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"Wie lange wollen wir noch die Clowns der FIFA sein?"
Banner für den Fifa-Kongress (dpa/picture-alliance/) Genau genommen ist Kanada im Weltfußball ein unbedeutendes Land. Die Männer haben es gerade einmal – 1986 – bis in die Endrunde der WM geschafft und rangieren derzeit auf Platz 115 in der Welt. Aber man müht sich. Drei kanadische Teams spielen in der nordamerikanischen Profiliga MLS – in Montreal, Toronto und Vancouver. Und die Basis wächst. Mehr als zwei Millionen Spieler sind im Verband organisiert. Für Sepp Blatter hegt man hier keine großen Sympathien. Der Vertreter der Canadia Soccer Association stimmte am Freitag in Zürich beim FIFA-Kongress für seinen Gegenkandidaten Prinz Ali. Doch als der Schweizer sich einmal mehr durchsetzte, gab das Amélia Fouques den Rest. Der kanadische Verband solle aus der FIFA austreten, forderte sie öffentlich und erläuterte in einem Telefongespräch dem Deutschlandfunk ihre Haltung: "Wie lange wollen wir noch die Clowns der FIFA sein? Von dort kommen keine Veränderungen. Die Gelegenheit dazu gab es und wurde nicht genutzt. Es ist schlimmer, als ich gedacht habe. Damit will ich nichts zu tun haben. Ich will zu einer neuen Organisation gehören, die nicht in der Schweiz sitzt. Wenn nur ein Fünftel der dortigen Korruption in den USA passiert wäre, hätte man den Laden geschlossen." Fouques ist Mitglied des zwölfköpfigen Vorstandes des kanadischen Verbandes und keine typische Soccer Mom. Von Berufs wegen ist sie nämlich Anwältin. Ihr Spezialgebiet Sportrecht. Doch ihre Expertise wird auf höchster Ebene nicht unbedingt geschätzt. Schon der Versuch, den Vertrag mit der FIFA über die Ausrichtung der Frauen-WM einzusehen, stieß intern auf unerwarteten Widerstand. Diese Weltmeisterschaft wird am Samstag mit dem Spiel der Gastgeberinnen gegen China eröffnet und produzierte bereits im Vorfeld eine heftige Kontroverse. Die Frauen müssen auf Kunstrasen antreten. Im Vergleich zu Naturrasen ein Spielfeld zweiter Klasse. Fouques, die seit Tagen ihre kritischen Anmerkungen zur Korruption in der FIFA auf Twitter publiziert, sorgt nun für die nächste Auseinandersetzung. Nachdem sie verbandsintern gebeten wurde, die Äußerungen zu löschen, griffen kanadische Medien das Thema auf. Die Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters, die in Montreal lebt, sagt, sie möge ja naiv sein. Aber sie nähme ihre Verantwortung ernst. "Ich muss mich gegenüber den kanadischen Fußballspielern rechtfertigen. Natürlich habe ich Angst. Aber es kommt der Zeitpunkt, an dem man so etwas anprangern muss. Ich habe drei Söhne. Einer ist zehn und hat mich gefragt: Leute betrügen, aber sind noch immer da? Was sagt du da einem Kind?" Wohl besser nicht das, was sie vor einem Jahr in Costa Rica als offizielle Vertreterin des Verbandes bei der U17-WM der Frauen in Costa Rica erlebte. Denn solche Verhältnisse lassen sich kaum noch erklären. "Leute haben Angst vor der FIFA und sagten, 'lass uns keine Emails schicken, lass uns nicht telefonieren. Sie sind überall'. Sie haben Angst vor ihren eigenen Leuten."
Von Jürgen Kalwa
Eine Frau sorgt kurz vor der Frauen-WM im Ausrichterland für schlechte Stimmung. Die Anwältin Amélia Fouques, Vorstandsmitglied des kanadischen Fußballverbands, fordert, Kanada solle ein Beispiel setzen und aus der FIFA austreten.
