaus. Der qualvolle Tod seiner Tauben offenbart Schriftsteller Isaak Babel spiegelbildlich die Demütigung des Menschen (picture alliance / dpa / Patrick Pleul) Der im Jahre 1894 in Odessa geborene und unter Stalin hingerichtete Isaak Babel nahm als Berichterstatter teil am heute weitgehend vergessenen Polnisch-Sowjetischen Krieg der Jahre 1919 bis 1921. Den Tieren galt sein besonderes Augenmerk. Bereits als Schüler, der größte Anstrengungen unternehmen musste, um die geringe, den Juden vorbehaltene Quote zur Aufnahme in die Vorbereitungsklasse des Gymnasiums zu erfüllen, hatte Babel am eigenen Leib den Tod der Tiere erfahren. Ihm waren damals als Belohnung für die Aufnahme ein Taubenschlag in Aussicht gestellt worden und nun, nachdem er zum Stolz der ganzen jüdischen Verwandtschaft geworden war und sein Onkel Schojl jenen Taubenverbleib aus einer Kiste gezimmert hatte, machte der kleine Babel sich auf den Weg, die Tauben zu kaufen. Mit den sorgfältig unter seinem Hemd verborgenen Tauben begab sich der stolze Besitzer auf den Heimweg, stieß dabei allerdings auf den beinlosen Krüppel Makarenko und seine Frau Katjuša. In "Geschichte meines Taubenschlags" hat Babel erzählt, wie er von den beiden Gestalten eingeklemmt wurde und Makarenko die Täubchen, auf die er aufmerksam geworden war, aus ihrem Versteck zerrte und sie dem Jungen ins Gesicht schlug. "Ich lag auf der Erde, und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab. Sie wanden sich meine Wangen entlang, besudelten mich und machten mich blind. Zartes Taubengedärm kroch über meine Stirn, und ich schloss das letzte unverklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir ausbreitete. Eng und schrecklich war diese Welt. Vor meinen Augen lag ein Kieselstein, ein Kiesel schartig wie das Gesicht einer Alten mit großem Kiefer, nicht weit davon lagen ein Stück Bindfaden und ein Büschel Federn, das noch atmete. Ich schloss die Augen, um sie nicht zu sehen, und presste mich an die Erde, die beruhigend stumm vor mir lag. Die Erde roch nach feuchten Tiefen, nach Grab, nach Blumen. Ich spürte ihren Geruch und begann zu weinen, ohne jede Angst. Ich ging auf einer fremden, mit weißen Schachteln übersäten Straße, ich ging in meinem blutigen Federschmuck, allein mitten auf dem Trottoir, dem sonntäglich blankgefegten Trottoir und ich weinte so bitterlich." Hier zeichnet sich bereits ab, was Babel später zutiefst bedrängen wird - der Tod der Tiere, der spiegelbildlich zu einer Demütigung des Menschen geworden ist, in einer Welt, die man am liebsten nicht mehr sehen möchte, weil sie sich uns als entsetzliche Fratze offenbart. Verdunkelt muss einem die Welt erscheinen, sobald eine Willkür des Tötens geboten scheint, der die Täter sich gerne unterordnen und schrankenlos, unterschiedslos und beliebig Opfer hervorbringen. Es sind die kleinen Notizen Babels, die so beklemmend wirken, weil sie wie ein plötzliches, erschrockenes Innehalten daherkommen. In seinem Kriegstagebuch hält er folgende Szene fest: "Neben einer der Hütten - eine abgestochene Kuh, die zum ersten Mal gekalbt hatte. Das bläuliche Euter auf der Erde die pure Haut. Unbeschreiblicher Jammer! Eine junge Mutter hat man getötet!" Die Würde der Bienen In seinem Hauptwerk - "Die Reiterarmee" - finden sich ergreifende Szenen tierischen Leidens, wie beispielsweise die mit "Weg nach Brody" übertitelte Erzählung über das Verschwinden der Bienen. Babel ist fassungslos ob der kaltblütigen Vernichtung der Bienenstöcke. Deren Zerschlagung widerspiegelt die der Dörfer, in denen sie stehen. Die Ausrottung der Bienenvölker ist ein Bestandteil der Heimsuchung allen Lebens im Krieg und nicht bloß Symbol der Menschenabschlachtung. "Ich trage Trauer um die Bienen. Verheert sind sie von feindlichen Armeen. In Wolhynien gibt es keine Bienen mehr. Wir haben die unbeschreiblichen Bienenstöcke geschändet. Wir haben sie ausgeräuchert mit Schwefel und gesprengt mit Pulver. Rußgeschwärzte Lappen verbreiteten Gestank in den geheiligten Republiken der Bienen. Sterbend, flogen sie langsam und summten kaum hörbar. Da wir kein Brot mehr hatten, holten wir uns mit den Säbeln Honig. In Wolhynien gibt es keine Bienen mehr." Nun ist es der Tod der kleinen Honigbeflissenen, der einen Jammer auslöst, in dem sich zeigt, was der Krieg zu bewerkstelligen vermag. Unüberhörbar ist das Erschrecken darüber, dass das Leid sich ausbreitet bis in die kleinsten Behausungen nichtmenschlicher Lebewesen. Nirgendwo kann man sich noch in Sicherheit wähnen, wenn alles - zur Beute geworden - niedergemetzelt werden kann. Und ausgerechnet in einer solchen Situation wird die Würde des Tieres, die Würde der Bienen, verteidigt, indem auf eine religiöse Erzählung zurückgegriffen wird, in der sie zu anrührenden Helden werden. Für Schriftsteller Isaak Babel ist die Ausrottung der Bienenvölker Bestandteil der Heimsuchung allen Lebens im Krieg (picture alliance/dpa/Foto: Patrick Pleul) "Von der Biene und ihrer schönen Seele schwatzen die Weiber bei uns in der Staniza, - antwortete der Zugführer, mein Freund, - was sie nicht alles schwatzen. Ob die Menschen Christus ein Leid angetan haben oder ob es dieses Leid nie gegeben hat, das erfahren alle andern erst im Lauf der Zeit. Aber nun ja - so schwatzen die Weiber in der Staniza - Christus leidet also am Kreuz. Da schwirren zu Christus alle möglichen Mücken, um ihn zu schikanieren. Er schaut sie an mit seinen Augen und er verliert allen Mut. Aber die unzähligen Mücken können seine Augen nicht sehen. Und zur selben Zeit fliegt um Christus herum eine Biene. 'Stich ihn', - rufen ihr die Mücken zu, 'stich ihn, auf unsere Verantwortung!' … 'Das kann ich nicht,' sagt die Biene und hält ihre Flügel über Christus, 'das kann ich nicht, er stammt aus der Klasse der Zimmerleute' …" Zusammen mit dem Untergang der Bienen wird der Untergang einer Imagination besiegelt, die sich ihrer bediente, um Frömmigkeit und Haltung zum Ausdruck zu bringen. Im Dahinsiechen der Tierchen versiegt gleichzeitig die Quelle, aus der sich schöpfen lässt, um uns selbst zu deuten. Ohne sie würden wir womöglich nicht wissen, wer wir sind, zu was wir in der Lage sind, aber auch nicht, was wir sein könnten. Auf Augenhöhe mit den sterbenden Bienen sterben wir einen dem ihrigen gleichenden Tod als Opfer einer kalten Massakrierung. Nackte, unbedingte Treue der Pferde - bis in den Tod Es gibt allerdings ein Tier, das in diesem Kosmos des Sterbens über ein fragwürdiges Privileg verfügt - das Pferd. Zivilisationsgeschichtlich ist vermutlich kein Tier dem Menschen so nahe gekommen wie dieses. Ulrich Rauff hat in seinem grandiosen Werk "Das letzte Jahrhundert der Pferde" diesen ein wahres Denkmal gesetzt. Vermutlich ist der Mensch keinem Tier körperlich so nahegekommen wie dem Pferd, sodass man fast von einer symbiotischen Beziehung im Wortsinn sprechen kann. Das Sterben eines Pferdes erinnert den Menschen an seinen Leib, seine Angst und Zittern, an die eigene Todesfurcht. "Der Chef der Kavalleriereserve" lautet die Überschrift einer Eintragung in Babels "Reiterarmee". Sie erzählt von einem Wechsel der Pferde, wobei die Kavalleristen ihre zerschundenen und verrittenen, dem Tode nahen Gäule gegen frische Pferde, die sie den Bauern stehlen, eintauschen. Einer der Bauern protestiert gegen diese Ungerechtigkeit, hinweisend auf das völlig entkräftete Tier zu seinen Füßen. Da erscheint der Chef der Reitereinheit Djakov. "In den schönen Beinen federnd, die um die Knie mit Riemchen geschnürt waren, hoch aufgeschossen und gewandt, wie auf der Bühne, bewegte er sich langsam auf das verendende Tier zu. Dieses richtete kläglich sein strenges tiefes Auge auf Djakov, leckte von dessen himbeerroter Handfläche etwas wie einen unsichtbaren Befehl und sofort verspürte das entkräftete Pferd die kundige Kraft, die von diesem ergrauten blühenden und strotzenden Romeo ausging. Schnuppernd und mit den Beinen, die immer wieder einknicken, ausgleitend, das Kitzeln der ungeduldigen und gebieterischen Peitsche unter dem Bauch, hob sich die Mähre langsam‑aufmerksam auf die Beine. Und so sahen wir alle, wie das schmale Handgelenk im wehenden Ärmel durch die schmutzige Mähne fuhr und die Peitsche sich mit einem Stöhnen an die bluttriefenden Flanken schmiegte. Am ganzen Körper zitternd, stand die Mähre auf allen Vieren und ließ Djakov keinen Blick ihrer ängstlichen, verliebten Hundeaugen. – 'Na bitte, es ist ein Pferd', - sagte Djakov." Hier stoßen zwei Welten aufeinander. Da ist der kleine Bauer, soeben seines eigenen Pferdes beraubt, das ihm durch unermüdliche Arbeit den bescheidenen Überlebensunterhalt sichert, in eine bittere Zukunft schauend, deren Vorabbild ihm im blutenden Tier vor Augen steht. Und da ist eben diese erschreckende Unterwerfung des Gauls unter die Gewalt Djakovs, der das Tier darin hindert, liegen zu bleiben und nie wieder aufzustehen. Erschütternd ist Babels Beschreibung der "ängstlichen, verliebten Hundeaugen" des Pferdes, die von einer blinden Anhänglichkeit bis zum Tode zeugen, von einer Treue, die in ihrer nackten Unbedingtheit durch Mark und Bein geht. Die Luft scheint geschwängert zu sein von einer erstickenden Atmosphäre todbringender Botschaften und Winke, von der Pestilenz einer allgegenwärtigen Brutalisierung des Sterbens. Im Schicksal der Pferde ist das unsere vorgezeichnet Curzio Malaparte, das Pseudonym von Kurt Erich Suckert, Sohn eines sächsischen Vaters und einer Mailander Mutter, war im Zweiten Weltkrieg, wie Babel gut zwei Jahrzehnte vor ihm, Kriegsberichterstatter. Für den Corriere della Sera war Malaparte auch im sowjetisch-finnischen Krieg, dem sogenannten "Winterkrieg" zwischen November 1939 und März 1940 tätig. In seinem Roman "Kaputt" werden die Kapitel nach Tieren eingeteilt. Das erste Kapitel lautet "Die Pferde". Mit dem Prinzen Eugen von Schweden unterhält sich der Ich-Erzähler in Stockholm über seine Kriegserlebnisse, in deren Fokus das Geschick der Pferde steht. In dem Abschnitt "Das Pferd - die Heimat" wird von einer Übernachtung in einem ukrainischen Dorf erzählt, wo der Berichterstatter abends mit seinem Wagen ankommt und nach einer Übernachtungsmöglichkeit sucht. In einem verlassenen Haus, vor dessen Zaun ein totes Pferd liegt, findet dieser einen Unterschlupf für die Nacht. Es wird die Vermutung angestellt, dass das Haus einem Juden gehört, der es schlagartig verlassen musste. Die Matratze ist aufgeschlitzt. Der Geruch des verwesenden Pferdes hängt bereits in den Räumlichkeiten und begleitet den Schlafenden während der ganzen Nacht. "Und abermals kam der Aasgeruch heran, blieb unter der Türe stehen. Ich war nicht ganz erwacht, ich hatte die Augen noch geschlossen und spürte, wie der Geruch mich ansah. Es war ein süßlicher, fetter Gestank, ein dichter, klebriger, tiefer Geruch, ein gelber, ganz grün gefleckter Geruch. Ich öffnete die Augen, es war Morgengrauen." Der Verwesungsgeruch ist zu einem Ding, zu einem Wesen geworden: Es sieht den Erwachenden an. Er, der Gestank, ist zu einem "es" geronnen, das alles durchdringt und an allem hängt. "Es war Morgengrauen", schreibt Malaparte, wobei - angesichts der Situation - dieses Grauen sowohl die frühmorgendliche Dämmerung bezeichnet als auch den Ekel und das Erschrecken, ausgelöst durch die Todesgegenwart des Pferdes. Das Morgengrauen ist der Verwesungsgestank des Tieres, der das Aufwachen in Zeiten des Krieges kennzeichnet. Im verwesenden Tier begegnet dem Erzähler die Aussicht auf das Ende ungezählter Kriegsteilnehmer und Opfer. Im Verlauf des Gesprächs zwischen dem Prinzen und dem Erzähler stoßen wir auf die Geschichte von den Eispferde(n). Wir befinden uns nun am russischen Ladogasee, an dessen Ufer die finnischen Truppen, die sogenannten Sissit-Einheiten, die russische Artillerie während des anbrechenden Winters zurückgedrängt hatten. In dieser Lage werden die russischen Soldaten von einer Feuersbrunst in den angrenzenden Urwäldern umlagert, wobei der Druck der finnischen Truppen die Pferde in die nicht sehr tiefen Ufergewässer des Sees zwingt. Während der Nacht schlägt das Wetter plötzlich um und eine fürchterliche Kälte, ausgelöst durch einen jähen Nordwind, lässt das Wasser im Eiltempo gefrieren. Und mit ihm erfrieren auch die panischen Pferde. "Er blickte auf die Pferdeköpfe, wie sie aus der Eisfläche herausragten, diese toten Köpfe mit der harten, eisstarren Mähne, wie aus Holz geschnitzt, diese weit aufgerissenen, glänzenden Augen, in denen noch die Angst flackerte. Er streichelte mit leichter Hand die emporgestreckten Schnauzen, die blutleeren Nüstern, die zu einem Wiehern der Verzweiflung zusammengezogenen Lippen, einem Wiehern, das in dem von eisgeronnenem Schaum gefüllten Maul erstorben war. Dann gingen wir schweigend und streichelten im Vorbeigehen die durch ihre dünne Schneeschicht hellweißen Mähnen. Der Wind seufzte leise über der riesigen Marmorplatte." Wie Embleme eines umfassenden Todes, der, sich der Natur bemächtigend, keinerlei Unterschiede mehr zwischen Menschen und Tieren zulässt, starren die erfrorenen Kadaver die Besucher an. Aber sie sind mehr als Sinnbilder. Im Frühling, sobald die Schmelze angefangen hat, werden die Soldaten die Pferde ihrer Feinde aus dem Eis lösen und im Wald begraben. Ähnlich wie bei Babel gemahnt das Schicksal der Pferde an das der Menschen, so als sei in deren Sterben das unsere bereits vorgezeichnet. Und wie in Babels Bienengeschichte taucht auch im Gespräch mit dem Prinzen Eugen ein Christusmotiv auf. "Unser Vaterland ist das Pferd" "Erlauben Sie, sagte ich, dass ich Ihnen einen seltsamen Traum erzähle. Es ist ein Traum, der häufig durch meine Nächte geistert. Auf einem Platz, dicht gedrängt voll Menschen, schaut alles nach oben, auch ich blicke hinauf und sehe, hoch mitten über dem Platz einen steil abschüssigen Berg. Auf dem Gipfel des Berges ragt ein großes Kreuz. An dessen Armen hängt ein gekreuzigtes Pferd. Die Henkersknechte stehen auf den Leitern und vollführen die letzten Hammerschläge. Man hört das dumpfe Schlagen der Hämmer gegen die Nägel. Das gekreuzigte Pferd bewegt langsam den Kopf, bald nach der einen und bald nach der anderen Seite, und wiehert leise. Die Menschenmenge weint in die Stille. Der Opfertod des Christus-Pferdes, die Tragödie dieses tierischen Golgatha - ich möchte, dass Sie mir helfen, den Sinn dieses Traumes zu erklären. Könnte nicht der Tod des Christus-Pferdes den Tod all dessen bedeuten, was es an Reinem und Edlem im Menschen gibt? Glauben Sie nicht, dass dieser Traum sich auf den Krieg bezieht?‘" Es sieht so aus, als würde das Sterben Christi auch hier den Beistand der Bilder verendender Tiere benötigen, damit wir ihn - den Tod des Erlösers - aber auch den eigenen Tod verstehen lernen. Das Sterben des Gottessohns, das der Menschen und das der Tiere geraten in die Horizontale einer Leidensgemeinschaft, die sich um Gattungsunterschiede ebenso wenig kümmert wie um Hoheitstitel. Wir befinden uns auf Augenhöhe des Sterbens, eines umfassenden Sterbens, das alles in seinen Abgrund zu ziehen droht. Die Antwort des Prinzen Eugen auf die Frage nach der Bedeutung des Traums entbehrt jeglichen psychoanalytischen Tiefsinns, so als würde jene Antwort auf der Hand liegen. "Es stirbt alles, was es in Europa Edles, Liebenswertes, Reines gibt. Unser Vaterland ist das Pferd. Sie verstehen, was ich damit sagen will. Unser Vaterland stirbt, unser altes Vaterland. Und all diese bedrückenden Bilder, dieses dauernde, hartnäckige Wiederauftauchen des Pferdewieherns, des grässlichen, traurigen Geruchs toter Pferde längs der Straßenränder des Krieges, glauben Sie nicht, dass sie den Bildern des Krieges entsprechen, unserer Stimme, unserem Geruch, dem Geruch des toten Europa? Meinen Sie nicht, dass auch dieser Traum etwas Ähnliches bedeutet? Doch vielleicht ist es besser, Träume nicht auszulegen." Im Auge eines sterbendes Pferdes sehen die Soldaten in "Das Pferd" von Claude Simon sich selbst, aber so, als nähme dieses auch Anteil an ihrem Geschick (dpa / Friso Gentsch) Weit weg von jeglichem Traum befinden wir uns in der kurzen Erzählung "Das Pferd" von Claude Simon. Dieser hatte in Flandern in den Reihen seines 31. Dragonerregiments die traumatische Auslöschung nahezu der gesamten Kameradenschar erlebt. Die Protagonisten seiner Erzählung sind umherirrende Kavalleristen auf den Straßen Flanderns, die übersät sind mit Leichen von Menschen und Tieren. In einer Scheune übernachten sie neben einem Pferd, das im Sterben liegt, wobei das Auge dieses Tieres im Mittelpunkt des Geschehens steht. In seiner Agonie spiegelt sich die Agonie der Männer, die Totenwache beim Pferd mutet an wie die Vorabschattung des eigenen Sterbens, wie die Totenwache bei sich selbst. "Wir betrachteten das immer noch hinten im Stall auf der Seite liegende Pferd. Man hatte ihm eine Decke übergeworfen, und es ragten nur seine Insektenbeine heraus, sein schrecklich langer Hals, an dessen Ende der Kopf hing, den auch nur zu heben es keine Kraft mehr hatte, knochig, zu groß mit seinen eingefallenen Backen, seinem nassen Fell, seinen langen gelben von den aufgeworfenen Lippen entblößten Zähnen. Nur das Auge schien noch zu leben, riesig, schmerzerfüllt, schrecklich, und von der glänzenden gewölbten Oberfläche widergespiegelt konnte ich uns sehen, unsere drei im Halbkreis verzerrten Silhouetten, die sich vom hellen Hintergrund der Scheunentür in einer Art leicht bläulichem Nebel abhoben, wie ein Schleier, ein Hornhautfleck, der sich bereits zu bilden, den schrecklichen, unerträglichen, entsetzlich sanften, entsetzlich anklagenden feuchten Blick eines kurzsichtigen Zyklopen zu trüben schien." Im Auge des Tieres sehen die Soldaten sich selbst, aber so, als nähme dieses auch Anteil an ihrem Geschick und nicht nur sie am langsamen Tod des Pferdes. Im Blick des Pferdeauges erkennen die Männer eine seltsame Leidensgemeinschaft, wobei das Starren des Tieres auf sie auch "entsetzlich anklagend" ist, wie Simon schreibt. Zwischen Tätern, die bereits selber zu Opfern geworden sind, und der schuldlos leidenden Kreatur kann der Abstand, trotz aller Kommunität angesichts des Todes, nicht einfach aufgehoben werden. Aber auch hier wird auf Augenhöhe gestorben. Das Tier geht den Menschen bloß voran und diese ahnen das. Die Soldaten können deshalb nicht lassen vom Auge des Tieres und halten eine Totenwache, die ins Abseits der Welt führt. Das Pferd wird zum Genossen "Im Streiflicht der Laterne schien sich der Kopf des Pferdes in die Länge zu ziehen, nahm ein apokalyptisches, erschreckendes Aussehen an, und man konnte seinen keuchenden Atem hören. Doch das offene Auge schien jetzt weder Vorwurf noch Anklage mehr zu enthalten. Nicht, dass es dem Anschein nach aufhörte, uns anzustarren, aber es war, als sähe es jetzt durch uns hindurch etwas, was wir nicht sehen konnten, wir, deren verkleinerte Bilder sich noch immer als Schattenspiele auf dem feuchten Augapfel widerspiegelten wie in einer jener goldbraunen Kugeln, die in einer verzerrenden, schwindelerregenden Perspektive die Gesamtheit der sichtbaren Welt zusammenzufassen, aufzusaugen, zu verschlingen scheinen, als hätte es bereits auf das Schauspiel dieses Universums verzichtet, um seinen Blick umzukehren, sich auf eine innere Sicht zu konzentrieren, auf eine Realität, die realer wäre als die Realität, friedlicher als die aufreibende Unruhe der Menschen, beständiger als …" In diesen so schönen und andächtigen Zeilen werden wir zu Schiffsinsassen einer Fähre ins Ungewisse, wo die Trennung zwischen uns und ihnen, zwischen dem Humanen und dem Animalischen, aufgehoben zu sein scheint. Für einen Moment haben wir den Eindruck, als beruhte jene Unterscheidung auf einem folgenreichen Missverständnis, das erst im Ultimativen, angesichts des Todes, widerrufen wird. Das Pferd wird nicht bloß verscharrt, sondern hat das Recht auf ein Begräbnis erworben. Man wirft den Genossen nicht bloß weg und lässt ihn dann in obszöner, ostentativer Nacktheit zerfallen. So wie das Pferd im Sterben eine Decke erhielt, wird es auch jetzt zugedeckt. "Das Pferd verendete in der Nacht, und wir beerdigten es frühmorgens in einem Winkel des Obstgartens, dessen Bäume mit den schwarzen, fast völlig entblätterten Zweigen in der feuchten Luft tropften. Wir hievten den Kadaver auf einen Karren und kippten ihn in die Grube, und während wir die Schaufeln nach und nach mit Erde bedeckten, betrachtete ich ihn, knochig, schaurig, mehr Insekt, mehr Gottesanbeterin denn je mit seinen angewinkelten Vorderbeinen, seinem riesigen, schmerzerfüllten, resignierten Kopf, der allmählich verschwand und unter dem langsamen dunklen Aufsteigen der Erde, die unsere Schaufeln darauf warfen, das bittere, kassandrahafte Grinsen seiner langen entblößten Zähne mitnahm, als verhöhnte er uns von jenseits des Todes, prophetisch, kraft einer Erkenntnis, die wir nicht besaßen, eines enttäuschten, burlesken Geheimnisses, das die Gewissheit des Fehlens jeden Geheimnisses und jeden Mysteriums ist." Ohne die Zeugnisse tierischen Sterbens wären wir in jedem Fall viel ärmer, ärmer an Einsicht, ärmer an Mitleid, ärmer an Erbarmen, aber auch ungeschulter in der tiefen Skepsis gegenüber uns selbst, die uns befallen muss, wenn wir auf die Stimmen jener Sprache hören, die keine Menschensprache ist.
Von Jean-Pierre Wils
Der Tod der Tiere im Krieg erinnert den Menschen an seinen eigenen, an seine Angst, seine Opferrolle. Im Tod gibt es keine Unterschiede mehr zwischen Menschen und Tieren, das Schicksal ist gleich. Trennung zwischen Humanen und Animalischen scheint im Tode aufgehoben zu sein.
"2017-09-10T09:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:35.397000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tiere-und-menschen-im-krieg-sterben-auf-augenhoehe-100.html
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Schüleraufstand gegen Upload-Filter
Deutschlands Jugend geht auf die Straße - derzeit verstärkt gegen die Änderung des Artikels 13 im EU-Urheberrecht und gegen befürchtete Uploadfilter im Internet (Imago / IPON) Ann-Kathrin Büüsker: Tausende Kinder und Jugendliche gehen auch heute wieder in Deutschland für eine bessere Klimapolitik auf die Straße – bei den Fridays for Future. Nächste Woche ist ein europaweiter Aktionstag geplant. Schon jetzt sind in Deutschland deutlich über 100 Kundgebungen angekündigt. Und nicht nur dafür geht die Jugend auf die Straße; diese Woche kam es auch recht spontan zu Demonstrationen gegen die Urheberrechtsreform der Europäischen Union. Tausende mobilisierten gegen die Einführung von Upload-Filtern, nachdem es hieß, die Abstimmung darüber könne vorgezogen werden. Hier soll es am 23. März einen großen Aktionstag geben, um das Europaparlament dazu zu bringen, die Urheberrechtsreform so nicht zu verabschieden. Deutschlands Jugend ist auf der Straße. Diejenigen, die als unpolitisch galten, die engagieren sich plötzlich. Und die Politik reagiert mit Mahnungen, die Schulpflicht einzuhalten, an die Klimademonstrantinnen und Vorwürfen, sie seien von Google gesteuert, gegen die Urheberrechtskritiker. Ist das Ausdruck eines Generationenkonfliktes? – Darüber möchte ich jetzt mit Saskia Esken sprechen. Für die SPD sitzt sie im Bundestag, dort unter anderem im Ausschuss für die digitale Agenda. Sie ist studierte Informatikerin und hat als eines ihrer politischen Kernthemen eine gerechte Zukunft als Ziel. – Guten Morgen, Frau Esken! Saskia Esken: Guten Morgen, Frau Büüsker! Büüsker: Deutschlands Jugend trommelt für die eigene Zukunft. Wieso bekommt sie dafür so viel Missbilligung von der Politik? Esken: Die Politik ist natürlich von den Zeiten, in denen sie selbst demonstriert hat, vielleicht mal schon einigermaßen entfernt. Ich selbst war in meiner Jugend viel auf der Straße gegen rechts, für den Frieden, gegen Atomkraft, und wir haben auch damals nicht unbedingt zurückgespielt bekommen, dass wir ganz viel Einfluss haben. Und dennoch: Ich war vor ein paar Tagen bei dieser Demonstration gegen Artikel 13. Da war ich beeindruckt, mit welcher Begeisterung und mit welcher Zuversicht auch die jungen Leute da herangehen, und habe mich auch erinnert gefühlt an ACTA, wo auch ganz viele junge Leute unterwegs waren, die bestimmt vorher noch nie demonstriert hatten und die auch mit Politik nicht viel am Hut hatten und die gelernt haben, hey, wenn wir uns zusammentun, europaweit noch dazu – und das ist ja heute durch Flashmobs und Hashtags, die aufrufen zu einer gemeinsamen Sache, auch gut möglich -, dann können wir was bewegen. "Das ist tatsächlich eine Verleumdung" Büüsker: Der CDU-Europaabgeordnete Sven Schulze, der hat denjenigen, die ihm wegen dieser Urheberrechtsreform ihre Sorgen per E-Mail geschildert haben, vorgeworfen, sie seien von Google gesteuerte Fake-Accounts. Ist das ein bisschen Sinnbild für die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerinnen? Esken: Das ist tatsächlich eine Verleumdung. Das kann man wirklich nicht anders bezeichnen. Das ist einfach Teil auch dieser Lobby-Schlacht, die um Artikel 13 und Artikel 11 geschlagen wird. Das hat jetzt nichts mit Generationen zu tun, sondern da geht es darum, ein Argument zu diskreditieren. Büüsker: Und trotzdem hat man ja das Gefühl, dass gerade beim Thema Digitalpolitik viele Politikerinnen und Politiker auch einfach ziemlich weit weg sind vom Thema. Wie ist da Ihr Eindruck? Esken: Das ist natürlich wiederum vielleicht schon eine Generationenfrage, obwohl ich auch eher zur Mütter- oder bald Oma-Generation gehöre und mitten drin bin. Aber es ist natürlich schon ein Konflikt, wie auch die Kanzlerin sagte, zwischen denen, die eher die traditionelle Welt vertreten – so hatte sie jetzt, glaube ich, gesagt -, und ihrem berühmten Begriff des Neulands. Das ist schon richtig, ja. Büüsker: Also eher eine Frage des persönlichen Lebensstils als der Generationen? Esken: Drin zu sein und auch zu verstehen, wie die Welt heute funktioniert, das ist nicht jedem gegeben. Ganz offensichtlich, ja. Büüsker: Aber müssen Sie nicht auch zugeben, dass Politik für junge Leute machen sich eigentlich nicht lohnt, weil es davon schlichtweg nicht so viele gibt, die einen wählen können? Esken: Das glaube ich eigentlich nicht. Ich glaube, dass es sich sehr wohl lohnt, Politik zu machen, sei es nun außerparlamentarisch auf der Straße oder in den Parlamenten. Wir haben mittlerweile zumindest in meiner Fraktion, aber auch in den anderen Fraktionen auf meiner Seite des Parlaments eine ganze Menge junger Leute, die dort auch Einfluss nehmen können, und Politik machen lohnt sich auf jeden Fall. Ich freue mich jedenfalls. Büüsker: Trotzdem macht die SPD ja gerade mit der Grundrente, die dann steuerfinanziert sein wird, eigentlich eher Klientelpolitik für ältere Leute. Esken: Generationengerechtigkeit muss schon sein und Menschen, die 35 Jahre lang gearbeitet haben und geackert haben, die haben einen Anspruch darauf, dass sie im Alter nicht in Armut fallen. Ich glaube, das verstehen auch junge Leute. Auch junge Leute haben Omas und Opas. "Grundrente möchte ich nicht gegen Upload-Filter aufgerechnet sehen" Büüsker: Aber wie wollen Sie diesen jungen Leuten erklären, dass auf der einen Seite Politik gemacht wird für die Älteren und auf der anderen Seite aus Sicht derjenigen, die jetzt auf die Straße gehen, das Internet zerstört wird? Denn eigentlich steht ja auch im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union, dass es keine Upload-Filter geben soll. Wie erklären Sie diesen Menschen, dass Katarina Barley als SPD-Justizministerin diesen Upload-Filtern trotzdem jetzt erst mal zugestimmt hat? Esken: Die Zustimmung von Frau Barley war auf der Grundlage einer Entscheidung in der Regierung, die die Kanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz getroffen hat. Das ist schwer zu erklären, solche Zusammenhänge, und dass man dann nicht hinschmeißt und sagt, gut, dann macht euren Mist alleine, ist auch schwer zu erklären. Klar! Dennoch: Die Grundrente möchte ich nicht gegen die Upload-Filter aufgerechnet sehen. Das ist nicht die eine Seite und die andere Seite der Medaille. Denn die Upload-Filter kosten ja kein Geld und müssten jetzt eingespart werden, damit man die Grundrente finanzieren kann. Ich glaube, das ist ein bisschen ein schiefes Bild. Dass die jungen Leute das Gefühl haben, sie werden nicht gehört, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Da gibt es aber wirklich Mittel und Methoden, sich auch Gehör zu verschaffen. Wir haben das auch mit dem Hambacher Forst erlebt. Da waren auch eine ganze Menge junger Leute unterwegs und die haben mit diesem Symbol ja den Kohleausstieg maßgeblich vorangetrieben. Büüsker: Wäre es vor diesem Hintergrund dann vielleicht auch denkbar, dieses Gesetzesvorhaben zu verschieben, oder die Urheberrechtsreform zwar zu verabschieden, aber Artikel 13 erst mal auszuklammern, weil ja offensichtlich noch ein großer Diskussionsbedarf besteht? Esken: Ja. Ich war nicht auf der Straße, um junge Leute zu beobachten, sondern ich war auf der Straße, weil ich dafür bin, dieses Vorhaben zu verschieben und noch mal zu diskutieren. Ich bin auf jeden Fall eine, die den Artikel 13 übrigens genauso wie Artikel 11 ablehnt. "Junge Leute können mit 16 sehr gut entscheiden" Büüsker: Nun haben Sie gesagt, Sie haben den Eindruck, dass die jungen Menschen auf der Straße schon etwas bewegen können, dass die auch lernen, dass sie auf diese Art und Weise Politik beeinflussen können. Vor diesem Hintergrund und auch mit Blick auf die Fridays for Future ist ja eine Debatte in Gang gekommen mit Blick auf das Wahlrecht. Katarina Barley – ich hatte sie eben schon angesprochen – hat zum Beispiel ins Spiel gebracht, dass man das Wahlalter herabsetzen könnte auf 16 Jahre. Wie stehen Sie dazu? Esken: Ich bin der Meinung, dass junge Leute mit 16 sehr gut entscheiden können, wen sie wählen und wer sie im Parlament vertreten soll. Insbesondere, wenn man daran denkt, dass viele ja in diesem Alter die Schule abschließen, in dem Alter auch Politikunterricht genießen. Und wenn dann die erste Wahl kommt, wo man tatsächlich auch sein Verständnis einsetzen könnte, das man da gewonnen hat, dann sind einige Jahre vergangen. Da ist eine große Lücke dazwischen. Nicht zufällig am 18. Geburtstag findet die erste Wahl statt. Insofern kann ich das nur befürworten. Wir haben in Baden-Württemberg das Wahlalter in der Kommunalwahl auf 16 gesenkt und das ist eine sehr gute Entscheidung gewesen. Büüsker: Aber den Führerschein darf man auch erst mit 18 machen. Esken: Na gut. Das sind ganz andere Fähigkeiten, die da zum Tragen kommen. Da kann man sicher auch drüber nachdenken, aber das sind jetzt ganz unterschiedliche Dinge, finde ich. "Im Klimawandel gibt es eine ganze Menge zu tun" Büüsker: Die Demonstrantinnen, die bei den Fridays for Future auf die Straße gehen, die sagen, an die Politik und auch an die "Erwachsenen" gerichtet: "Eure Untätigkeit zerstört unsere Zukunft." – Was müssen Sie als Politikerin tun, damit das nicht passiert? Esken: Im Klimawandel gibt es natürlich eine ganze Menge zu tun und da gibt es auch noch mal ganz andere Widerstände als jetzt beim Thema Upload-Filter. Da steht unsere Bequemlichkeit dagegen, da steht unser Lebensstil dagegen, da steht auch geübte industrielle Entwicklung dagegen, die wir anders leben müssen, natürlich der Verkehrssektor, der sich verändern muss und wo es viele Widerstände auch von der Wirtschaft natürlich gibt. Das ist eine große Nummer. Der Kohleausstieg ist da, glaube ich, jetzt im Vergleich zum Umbau des Verkehrssektors, weg vom Auto und vor allem weg vom Individualverkehr, eine kleine Nummer, und wir dachten, es wäre eine große Schraube, an der wir da drehen. Der Klimawandel ist wirklich ein großer auch gesellschaftlicher Umbau. Büüsker: Und ich meine, Ihre Partei, die hat es ja theoretisch und auch ganz praktisch in der Hand, daran mitzuwirken, weil Ihre Partei die Umweltministerin stellt, die auch gerade an einem Klimaschutzgesetz arbeitet. Was muss denn da tatsächlich aus Ihrer Sicht drinstehen, damit die Zukunft der Jugendlichen, die jetzt auf die Straße gehen, gerettet werden kann? Esken: Ich sagte es gerade. Wir haben ja die Klimaschutzziele für 2020 verpasst. Das wussten wir 2018, als wir den Koalitionsvertrag geschlossen haben. Da war schon klar, das wird nicht zu schaffen sein. Deswegen: Umso dringender müssen wir die Maßnahmen, auch die Maßnahmenschrauben andrehen, um 2030 zu erreichen. Und wir müssen die Ziele noch mal schärfen. Wie gesagt, dazu gehört maßgeblich der Verkehrssektor. Ich fahre zum Beispiel seit einigen Jahren elektrisch. Ich weiß aber, dass das eine Sache ist, die sich nicht jeder leisten kann und wo auch nicht für alle schon die Infrastruktur vorhanden ist. Da müssen wir Möglichkeiten finden, um auch allen persönlich zu ermöglichen, ihren Beitrag zu leisten. Aber von der Politik her müssen da auch entsprechende Richtwerte und Grenzwerte, auch was die Autoindustrie anbelangt, beispielsweise kommen, um da was zu bewegen. Mit der Heizung in den Gebäuden hat man zumindest bei den Neubauten und bei Umbauten ja schon einiges vorgeschrieben, was da Veränderungen mit sich bringt. Aber auch da ist es so, genauso beim Strom: Je höher wir die Schraube drehen, desto weiter steigen natürlich die Preise. Wir müssen auch sehen, dass wir die Sachen sozial gerecht gestalten, damit auch jeder mitkommt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Saskia Esken im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker
Kinder und Jugendliche gehen aktuell nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch verstärkt gegen das neue EU-Urheberrecht und Upload-Filter auf die Straße. Vorwürfe, die Aktivisten seien von Google gesteuert, bezeichnete die SPD-Politikerin Saskia Esken im Dlf als Verleumdung.