"2015-05-31T00:00:00+02:00"
"2020-01-30T12:39:37.152000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-wie-lange-wollen-wir-noch-die-clowns-der-fifa-sein-100.html
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Warum die CDU noch ihre Rolle in der Opposition sucht
Für die CDU ist die Opposition eine Chance – sie muss bei ihrer inhaltlichen Neuaufstellung keine Rücksicht auf das Handeln einer Bundesregierung nehmen (dpa / picture alliance / Jens Büttner)
Heckmann, Dirk-Oliver
Die CDU befindet sich noch immer in einem programmatischen Findungsprozess, sagt die Politologin Julia Reuschenbach. Sie rät davon ab, sich der Sprache rechtspopulistischer Parteien anzudienen. Dies nütze nur der AfD.
"2023-06-16T12:20:00+02:00"
"2023-06-16T13:04:33.577000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-cdu-parteiprogramm-100.html
91,132
"Tief sitzendes Misstrauen"
Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen (dpa / Hannibal Hanschke) Die Verhandlungen seien "wahnsinnig kompliziert", da das Misstrauen auf beiden Seiten sehr tief sitze. "Dass man der Geschichte eine letzte Chance gibt, ist alles andere als falsch", sagte Nouripour. Man dürfe die Verhandlungen aber nicht ewig ausdehnen. Ohne Gespräche könne der Iran sein Atomprogramm ohne jeden Einfluss vorantreiben. Und wenn man sich anschaue, was die Iraner in den letzten Jahren zusammengekauft und welche Fähigkeiten sie angestrebt hätten, dann sei "das nicht das, was man bräuchte für eine zivile Nutzung, sondern ein bisschen mehr. Oder teilweise mehr als ein bisschen mehr." Es müsse belastbar herausgefunden werden, ob das iranische Atomprogramm ein ziviles sei. US-Kongress und Irans Ex-Präsident als Hürden für eine Lösung Die Probleme für eine politische Lösung lägen vor allem in den USA und im Iran, meint der Grünen-Politiker: Der bald stark von den Republikanern geprägte US-Kongress werde ein Aufheben der Sanktionen erschweren. "Die Mehrheit im nächsten Kongress ab Januar wird gegen alles sein, was (US-Präsident, d. Red.) Obama macht und wird ihn außenpolitisch als Weichei darstellen wollen", sagte Nouripour. Gleichzeitig wolle der Hardliner und frühere iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad erneut für das Amt kandidieren, um die Verhandlungen zu torpedieren, da er sie als "Ausverkauf nationaler Interessen" betrachte. Die UNO- und EU-Sanktionen haben den Iran in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht. Die Bedenken der nicht an den Gesprächen beteiligten Israelis seien derweil nachvollziehbar, sagte Nouripour. "Gerade nach den Drohungen von Ahmadinedschad verstehe ich, dass die Nerven nicht gerade beruhigt sind." Das vollständige Interview: Dirk Müller: Frank-Walter Steinmeier blickt vor allem nach vorne, auch gestern in Wien bei den Atomverhandlungen mit dem Iran: O-Ton Frank-Walter Steinmeier: "Wir tragen auch Verantwortung nicht nur für uns sechs, sondern für viele Staaten auf der Welt, insbesondere diejenigen, die im Mittleren Osten, in der Nachbarschaft, aber auch darüber hinaus berechtigte Sicherheitssorgen haben um die Entwicklung des iranischen Atomprogramms." Müller: Heute Nacht sollte alles unter Dach und Fach sein - spätestens. Doch es wurde wieder mal nichts, auch wenn noch ein kleines Fünkchen Hoffnung in den Verhandlungs- und Besprechungsräumen in Wien vorhanden war. Wieder kein Ergebnis bei den internationalen Atomgesprächen mit dem Iran. Erneut wird verschoben, allen Beteiligten mehr Zeit gegeben, diesmal gleich bis zum Sommer kommenden Jahres. Russland, China, Großbritannien, Frankreich, die