"2019-03-08T07:15:00+01:00"
"2020-01-26T22:41:16.705000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-eu-urheberrecht-schueleraufstand-gegen-upload-filter-100.html
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"Berlin hat nicht interveniert, sondern seine Meinung gesagt"
Bundestagspräsident Schäuble nimmt Kanzlerin Merkel wegen ihrer Äußerungen zur Thüringer Ministerpräsidentenwahl in Schutz. (imago images/Future Image) Seit vielen Jahren schon sind die Sozialdemokraten im Sinkflug begriffen und sehen sich gezwungen, alle paar Jahre ihre Vorsitzenden auszutauschen. Jetzt sind auch die Christdemokraten in Turbolenzen. Nach dem angekündigten Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer als Folge der Vorgänge in Thüringen ist die CDU auf Kurssuche. Auch ein Platzen der Großen Koalition ist nicht gänzlich ausgeschlossen, wobei der Begriff Große Koalition ein Euphemismus ist. In den ostdeutschen Bundesländern haben die sogenannten bürgerlichen Parteien (siehe Thüringen) zunehmend Schwierigkeiten, gemeinsam auf eine Mehrheit zu kommen. Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident, Präsidiumsmitglied der CDU, dazu im Interview. "Wir sind in einer Krise" Dirk-Oliver Heckmann: Herr Schäuble, wenn Sie sich die Entwicklung in den ostdeutschen Ländern anschauen, aber auch den Großtrend in ganz Deutschland – muss man dann sagen, wir sind gerade Zeuge des Niedergangs der Volksparteien und der parlamentarischen Demokratie, so wie wir sie kennen? Wolfgang Schäuble: Niedergang würde ich nicht sagen. Wir sind in einer Krise. Wir haben aber diese Krise übrigens nicht nur in Deutschland, das muss man immer ein bisschen sehen, sondern wir haben es ja überall in der westlichen Welt. Das wird ja auch ein großes Thema der Münchner Sicherheitskonferenz, zu der ich heute fahre, um mit meinen amerikanischen Kollegen zu diskutieren, sein. Es kann also gar nicht nur an einzelnen Politikern in Deutschland liegen, wenn wir ähnliche Probleme überall in Europa und in Amerika auch haben. Aber Niedergang würde ich nicht sagen, denn eigentlich ist der liberale freiheitliche Rechtsstaat, die Demokratie weltweit nach wie vor die mit Abstand angesehenste Staatsform, und deswegen müssen wir es noch besser machen. Wir haben Probleme, mit der modernen Welt zurande zu kommen, mit der veränderten Form von Öffentlichkeit, mit der Globalisierung. Das verunsichert die Menschen. "Notfalls auch mal mit Minderheitsregierungen operieren" Heckmann: Das verunsichert die Menschen und führt auch dazu, dass in Ostdeutschland beispielsweise die bürgerlichen Parteien teilweise erhebliche Probleme haben, überhaupt noch eine gemeinsame Mehrheit zu bekommen. Im Moment scheinen, alle ein bisschen kopflos durch die Gegend zu rennen, und die AfD freut sich. Schäuble: Na ja, gut. In Thüringen jedenfalls haben wir die Situation - die haben wir so ausgeprägt nur in Thüringen -, dass die beiden Parteien am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums, PDS (Anmerkung der Redaktion: Später im Interview korrigiert Schäuble sich, dass er die Linkspartei meint) und AfD, zusammen eine Mehrheit im Landtag haben. Das heißt logischerweise, dass es ohne eine der beiden Parteien keine Mehrheit im Landtag gibt. Dann ist das natürlich eine nicht einfache Situation für die Parteien, die traditionell die politische demokratische Mitte ausmachen. Damit muss man umgehen. Notfalls muss man auch mal mit Minderheitsregierungen wie in anderen europäischen Ländern operieren. Das geht auch. Die Verfassung hat dafür genügend Möglichkeiten. Da kommen im Übrigen im Osten Deutschlands wie im Osten Europas – wir haben ja auch in Europa eine gewisse Differenz zwischen dem Westen, den alten europäischen Mitgliedsstaaten, und den neuen. So ähnlich ist es auch in Ostdeutschland leider immer noch, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer und im 30. Jahr der Wiedervereinigung. Auch daraus kann man aber die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Deswegen noch einmal: Wir haben eine Krise. Die müssen wir ernst nehmen. Aber Krisen sind immer auch Chancen und so glaube ich, dass auch die Ereignisse im Thüringer Landtag dazu führen werden – wir haben es auch gestern in der Aktuellen Stunde im Bundestag gesehen -, dass alle versuchen, solche Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Politische Zeitenwende?Die umstrittene Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen sorgt weiter für politische Turbulenzen. Trotz der angekündigten Neuwahlen gibt es Warnungen vor einem dauerhaften Schaden für die parlamentarische Demokratie. Mit Höcke "keine Form irgendeiner Zusammenarbeit" Heckmann: Das war eine sehr lebhafte Diskussion gestern im Bundestag. Wir haben es verfolgt, zum Teil sicherlich. – Herr Schäuble, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hat für Nordrhein-Westfalen gestern gesagt: "Wir wollen keinerlei Kooperation, Zusammenarbeit, Duldung, auch nichts Zufälliges. So was wird es nie geben." Soweit Armin Laschet für Nordrhein-Westfalen. Können Sie das auch für die CDU im Bund sagen? Schäuble: Ich kann nicht für die CDU sprechen. Ich bin Bundestagspräsident. Ich bin, wie Sie gesagt haben, Mitglied des Präsidiums, aber ich bin nicht der Vorsitzende. Aber es ist eine klare Position der CDU. Das hat sie auch hinreichend und alle in den letzten Tagen gesagt. PDS und AfD kann man nicht gleichsetzen. Heckmann: Die Linke meinen Sie? Schäuble: Die Linkspartei, ja. Entschuldigung! – Das ist ja auch hinreichend deutlich von allen gesagt worden, auch vom Generalsekretär der CDU gestern in der Debatte. Aber die CDU hat gute Gründe. Ich meine, mit der AfD, wie man in Thüringen sieht, mit Herrn Höcke als Vorsitzenden, den man ja zurecht als Nazi bezeichnen kann, kann es natürlich keine Form irgendeiner Art von Zusammenarbeit geben. Das ist völlig unstreitig, das ist klar. Da sind sich alle Parteien einig. "Alle müssen sich in die Disziplin nehmen" Heckmann: Das ist nicht so ganz unstrittig. Die CDU hatte ja auf dem Parteitag in Hamburg 2018 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst. Demnach gibt es keine Zusammenarbeit, weder mit den Linken, noch mit der AfD. Aber es wollen sich ja nicht alle daran halten, Herr Schäuble. Im Gegenteil! Auch stellvertretende Fraktionschefs in Thüringen und auch in Sachsen-Anhalt, Herr Heim und Herr Zimmer, die plädieren für eine Kooperation mit der AfD. Kann das die CDU-Führung dulden? Schäuble: Wir sind eine demokratische Partei. Wir haben klare Beschlüsse. Die fassen unsere zuständigen Gremien für die Bundespartei. Wir sind aber nicht eine zentralistische Partei, wo die Bundesebene gewissermaßen den Landes-, Orts- und Kreisverbänden Befehle geben kann. Jeder Abgeordnete ist frei. Jeder Abgeordnete ist im Übrigen - das gilt im Bundestag genauso wie im Landtag - seinem Gewissen verantwortlich. Das muss man auch respektieren. Trotzdem haben wir klare Beschlüsse und die Parteiführung drängt darauf, dass sich alle an diese Beschlüsse halten. Aber sie kann niemand zwingen dazu. Wir wollen schon dabei bleiben. Freiheitliche Demokratien kennen nicht das Prinzip von Befehl und Gehorsam, sondern das Prinzip von Diskussion, Streit, Meinungsfreiheit, gemeinsamen Beschlüssen, und dann müssen sich alle in die Disziplin nehmen, freiwillig sich an solche Beschlüsse zu halten. Klöckner (CDU): "Ich setze Ramelow und Höcke nicht gleich"Sich von der AfD abzugrenzen, bedeute nicht, dass man sofort mit der Linken zusammenarbeite, sagte Julia Klöckner (CDU) im Dlf. Bodo Ramelow (Linke) und Björn Höcke (AfD) würde sie allerdings nicht gleichsetzen. Das Menschenbild von Björn Höcke sei indiskutabel. Mitglieder des Thüringer Landtages sind zuständig Heckmann: Michael Heim, der gerade schon angesprochene stellvertretende Fraktionschef in Thüringen, hat Kanzlerin Angela Merkel scharf kritisiert im Zusammenhang mit den Vorgängen in Thüringen, nämlich die Forderung, die Wahl des Ministerpräsidenten rückgängig zu machen. Er sagte der "Zeit", man müsse sich nicht wundern, wenn sich die Menschen angewidert von den etablierten Parteien abwendeten. Kann man eine Wahl einfach so rückgängig machen, Herr Schäuble? Schäuble: Nein. Das ist aber doch völlig klar, Herr Heckmann. Das haben wir auch alle gesagt. Man kann sehr wohl die Meinung haben – das war die große Mehrzahl übrigens in allen Parteien, auch in der Bevölkerung -, dass ein Ministerpräsident, der so wie Herr Kemmerich in dieser Wahl am vergangenen Mittwoch gewählt worden ist, dass das keine vernünftige Grundlage ist, um zu regieren. Deswegen haben ja viele gesagt, er hätte die Wahl nicht annehmen sollen. Er hat aber gesagt, nun gut, ich habe sie angenommen, aber ich trete zurück. Er hat das ja korrigiert. Herr Lindner, der Vorsitzende der FDP, hat sich dafür entschuldigt. Deswegen können Sie doch niemand, der CDU-Vorsitzenden, der Bundeskanzlerin nicht vorwerfen, dass sie das kritisiert haben, dass sie gesagt haben, das müsst ihr rückgängig machen, das müsst ihr ändern. Aber wie man das macht, das müssen nun die Gewählten in Thüringen entscheiden, denn nur die können es entscheiden und die sind gewählt. Die Mitglieder des Thüringer Landtages sind genauso für diese Entscheidung zuständig, wie für Entscheidungen auf Bundesebene der Bundestag zuständig ist. "Berlin hat seine Meinung gesagt, dazu ist Berlin auch verpflichtet" Heckmann: Aber trotzdem kommt bei vielen Leuten, Herr Schäuble, das Signal an – zumindest wird es so interpretiert -, dass eine Entscheidung getroffen wird, eine Wahl stattfindet, und hinterher, wenn das Ergebnis nicht passt, dann Berlin interveniert. Schäuble: Nein! Berlin hat nicht interveniert, sondern Berlin hat seine Meinung gesagt, und dazu ist Berlin auch verpflichtet. Das gilt für die Parteiführung. Es gilt natürlich auch für die Bundeskanzlerin, die doch wohl eine Verpflichtung hat, dafür zu sorgen, dass es keinen Zweifel gibt, dass man in Deutschland 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem Ende der Nazi-Barbarei, dass es da keine Zusammenarbeit gibt mit Kräften, die sich nicht eindeutig von Neonazismus, von Faschismus, von Rechtsextremismus abgrenzen. Das gilt ganz sicher für Herrn Höcke und für den von ihm geführten Flügel in der AfD. Deswegen war es doch geradezu die Pflicht auch der Bundeskanzlerin zu sagen, dass sie mit Entschiedenheit dafür eintritt, dass das korrigiert wird. Ich war, als das Ergebnis bekannt wurde, mit 50 Kollegen aus dem Bundestag gemeinsam mit 50 Kollegen aus der französischen Nationalversammlung in Straßburg in unserer gemeinsamen deutsch-französischen Versammlung, und ich habe wie meine Kollegen erlebt, in welchem Maße die Franzosen betroffen waren und gesagt haben, was macht ihr denn da in Deutschland. Und dann war es ein ganz glücklicher Zufall, dass Frau Kramp-Karrenbauer als Verteidigungsministerin unmittelbar zu der Sitzung kam und, als sie gefragt wurde, sofort eine absolut klare Stellungnahme als CDU-Vorsitzende abgegeben hat, die übrigens in unserer gemeinsamen Versammlung in Straßburg alle - nicht die AfD selbstverständlich, aber alle anderen und vor allen Dingen unsere französischen Partner beruhigt hat, die gesagt haben, ja, das war eine sehr klare Stellungnahme, wir sind da sehr befriedigt. Und deswegen noch einmal: Dass die Bundeskanzlerin als Bundeskanzlerin eine Verantwortung für die Demokratie und für den freiheitlichen Rechtsstaat hat und dass das klare "nie wieder" eine Voraussetzung unserer freiheitlichen Demokratie in Deutschland ist, das haben wir nun oft genug gesagt. Deswegen kann man doch dafür die Bundeskanzlerin nicht kritisieren. Das war doch ihre Verpflichtung als Bundeskanzlerin. Kommentar: Die AfD kann sich die Hände reibenDie AfD hatte diese Woche viele Gründe, Sekt zu trinken, kommentiert Nadine Lindner. Kalt gestellt worden sei der Sekt von FDP und CDU. Das AfD-Manöver von Thüringen müsse eine Warnung sein. CDU muss damit leben, dass nicht alle einer Meinung sind Heckmann: Es gibt aber auch andere Haltungen innerhalb Ihrer Partei, zum Beispiel bei der Werteunion. Das ist ein Zusammenschluss von konservativen CDU-Mitgliedern, die eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht ausschließen wollen. Schäuble: Entschuldigung! Das ist eine winzig kleine Gruppe innerhalb der CDU. Auch das muss es geben. Heckmann: Innerhalb oder auch außerhalb. Schäuble: Oder auch außerhalb. – Ich habe nicht so furchtbar viel Sympathie dafür. Noch einmal: Die CDU ist wie die anderen Demokratien eine freiheitliche Partei. Sie muss auch damit leben, dass nicht alle einer Meinung sind. Ich wäre übrigens als junger Mensch nie in die CDU eingetreten, wenn das geheißen hätte, ich darf nicht mehr meine eigene Meinung haben. Aber natürlich muss sich jeder auch fragen, ob er eigentlich mit dem, was er vertritt, noch in der CDU gut zuhause ist. Und was da aus dieser marginalen Gruppe kommt – jeder kann sich ja zusammentun und so nennen -, was da vertreten wird, das entspricht überhaupt nicht der Meinung der übergroßen Mehrheit in der CDU. Und alle, die sich da öffentlich so wichtig tun, könnten vielleicht ein bisschen mehr darüber nachdenken, dass sie vielleicht diese Art von öffentlicher Bedeutung ja gar nicht haben. Das ist noch nicht einmal ein Promille der Mitglieder der CDU Deutschlands. Heckmann: Nach eigenen Angaben 4.000 [*] Mitglieder im Vergleich zu 400.000 der CDU. Schäuble: Dann wäre es ein knappes Promille. "Mit schwierigen Mehrheitsverhältnissen stabile Regierung zustande bringen" Heckmann: Können Vertreter der Werteunion weiter Mitglied der CDU bleiben? Schäuble: Herr Heckmann, ich habe rechnen gelernt. Es wäre dann ein knappes Promille der Mitglieder der CDU. Deswegen bleibt mein Satz, dass es noch nicht einmal ein Promille ist, völlig richtig. Und noch einmal: Ich spreche nicht für die Werteunion. Ich spreche nicht mal für die CDU Deutschlands. Ich verteidige die Meinungsfreiheit auch in demokratischen Parteien und dass alle Verantwortlichen für diesen freiheitlichen Rechtsstaat sich klar von rechtsextremen Bestrebungen und von solchen, die kein klares Verhältnis zu dem Abgrund der deutschen Vergangenheit in der Nazi-Zeit haben, dass man mit denen keine gemeinsame Sache macht. Das ist ein Grundkonsens unserer freiheitlichen Demokratie und ich bin froh, dass sich fast alle völlig klar dafür ausgesprochen haben. Das hat auch die Debatte gestern gezeigt. Die Ereignisse in Thüringen am vergangenen Mittwoch – ich habe mir es gar nicht vorstellen können, dass es passiert. Aber es ist nun passiert. Fehler passieren. Es ist inzwischen wieder in Ordnung gebracht und jetzt müssen die Thüringer gucken, wie sie mit den schwierigen Mehrheitsverhältnissen nach der letzten Landtagswahl eine stabile Regierung zustande bringen. Dazu brauchen sie aber keine Ratschläge aus Berlin. AKK "keineswegs als CDU-Vorsitzende zurückgetreten" Heckmann: Herr Schäuble, Sie haben zurecht darauf hingewiesen, Sie sind Bundestagspräsident. Aber Sie sind auch Präsidiumsmitglied der CDU und diese Partei sucht jetzt einen neuen Vorsitzenden. Friedrich Merz, Jens Spahn, Armin Laschet - das sind die aussichtsreichen Kandidaten. Sie haben ja letztes Mal für Friedrich Merz votiert. Hat sich daran was geändert? Schäuble: Daran hat sich nichts geändert. Als ich das beim letzten Mal getan habe, da war es eine offene Diskussion. Jetzt ist die Lage die, dass Frau Kramp-Karrenbauer am Montag erklärt hat, dass sie glaubt, es kann nicht auf die Dauer gut gehen, wenn wir eine Bundeskanzlerin haben, eine Parteivorsitzende und eine offene Frage, wer bei der nächsten Wahl Spitzenkandidat der CDU wird. Deswegen hat sie gesagt, sie erkläre jetzt, dass sie als Kanzlerkandidat nicht zur Verfügung steht, und damit hat sie natürlich mehr Freiheit, den Prozess der Auswahl des Kanzlerkandidaten, den die CDU ja gemeinsam mit der CSU führen muss, zu bestreiten. Sie hat dann gesagt: Und wenn wir dann einen haben, dann werde ich auch meinen Beitrag leisten, dass wir das Nebeneinander zwischen Kanzlerkandidat und Parteivorsitz nicht mehr haben, das sich in den letzten anderthalb Jahren nicht bewährt hat. Sie ist keineswegs als CDU-Vorsitzende zurückgetreten, sondern sie hat gesagt, wir werden jetzt mit allen Beteiligten sprechen, auch mit der CSU, und den Prozess der Auswahl des Kanzlerkandidaten, so wie wir es übrigens auf dem Parteitag in Leipzig ja beschlossen haben, bis Jahresende machen. Rückzug von Kramp-Karrenbauer - Allein gelassen von den MännerbündenAnnegret Kramp-Karrenbauer hat ihren den Rückzug vom Parteivorsitz und den Verzicht auf die Kanzlerkandidatur bekannt gegeben. Sie sei auch an der fehlenden Unterstützung der Männer in ihrer Partei gescheitert, meint die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz. "Beteilige ich mich jetzt nicht an Personalspekulationen" Heckmann: Ihre Präferenz für Friedrich Merz ist weiterhin bestehend? Schäuble: Ich habe nicht die Absicht, mich jetzt zu Personalfragen zu äußern, Herr Heckmann. Sie können es gerne für den Rest unseres Interviews versuchen, aber es ist sinnlos. Nein, es geht jetzt um diesen Prozess. Der muss geordnet stattfinden. Sie wird jetzt mit all denjenigen – das hat sie angekündigt – reden, die innerhalb der CDU - Sie haben gerade die Namen genannt - genannt werden oder Interesse gezeigt haben. Dann wird sie mit den CSU-Kollegen reden, wie wir das machen. In der CSU wird ja teilweise gesagt, die CDU soll jetzt erst ihren Vorsitzenden wählen. Das ist aber das Gegenteil von dem, was Frau Kramp-Karrenbauer gesagt hat. Sie hat gesagt: Nein, wir klären jetzt in diesem Jahr die Kanzlerkandidaten-Frage, und wenn die geklärt ist und die muss mit der CSU geklärt werden – darauf legt übrigens die CSU Wert -, dann werden wir auch in der CDU überlegen, oder hat sie gesagt, sei sie jedenfalls dafür, dass wir daraus die Konsequenzen ziehen. Dabei bleibt’s! Dafür trete ich ein. Deswegen beteilige ich mich jetzt nicht an Personalspekulationen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. [*In einer früheren Version wurde versehentlich eine falsche Zahl der Werteunion verschriftlicht. Dies haben wir korrigiert.]
Dirk-Oliver Heckmann im Gespräch mit Wolfgang Schäuble
Die Bundeskanzlerin habe eine Verpflichtung für die Demokratie, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Dlf. Für ihre Erklärung, die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen müsse rückgängig gemacht werden, könne sie nicht kritisiert werden. Was nun geschehe, müssten die Gewählten in Thüringen entscheiden.
"2020-02-14T07:15:00+01:00"
"2020-02-18T15:30:46.370000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundestagspraesident-zu-thueringen-berlin-hat-nicht-100.html
91,005
Festivals, Tanz und eine starke Frau
Schauspieler und Intendant der Salzburger Festspiele: Sven-Eric Bechtolf (picture alliance / dpa / Kerstin Joensson) Reise ins UngewisseVom Zustand der Salzburger Festspiele am Ende der Ausgabe 2016 Jörn Florian Fuchs im Gespräch "Spektakulär ohne Spektakel"12. Internationales Musikfestival in WissembourgAutorin: Yvonne Petitpierre "Vom Verschwinden"Eine Bilanz des Kunstfestes Weimar unter der Intendanz von Christian HoltzhauerAutor: Claus Fischer Am Puls der MinderheitenEine Bilanz des Berliner Festivals "Tanz im August"Elisabeth Nehring im Gespräch Musikerin in Macho-LandDie mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra über Frauen und Politik in ihrer HeimatAutor: Peter B. Schumann Redaktion: Christoph Schmitz
Am Mikrofon: Christoph Schmitz
Der Festivalsommer 2016 neigt sich vielerorts dem Ende entgegen - auch in Salzburg. Wie immer lockten viele hochkarätig besetzte Aufführungen; doch wie sah die inhaltliche Auseinandersetzung aus? Die Salzburger Festspiele sind ebenso Thema im "Musikjournal" wie der Berliner "Tanz im August" und die mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra.
"2016-08-30T22:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:23.337000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/salzburg-berlin-mexiko-festivals-tanz-und-eine-starke-frau-100.html
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Nutzloslast im All
Da düst er dahin: Der Roadster unterwegs Richtung Marsbahn (SpaceX) Die Rakete trug, so wurde gespottet, keine Nutzlast, so die übliche Bezeichnung der Fracht, sondern eine Nutzloslast. Der "Roadster" steht nun sogar im offiziellen Satellitenkatalog des US-Militärs. Das Cabriolet, in dem eine Puppe sitzt, die lässig nur eine Hand am Lenkrad hat, fliegt gemeinsam mit der Oberstufe durch das Sonnensystem. Auto und Rakete haben sich nach dem Verlassen der Erdumlaufbahn nicht getrennt. SpaceX-Chef Elon Musk hatte nach dem erfolgreichen Start per Twitter verkündet, der Wagen sei nun sogar bis zum Asteroidengürtel unterwegs. Allerdings haben Experten sofort erkannt, dass die von ihm präsentierte Grafik der Bahn nicht zu den genannten Zahlenwerten passt. In anderthalb Jahren einmal um die Sonne Rund zweihunderttausendmal wurde die Grafik bei Twitter geteilt. Doch sie ist dennoch falsch. Astronomen haben den durch das All rasenden Wagen mit ihren Teleskopen verfolgt und die Bahn gut bestimmt. Demnach kreist der Roadster in anderthalb Jahren einmal um die Sonne. Seine elliptische Bahn trägt ihn knapp ins Innere der Erdbahn – und die größte Entfernung von der Sonne entspricht genau der von Mars. Von einer Reise bis in den Asteroidengürtel kann keine Rede sein. Wie lange der rote Sportwagen durch das Sonnensystem kreist, kann heute niemand sagen. Mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit stürzt er irgendwann auf den Mars oder die Erde.
Von Dirk Lorenzen
Vor wenigen Wochen hat das US-Unternehmen SpaceX erstmals seine Schwerlastrakete Falcon Heavy gestartet. Sie hat keinen Satelliten ins All getragen, sondern einen roten Tesla-Sportwagen.
"2018-04-03T02:57:00+02:00"
"2020-01-27T17:45:55.340000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/falcon-heavy-und-der-roadster-nutzloslast-im-all-100.html
91,007
Leon Schwarzbaum kämpft gegen das Vergessen
Der 97-jährige Holocaust-Überlebende Leon Schwarzbaum empfindet es als seine Pflicht, von Auschwitz zu erzählen. (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht) Leon Schwarzbaum ist 97 Jahre alt. Er versorgt sich selbst und lebt allein in seiner Berliner Wohnung. Nach Jahrzehnten der Verdrängung, seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren, spricht Leon Schwarzbaum über seine Geschichte: über die Zeit vom August 1943 bis März 1944 im Konzentrationslager Auschwitz. Er hält Vorträge in Schulen. Im vergangenen Jahr drehte der Regisseur Hans-Erich Viet einen Film über ihn: Ein "Roadmovie" mit dem 97-jährigen Holocaust-Überlebenden Leon Schwarzbaum. "Täglich beschäftigt mich das, das Thema. Mich beschäftigt das Thema: Warum hat man meine Eltern umgebracht? Das waren gute Menschen. Warum hat man das getan? Was war die Pflicht der deutschen Behörden, meine Eltern umzubringen? Ich habe bis heute keine Antwort darauf. Hab keine Antwort." Neid als Motiv Leon Schwarzbaum kennt die Antwort: Es war der maßlose Neid der deutschen Mehrheitsbevölkerung auf die jüdischen Deutschen – ein Neid, der umschlug in Rassismus und Vernichtungswahn. Ja, das sei die richtige Antwort, sagt Schwarzbaum. Er hätte sich nur gewünscht, sie von einem Täter zu hören, von einem ehemaligen SS-Mann zum Beispiel. Aber das ist bis heute nicht passiert. Von den nichtjüdischen Zeitzeugen kennt Leon Schwarzbaum immer nur eine und dieselbe Reaktion: Schweigen. Seine Botschaft zum Gedenktag an die Shoah ist eindeutig: Er bittet die Deutschen, sich in den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager ein Bild zu machen, sich ihrer "jüngsten" Geschichte zu erinnern. "Es ist unbegreiflich und unvorstellbar, was Menschen gelitten haben und was Menschen ausgehalten haben. Was Menschen Menschen antun können, das begleitet mich mein ganzes Leben." Vergebliches Werben um Empathie Leon Schwarzbaum wirbt um die Empathie, die ihm bis heute viele verweigern. Er wurde 1921 in Hamburg geboren, aber als er drei Jahre alt war, zog die Familie in die Heimat der Mutter zurück, in den polnischen Teil von Oberschlesien. Als Jugendlicher machte er mit Freunden Musik, liebte amerikanischen Swing. 1939 brach das Unheil über die Familie herein, wie er sagt: die deutsche Besatzung. Seine Heimatstadt Bedzin wurde zum jüdischen Ghetto. Im Juni 1943 wurde Leon Schwarzbaums gesamte Familie ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und ermordet. Zwei Monate später wurde auch Leon Schwarzbaum dorthin verschleppt. Er überlebte als Laufbursche des Lagerältesten, eines brutalen Kriminellen. "Im Lager haben wir nichts gehabt. Nur Hunger, Läuse und Schläge und Angst vorm Sterben. Das hatte Jeder. Angst vorm Sterben." Später war Schwarzbaum in Buchenwald und in Berlin-Haselhorst interniert. Am 5. Mai befreiten ihn amerikanische Soldaten auf einem Todesmarsch in der Nähe von Schwerin. Jahrzehntelang wollte Leon Schwarzbaum nichts mehr davon wissen – schwer traumatisiert durch die Brutalität der Erfahrungen in Auschwitz. "Ich wollte leben, ich wollte leben, und ich wollte auch teils vergessen. Meine ganze Familie ist ermordet worden, wissen Sie. Wenn Sie alle Liebsten verlieren auf einmal, an einem Tag alle. Das waren 35 Menschen, die mir lieb waren. Ich wollte mir das Leben nehmen. Ich habe aber nicht die Kraft und die Entschlossenheit gehabt, das zu tun." Die Pflicht, zu erzählen Im Februar wird Leon Schwarzbaum 98. Heute sieht er es als seine Pflicht an, seine Geschichte zu erzählen, als Zeitzeuge des Holocaust aufzutreten. Im Auschwitz-Prozess gegen den SS-Unterscharführer Reinhold Hanning trat er im Februar 2016 als Nebenkläger auf. Schwarzbaum stellte ihm Fragen, schrieb ihm einen Brief. Hanning blieb stumm. Das Schweigen der Täter verfolgt Leon Schwarzbaum. Sie zeigten weder Zweifel an ihren Taten noch Reue. Dieses Schweigen holte ihn einmal auch an einer festlichen Hochzeitstafel ein. "An unserem Tisch saß noch ein Mann mit einem weißen Jackett. Da sagt er zu fortgeschrittener Stunde, sagt er zu mir: Wo warst Du, Kamerad? Ich war bei der SS. Da sagt meine Frau zu ihm: Mein Mann war in Auschwitz. Da ist er aufgestanden und weggegangen." Der ehemalige SS-Mann im weißen Jackett habe sich enttäuscht und überrascht von ihm abgewandt, erzählt Leon Schwarzbaum.
Von Sebastian Engelbrecht
Sieben Monate war Leon Schwarzbaum im Konzentrationslager Auschwitz interniert. Erst seit einigen Jahren spricht der heute 97-Jährige über diese Zeit. "Was Menschen Menschen antun können, das begleitet mich mein ganzes Leben", sagt er. Er sieht es als seine Pflicht, als Zeitzeuge Aufklärung zu leisten.
"2019-01-27T07:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:34:59.388000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/holocaust-ueberlebender-leon-schwarzbaum-kaempft-gegen-das-100.html
91,008
Gauck setzt auf Selbstkritik und Erneuerung
Bundespräsident Joachim Gauck sprich beim Besuch der University of Pennsylvania in Philadelphia in den USA. (dpa/picture alliance/Wolfgang Kumm) Eine Grundsatzrede zum transatlantischen Verhältnis hielt der Bundespräsident, nicht mehr aber auch nicht mehr weniger - in der er auf die Wurzeln der Verbundenheit einging. Auf die gemeinsame Geistes und Ideengeschichte, die gemeinsamen Werte, aber auch auf die wechselseitige Kritik und das Unverständnis übereinander, das auf beiden Seiten des Atlantiks mal mehr mal weniger vorhanden ist - Beispiel NSA-Affäre: "Man fragt sich dann, warum Telefonverbindungsdaten deutscher Minister - oder eines Landwirtschaftsministers - in Listen amerikanischer Dienste auftauchen und was das wohl mit Terrorismusabwehr zu tun hat." Auf der anderen Seite verstünden viele Amerikaner nicht, weshalb die Deutschen ihre Verteidigung der Freiheit von anderen erwarten. Welcher Natur also sind diese zeitweiligen Entfremdungen? Unterschiedliche historische Erfahrungen, so Gauck, führen nun mal zu unterschiedlichen Abwägungen. Der Westen sei keine Monokultur und - Stichwort moralische Fallhöhe - vom Schurken erwarten wir vielleicht sowieso weniger als vom Bannerträger der Demokratie. Appell zur Selbstkritik und Erneuerung Wie sollen wir nun mit den Meinungsverschiedenheiten umgehen und welche Schlussfolgerungen ziehen? Gauck setzt auf die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbsterneuerung demokratischer Gesellschaften und auf Vertrauen in das ewige Reformprojekt der Demokratie. Doch sein eindringlicher Aufruf lautet: Trotz aller Meinungsverschiedenheiten an diesem Bündnis festzuhalten und es zu intensivieren, weil es nicht optional ist, so Gauck, nicht eines unter vielen - sondern essenziell strategisch. "In einer Welt, in der Terroristen wüten, Autokraten und Diktatoren auftrumpfen, Staaten zerfallen und Regionen im Chaos versinken, ist das bewährte Bündnis der freien und demokratischen Staaten die wichtigste Stütze der Stabilität." Dank an USA für Haltung zur Deutschen Einheit Großer Dank an Amerika für die Aufrechthaltung von Freiheit und Demokratie in Zeiten, als in Deutschland Diktaturen herrschten, und er ging auch ein auf die entscheidende Rolle bei der deutschen Einheit, die von den Amerikanern früher und entschiedener unterstützt wurde als von anderen Alliierten. Mit Blick auf die Flüchtlinge und das Drama in Syrien schlug Gauck wieder den Bogen zur Geschichte und den Einwanderern nach Amerika: "Mit meinem Land verbinden die Flüchtenden dieselben Gefühle, die unsere Vorfahren eins hegten, als sie der Freiheitsstatue in New York entgegen segelten." Im Zeitalter der schnellen Informationsvermittlung und des einfachen Transports sind wir miteinander verbunden wie nie zuvor, so der Bundespräsident. Sein Fazit: "Sich einzuigeln, ist keine Option, keine Lösung mehr. Nicht für Deutschland, nicht für Europa und übrigens auch nicht für die USA."
Von Bettina Klein
In seiner Rede an der Universität Pennsylvania bekräftigte Bundespräsident Joachim Gauck das transatlantische Bündnis mit den USA. Seitenhiebe auf das merkwürdige Verständnis von Datenschutz seitens der US-Geheimdienste konnte er sich allerdings nicht verkneifen.
"2015-10-06T23:50:00+02:00"
"2020-01-30T13:03:02.035000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundespraesident-in-pennsylvania-gauck-setzt-auf-100.html
91,009
Umstrittener Schritt aus der Schuldenkrise
Eine Zweigstelle der Novo Banco: Portugals kleinere, radikalere Linksparteien lehnen den Verkauf der Bank ab. (AFP/Patricia de Melo Moreira) Premierminister António Costa ist sich ganz sicher: Der Verkauf der ehemaligen Privatbank Banco Espírito Santo an einen amerikanischen Hedgefonds trägt entscheidend zur Stabilisierung des portugiesischen Finanzsystems bei. Eineinhalb Jahre ist die sozialistische Minderheitsregierung jetzt im Amt. Sie hat eine Reihe von Problemen im Bankensektor gelöst und im vergangenen Jahr sogar das niedrigste Haushaltsdefizit seit Beginn der portugiesischen Demokratie vorweisen können. Insbesondere der portugiesische Finanzminister Mário Centeno hat sich damit in Europa einen Namen und Freunde gemacht. Mittlerweile gilt Centeno sogar als Kandidat für die Nachfolge von Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem, der nach seinen polemischen Äußerungen über Südeuropäer auch in Lissabon scharf kritisiert wird. Das Geld der portugiesischen Steuerzahler ist verloren Das Dossier der maroden Banco Espírito Santo belastet seit fast drei Jahren den Bankensektor in Portugal. Im Sommer 2014 stand das Geldhaus nach einer Reihe von Finanzskandalen kurz vor dem Bankrott. Der Staat sprang mit Milliardenhilfen ein, die Bank wurde unter dem neuen Namen Novo Banco von einem Abwicklungsfonds verwaltet. Mit dem Verkauf an den Hedgefonds Lone Star wird der portugiesische Staat keinen Cent der 4,4 Milliarden Euro zurückbekommen, die er vor fast drei Jahren für die Bankenrettung ausgegeben hatte. Regierungschef Costa bemüht sich trotzdem, die Vorteile des Geschäfts hervorzuheben: "Es wird keine direkten oder indirekten Folgen mehr für die öffentlichen Finanzen geben. Und es gibt auch keine Kosten für den Steuerzahler. Die notwendige Kapitalerhöhung wird vom privaten Käufer getragen, und für jedwede zukünftigen Verpflichtungen müssen nicht die Steuerzahler aufkommen, sondern der Abwicklungsfonds, in den die übrigen Banken einzahlen." Doch nicht alle Portugiesen nehmen das Versprechen des Premierministers für bare Münze. Ein junger Mann in Lissabon glaubt nicht, dass der Staat nun von allen Risiken befreit sei. Und eine Studentin gibt zu denken, dass sich die Portugiesen mittlerweile leider daran gewöhnt haben, für schlechte Bankendeals tief in die Tasche greifen zu müssen. Das Misstrauen ist nachvollziehbar. Zwischen 2007 und 2016 hat der portugiesische Staat rund 13 Milliarden Euro an Finanzhilfen für angeschlagene Geldhäuser ausgegeben. Und diese Summe könnte auch nach dem Verkauf der Novo Banco weiter ansteigen, sagt der Wirtschaftsprofessor João César das Neves von der Katholischen Universität in Lissabon: "Der Hedgefonds hat die Novo Banco nur übernommen, weil es eine Garantie gibt, dass der Abwicklungsfonds der portugiesischen Banken im Extremfall einspringt. De facto können die Banken das aber gar nicht alleine stemmen, sonst würden sie selbst Bankrott gehen - und so wird wieder nur der Staat als Geldgeber übrig bleiben. Das Restrisiko der Bank wird praktisch verstaatlicht." Verkauf der Novo Banco ist auch politisch umstritten Das ist auch der Grund, warum die kleineren, radikaleren Linksparteien den Verkauf der Novo Banco ablehnen. Der Linksblock und die Kommunisten, auf die sich die sozialistische Minderheitsregierung im Parlament stützt, wollen die Bank komplett verstaatlichen. Eine Idee ist, die Novo Banco mit der staatlichen Caixa Geral de Depósitos verschmelzen zu lassen und so eine öffentliche Superbank zu schaffen. Sie würde den Kapitalfluss in Portugal unabhängig von internationalen Investoren garantieren. Allerdings hätte der Staat die öffentlichen Banken nicht wirklich effizient geführt, kritisiert Wirtschaftsprofessor Neves. Eine noch größere staatlich kontrollierte Bank hält er deshalb für einen schwerwiegenden Fehler: "Wenn diese Super-Sparkasse ein Marktgewicht von fast 50 Prozent besäße, hätte das fatale Folgen für den Ruf Portugals auf den internationalen Finanzmärkten. Klar, eine solche Bank würde niemals Pleite gehen, weil der Staat sie immer stützt, aber das würde uns in der Eurozone zu einem Außenseiter machen, weil es eher an die Rahmenbedingungen in Angola als an Europa erinnert. Und deshalb glaube ich, dass die Europäische Zentralbank die Pläne für eine derartige öffentliche Super-Bank strikt abgelehnt hat."
Von Tilo Wagner
Die sozialistische Minderheitsregierung in Portugal sucht seit anderthalb Jahren Wege aus der Schuldenkrise. Als Schritt zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen gilt der Verkauf der Privatbank Banco Espírito Santo, die erst zwangsverstaatlicht und nun an einen amerikanischen Hedgefond verkauft wurde - für Null Euro.
"2017-04-06T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:20.308000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugal-verkauft-die-banco-espirito-santo-umstrittener-100.html
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"Die Regierung tut alles, um den Willen der Menschen zu brechen"
Der Sitz der Nicht-Regierungsorganisation "Ukrainian European Perspective" mitten in der Prager Innenstadt: schicker Altbau, hohe weiße Decken, auf Hochglanz poliertes Parkett. Auf den Schreibtischen aus Massivholz liegen Broschüren aus. Darauf ist die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko abgebildet, die einstige Hoffnungsträgerin der Orangenen Revolution. Demokratischer und freier sollte das Land vor sieben Jahren werden. Doch die Vorzeichen haben sich inzwischen deutlich verändert, so der Ehemann der Oppositionsführerin, Alexander Timoschenko:"Seit dem Machtantritt der jetzigen Führungsriege unter Viktor Janukowitsch hat sich gezeigt, dass sich unsere Träume von damals nicht erfüllt haben. Viele Oppositionsmitglieder sitzen in Gefängnissen, andere sind emigriert. Alle sind einem enormen Druck ausgesetzt. Nicht nur die Abgeordneten und Parteimitglieder, sondern auch ihre Familien, ihre Kinder. Die Regierung tut alles, um den Willen der Menschen zu brechen, die die Oppositionsparteien unterstützen."Seine Familie sei das beste Beispiel dafür, so der elegant gekleidete 51-jährige. Da es den Machthabern selbst im Straflager nicht gelungen sei, seine Frau Julia zu brechen, hätten sie nun ihre Angehörigen ins Visier genommen. Deshalb habe er beschlossen, sein Heimatland zu verlassen und in Tschechien ein Asylgesuch zu stellen.Julia Timoschenko wurde im vergangenen Oktober zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: Amtsmissbrauch. Verträge über Gaslieferungen, die sie vor zwei Jahren in ihrer Funktion als Ministerpräsidentin mit Russland abgeschlossen hat, sollen der Ukraine großen finanziellen Schaden zugefügt haben. Die EU hat Prozess und Urteil als politisch motiviert bewertet. Es hagelt internationale Kritik. "Der Prozess war eine Farce. Eine Show für die ukrainische Bevölkerung.Dahinter wird all das versteckt, was die Regierung zu vertuschen versucht: die Plünderung des Staates, Gesetzesbrüche, Korruption."Julia Timoschenko befindet sich inzwischen in einem Straflager 450 Kilometer östlich von Kiew. Timoschenkos Tochter Jewgenija prangert immer wieder die Haftbedingungen der Mutter an. Sie erinnerten an Folter, sagte sie kürzlich in einem Fernsehinterview. Sie beklagte außerdem die unzureichende ärztliche Versorgung der gesundheitlich angeschlagenen Mutter. Die 31-jährige Jewgenija, so Alexander Timoschenko, werde jedoch vorerst in der Ukraine bleiben, denn sie sei die einzige Angehörige, die Julia Timoschenko im Straflager besuchen darf."Als unsere Tochter steht Jewgenija natürlich ebenfalls unter Beschuss. Momentan glaube ich aber noch, dass sie nicht Gefahr läuft, ebenfalls inhaftiert zu werden. Schließlich war sie weder an unseren wirtschaftlichen noch an politischen Aktivitäten beteiligt."Alexander Timoschenko unterhält seit Jahren geschäftliche Kontakte nach Tschechien. In Prag hat er nun eine Organisation registrieren lassen, die den Namen der Partei seiner Frau trägt: Batkivschina – Vaterland. Von hier aus will er die ukrainische Opposition unterstützen, vor allem aber für die Freilassung seiner Frau kämpfen."Von der jetzigen Regierung kann man keine Begnadigung erwarten. Meine große Hoffnung gilt deshalb dem Europäischen Gerichtshof."Gegen einige weitere Mitglieder der ehemaligen Regierung Timoschenko wird in der Ukraine derzeit ermittelt. Auch ihnen werden unter anderem Amtsmissbrauch und Veruntreuung zur Last gelegt. Einem von ihnen, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Bogdan Danilischin, hat Tschechien im vergangenen Jahr Asyl gewährt. Zwei tschechische Diplomaten wurden daraufhin wegen Spionageverdachts der Ukraine verwiesen.Präsident Viktor Janukowitsch, Timoschenkos schärfster Widersacher, weist alle Vorwürfe zu einem politisch motivierten juristischen Feldzug gegen Oppositionelle zurück. Niemand werde in der Ukraine politisch verfolgt, heißt es. Und der Geschäftsmann Alexander Timoschenko versuche in Tschechien nicht sich, sondern das Geld der Familie in Sicherheit zu bringen, so die Botschaft aus Kiew.
Von Katrin Materna
Seine Frau Julia wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, der Rest der Familie wird von der Regierung "enormem Druck" ausgesetzt: Alexander Timoschenko berichtet aus dem selbst gewählten Exil in Tschechien über die Situation in der Ukraine seit der Niederschlagung der Orangenen Revolution.