USA und Deutschland sitzen auf der einen Seite des Tisches, die Vertreter aus Teheran auf der anderen Seite. Die entscheidende Frage nach wie vor: Reichert der Iran so viel Uran an, dass daraus Nuklearwaffen entwickelt werden können? Also eine Auseinandersetzung, die seit elf Jahren nun so geht, und die Republikaner in Washington signalisieren, Zugeständnisse an die Mullahs machen wir nicht mit. Darüber sprechen wollen wir nun mit dem grünen Außenpolitiker und Iran-Kenner Omid Nouripour. Guten Morgen. Omid Nouripour: Schönen guten Morgen. Müller: Blockieren die Amerikaner jetzt einen Durchbruch? Nouripour: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Verhandlungen wahnsinnig kompliziert sind, weil auf beiden Seiten das Misstrauen sehr tief ist, und dementsprechend braucht man auch Zeit, dass man tatsächlich vertrauensbildende Maßnahmen bilden kann. Das ist aber ganz, ganz kompliziert und deshalb ist es jetzt nicht so, dass man auf ewig das alles verlängern darf, aber dass man noch eine letzte Chance - und ich hoffe, dass das dann auch funktioniert -, der Geschichte eine letzte Chance gibt, ist alles andere als falsch. Müller: Und einfach weitermachen ist per se schon zumindest ein kleiner Erfolg? Nouripour: Na ja. Man muss einfach sich eingestehen, dass die internationale Gemeinschaft nicht besonders viele Instrumente hat, um den Iran dazu zu bewegen, eine konstruktive Rolle zu spielen und das Atomprogramm so zu gestalten, dass es überschaubar ist auch für Inspekteure, und in der Situation muss man einfach vergleichen, was war, als wir nicht geredet haben. Als wir nicht geredet haben, gab es keinerlei Erfolge, keinerlei Fortschritte und die Zentrifugen sind weitergelaufen. Deshalb ist es besser, wenn man redet in dieser Situation, weil alles andere wäre ja, dass die Iraner einfach auf die Bombe zusteuern, ohne dass irgendein Einfluss darauf genommen werden kann. Müller: Sie haben, Herr Nouripour, das Stichwort schon genannt. Trauen Sie dem Regime in Teheran? Nouripour: Das ist der Kern des Problems. Der Kern des Problems ist, dass man mit einem Regime redet, das bei der eigenen Bevölkerung teilweise keinerlei Vertrauen genießt, und da ist es natürlich sehr, sehr schwierig, ein Verfahren zu finden, bei dem man einander vertrauen kann. Der Kern der Auseinandersetzung in den Verhandlungen ist ja auch genau dieses. Es geht ja im Kern nicht darum, exakt darüber sich zu streiten, wie viele Zentrifugen darf es geben und welche nicht, sondern die Frage ist das sogenannte Verifikationsregime, wie überprüft man dann eine Vereinbarung, nachdem sie getroffen worden ist. Und nachdem die Iraner beispielsweise irgendwann mal zugeben mussten, dass sie ganze Anlagen verheimlicht haben, da ist das natürlich nicht ganz so einfach. Müller: Auch gestern haben die Iraner ja noch einmal betont, wir wollen die friedliche Nutzung der Kernenergie, wir wollen keine Atomwaffen, das Ganze unterstützt vom moderaten Präsidenten Rohani. Dennoch nur warme Worte? "Glaube, die Iraner wollen die Bombe nicht bauen" Nouripour: Ich glaube, dass die Iraner nicht die Bombe bauen wollen, aber die Fähigkeit haben wollen, bis kurz davor zu kommen. Das macht den Unterschied deutlich kleiner. Das andere ist: Wenn man sich anschaut, was die Iraner in den letzten Jahren zusammengekauft haben und welche Fähigkeiten sie angestrebt haben, dann ist das einfach nicht exakt das, was man bräuchte für eine zivile Nutzung, sondern dann ist es ein bisschen mehr oder teilweise auch deutlich mehr als ein bisschen mehr, was sie da zusammen haben, und