"2012-01-26T09:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:01:34.780000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-regierung-tut-alles-um-den-willen-der-menschen-zu-100.html
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Tscherkessen protestieren gegen Olympische Winterspiele in Sotschi
Als Tor zur russischen Riviera wird Sotschi in dem Werbespot für die Winterspiele angepriesen. 2014 werde sich in dem Kurort am Schwarzen Meer sogar das Tor zur Zukunft öffnen, versprechen die Russen. Doch die Atmosphäre bei den Spielen im Kaukasus wird wohl nicht ganz so friedlich und unbeschwert sein wie im Werbespot angepriesen:"Take your games and go away, genocide is not okay!" Haut ab mit euren Spielen, skandierten Demonstranten vor dem russischen Pavillon in London - und bezichtigten Russland des Völkermordes. Tscherkessen waren es, die da demonstrierten: Angehörige eines von der Welt fast vergessenen kaukasischen Volkes, das in der Gegend um Sotschi lebte, bis es vor 150 Jahren von russischen Truppen aus seiner Heimat vertrieben wurde - eine brutale und blutige "ethnische Säuberung" im Jahr 1864. Mehr als eine Million Menschen mussten damals die Region verlassen, damals rund 90 Prozent aller Tscherkessen. Dabei kamen nach Schätzungen von Historikern 300.000 bis 400.000 Männer, Frauen und Kinder ums Leben. Olympia dürfe nicht auf dem Boden stattfinden, auf dem ihre Vorfahren niedergemetzelt wurden, fordern die tscherkessischen Aktivisten, die sich in der Kampagne "No Sochi" zusammengeschlossen haben. International organisiert ist diese Protestaktion, denn die Nachkommen der überlebenden Tscherkessen sind heute in alle Welt versprengt – vom Nahen Osten über Westeuropa bis in die USA.Die meisten Tscherkessen leben heutzutage aber in der Türkei, etwa drei bis fünf Millionen. Viele tscherkessische Vereine bewahren hier die Kultur und die Traditionen der kaukasischen Heimat. Von Istanbul ging deshalb auch die Initiative zu der Kampagne aus. Der tscherkessische Aktivist Kuban Kural war von Anfang an mit dabei:"Wir haben 2006 mit der Kampagne begonnen, als Russland die Kandidatur für die Winterspiele in Sotschi erklärt hat. Weil wir nicht wollen, dass die Olympischen Spiele auf tscherkessischem Boden ausgetragen werden, genau dort, wo einst unsere Hauptstadt war und wo bekanntlich 1864 ein Völkermord an uns verübt wurde. Weil das gegen den olympischen Geist verstößt, wenn die Wettkämpfe auf den Massengräbern unserer Vorfahren ausgetragen werden." Die bisher relativ unpolitische tscherkessische Diaspora ist über die Spiele von Sotschi so aufgebracht, dass erstmals seit der Vertreibung aus dem Kaukasus eine tscherkessische Bewegung mit gemeinsamen Zielen und politischen Forderungen entstanden ist. Seit vier Jahren demonstrieren die Tscherkessen alljährlich am Jahrestag der Vertreibung in Istanbul, New York und mehreren anderen Städten der Welt für eine offizielle Anerkennung des Völkermordes. Als erstes Land verabschiedete Georgien kürzlich eine entsprechende Resolution. Aber auch der Westen müsse sich zu seiner Verantwortung für die Ereignisse und die historischen Konsequenzen bekennen, meint Aktivist Kural. Schließlich hätten westeuropäische Regierungen den tscherkessischen Widerstand im Kaukasus vor 150 Jahren kurzzeitig als Heldentum gefeiert, das Volk dann aber fallen gelassen:"Wenn die Welt damals eingeschritten wäre gegen den Genozid an den Tscherkessen, dann wären die Völkermorde an den Armeniern, den Juden und den Tutsi vielleicht nicht geschehen – weil die Täter dann gewusst hätten, dass die Welt das nicht hinnehmen wird." Mut gehört jedenfalls bis heute dazu, für die tscherkessische Sache einzutreten und gegen die Winterspiele von Sotschi zu mobilisieren. Weil Kuban Kural mit dem Tode bedroht wurde, stellten ihn die türkischen Behörden jetzt unter Polizeischutz.
Von Susanne Güsten
Im kaukasischen Sotschi werden 2014 die Olympischen Winterspiele ausgetragen. Die Tscherkessen, Ureinwohner des Kaukasus, erheben sich dagegen. Mit ihrem Protest soll auf die brutale Vertreibung der Tscherkessen durch die Russen vor fast 150 Jahren aufmerksam gemacht werden.
"2012-08-10T09:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:48.566000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tscherkessen-protestieren-gegen-olympische-winterspiele-in-100.html
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Verdeckter Kampf gegen die Kanzlerin
Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Presseerklärung beim Deutschen Gewerkschaftsbund (Imago) "Wie das weitergeht, müssen wir sehen", sagt die Bundeskanzlerin am Ende einer Woche, in der es in der eigenen Bundestagsfraktion beinahe zur offenen Revolte gegen ihren Kurs gekommen wäre. Im Videopodcast des Bundespresseamtes lässt sich Angela Merkel von einem Rechtsreferendar auswendig gelernte Stichworte geben. Die Fragen zielen nicht auf den gärenden Unmut in den eigenen Reihen, sondern auf ein bevorstehendes Gipfeltreffen mit der türkischen Regierung, nächste Woche in Berlin. "Gute Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei sind gerade in der jetzigen globalen Situation von allergrößter Bedeutung", erklärt Merkel und spannt damit noch einmal den großen, internationalen Rahmen auf, in dem sie sich an eine Lösung der Migrationskrise herantasten will: Die Massenflucht dort bekämpfen, wo sie ihre Ursachen hat, an einer Befriedung Syriens arbeiten, die Türkei bei der Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen unterstützen. Merkel warnt vor Flucht aus der Türkei "Die Türkei hat unter den inzwischen 2,5 Millionen Flüchtlingen, die sie beherbergt, mindestens 900.000 Kinder. Die müssen in die Schule gehen, die müssen ausgebildet werden. Und hier hat die Türkei bisher sehr wenig internationale Hilfe bekommen und es ist auch im europäischen Interesse, dass es den Flüchtlingen dort gut geht, so dass sie keinen Grund sehen, dann zu fliehen aus der Türkei. Und insofern halte ich das für einen wichtigen Beitrag." Am kommenden Freitag wird der türkische Ministerpräsident Davotoglou mit seinem halben Kabinett zur den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen im Kanzleramt empfangen. Militärische Ehren, roter Teppich, Gespräche über Milliardenhilfen und die mögliche Eröffnung neuer Kapitel im EU-Beitrittsprozess mit der Türkei stehen auf der Agenda. Merkel muss dem unbequemen Partner weit entgegen kommen, um Erfolge bei der Sicherung der EU-Außengrenzen zu erreichen. Denn der Druck auf die Kanzlerin ist so groß wie nie. "Können wir das tatsächlich schaffen?" "Es gibt wachsende Zweifel in der Unions-Fraktion, ob wir tatsächlich das schaffen können, was wir angesichts der Flüchtlingskrise unbedingt schaffen müssten", fasste der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach gestern die aufgewühlte Stimmung zusammen, in der sich die Unionsabgeordneten in den vergangenen Tagen zum ersten Mal im neuen Jahr und nach der Kölner Silvesternacht wieder in Berlin begegnet waren. "Grob gezeichnet ein Drittel der Fraktion unterstützt den Kurs der Bundeskanzlerin aus voller Überzeugung. Ein Drittel ist eher skeptisch, wie von mir gerade geschildert, und verlangt oder erwartet eine Kurskorrektur. Und dann gibt es noch ein Drittel: Es gibt viele Kolleginnen und Kollegen, die sagen, ja, ich teile eure Sorgen, aber da jeder Antrag mit der Aufforderung einer Kurskorrektur als Misstrauenserklärung gegenüber der Bundeskanzlerin interpretiert werden würde, ist es für uns wichtig, dass wir zusammenbleiben, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen, und deshalb unterstützen sie diesen Kurs, auch wenn viele Zweifel haben." Versuch einer Revolte Unterschriftenlisten waren in der Fraktion kursiert, es hatte einen Versuch gegeben, eine offene Abstimmung über die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutsch-österreichischen Grenze zu erzwingen. "Diesen Antrag wird es nicht geben. Ich selbst habe da auch nie Hand angelegt, halte auch so ein Vorgehen eines Antrags bei einer so zentralen Frage, auch politisch so schwer zu beantwortenden Frage wie der Frage, ob man Zurückweisungen and er deutschen Außengrenze vornehmen sollte, nicht für richtig", sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Stephan Mayer von der CSU im Deutschlandradio Kultur. Verdeckter Kampf der Papiere Aus dem offenen Aufstand ist ein verdeckter Kampf der Papiere geworden. Positionen sind abgesteckt, Erklärungen vorbereitet, mit denen man gegebenenfalls belegen kann, man habe ja schon immer gewusst, dass das nicht gutgehen kann. Die Abgeordneten, die eigentlich eine offene Protestresolution unterschreiben wollen, haben jetzt einen persönlichen Brief an die Kanzlerin verfasst. Die Frage bleibt, wie viel Zeit sie der Kanzlerin geben, bis der unterdrückte Protest doch noch zur offenen Revolte wird.
Von Stephan Detjen
Der Streit in der CDU über die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Merkel gärt weiter. Eine Revolte gegen die Parteivorsitzende ist zwar vorerst abgewendet. Merkels Mantra "Wir schaffen das" steht aber eine wachsende Gruppe von Zweiflern gegenüber, die jetzt verdeckt auf einen Kurswechsel drängt.
"2016-01-16T12:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:08:55.751000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rumoren-in-der-cdu-verdeckter-kampf-gegen-die-kanzlerin-100.html
91,013
Todesmetaphern in der Musik
Sinnbild des Gedenkens: Musizierende Putten rahmen ein Grabmahl ein (Deutschlandradio/ Hanno Ehrler) Künstlerisch im Fokus standen in Bremen Komponisten und Werke aus der jüngsten Vergangenheit im Fokus; sie wurden von theoretischer Beschäftigung ergänzt und kontrastiert. Yannis Xenakis riß mit seiner klanggewaltigen Musik buchstäblich Abgründe auf. Rolf Riehm entwarf Bilder vom Zerfallen und Vergehen. Texte über den Tod und ein eventuelles Weiterleben bildeten den Ausgangspunkt spezifischer Kompositionen Klaus Hubers, Luigi Nonos und Bernd Alois Zimmermanns. Zugleich präsentierten die Organisatoren der Tagung Stücke alter Musik – von Josquin Desprez, Claudio Monteverdi und Wolfgang Amadeus Mozart. Bewusst erweiterten sie den Blick über das Gegenwärtige hinaus darauf, wie der Tod in früheren Epochen musikalisiert wurde. Eingeladen war zudem der Wiener Philosoph Thomas Macho. Er referierte über Todesvorstellungen in der Menschheitsgeschichte. Beim Rückblick auf diese singuläre Auseinandersetzung mit Sterben und Tod aus der Sicht der Neuen Musik vor einem Vierteljahrhundert arbeitet Autor Hanno Ehrler heraus, wie aktuell die Thematik heute noch ist. Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung sieben Tage lang in unserer Mediathek
Von Hanno Ehrler
Das Jahr 2000 stand vor der Tür. Weltuntergangsfantasien kursierten, und alle fürchteten einen Computerabsturz. Diese Endzeitstimmung griff die Projektgruppe Neue Musik Bremen auf und thematisierte auf ihrer 1996 veranstalteten Tagung Todesmetaphern in zeitgenössischer Musik.
"2020-04-04T22:05:00+02:00"
"2020-04-02T09:59:37.454000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tod-in-der-neuen-musik-todesmetaphern-in-der-musik-100.html
91,014
Frankreich bangt um Traditionskonzern Alstom
Die ersten Alstom-Mitarbeiter gingen am Wochenende auf die Straße, versammelten sich vor den Toren der Standorte in Paris und Belfort, brachten ihre Ängste zum Ausdruck, sagten, es werde so oder so schwer, der Industriestandort Frankreich werde leiden, sobald Alstom zerlegt oder übernommen werde. Ähnliche Töne beim extremen rechten Front National, zig 1.000 Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, eine nationale, also rein französische Lösung, müsse gefunden werden, das, so ließ Marine Le Pen erklären, sei eine strategische, soziale, ja moralische Frage.Die Nachrichtensendungen überschlugen sich, die französischen Zeitungen sprachen von einem "nationalen Psychodrama", Alstom, der Name stehe schließlich seit 40 Jahren für den Hochgeschwindigkeitszug TGV, für die Werften am Atlantik, für Windkraftturbinen, für den Bau französischer Kernkraftwerke, es gehe also um Arbeitsplätze, um Frankreichs Industriestrategie, um die Energiepolitik des Landes.Der Staatspräsident beriet sich mit seinem Premier, Valls, seiner Umweltministerin Royal, seinem Wirtschaftsminister Montebourg. Zur gleichen Zeit tagten die Aufsichtsgremien von Alstom. An die Adresse des Unternehmens hatte Minister Montebourg am Morgen eine Art Warnung geschickt. Übernahmeangebote müssten in Ruhe, also seriös geprüft werden, er lasse sich nicht drängen, einen Termin mit dem Chef von General Electric sagte der Wirtschaftsminister ab und wies Alstom unmissverständlich darauf hin, dass der Staat, wenn auch nicht Aktionär, so doch ein wichtiger Auftraggeber für den Konzern sei. Ein Seitenhieb auf Firmenlenker Patrick Kron, der das General Electric-Interesse an rund 70 Prozent der Alstom-Aktivitäten befördert und bereits den Mischkonzern Bouygues, der 29 Prozent an Alstom hält, für den Einstieg der Amerikaner gewonnen hatte. Zur transatlantischen Variante aber gesellte sich eine europäische, mit der Gesprächsbereitschaft des Siemens-Konzerns, durchaus im Sinne der französischen Regierung, wie einige Medien in Frankreich berichten. Der Münchener Konzern ist Konkurrent beider Unternehmen, Alstom und General Electric. Diskussion um deutsches Interesse Vor zehn Jahren noch war Siemens bei einem Rettungsversuch für Alstom nicht zum Zuge gekommen. Ein gewisser Nicolas Sarkozy, damals Finanzminister, hatte Alstom mit staatlicher Hilfe und mit Zugeständnissen der Banken aus der Schieflage geholt. Dass sein konservativer Vorgänger Sarkozy mit der Rettung von Alstom damals Erfolg hatte, setzt den sozialistischen Präsidenten Hollande und seine Regierung nun zusätzlich unter Druck. Es darf nicht ausgeschlossen werden, dass - sollte es nötig werden - der Staat einsteigt, und sei es vorübergehend, sagte der Chef der Gewerkschaft Force Ouvrière im französischen Rundfunk. Schließlich sei die französische Regierung vor zehn Jahren auch aktiv geworden, um Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen zu können, erinnerte Jean-Claude Mailly. Frankreichs Wirtschaftsminister wiederum deutet zwei starke europäische Firmenkonstrukte an und bringt ein Modell ins Spiel, von dem im Januar bereits Staatspräsident Hollande gesprochen hatte , und auch Gewerkschaftschef Mailly deutet in diese Richtung: "Interessant an Siemens ist, dass es ein deutsches Unternehmen ist und dass wir ein wenig in der Logik eines europäischen Energieunternehmens à la Airbus wären." Die Politiker Frankreichs überboten sich jeweils mit Vorschlägen, die einen fanden das deutsche Interesse zielführend, andere votierten für die US-Variante, und Teile der französischen Gewerkschaft riefen vorsichtshalber für Dienstagmorgen zu Protesten auf.
Von Ursula Welter
Alstom ist in Frankreich einer der wichtigsten Technologiekonzerne. Seit 40 Jahren steht das Unternehmen für den Hochgeschwindigkeitszug TGV, für die Werften am Atlantik, für den Bau französischer Kernkraftwerke. Jetzt ist ein Übernahmekampf entbrannt - mit Siemens als einem der Akteure.
"2014-04-28T06:20:00+02:00"
"2020-01-31T13:37:58.616000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaft-frankreich-bangt-um-traditionskonzern-alstom-100.html
91,015
"Eine neue Qualität ist das Cybermobbing"
Zwei Schüler prügeln sich auf dem Schulhof (picture alliance / dpa / Oliver Berg) Mike Herbstreuth: Fast jeder sechste 15-Jährige an deutschen Schulen wird regelmäßig gemobbt. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Klaus Seifried vom Bundesverband Deutscher Psychologen. Herr Seifried, Sie haben sich 26 Jahre lang als Schulpsychologe intensiv mit dem Thema Mobbing an Schulen beschäftigt. Fast jeder sechste 15-jährige Schüler regelmäßig Opfer von Mobbing – überrascht Sie diese Zahl? Klaus Seifried: Nein, die Zahl überrascht mich nicht. Mobbing ist auch kein neues Thema. Das gibt es schon sehr, sehr lange, und wir haben Zahlen, die zwischen 15 und 20 Prozent schwanken, schon seit Jahren. Herbstreuth: Also ist das nicht erst in letzter Zeit so gestiegen diese Zahl. Die war schon immer relativ hoch. Seifried: Eine neue Qualität ist das Cybermobbing, also die Benutzung von Smartphones und Neuen Medien, sozialen Medien. Das hat wirklich eine neue Qualität, weil dort die Täter anonymisiert sind, und das führt zu einer Enthemmung und natürlich auch zu einer extremen Verbreitung. Solch eine Nachricht mit diskriminierenden Fotos oder Mitteilungen kann an die ganze Klasse oder an die ganze Schule durch einen Klick versendet werden. "Wichtig ist, dass wir ein Frühwarnsystem haben" Herbstreuth: Der Grüne-Bildungspolitiker Özcan Mutlu hat als Reaktion auf die Ergebnisse der Studie auch gefordert, dass eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Mobbing gibt und dass dem Lehrpersonal in Deutschland dringend mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen, um die Mobbingprävention gezielt zu schulen. Wie ist Ihr Eindruck? Fehlt es da in diesem Bereich Mobbingprävention an Schulen? Seifried: Also in den letzten Jahren haben wir sehr, sehr viel getan, um Gewaltprävention in den Schulen zu verankern, und da hat sich auch wirklich viel verändert. Es gab immer Mobbing, und es wird auch immer Mobbing in der einen oder anderen Form geben. Wichtig ist hierbei, dass wir ein Frühwarnsystem haben, dass wir also durch ein gutes Klassen- und Schulklima die Mitschüler davon überzeugen, dass sie selbst einschreiten, weil die Lehrer und auch die Eltern nur zu einem geringen Prozentsatz – ungefähr zu 30 Prozent - überhaupt von Mobbing erfahren. Herbstreuth: Wie schafft man das, dass die Mitschüler da einspringen, wenn jemand gemobbt wird in der Klasse? Seifried: Zum Beispiel, dass Klassenlehrer einen Klassenrat abhalten, wo über das Zusammensein in der Klasse gesprochen wird, dass Schüler zu Streitschlichter, zu Konfliktlotsen ausgebildet werden und insgesamt stabile persönliche Beziehungen herrschen. Anonymität fördert Mobbing, fördert Konkurrenz und Neid, und persönliche Beziehungen stabilisieren das. "Das Kernproblem ist, dass die Mobbingopfer sich schämen und sich schamvoll zurückziehen" Herbstreuth: Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Ich bin einer dieser 15 Prozent der Schüler, die gemobbt werden mit Beleidigungen oder mit Lästereien. Was kann ich da als Schüler konkret tun? Seifried: Das Kernproblem ist, dass die Mobbingopfer sich schämen und sich schamvoll zurückziehen. Das ist ihnen peinlich, aber es ist wichtig, dass sie das offensiv gegenüber den Eltern und den Lehrkräften sagen, dass sie sich Hilfe holen, und wenn dann ein Mobbingopfer gesagt hat, ich werde geärgert, ich werde geschubst, ich werden geschlagen, ich werde erpresst, dann kann die Schule auch etwas tun. Ganz konkret ist es so, dass wir dann als Schulpsychologen uns aktiv mit dem Opfer beschäftigen, aber auch mit den Tätern, dass den Tätern ganz klare Grenzen gesetzt werden, sowas wird an der Schule nicht geduldet, und dass das Opfer auch Hilfe bekommt, zum Beispiel durch Mitschüler, die ihn dann für eine Zeit lang schützen. Herbstreuth: Und wenn mein Kind jetzt zu mir kommt, als Elternteil, wie ist da das richtige Vorgehen? Was mache ich dann? Wende ich mich an die Schule, gehe ich zur Polizei? Seifried: Wichtig ist erstmal, dass Eltern Zeit haben für ihre Kinder und Jugendlichen, dass sie mit ihnen sprechen und solche Vorkommnisse nicht abtun, dass sie sie überhaupt wahrnehmen. Manche Eltern sagen, da musst du dich wehren, da musst du durch, und das Problem ist, dass die Schüler sich oft nicht wehren können, und da sollten Eltern dann auch die Lehrer ansprechen, Schulpsychologen ansprechen und in schweren Fällen auch die Schulleitung und zum Beispiel auch Strafanzeige stellen, wenn es um Gewalteinwirkung geht oder schwere Kränkungen über längeren Zeitraum. Herbstreuth: Sagt der Schulpsychologe Klaus Seifried zu einem der Ergebnisse der PISA-Studie über das Lernumfeld von 15-Jährigen an deutschen Schulen, nämlich, dass fast jeder sechste 15-Jährige regelmäßig Opfer von Mobbing in der Schule wird. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Seifried! Seifried: Gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mike Herbstreuth im Gespräch mit Klaus Seifried
Mobbing sei kein neues Thema, sagte Klaus Seifried vom Bundesverband Deutscher Psychologen im DLF. Dass laut aktueller Pisa-Studie jeder zehnte 15-Jährige regelmäßig gemobbt werde, habe ihn nicht überrascht. Eine neue Qualität habe allerdings das Cybermobbing: Die Täter könnten anonym agieren und seien daher enthemmter.
"2017-04-19T14:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:02.599000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pisa-studie-eine-neue-qualitaet-ist-das-cybermobbing-100.html
91,016
Wissenschaftliche Karriere soll attraktiver werden
Ein Großteil der Promovierten kann nicht an der Uni bleiben. Viele streben deswegen Karrieren in der Wirtschaft an. (picture alliance/dpa/Jens Büttner) Enrico Schleiff hat sich für die akademische Karriere entschieden. Professor der Biologie ist er, dazu Vizepräsident der Universität Frankfurt am Main. Als stellvertretender Vorsitzender des Netzwerks UniWind kümmert er sich um die Orientierung des wissenschaftlichen Nachwuchs. Und der müsse nicht zwangsläufig Karriere in der Wissenschaft machen, sagt Schleiff: "Wir versuchen, um die besten Köpfe zu ringen, wir versuchen auch Beratung im Rahmen der Promovierendenweiterbildung anzubieten, um zu sehen, was sind Potenziale, was sind Möglichkeiten. Als Uniwind verstehen wir uns eher als eine Organisation, die die verschiedenen Karrierepfade aufzeigen möchte. Denn jeder soll für sich selbst entscheiden, was ist für ihn der richtige Pfad, weil wir als Universitäten auch eine Verantwortung haben, hochqualifizierte Leute in die verschiedensten Positionen zu bringen." Viele Promovierte können nicht an der Uni bleiben Universitäten wollen also auch für den Markt ausbilden. Denn ein Großteil der Promovierten kann nun einmal nicht an der Uni bleiben. Hier bedürfe es auch eines kulturellen Wandels bei der Annahme von Beratung, sagt Enrico Schleiff. "Wir haben ja stellenweise Schranken im Kopf. Und die Schranke im Kopf ist, wenn ich dahingehe, dann sage ich ja automatisch ich bin nicht geeignet für eine Universitätskarriere, die ja immer noch in unserem System als das Heilige ausgesprochen wird. Wenn ich jetzt aber sage: Ich gehe dahin, um mich wirklich offen beraten zu lassen und das ist für mich eine einmalige Chance, auch mal mit jemandem als Spiegel mit mir zu arbeiten, dann werden wir das schrittweise aufbauen." Nach neuesten Erkenntnissen strebt weniger als die Hälfte des wissenschaftlichen Nachwuchses eine Karriere in der Wissenschaft an, sagt Matthias Winde vom Stifterband für die Deutsche Wissenschaft. Er hat in einer Studie die Wünsche und Vorstellungen deutscher Nachwuchswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersucht, vor und nach der Promotion. Unsichere Verhältnisse in der Wissenschaft Das Ergebnis: Rund 55 Prozent von ihnen möchten die Wissenschaft verlassen. Und nur 22 Prozent streben eine Professur an. Winde über die Gründe: Unsichere Verhältnisse sind für die Nachwuchswissenschaftler ein großes Thema. Wir wissen, dass die Hochschulen daran arbeiten, mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse einzurichten, aber das ist in der Breite noch nicht angekommen. Und deswegen sind die sicheren Beschäftigungsverhältnisse in der Wirtschaft attraktiv für Nachwuchswissenschaftler, und auch sicher die höheren Gehälter. Wer eine Professur als Ziel hat, weiß oft erst mit Anfang 40, ob er oder sie dieses Ziel erreicht. Dazwischen stehen Jahresverträge und häufige Ortswechsel. Und das in einer Lebensphase, in der oft auch eine Familiengründung ansteht. Um das Beschäftigungsverhältnis zu stabilisieren, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit den Ländern deshalb sogenannte Tenure-Track-Professuren. Wer eine solche Stelle antritt, dem oder der wird bei Erreichen bestimmter Leistungen eine Professur garantiert. 1000 Professuren sollen so ab 2017 entstehen. Aber was ist mit denen, die zwar an der Uni arbeiten wollen, nicht aber mit einer Professur? Je nach Umfragemethode zwischen 10 und 25 Prozent der Stellen an der Universität seien unbefristet, sagt Matthias Winde, der für seine Studie auch Universitäten befragt hat. Aber: "Was glaube ich ganz schön ist, dass die Mehrzahl der Hochschulleitungen gesagt haben, sie streben an, mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse in Forschung, Lehre und auch im Wissenschaftsmanagment zu schaffen. Und dass sie ein Verhältnis von 40 zu 60 unbefristete zu befristete Verhältnissen eigentlich ein Idealzustand sind." In dem, so die Hoffnung, die wissenschaftliche Karriere unterhalb der Professur dann vielleicht wieder attraktiver wird.
Von Bastian Brandau
Eine Promotion eröffnet nicht selten das Tor zu einer akademischen Laufbahn - im Idealfall endet diese mit einer Professur. Laut einer Befragung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung entscheiden sich allerdings immer weniger junge Akademiker für diesen Weg. Viele bevorzugen die attraktiven Angebote aus der Wirtschaft.
"2016-09-23T14:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:55:21.014000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/leben-nach-der-promotion-wissenschaftliche-karriere-soll-100.html
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"Ohne Stallgeruch ist es schwierig"
So bunt wie diese Mikrofone auf einer Pressekonferenz sind die meisten Redaktionen nicht zusammengesetzt. 85 Prozent der Journalisten kommen aus dem bürgerlichen Milieu. Die meisten haben einen akademischen Abschluss. (picture-alliance / dpa / Daniel Karmann) Sven Gösmann, Chefredakteur der Deutschen Presseagentur, ärgert sich. Bei vielen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lägen Journalisten zunehmend daneben mit ihren Einschätzungen. "Wir sind überrascht worden vom Brexit, wir sind überrascht worden vom Aufkommen und vom Erfolg der AfD. Wir sind überrascht worden von der Wahl Donald Trumps. Und da sind mir ein bisschen viele Überraschungen, die auch damit zu tun haben, dass wir zu sehr mit uns selber beschäftigt sind Journalisten meist aus bürgerlichem Milieu Eine Einschätzung, die der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger von der Universität Mainz mit Zahlen untermauern kann. Bei 85 Prozent der Journalisten in deutschen Redaktionen sind die Väter Beamte, Angestellte oder Selbstständige, nur 9 Prozent kommen aus einem Arbeiterhaushalt, ergaben Studien. Und beinahe alle Journalisten orientieren sich bei ihrer Berichterstattung an den Meinungen und Einschätzungen ihrer Kollegen. dpa-Chef Gösmann sieht darin eine der Ursachen für viele falsche Einschätzungen. Wer aus diesem behüteten bürgerlichem Umfeld komme, berichte entsprechend. Das soll nun anders werden. "Was wir aber suchen und wissen wollen, ist natürlich auch: Wie sieht das Land abseits dieser etwas ausgetretenen Bildungspfade aus? Welche Herausforderungen gibt es? Wie unterscheiden sich heute Provinz und Stadt? Und wie unterscheidet sich die Stadt in ihrer Gänze eigentlich? Welche Stadtteile gibt es, welche Lebensformen gibt es? Und wir sind einfach schlichtweg nicht divers genug." Vorurteile bei Bewerbern aus Einwanderfamilien Dass Redaktionen wie dpa nicht divers, nicht vielfältig genug sind – das kritisieren Journalisten, die selbst oder deren Eltern zugewandert sind, schon lange. Zum Beispiel der Verein "Neue Deutsche Medienmacher", deren Geschäftsführerin Konstantina Vassiliou-Enz bereits den Einstieg in den Journalistenberuf als mühsam bezeichnet. Ohne Stallgeruch sei es schwierig, meint sie. Und dann gebe es noch spezielle Vorurteile bei Bewerbern aus Einwanderfamilien. "Beim Auswahlprozess ist es oft so, dass Menschen, die nicht eine gerade Ausbildung haben oder nicht wie üblich im Journalismus so aus dem Bildungsbürgertum oder aus der Mittelschicht kommen, dass da immer wieder vermutet wird, dass mangelnde Sprachkompetenz vorherrscht, dass das eine mangelnde Werteakzeptanz gibt, dass zum Beispiel Menschen aus Einwandererfamilien Journalismus als aktivistischeren Beruf begreifen würden." Mehr neugierige Journalisten, weniger Akademisierung Nachdem vor 20 oder 30 Jahren nicht nur in vielen Lokalzeitungsredaktionen viele Studienabbrecher in einen Redaktionsjob rutschten, gibt es mittlerweile ohne Hochschulabschluss, Auslandsaufenthalte und Praktika kaum eine Chance auf ein Volontariat, auf eine Ausbildung zum Redakteur. dpa-Chef Gösmann kritisiert diese starke Akademisierung. Er will weniger Journalisten, die sich mit Umfragen beschäftigen, und mehr neugierige Reporter, die recherchieren und sich mit Menschen unterhalten, sagt er. Die älteren Kollegen seien da ein wenig träge geworden, deutet Gösmann an – er setzt auf die aufstiegswilligen "Underdogs" in der Gesellschaft. "Ich glaube, dass Neugier auch immer mit dem Willen um die Chance des Aufstiegs konkurriert, dass es immer darum geht zu sagen, was sind eigentlich die neuen Themen. Wie finde ich einen Gesprächsfaden zu Menschen, denen ich nicht täglich in der Redaktion begegne, sei es, dass Sie einen ausländischen Hintergrund haben, sei es dass sie eine andere Religion haben, sei es dass sie keine Arbeit haben, sei es dass Sie eine andere Sicht auf die Welt haben. " Die Nachrichtenagentur steht allerdings vor der Herausforderung, dass Karrieren in anderen Bereichen der Gesellschaft attraktiver erscheinen. "Wir müssen uns auch bewegen, um guten Nachwuchs zu bekommen." "Alle haben ein ähnliches Problem. Es gibt einen gewissen Nachwuchsmangel zumindest an qualifiziertem oder originellen Nachwuchs. Weil wir in schmaleren Geburtenjahrgängen konkurrieren mit vielleicht attraktiveren Start-ups mit anderen interessanten Arbeitgebern im E-Commerce oder dergleichen. Wir bewerben uns um einen kleiner werdenden Kuchen. Deshalb müssen wir uns auch bewegen, um guten Nachwuchs zu bekommen." Auch damit hat die neue Öffnung hin zu Bewerbern eventuell auch ohne Abitur, aus Zuwandererfamilien und zu sozial Benachteiligten etwas zu tun. Für Konstantina Vassilou-Enz von den Neuen Deutschen Medienmachern macht das keinen Unterschied. "Ich finde es eigentlich ziemlich egal, warum mehr Menschen die Chance bekommen im Journalismus Fuß zu fassen. Ich finde es wichtig, dass es passiert und wenn es daran liegt, dass es weniger Bewerber gibt und die Medienunternehmen sich einfach mehr umschauen müssen, und schauen müssen, wo finden wir die Talente und finden wir auch Talente, die vielleicht nicht irgendwie einen total geraden Bildungsweg hinter sich haben, finde ich das gut."
Von Klaus Martin Höfer
Brexit, US-Wahl, AfD-Erfolg - bei vielen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lagen Journalisten mit ihren Einschätzungen daneben. Die Deutsche Presseagentur und der Verein Neue Deutsche Medienmacher setzen deswegen auf mehr Vielfalt in den Redaktionen.
"2017-07-04T15:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:11.597000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vielfalt-im-journalismus-ohne-stallgeruch-ist-es-schwierig-100.html
91,018
Was muss die Bahn ändern?
Investitionen "auf Rekordniveau": Die Deutsche Bahn will mit höheren Ausgaben für Züge, Schienen und Mitarbeiter aus der Krise kommen. (dpa picture alliance/ Imagebroker) Mehr Infrastruktur, mehr Züge, mehr Personal forderte der Chef der Deutschen Bahn, Richard Lutz, nach der Sitzung des Bahn-Aufsichtsrates Ende vergangener Woche. So will er der wachsenden Zahl von Fahrgästen gerecht werden. Und auch die Politik fordert schnelle Besserung: Daseinsvorsorge statt Gewinnmaximierung ist das neue Motto des Bahn-Eigners Bund. Der nimmt so viel Einfluss auf den Konzern wie lange nicht. Wie viel Geld die Regierung am Ende locker macht, ist aber noch ungewiss – genauso, wie viel die Bahn an Mitteln selbst aufbringen kann. Fest steht: Der Bedarf ist gigantisch – genau wie der Investitionsstau, eine Folge der jahrelangen Sparpolitik. Aber fehlt der Bahn nur das Geld? Oder braucht der Konzern eine weitere Reform? Und ist der neuerliche Einfluss der Politik Fluch oder Segen? Es diskutieren: Christian Böttger, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin Matthias Gastel, bahnpolitischer Sprecher von Bündnis90/Die Grünen Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn Oliver Wittke, CDU, parlamentarischer Staatssekretär und Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn
Diskussionsleitung: Silke Hahne, Deutschlandfunk
Anfang Dezember steht neben der Fahrplanumstellung auch die Fahrpreiserhöhung im Fernverkehr der Bahn an. Doch die Kunden kriegen nicht die volle Leistung: Sie plagen sich mit unpünktlichen Zügen und schlechtem Service herum. Jetzt will die Konzernspitze den überfälligen Umschwung schaffen – mit mehr Geld vom Bund. Kann das gelingen?
"2018-11-28T19:15:00+01:00"
"2020-01-27T18:22:39.733000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/puenktlichkeit-personal-und-kapazitaet-was-muss-die-bahn-100.html
91,019
Mehr Personal an Bulgariens Grenze
Frontex-Mitarbeiter nehmen einen Flüchtling fest. (Deutschlandradio - Panajotis Gavrilis) "Bulgarien", rufen sie, und "Fremde raus". Szenen vor dem Flüchtlingsheim der kleinen Stadt Harmanli im Süden Bulgariens, am vergangenen Sonntag. "Man soll die Zahl der Flüchtlinge wenigstens beschränken", sagt diese Frau. "Die meisten sind junge Männer. Unsere Stadt ist klein. Und sie sind schon mehr als wir", klagt sie. Angst vor Überfremdung 10.000 Einwohner hat Harmanli und 3.500 Migranten. Die meisten sind Pakistanis oder Afghanen. Das Städtchen liegt nahe an der Grenze zur Türkei. Organisiert hat die Proteste der nationalistische Europa-Abgeordnete Angel Dzhambaski, der ein EU-weites Referendum gegen die Fremden will. "Sie sind nicht willkommen, denn sie unterscheiden sich von uns kulturell, zivilisatorisch, historisch und religiös. Sie wollen sich nicht in unsere Gesellschaft integrieren. Sie kommen hierher, um uns zu verändern. Wir wollen das nicht und werden es nicht zulassen. Deswegen bestehen wir darauf, dass die Zentren und Lager aufgelöst und ihre Bewohner dorthin zurückgeschickt werden, woher sie gekommen sind oder zu Erdogan." Überfüllte Flüchtlingszentren Fast 15.000 Migranten sind dieses Jahr laut Innenministerium nach Bulgarien gekommen, etwa die Hälfte ist noch im Land. Die Flüchtlingszentren sind völlig überfüllt. Wer kann, geht weiter. Meist nach Serbien, doch auch an der Grenze zum Nachbarn sind die Kontrollen mittlerweile schärfer. Innenministerin Rumjana Batschwarowa ist zufrieden. "Wir kommen gut zurecht. Wir haben keine neue Migrantenroute über Bulgarien zugelassen, auf der die Migranten einfach durchziehen, ohne registriert zu werden. An der bulgarisch-serbischen Grenze halten wir die Migranten auf, die rüber gehen wollen. Manche Menschen werden bis zu zehn Mal aufgehalten. Sie bleiben hier, auch wenn es für uns sehr schwer ist, denn unsere Zentren sind voll. Wir machen aber keine Kompromisse bei Registrierung und Flüchtlingsstatus." Derzeit kontrollieren Grenzpolizisten und Soldaten die Grenze, 150 Frontex-Beamte helfen dabei. 200 zusätzliche Kräfte plus Hunde und Ausrüstung sollen kommen, hat die europäische Grenzschutzagentur versprochen. Aus Brüssel kommt auch Geld: 160 Millionen Euro für Ausrüstung und Flüchtlingszentren. Diese Demonstrantin in Harmanli ist empört. Private Grenzschützer haben sich selbst ermächtigt "Mit den EU-Geldern soll man keine Unterkünfte bauen, sondern sie in Flugzeuge stecken und dorthin zurückschicken, woher sie gekommen sind." Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht jeder zweite Bulgare die Ankommenden als Bedrohung an, 5 Prozent sagen sogar offen: Sie hassen die Fremden. Die neueste Idee der bulgarischen Regierung: Die Ankommenden sollen in menschenleeren Dörfern angesiedelt werden. Neben den offiziellen Grenzschützern haben sich mittlerweile auch private selbst ermächtigt. Sie patrouillieren an der Grenze, gehen äußerst rüde mit denen um, die sie schnappen. Die Regierung in Sofia lässt sie vorerst gewähren. Der konservative Regierungschef Bojko Borissow sagt: "Letztlich wollen wir, dass diese Menschen zurück nach Hause gehen. Wir wollen nicht, dass sich einige Millionen Menschen dauerhaft in Europa ansiedeln, nicht wahr? Ich bin bereit, 1.200 Migranten zu helfen. Soviele haben wir versprochen aufzunehmen. Aber derzeit haben wir mehr als 7.000 hier. Ich will auch wissen, wie lange: Sechs Monate, ein Jahr? Danach sollen sie zurück." Das hänge aber von den Großmächten mit ihren Interessen im Nahen und Mittleren Osten ab, meint Borissow. Für Freitag sind neue Proteste in der bulgarischen Hauptstadt Sofia angekündigt.
Von Stephan Ozsváth
Der verstärkte Grenz- und Küstenschutz der EU nimmt seine Arbeit auf – an der bulgarisch-türkischen Grenze. 15.000 Migranten sind bis Ende September in Bulgarien gestrandet, die Stimmung vor Ort ist angespannt. Mittlerweile patrouillieren sogar selbst ernannte private Grenzschützer - mit dem Wissen der Regierung.