das schafft natürlich das große Misstrauen. Müller: Jetzt sagte gestern Morgen der Nahost-Wissenschaftler Michael Lüders hier im Programm, die proisraelische Stimmung im US-Kongress sei so stark, dass kein Kompromiss bei den Sanktionen zustande kommen wird. Liegt er da richtig? Nouripour: Ich sehe tatsächlich auch, dass es im Kongress eine Situation gibt, die ein Aufheben der Sanktionen deutlich schwieriger macht. Ob das jetzt mit der Begründung von Herrn Lüders so richtig ist, sei dahingestellt. Ich würde sagen, die Mehrheit im Kongress, im nächsten Kongress, der sich ja ab Januar konstituiert, wird gegen alles sein, was Obama macht, und wird in allem ihn in der Außenpolitik als Weichei darstellen wollen. Das ist nicht in erster Linie wegen Israel. Aber wir haben ja auf der anderen Seite auch die ganzen Hardliner im iranischen Regime, die auch eigentlich die Verhandlungen nicht wollen. Wir haben einen ehemaligen Präsidenten Ahmadinedschad, der verkündet hat, dass er noch mal als Präsident kandidieren wird, unter anderem auch deswegen, weil er die Verhandlungen torpedieren wolle, weil das ja ein Ausverkauf sei der nationalen Interessen des Landes. Aber die Iraner, die verhandeln, die wissen das ja alles. Die wissen ja, dass es ganz schwierig ist für die Amerikaner, und mir wird gesagt, dass es den Iranern reichen würde, wenn die UN-Sanktionen aufgehoben werden und wenn die EU ihre Sanktionen aufhebt und wenn es vor allem keine weiteren gibt. Dann könnten sie verkraften, dass es im Kongress eine andere Stimmung gibt. Aber richtig ist auch: Fatal wäre, es gibt eine Verhandlungslösung, alle freuen sich, übermüdete Verhandler gehen wieder zurück in ihre Hauptstädte, und das erste, was im Kongress passieren würde, wären dann komplett neue weitgehende Sanktionen, die beschlossen werden würden. Das wäre natürlich ziemlich fürchterlich und würde das Ganze möglicherweise hintertreiben. Müller: Herr Nouripour, wenn Sie jetzt sagen, die Republikaner sind im Moment aufgrund der gewonnenen Kongresswahlen ohnehin gegen alles, was Barack Obama versucht umzusetzen, mit der israelischen Komponente hat das nicht viel zu tun, dennoch noch einmal die Frage: Die israelische Komponente, die Haltung der israelischen Regierung, die ja alles andere als erfreut darüber ist, dass es diese Fünf-plus-eins-Gespräche mit Teheran gibt, wie groß ist dieser Faktor in der Auseinandersetzung? Militärische Eskalation Nouripour: Na ja, der ist natürlich da und hoch relevant. Ich würde trotzdem einem Parlament in den USA das jetzt nicht als Hauptbeweggrund unterschieben wollen. Aber natürlich ist es so, dass die Stimme Israels eine relevante und laute ist, gerade auch nach den Drohungen, die es noch und nöcher gegeben hat unter dem ehemaligen Präsidenten Ahmadinedschad gegen Israel, verstehe ich auch, dass da die Nerven jetzt nicht unbedingt beruhigt sind. Aber Fakt ist, dass solange nicht gesprochen wurde, die Zentrifugen einfach weitergelaufen sind, und das ist auch nicht das, was im Sinne Israels sein kann. Fakt ist aber auch, dass wenn die Sanktionen nicht verhängt worden wären wir möglicherweise die eine oder andere unüberlegte Maßnahme, hätten sehen müssen, nämlich militärische Aktionen, die nun wirklich nichts bringen, sondern die Situation eher eskalieren lassen. Müller: Aber jetzt schlüpfen wir, Herr Nouripour, einmal in die Perspektive von Benjamin Netanjahu beziehungsweise in die Perspektive Jerusalems. Wenn die Israelis diese Verhandlungen beobachten und es würde im Sommer 2015 dann zu einem Kompromiss, wie immer geartet auch kommen, kann die israelische Regierung das auf jeden Fall akzeptieren? Nouripour: In jedem Fall nicht, aber das Entscheidende wird sein, wie gesagt, ob es ein Überprüfungsverfahren gibt, das ermöglicht, dass man wirklich mit Belastbarkeit sagen kann, dass das iranische Atomprogramm ein ziviles ist, und dass die Iraner weg sind von der Bombe. Müller: Aber das ist ja auch die Bedingung des Westens. Nouripour: Ich habe Sie akustisch nicht verstanden. Müller: Entschuldigung. Das ist ja die Bedingung des Westens. Nouripour: Ja, das ist richtig, und wenn diese Bedingung erfüllt ist, dann glaube ich, dass es für die Israelis tatsächlich hinnehmbar ist. Natürlich ist die zentrale Frage aber, die für sie noch bleibt: Was ist der Westen dann noch bereit zu tun, wenn die Iraner am Ende doch auch noch das Ergebnis torpedieren würden? Das ist eine berechtigte Frage, aber ich glaube, dass sie jetzt nicht die vorrangigste ist. Die vorrangigste ist, wie man Vertrauen so schaffen kann, dass man tatsächlich ein Ergebnis hinbekommt. Müller: Der grüne Außenpolitiker und Iran-Kenner Omid Nouripour. Danke für das Gespräch, auf Wiederhören. Nouripour: Danke Ihnen! Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Omid Nouripour im Gespräch mit Dirk Müller
Die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm gehen in eine weitere Runde. Diese Entscheidung sei richtig, sagte Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen, im DLF. Die Hürden für eine Lösung lägen vor allem in den USA und im Iran.
"2014-11-25T08:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:15:25.148000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomgespraeche-in-wien-tief-sitzendes-misstrauen-100.html
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Stars und Sternchen
Au revoir, Cannes! Yachthafen und Blick auf die Burg. (Deutschlandradio / Maja Ellmenreich) Schminktipps und Beziehungsratschläge, Reiseempfehlungen und Kochrezepte weckten nicht wirklich meine Aufmerksamkeit. Also blätterte ich weiter ein wenig lustlos durch die aktuelle Ausgabe der "Brigitte". Eine freundliche Flugbegleiterin hatte sie mir in die Hand gedrückt. Aus Langeweile und auch aus alter Gewohnheit suchte ich die Seite mit dem Horoskop und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass wirklich ich – Sternzeichen Stier, unterwegs zu den Filmfestspielen nach Cannes – gemeint war. Denn was stand angeblich für mich in den Sternen? "Merkur schärft Ihren Blick, Venus das Fühlen. Und wenn Sie beide Wahrnehmungskanäle gut austarieren, haben Sie beste Chancen, die oft fast paradoxen Botschaften zu entschlüsseln, die aus Ihrem Umfeld kommen." Treffer! Über einen scharfen Blick und intensive Empfindsamkeit sollte man schließlich verfügen, wenn man zehn Tage lang mindestens zwei, an manchen Tagen auch drei oder gar vier Filme schaut. Balance der beiden Wahrnehmungskanäle ist ebenso wünschenswert, aber auch nicht immer machbar: Die Emotionen können die Sicht ebenso vernebeln wie die Bilder den Zugang zum Herzen blockieren können. An Chancen und paradoxen Botschaften mangelt es in Cannes nicht: Das Umfeld also versorgt die Wahrnehmungskanäle nach Kräften. "Jupiter’s Moon" verleiht auch im Nachhinein noch Flügel Jetzt, anderthalb Wochen später, da in Cannes der Wettbewerb vorbei ist und alle auf die Palmenentscheidung warten, frage ich mich zum Abschied, welche Bilder, welche Empfindungen ich mit nach Hause nehmen werde: Da tanzt etwa im Eröffnungsfilm von Arnaud Desplechin die zauberhafte Marion Cotillard wie ein ausgelassenes Kind zu Bob Dylans Musik. Von