"2016-10-06T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:57:41.481000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frontex-grenzschutz-mehr-personal-an-bulgariens-grenze-100.html
91,020
Mehr Oratorium als Oper
Irgendwie taten einem die Jungs im Schlabberlook wirklich leid. Als sie zum Schlussapplaus auf die Bühne des Nationaltheaters schlurften, verwandelte sich die vorher so klatschfreudige Masse in einen wütenden Buh-Chor, aus dem immerhin einige tapfere Bravos emporschallten. Árpád Schilling und seine Mitstreiter blickten ziemlich müde und desillusioniert auf die sich Empörenden. Warum so viel Protest? Gab es wieder mal einen Skandal? Flossen Körpersäfte, wurde junge Sängerinnen entkleidet oder gar gefoltert? Keineswegs. Mein Sitznachbar hat das Problem ganz gut auf den Punkt gebracht: wieso bringt ein hoch subventioniertes Opernhaus eine konzertante Verdi-Oper heraus?Der Ungar Árpád Schilling kommt aus dem Off-Theater und kann offensichtlich mit der wüsten Hochglanz-Tragödie um den buckligen Hofnarren Rigoletto, seine allseits begehrte Tochter Gilda, den lüsternen Herzog und die zum Tod Gildas führende Intrige wenig anfangen. Erstmal nivelliert er sämtliche Standesunterschiede, alle sehen ziemlich gleich aus, Rigoletto kommt vielleicht einen Tick schmuddeliger daher - dafür besitzt er keinen Buckel. Töchterchen Gilda hat rote Haare, trägt einen blauen Schal und Klamotten aus dem Billig-Discounter. Auch ihre Körperhaltung lässt zu wünschen übrig.Das erste Bild: eine weiß getünchte Menschenmasse sitzt auf einer riesigen Tribüne. Alle, die etwas zu singen haben, treten nun nacheinander an die Rampe und absolvieren ihr Pensum. Später teilt sich die Tribüne, ein luftiger Vorhang fällt herab, überflüssigerweise wird noch ein großes Pferd herein geschoben, das man gerade einmal fünf Sekunden lang sieht. Vermutlich steht es für Macht und Potenz des Herzogs - und für den Größenwahn einer Staatsoper mit zu viel Geld! Es gibt einige wirklich starke Ensembles, bei den Soloszenen und Duetten sitzen oder stehen oft noch andere Figuren im Hintergrund. Warum dieses "Belauschen"? Schilling macht nicht wirklich deutlich, ob es sich hier um bloße Staffage handelt, oder ob die Lauscher mit dem Gehörten etwas anzufangen wissen. Gilda hört dem um die Prollprostituierte Maddalena (kräftig: Nadia Krasteva) werbenden Herzog von der Seite aus zu, ihren starren Gesichtszügen kann man jedoch nicht entnehmen, ob sie Ekel, Mitleid, Liebe oder Hass empfindet.Ähnlich nebulös ist das häufige Maskieren und Demaskieren. Anfangs tragen alle, außer Rigoletto, Larven, dann verkleidet sich mal der eine, mal die andere. Der geldgierige Mörder Sparafucile (eindrucksvoll donnernd: Dimitry Ivashchenko) lockt Gilda in ein völlig abstruses Gerät, eine Mischung aus Fahrrad und Rollstuhl. Dort sticht er auf sie ein. Doch statt zu sterben, geht Gilda einfach langsam ab.Letztlich bleibt bei dieser Inszenierung das Meiste im Unklaren, entweder wollte Schilling zu viel oder zu wenig.Immerhin überzeugten die Solisten: Patricia Petibon kommt ja eigentlich aus dem französischen Barockfach und sang mit großem Erfolg auch diverse Mozart-Partien. Ihr Münchner Gilda-Debüt gelang glänzend. Zuletzt schlichen sich in ihren einst samtweichen Sopran zunehmend metallische Härten ein, für Verdis häufig atemlos stockende Linien passte Petibons edle Schärfe ganz wunderbar.Joseph Calleja war eine herzögliche Idealbesetzung, Franco Vassallo gab einen hinreißenden Rigoletto. Marco Armiliato sorgte am Pult des Bayerischen Staatsorchesters für einen fein gewobenen Verdi-Klang. Sehr schön waren etwa geisterhaft flirrende Streicherfiguren, zur reduzierten Szene passte das insgesamt eher kammermusikalische Klangbild, ohne zu gewaltige Eruptionen. Nur den von Stellario Fagone einstudierten Chören mangelte es immer wieder an Präzision.
Von Jörn Florian Fuchs
Offenbar kann der Ungar Árpád Schilling mit der wüsten Hochglanz-Tragödie um den buckligen Hofnarren Rigoletto, seine allseits begehrte Tochter Gilda und den lüsternen Herzog wenig anfangen. Bei seiner Inszenierung bleibt letztlich das Meiste im Unklaren. Immerhin aber überzeugen die Solisten.
"2012-12-16T17:30:00+01:00"
"2020-02-02T14:38:00.488000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-oratorium-als-oper-100.html
91,021
Peruanischer Bauer verklagt RWE
Der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuya zieht mithilfe der NGO Germanwatch gegen RWE vor das Oberlandesgericht Hamm (imago / stock&people ) Ein tiefblauer See, umgeben von Gletschern und den eisbedeckten Gipfeln der Cordillera Blanca. Der Palcacocha-See, 4500 Meter über dem Meer, ist ein beeindruckender Ort - aber für die Menschen, die in der darunter liegenden Stadt Huaraz leben, bedeutet dieser See Lebensgefahr, sagt der Bergführer und Bauer Saúl Lliuya. "Die Gefahr ist gegenwärtig. Keiner weiß, wann hier eine Katastrophe passiert, wann eine Lawine niedergeht." Denn auch wenn die Berge hier weit über 6.000 Meter hoch aufragen: Die Gletscher schmelzen und ziehen sich auch hier immer weiter zurück. Große Risse und Spalten durchziehen die Eisfelder, die auf einem steilen Hang oberhalb des Sees liegen. Irgendwann werden sie abbrechen - und dann wird eine gewaltige Lawine aus Eis und Geröll in den See stürzen und eine Flutwelle auslösen. Unterstützung von Germanwatch So wie schon einmal 1941 - damals starben 5.000 Menschen in Huaraz. Man müsste den See teilweise ablassen und einen hohen Schutzdamm bauen. Aber dafür fehlt der Provinzregierung das Geld. Deswegen versucht Lliuya, das Geld an anderer Stelle aufzutreiben. "Mithilfe unserer Freunde von Germanwatch fordern wir, dass wir Unterstützung bekommen, um diesen Schutzdamm zu bauen." Und deswegen hat der Kleinbauer und Bergführer aus den peruanischen Anden sich mit einem der großen Stromversorger angelegt, mit RWE. Er hat den Konzern auf Schadenersatz verklagt, mit Unterstützung der Umweltorganisation Germanwatch. "Die großen Firmen, die die Welt verschmutzt haben und damit zur Erwärmung des Weltklimas beigetragen haben, und dafür gesorgt haben, dass die Gletscher schmelzen, die müssen uns doch wenigstens helfen, die Seen zu sichern." Unbegründete Klage Mit seinen Kohle- und Gaskraftwerken ist RWE der größte Einzel-Verursacher von CO2-Emissionen in Europa. RWE verfeuert nicht nur deutsche Braunkohle, sondern unter anderem auch Steinkohle aus Südamerika, aus Kolumbien, in seinen Kraftwerken. Deswegen müsse RWE direkte Verantwortung für die Folgen des Klimawandels übernehmen, argumentieren Lliuya und seine Anwältin. Das Landgericht Essen hat die Klage des Peruaners vor knapp einem Jahr allerdings schon einmal abgewiesen. Die Klage, so haben die Richter gesagt, war auch insgesamt unbegründet. Grund dafür: Es gibt sehr, sehr viele Verursacher von CO2-Ausstoß und das Gericht hat jetzt gesagt, man kann nicht einen einzelnen Verursacher in Deutschland einer konkreten Flutgefahr in Peru zuordnen - deshalb keine sogenannte rechtliche Kausalität", so Johannes Hidding, der Sprecher des Landgerichts Essen. Germanwatch hat trotzdem die nächste Instanz angerufen, jetzt muss sich das Oberlandesgericht Hamm mit dem Fall befassen. "Wir sind der Auffassung, wir haben recht - inhaltlich gesehen", sagt Roda Verheyen, die den peruanischen Bergbauern vertritt. Die Chancen, den RWE-Konzern juristisch zwingen, in Peru einen Damm zu bauen, dürften ziemlich schlecht stehen. Aber allein dass ein kleiner Bergbauer einen Weltkonzern verklagt, erregt Aufsehen. Und darum geht es wohl auch: Den vom Klimawandel Betroffenen - etwa aus Peru - eine Bühne zu geben und die deutschen Kohle-Verstromer an den Pranger zu stellen.
Von Ivo Marusczyk
Der Klimawandel bedroht sein Haus in der Heimat - der Peruaner Saúl Lliuya fordert deshalb vom Energieriesen RWE, die Kosten eines Dammes zu übernehmen. Nachdem das Landgericht Essen seine Klage ablehnte, zog der Peruaner vor das Oberlandesgericht Hamm.
"2017-11-13T11:35:00+01:00"
"2020-01-28T11:00:49.455000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/naechste-verhandlungsrunde-peruanischer-bauer-verklagt-rwe-100.html
91,022
Love, Peace and Profit
Das Woodstock-Festival gilt noch heute als einer der bedeutendsten Momente der Musikgeschichte (imago/TBM/United Archives) Opa Langhaar erklärt die Jugendkultur: Joah man, yeah man. Hello! Es war einmal eine Zeit, da waren die Röcke kurz, die Haare lang und Bärte wurden noch nicht gegroomt. Musik wurde handgemacht und ein Album dauerte 45 Minuten - maximal und wenn man die Platte schnell umdrehte. Der Westen war gut und Schimpfworte wurden gemeinsam gelernt und verständlich erklärt: Gimme an F (F!)Gimme a U (U!)Gimme a C (C!)Gimme a K (K!)What's that spell? (Fuck!)What's that spell? (Fuck!)What's that spell? (Fuck!)What's that spell? (Fuck!)(Country Joe McDonald) Vier Aussteiger und eine Viertelmillion Dollar Ja, damals wankte das Establishment, selbst der Kapitalismus war nicht mehr nur böse. Stellt euch vor: "Junger Mann mit unbegrenztem Kapital sucht legitime Investitionsmöglichkeiten und Geschäftsideen. - Chiffre B-331" So fing das an, eine Anzeige im "Wall Street Journal". Junge Investoren suchen arglos nach Gewinn. John Roberts und Joel Rosenman, zwei New Yorker Sakko-Träger, die kannten sich vom Golfen, haben auch zusammen gewohnt. Roberts hatte gerade eine Viertelmillion Dollar geerbt, Rosenman arbeitete in einer Anwaltskanzlei und spielte Gitarre in ’ner Band. Beide wollten ’ne kreative Pause, was anderes machen und Geld verdienen. Und das Ergebnis ihrer Anzeige: In New York werden sie Teilhaber in einem Tonstudio. Da sind sie dann in Kontakt gekommen mit Michael Lang und Artie Kornfeld. Die wollten auch ein Studio eröffnen - in Woodstock. Aber die hatten kein Geld. Michael Lang, das war ein kleiner Dealer, lange Haare. Hat ’ne unbekannte Rockband gemanaged - Artie Kornfeld hatte es schon zu was gebracht, Songs geschrieben, Erfolg gehabt und war Manager bei einer Plattenfirma. Die beiden wollten auch aussteigen, träumten von Aufnahmen mit bekannten Bands. Artie Kornfeld war einer der vier Organisatoren des legendären Woodstock-Festivals (imago stock&people / Gary Coronado) Also: Zwei Aussteigerpaare, die einen hip, die anderen mit dicken Portemonnaies. Die einen kennen sich in der Szene aus, die anderen mit Finanzen und Marketing. Roberts und Rosenman waren von der Studio-Idee nicht so begeistert, aber ein Konzert, ein großes Konzert, das wäre doch was? Kornfeld und Lang haben da gezögert, aber mitgemacht haben sie dann doch. Weil, ein Festival, das klang nach Geld machen, Gewinn. Und von dem Gewinn wollten sie dann vielleicht doch noch ein Studio eröffnen. So fing das an, die haben Woodstock Ventures gegründet, ’ne Firma. Jeder hatte ein Viertel und dann haben sie alles geplant. Ein Sehnsuchtsort auf dem Land Woodstock, hier lebt The Band, hier lebt gegen Ende der 1960er Bob Dylan mit seiner Familie und fühlt sich wohl, das hat er in seinen Chronicles geschrieben: "Anfangs war Woodstock sehr gastfreundlich zu uns gewesen. Ich hatte die Gegend schon lange Zeit vor unserem Umzug entdeckt. Einmal hatte ich nachts auf der Heimfahrt nach einem Auftritt in Syracuse meinem Manager von der Stadt erzählt. Sie lag direkt am Weg. Er sagte, er sei auf der Suche nach einem Landhaus. Wir fuhren durch die Stadt, er sah ein Haus, das ihm gefiel, und erwarb es auf der Stelle. Später kaufte ich mir auch eins, und das war das Haus, das bald darauf Tag und Nacht belagert wurde. Fast sofort eskalierte der Ärger, und um den Frieden war es geschehen. Das Haus war einmal ein stilles Refugium gewesen, aber damit war es jetzt vorbei.In allen fünfzig Bundesstaaten mussten Wegbeschreibungen ausgehängt worden sein, die ganze Scharen von Aussteigern und Junkies darüber informierten, wie man zu uns fand. Selbst aus Kalifornien pilgerten die Schnorrer herbei. Die ganze Nacht über brachen schräge Vögel bei uns ein. Zuerst waren es nur die heimatlosen Nomaden, die sich ungebeten Zutritt verschafften. Das war ja noch fast harmlos, aber dann kamen die radikalen Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung – unzurechnungsfähig aussehende Gestalten, potthässliche Mädchen, Vogelscheuchen und Vagabunden, die einen draufmachen und die Küche plündern wollten.Peter LaFarge, ein befreundeter Folksänger, hatte mir zwei einschüssige Colt-Pistolen überlassen, und ich besaß auch ein Winchester-Gewehr mit Magazin, eine wahre Donnerbüchse, aber ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was man damit anrichten konnte. […] Diese ungebetenen Gäste, Gruselgestalten, Eindringlinge und Aufwiegler waren ebenso Gift für mein Familienleben wie die Tatsache, dass ich sie nicht beleidigen und verjagen durfte, weil sie mich dann anzeigen konnten. Tag und Nacht gab es Probleme ohne Ende. Alles lief falsch, es war eine absurde Welt. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Und auch Freunde und Vertraute waren keine Hilfe." "Die beste Show der Geschichte" Idyllisches Landleben, das war ein Pilgerort der Gegenkultur: Woodstock. Das kennt ihr schon, ist ja schon tausende Male erzählt worden. Hab ich alles auf Tonband und Kassette: "Woodstock / 3 days of peace and music / Es war wunderschön / 32 Bands / Eine Anhäufung von wichtigen Rockgruppen und Stars ihrer Zeit / Joan Baez / Jefferson Airplane / Country Joe and the Fish / Arlo Guthrie / Joe Cocker / Janis Joplin und Grateful Dead / Crosby, Stills, Nash mit ihrem neuen Kumpel, einem gewissen Neil Young / Jimi Hendrix / 400 000 Menschen versammelt / Wow / Die drittgrößte Stadt des Staates New York / Zelte, Bretterbuden, Autos, Schlafsacklager / Urmutter aller Festivals / Das Woodstock-Amerika verhöhnte das Vietnamkriegs-Amerika / Woodstock war die beste Show der Geschichte / Sonne, Regen und Sturm / Ein Mythos der Rockgeschichte / Es war doch das totale Chaos, oder? Was da abging war unbegreiflich. Krankenbahren, kotzende Leute und Horrortrip. Ganz Amerika war durchgeknallt. Wenn das die Welt war, in der diese Hippies leben wollten, dann konnten sie mich am Arsch lecken / Das erste multimediale Großereignis der Rockgeschichte / Woodstock" "I'm going down to Yasgur's farm" Woodstock. Woodstock, Woodstock, Woodstock ist doch gar nicht wichtig: Zuerst sollte es da ja sein, aber die Lokalpolitik spielte nicht mit, sagte erst zu und dann ab. War ihnen zu gefährlich. Langhaarige, Drogen, Rocker, Hippies - nicht bei uns. Das Festival war 80 Kilometer weit weg, in Bethel. Bethel hieß der Ort. Genauer: Ein Heufeld des Farmers Max Yasgur war’s - hat er gutes Geld für gekriegt. Auf Max Yasgurs Farm fand das Festival ein Zuhause (picture alliance/dpa/upi) Der hätte reich werden können nach Woodstock. Windige Geschäftemacher haben ihm vorgeschlagen: Bring doch "Milk from Yasgur Cows" auf den Markt, oder Poster mit deinem Porträt, oder – noch besser - "Yasgur-for-President-T-Shirts. Und was sagt der Bauer: "Verflucht möge ich sein, wenn ich zu Geld mache, was ein Zufall war." Da guckste? In allen wichtigen Szeneblättern in Amerika gab es Anzeigen: Überschrift: "Hunderte Morgen Land zum Wandern". "Geht doch mal drei Tage lang spazieren, ohne einen Wolkenkratzer oder eine Verkehrsampel zu sehen. Lasst einen Drachen steigen, legt euch in die Sonne. Kocht euch das Essen selber und atmet saubere Luft. Zeltet draußen: Wasser und Toiletten sind vorhanden. Zelte und Campingartikel gibt es im Campinggeschäft." "The man next to you is your brother" Freie Luft, freie Liebe und eben Musik. Ein Tag - sieben Dollar, 3 Tage - 18. Für die Kunstmesse des Wassermannzeitalters: "Die Woodstock Kunst und Musikmesse fand nicht in Woodstock statt. Die Musik war von sekundärer Bedeutung und die Kunst blieb zum größten Teil unproduziert. Es war genauso wenig eine Messe, wie die Französische Revolution oder das Erdbeben von San Francisco." (Peter Gatter) Ja, ja, hinterher nörgeln kann jeder. Und wenn es keine Messe war, es war ein Happening, ein Hippie-Hochamt, ein tiefer Zug aus dem Pfeifchen Jugend. John Morris: "It's a free concert from now on." Umsonst und draußen, aber nicht für alle. Die meisten, die die 18-Dollar-Tickets hatten, die kamen gar nicht erst aufs Festivalgelände und die anderen waren einfach zu viele, viel zu viele, nie erwartet: John Morris: "Now, let's face the situation. We've had thousands and thousands of people come here today. Many, many more than we knew or even dreamt or thought would be possible. We're going to need each other to help each other to work this out because we're taxing the systems that we have set up. We're going to be bringing the food in. But, the one major thing you have to remember tonight, when you go back up to the woods to go to sleep or if you stay here, is that the man next to you is your brother." Auf dem Festival wurde Musikgeschichte geschrieben - Jimi Hendrix spielte zwei Stunden lang (imago stock&people / Peter Tarnoff) Und: Es gab keinen Einlass, kein Kontrolle, keine Zäune. Weil Roberts und Rosenman lieber die Bühne fertig bauen ließen als Zäune und Ticketbuden zimmern zu lassen. Hat er gesagt, hab ich auf Band: Joel Rosenman: "At oh, I guess a couple of days before the event was supposed to start, it really came down to: Do we finish the stage or do we try to get the stage even workable, or do we build fences and ticket gates once again? At that point it kind of was put to John and me, are we still in this for the money? We thought about it for a millisecond, I think, and said build the stage. Make sure the crowd is taken care of. Make sure the systems are in place to support them, and we'll worry about taking tickets later." "My generation" Um die Tickets kümmern wir uns später. Hilfe und gemeinschaftliches handeln, Liebe, Frieden und Musik gegen die Gräuel von Vietnam und die Angst vor einem Atomkrieg – my generation. Christopher Phillips: "Ich sah einen Hügel, voll mit Körpern; Leute, eingekauert unter Decken, um trocken zu bleiben und sich warm zu halten. Und dann war da dieser intensive Gestank. Eine Mischung aus Urin, Scheiße und Marihuana, die durch die feuchte Luft verstärkt wurde. Noch heute wird mir schwummrig, wenn ich an diesen schrecklichen Geruch denke." Michael Kleff: "Trotz des Chaos’ machten die Medien das Festival schon wenige Tage später zum Mythos. Schrieben es "schön", um die Ankündigung von drei Tagen Friede, Liebe und Musik nachträglich zu bestätigen." Stopp, Stopp, Stopp. Schönschreiben, schönreden, schon wieder so’n Nörgler. Arlo Guthrie fand es ganz anders, und Graham Nash auch: Arlo Guthrie: "Dieses Gefühl hatte ich das erste Mal, als Präsident Kennedy umgebracht wurde. Auf einmal war meine Jugendzeit vorbei. Ich begriff, dass wir alle in einer großen Welt lebten, auf der viel passierte. Diese Erkenntnis brach über Nacht über mich herein. Und mit Woodstock war das genauso." Für Arlo Guthrie war Woodstock ein Erweckungserlebnis (imago stock&people) Graham Nash: "Woodstock zeigte mir, dass ich mit meinen Gefühlen nicht alleine war; dass Liebe besser als Hass ist und Frieden besser als Krieg. Trotz des Beharrungsvermögens dieses Planeten und der Gesellschaft konnten wir die Welt verändern. Wir können auch heute Wandel bewirken. Wir müssen nur die Idee von Liebe und Frieden verbreiten. In dem Wissen – wie in Woodstock – dass wir nicht alleine sind." "Nixon hätte die Nationalgarde schicken können" Genau - Woodstock war ein - ein, ein Paradies. Selbst die Provinzler haben das gesagt, sind auf die Bühne zu den Hippies, vor denen sie eigentlich Angst hatten. Hier, hier ist alles aufgenommen, gefilmt: Max Yasgur: "A half a million young people can get together and have three days of fun and music and have nothing but fun and music and God bless you for it!" Hartwig Tegeler: "3 Tage Spaß und Musik und man könnte hinzufügen, Musik, Frieden, Liebe, Sex, ohne Gewalt." Woodstock: "And it’s looking like there ain’t gonna be no fuckups, this is gonna work." Mit Woodstock wurde auch die amerikanische Sexualmoral auf die Probe gestellt (imago stock&people) Und? - Hat doch geklappt. Obwohl man Woodstock auch ganz anders hätte darstellen können, meint Christopher Phillips: "Als ein gigantisches Happening mit Drogenmissbrauch, Gesetzesbrüchen und zügellosem Sex. Der damalige Präsident Nixon hätte durchaus die Nationalgarde schicken können, um der Missachtung amerikanischer Moralvorstellung ein Ende zu bereiten." Drei Tage im Trailer Moment - Das war jetzt das falsche Band. Hier, ich hab’s: "Was es da an Drogen gab, das gibt es heute in jeder Dorfdisco." Nee, das ist jetzt der Anrufbeantworter. Warte mal. Duke Devlin: "Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who, Grateful Dead, Ten Years After ... da wären Sie doch auch gekommen?" What can I say, she's walking awayFrom what we've seenWhat can I try It's all a dreamHow can we hang on to a dreamHow can it really be the way it seemsHow can we hang on to a dream(Tim Hardin - "Hang on to a dream") Eddie Kramer: "Oh my goodness!" Tim Hardin, auch so früh gestorben. Total zu. Und der Mann, der das alles aufgenommen hat: Eddie Kramer. Was hat der für Alben produziert, Hendrix, Stones, Led Zeppelin, ja – und eben Woodstock. Die Filmcrew hat den eingekauft. Eddie Kramer: "Ich könnte so viele Geschichten über Woodstock erzählen. Ich sag immer, diese drei Festivaltage waren für mich Drogen und Hölle. Ich war da eingesperrt in einer Art Trailer, 100 Meter hinter der Bühne. Ich hatte zwei 8-Spur-Maschinen und die wurden zusammengehalten durch Kaugummi und irgendwelche Bänder. Das war schon verrückt. Aber wir haben trotzdem gute Sachen dabei herausbekommen musikalisch, weil die Jungs haben sich ja damals die Seele aus dem Leib gespielt." "Ohne dieses gemeinschaftliche Gefühl hätte das nie funktioniert" Ja! Genau - Und nicht wegen des Geldes. 6000 haben die Who gekriegt, angeblich. Alle Bands zusammen 155 000 - sagt man. Heut wär das ’ne Million Dollar. Aber mach' damit mal drei Tage Festival, ein Tag soft, ein Tag U.S. und ein Tag Musiker aus England. Never ever. Geld war ja dann das Riesenthema. Vierzig-, Fünfzigtausend sollten kommen, aber fast 150.000 Tickets wurden verkauft. Da waren dann fast ’ne halbe Million, oder 400 000. Muss man ja nicht so genau nehmen. Auf jeden Fall – Geld war dann das Thema. Okay, hinterher gab es Miese. 1,3 Millionen sollen es gewesen sein. Ja und? Darum ging’s doch nicht. Michael Lang: "Wir alle zählten uns damals zur Gegenkultur. Mit Woodstock wollten wir das demonstrieren. Unter den Kids herrschte die Meinung, dass Musik frei sein sollte. Wir haben bereits im Vorfeld viele Tickets verschenkt, nicht erst, als die Zäune gefallen sind. Wir haben Free-Camping angeboten. Als dann die Versorgung zusammengebrochen ist, haben wir die Leute gratis versorgt. Wir hatten zum Beispiel unsere eigene Festival-Polizei, verkleidet als Friedensarmee ohne Waffen. Strategie war es, von Anfang an alle Besucher aktiv ins Geschehen einzubinden. Ohne dieses gemeinschaftliche Gefühl hätte das nie funktioniert." Drei Tage friedlicher Gegenkultur in Bethel (imago stock&people) Experiment gelungen! Und der Film war ja dann auch groß. Kaum ein halbes Jahr später in den Kinos. Drei Stunden über drei Tage. Da konnte man in den Kinos noch kiffen. Und dann die Platten, erst ein Dreifachalbum und dann noch mal ein Doppelalbum. Oscar für den Film, Hunderte Millionen eingenommen. Das nenn ich, wie sagt man so schön heute: Synergie, das ist finanziell nachhaltig. Und von den vier Veranstaltern hat keiner mehr Schulden. Und jetzt? Bazon Brock: "Wenn sich Tausende junger Leute besinnungslos in einen Ausdruck kollektiver Ekstase integrieren lassen, so dass nur noch eine wimmelnde Masse von bewusstlosen, auf Musikakkorde reagierenden Pawlowschen Hunden in Erscheinung traten, dann war das für uns etwas wie der Schrecken der Barbarei schlechthin. Ganze Pop-Bewegungen, alle diese Massenkonzerte sind generalstabsmäßig organisierte Massenphänomene, bei denen Hunderte von Mitarbeitern eingesetzt werden, um noch die letzten Beleuchtungseffekte hinzukriegen. Von Spontaneität, von freiheitlicher, individualistischer Ausdrucksform kann dort überhaupt gar keine Rede sein." Der Beginn einer großen Enttäuschung Aber hallo, Soziologenquatsch, Sündenfall der Gegenkultur und so! Es gab keine Gewalt, es war friedlich, die Leute lagen sich in den Armen. Turn on, tune in, drop out. Das war doch positiv. Joyce Berner: "Es war einfach Wahnsinn: Ich kam dort an und sah dieses Menschenmeer. Und sie waren ja noch nicht mal alle da. Du kommst über diese Kuppe und blickst plötzlich auf 300 000 Menschen! Allein das war unglaublich. Und diese Menschen hatten eine Vision und ein musikalisches Gefühl. Alles was du mitgebracht hattest wurde weitergegeben, und damit war es weg. Aber wenn du lange genug sitzen geblieben bist, ist etwas anderes zurückgekommen. Alles wurde geteilt, du musstest dich nicht einmal bewegen. Das war wie ein riesiges Familienpicknick." Bazon Brock: "Ja, selbstverständlich, das ist sehr positiv gewesen. Die Leute, die da im Dreck gelegen haben, die das Ganze als ein Desaster der Desorganisation et cetera erlebt haben und gleichzeitig hinnehmen mussten, das sei der Ausdruck der größten Freiheit und Freude gewesen, die haben für ihr Leben was gelernt. Man kann nur sagen, dass es ein großes Ereignis war insofern, als es den Beginn der großen Enttäuschung einleitete. Und das ist die Quelle der Aufklärung." Und dann, wie ist es dann weiter gegangen? Alle haben es natürlich nachgemacht, nur nicht so gut. Aber die dabei waren, das war wie im Märchen: They lived happily ever after und brachten uns das Prinzip Praktikum, Videokassette und CD, die Agenda 2010 und die Riesterrente. Und natürlich eine Generation wilder, junger Politiker, stets auf dem langen Lauf zu sich selbst in die Vorstandsetagen der Automobilindustrie und Dow Jones-Konzerne. Was die alles konnten, yoah, kiffen ohne zu inhalieren. Redaktion: Kerstin JanseSprecher: Claus Dieter Clausnitzer, Folker Banik, Mathilde Banik
Von Ulrich Biermann
2019 jährt sich das Woodstock-Festival zum 50. Mal. Das legendäre Hippie-Event fand im beschaulichen Bethel statt - und schlug doch weltweit Wellen. Wie es von einer Annonce im "Wall Street Journal" zu drei Tagen radikal friedlicher Gegenkultur kam, erklärt der fiktive Zeitzeuge und Zausel Opa Langhaar.
"2019-01-01T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:31:39.041000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-woodstock-love-peace-and-profit-100.html
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Verhaftungen an Elite-Universität
In Istanbul wurden Studierende verhaftet. (Can Merey/dpa) Es ist der 23. März - Deniz, eine Chemie-Studentin einer Istanbuler Elite-Uni, ist noch müde, als sie den Campus der Boğaziçi-Universität betritt. Sie holt sich einen Kaffee und will zu ihren Freunden, bevor die erste Vorlesung beginnt. Auf dem Weg über das Gelände wird sie plötzlich von zwei Männern eingeholt: Zivilpolizisten. Ohne jede Erklärung legen sie ihr Handschellen an und führen die junge Frau ab. Zurück bleiben Deniz‘ Freunde, die von ihrer Festnahme erst Minuten später erfahren - und eine halbe Tasse Kaffee. Auseinandersetzungen wegen Aktion auf dem Campus "Sie ist kein politischer Mensch und hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass man auch sie fassen würde", bemerkt Yaprak, Deniz‘ Freundin und Kommilitonin. "Aber Deniz ist in den Foto- und Video-Aufnahmen vom Lokum-Vorfall zu sehen, da steht sie neben einer anderen Studentin, die politisch ist und auch protestiert hat", erklärt Yaprak. Mit "Lokum-Vorfall" meint sie eine Auseinandersetzung von zwei Studentengruppen ein paar Tage vorher. Unter dem Titel "Afrin Delight" hatten Studierende aus dem "Klub für islamische Studien" die türkische Süßigkeit Lokum auf dem Campus der Uni verteilt. Die kleinen Zuckerwürfel sind eine Delikatesse und auch als "Turkish Delight" weltberühmt. Mit der Aktion wollte man der im Zuge der "Operation Olivenzweig" gefallenen türkischen Soldaten gedenken, heißt es von der Studentenorganisation, die der regierenden AKP nahe stehen soll. Das war genau einen Tag nachdem der türkische Generalstab verkündet hatte, die nordsyrische Stadt Afrin unter Kontrolle gebracht zu haben. "Immer mehr Studenten haben sich darüber aufgeregt und angefangen, laut über die ‘Operation Olivenzweig’ zu diskutieren", sagt Batu, ein Soziologie-Student der Boğaziçi. Als es dann zu Rangeleien kam, mussten Sicherheitskräfte einschreiten. "Da war die Lokum-Gruppe, die den Sieg in Afrin feierte und dann waren da die anderen, die das ethisch nicht korrekt fanden. Das waren übrigens ganz unterschiedliche Studenten: gläubige Muslime, Konservative, Linke, Liberale und Kommunisten." Festnahmen an der Universität Es gehe nicht um einen Streit zwischen Liberalen und Konservativen, sondern vielmehr um AKP-Befürworter auf der einen Seite und der Rest auf der anderen Seite. Nur einen Tag nach der Auseinandersetzung begannen die Festnahmen: "An einem Morgen hat die Polizei in voller Montur und mit Gewehren um halb fünf einen Schlafsaal der Uni gestürmt. Abends sind sie dann durch die Bars in der Nähe gegangen und haben alle Ausweise kontrolliert. Und jeden Tag stehen Polizisten am Uni-Eingang und greifen Studenten ab." "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" lautet später der Vorwurf gegen alle. "Manchmal haben die Beamten die Leute auch verwechselt. Die wenigen, die nach ein paar Stunden wieder freigelassen wurden, haben dann von massiven Einschüchterungsversuchen und groben, zum Teil gewaltsamen, Verhörmethoden erzählt", weiß Batu. Sein Mitbewohner Süleyman wurde neun Tage lang bei der Polizei festgehalten: "Die Zeit in Gewahrsam war Psycho-Gewalt nonstop. Auch wenn es zu Beginn noch irgendwie ging – ab dem dritten Tag konnte ich nicht mehr. Das einzige, was ich wollte, war, dass diese Lokum-Sache geklärt ist. Ich wollte nur noch frei sein!" Spaltung der Studierenden Süleyman ist mittlerweile auf Bewährung frei, das heißt: Einmal pro Woche muss er sich bei der Polizei melden. Seinen Reisepass haben die Behörden eingezogen. "Wie sie ihn gefunden haben, sinngemäß: Manche Kommilitonen haben Fotos von der Rangelei gemacht, später bei Twitter hochgeladen und darum gebuhlt, auf welchem Bild man die Protestler am besten erkennen kann", sagt Süleyman. Für ihn und viele andere ist das der wahre Eklat. Dass die Regierung sie versucht einzuschüchtern, sei nicht besonders überraschend. Aber dass Studenten sich gegeneinander der Presse und der Polizei ausliefern, das tut weh: "Egal welche Meinung wir vertreten haben, wir haben als Studenten immer zusammengehalten. An der Boğaziçi-Universität geht es um Meinungsfreiheit und Toleranz. Wir nennen das die Boğaziçi-Kultur. Ich glaube so muss es sich in der DDR angefühlt haben, mit der Stasi und so. Wenn sogar die Kommilitonen einen verpetzen... ", sagt Batu. Wenige Tage nach dem Vorfall in der Uni meldete sich der Staatspräsident persönlich zu Wort. Der Boğaziçi-Uni legte er nahe, künftig stärker mit der Regierung zu kooperieren. Schon im Januar hatte der Staatspräsident beklagt, dass die Boğaziçi Uni versagt habe, denn dort berufe man sich nicht auf nationale Werte. Aus der Uni selbst gab es dazu bisher keine öffentliche Stellungnahme. Das hat eine Welle der Empörung losgetreten. Aus dem Lokum-Streit ist so eine Terrorismus-Debatte: Wer protestierte, wird jetzt als Terrorist und Volksverräter gebrandmarkt. Es gibt nur noch schwarz und weiß. Batu schüttelt den Kopf. An seiner geliebten Uni, die bisher in der Türkei als eine der letzten Festungen für freies Denken galt, ist seitdem vieles anders. "Wir haben Zivilpolizisten hier, die sogar unsere Handys kontrollieren dürfen. Protestaktionen oder kritische Diskussionen sind nicht mehr möglich, die wollen uns mundtot machen. Einige kommen schon gar nicht mehr zu den Vorlesungen, weil sie Angst haben, noch verhaftet zu werden", gibt Yaprak zu. Dann grinst sie und sagt: "Wir hatten viele Studenten, die vorher nicht politisch aktiv waren. Aber jetzt sind sie es und fangen an, sich zu organisieren."
Von Marion Sendker
In der Türkei sind Studierende der Bosporus-Universität verhaftet worden. Der Vorwurf lautet: "Propaganda für eine Terrororganisation". Zu den Festnahmen war es gekommen, nachdem Sicherheitskräfte bei Rangeleien unter Studierenden auf dem Campus eingeschritten waren.
"2018-04-10T14:42:00+02:00"
"2020-01-27T17:47:15.372000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-verhaftungen-an-elite-universitaet-100.html
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Die neue China-Strategie der Bundesregierung
Außenministerin Annalena Baerbock stellt die deutsche China-Strategie vor (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
Barbara Schmidt-Mattern
Nach monatelanger interner Diskussion legt die Bundesregierung ihre Nationale China-Strategie vor – herrscht damit mehr Klarheit und Einigkeit im Umgang mit Peking? Und: Der UN-Ernährungsbericht und der Hunger am Horn von Afrika.
"2023-07-13T17:00:00+02:00"
"2023-07-13T16:51:13.889000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/podcast-der-tag-13-07-dlf-7ea754df-100.html
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Kiesewetter (CDU): "Ein Signal der Geschlossenheit"
Das NATO-Vertragsgebiet ist eine rote Linie, sagte Roderich Kiesewetter im Dlf (picture-alliance / dpa / S. Sabawoon)
Schulz, Sandra
Vom NATO-Gipfel erwarte er auch ein Signal zum Erhalt der Souveränität der Ukraine, sagte der CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter im Dlf. Eine NATO-Friedensmission ins Kriegsgebiet lehnt er ab. Die NATO müsse aber aktiver werden und Forderungen an Russland stellen, etwa den Abzug von Nuklearwaffen aus früheren Sowjetrepubliken.
"2022-03-24T06:52:00+01:00"
"2022-03-24T07:52:00.007000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krise-joe-biden-in-bruessel-interview-roderich-kiesewetter-cdu-dlf-da839ae5-100.html
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Alltäglichkeit im Todesstreifen
Die Bilder zeigen, wie es hier zu DDR Zeiten tatsächlich einmal ausgesehen hat. Zu sehen sind alte Videostills von Grenzbeamten. (Deutschlandradio / Jenny Genzmer) Die Berliner Eastside-Gallery ist schon von der Oberbaum-Brücke aus sichtbar. Fast ein wenig verloren wirkt sie vor den unfertigen Neubauten im Hintergrund. Die westliche Seite des übrig gebliebenen Mauerstücks soll eigentlich weiß bleiben, wie damals, als sie noch Ost und West trennte. Nun zeigt ein Kunstwerk, aufgeklebt auf den 229 Mauermetern, wie es hier tatsächlich einmal ausgesehen hat. "Also zwei unterschiedliche Arten von Bildern, das eine sind diese schwarzen Silhouetten, Triptychen immer, das sind Porträts von Menschen, deren Leben extrem von der Mauer beeinflusst war und die bis heute auch eigentlich davon traumatisiert sind ..." ... und deren Schicksale kurze Sätze andeuten, die Stefan Roloff, Foto- und Videokünstler, in weißen Buchstaben auf die Silhouetten drucken ließ. "Es hieß, ich hätte Damenunterwäsche geklaut. Zu fetischistischen Zwecken, hm" Liest eine Besucherin und wundert sich. "Diese Sätze hab ich bewusst kryptisch gewählt. Da fragt man sich, was hat das mit der DDR zu tun?" Persönliche Geschichten Textauszüge von langen Interviews, in denen jede dargestellte Person von ihrer Geschichte erzählt, sollen darauf Antwort geben. Diese hier gehört zu Alexander. Ein Afghane, der schon zu Schulzeiten von der Stasi beobachtet und diskreditiert wurde zum Beispiel als Wäschedieb. "Man hat ihn aus der Schule geholt, ohne vorher ihn zu warnen und hat ihn neun Stunden lang verhört, und immer wieder versucht, dazu zu bringen, am Ende hat er das schließlich unterschrieben, ja ich habe Damenunterwäsche geklaut. Ich meine, was soll das. Aber es war nur, um einen Fall gegen ihn zu bauen, der absurd war." Groteske Anziehungskraft "Absurd" ist so ein Wort, das Roloff gern benutzt, wenn er über die DDR spricht. Sein Vater wurde als Mitglied der sogenannten Roten Kapelle von der Gestapo gefangen genommen, der Totalitarismus ist immer wieder Gegenstand in den Werken des 63-Jährigen. Besonders die groteske Verbindung von Grausamkeit und Normalität interessiert ihn an der DDR. "Und dann kommen wir hier zu diesen anderen Bildern, das sind Bilder, die wurden im sogenannten Todesstreifen gemacht." Damals, 1984 – von ihm und dem Kameramann Louis von Adelsheim, erzählt Roloff, der zügig über die Betonplatten am Fuß der Mauer entlang eilt, und vor einer der vielen Serienaufnahmen halt macht. "Und wir haben diverse kurze Filme gedreht, über dieses Leben im Todesstreifen, in dem eigentlich nichts passierte. Da saßen nur Grenztruppen rum, die machten nichts, die waren völlig, ja in so einer kafkaesken Welt, da wurden Minenstreifen geharkt, Fenster in Wachtürmen geputzt, aber im Grunde ging es nur darum, zu warten, dass jemand vorbei läuft, den man erschießen muss." Fotorealistische Bilder auf der Mauer Wartende Beamte in grün-beigefarbener Kulisse, Metallzäune, Panzersperren. Oder dieser Offizier, der auf dem Grenzsicherungsboot versucht, seinen kaputten Scheibenwischer zu reparieren. Eindrücke, die fast untergehen, hier im Betrieb an der Mauer. Roloff sieht den Abgrund im Alltäglichen. "Zum Beispiel ganz da hinten am Ende, das letzte Bild. Da sieht man eine halb verhungerte Katze im Todesstreifen rumlaufen. Die lebt da irgendwo, wovon die sich ernährt, das weiß man nicht." Die Katze, die Grenzsoldaten, die Dienstwägen – alles wird verschwommener, je näher man den Bildern kommt. Roloff musste die Video-Stills aus den 80ern, nicht größer als Briefmarken, auf die Mauerhöhe von drei Metern bringen. Die Lösung: Eine Drucktechnik, die Bilder aussehen lässt wie gemalt. Damit möchte er auf alte Meister verweisen, bis ins 17. Jahrhundert zu Diego Velázquez. "Seine besten Bilder, wenn man vor denen steht, sieht man nicht viel, man sieht Pinselstriche, man sieht irgendwelche Elemente, die fliegen und sich bewegen und erst wenn man weit davon weg tritt, dann kriegt man ein fotorealistisches Bild." Fotorealistische Bilder, die die Mauer auffälliger machen, dem Ort seine Geschichte wieder zurückgeben. Einige Besucher lassen sich ein, auf die Botschaften an der Wand. Eins bleiben Sie dennoch: Kunst, ein Mahnmal ersetzen sie nicht.
Von Jenny Genzmer
Die East-Side-Gallery in Berlin dokumentiert deutsche Mauer-Geschichte. Mit Video-Stills aus den 80er-Jahren will der Künstler Stefan Roloff an die Schicksale erinnern, die sich hier zu Zeiten der DDR ereigneten.
"2017-08-14T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:45:52.191000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausstellung-beyond-the-wall-alltaeglichkeit-im-todesstreifen-100.html
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