Andrej Swjaginzews Film "Loveless” bleibt der stumme Schrei eines Jungen, der gerade gehört hat, dass seine Eltern ihn lieber heute als morgen loswären. In Todd Haynes "Wonderstruck" dominieren Farben: Schwarz und Weiß aus dem Jahr 1927 und knallbunte aus dem New York der 70er. Kornél Mundruczós "Jupiter’s Moon" verleiht mir auch im Nachhinein noch Flügel, denn Flüchtlingsjunge Aryan kann wie ein Engel schweben. Und aus Bong Joon Hos "Okja" grinsen mich zwei runde Gesichter an: das vom Superschwein Okja und von seiner besten Freundin, dem Menschenmädchen Mija. Auch Ruben Östlunds Film "The Square" kam animalisch daher: Während der Kunstkurator und die Journalistin schweißtreibenden Sex haben, sitzt im Nachbarzimmer ein Affe und malt bunte Kringel mit Wachsmalstiften. Die Stühle auf der Presseterrasse in Cannes sind schon leer. (Deutschlandradio / Maja Ellmenreich) Beim Gedanken an Robin Campillos "120 BPM" höre ich lautes Fingerschnipsen: Die AIDS-Aktivisten der ACT-UP-Gruppe klatschen nicht Beifall, sondern applaudieren bei ihren Besprechungen nur mit Daumen und Mittelfinger. Und was bleibt hängen von Michel Hazanavicius' Godard-Portrait "Le Redoutable"? Der ständig zur Schau gestellte nackte Körper von Stacy Martin und ihr so ausdrucksloses Gesicht. "The Meyerowitz Stories" von Noah Baumbach dagegen erzählen eine ganz andere Geschichte: Da sehe ich Ben Stiller vor mir, wie er bei einem unerwarteten Gefühlsausbruch eine ahnungslose Krankenschwester herzt. "Happy End" klingt nach dem intensiven Gambenspiel von Profimusikerin Hille Perl, die Michael Haneke den Wahnsinn der Familie Laurent musikalisch kommentieren lässt: mit den "Folies des Espagne". Yorgos Lanthimos‘ "The Killing of a Sacred Deer" hinterlässt bei mir ein unsicheres Gefühl: Darf man diesem wohlerzogenen Teenager Martin nun trauen oder nicht? Zwischen Langeweile und Fassungslosigkeit Appetit bekomme ich, wenn ich an Hong Sangsoos "Geu-Hu" denke: Bei einer Schale Suppe, bei einem Reisgericht, bei einer Tasse Tee wird in diesem Film das Beziehungsgeflecht auseinandergenommen. Die Japanerin Naomi Kawase springt mir mit ihrem Film "Hikari" förmlich ins Gesicht: "I love close-ups", hatte sie in der Pressekonferenz gestanden – und im Nachhinein zoome ich mich an die ohnehin schon großen Bilder noch näher heran. Ein genervtes Aufstöhnen höre ich, wenn ich an Jacques Doillons Biopoc "Rodin" denke: Nichts als Langeweile bleibt davon. Ganz anders: Sofia Coppolas "The Beguiled" lässt mich schaudern und grinsen zugleich – eine perfekte Mischung! Sergei Loznitsa hat mit "Krotkaya" Fassungslosigkeit bei mir ausgelöst, als er zeigte, wie Wärter in einem sibirischen Gefängnis die Mitbringsel der Besucher auseinander nahmen: Zahnpastatuben durchbohrten, Brote auseinanderschnitten, Schuhsohlen ablösten. Wie ein Tempomacher klingt die Musik aus "Good Time" von den Safdie-Brothers in mir nach: Sie machte den flüchtigen Filmbrüdern Connie und Nick Beine und uns Zuschauern bescherte sie Herzrasen. Einen Überraschungseffekt landete François Ozon wohl bei allen im Salle Debussy, denn sein Film "L’Amant Double" beginnt mit der Innenansicht einer Frau: einem medizinisch-nüchternen Blick auf den Gebärmutterhals seiner Protagonistin. Intime Ansichten ganz anderer Art kommen mir in den Sinn, wenn ich an Fatih Akins "Aus dem Nichts" denke: das von Fassungs- und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Gesicht von Diane Kruger alias Katja. So manch eine Szene von Lynne Ramsays "You were never really here" habe ich nur aus dem Augenwinkel gesehen: Zu blutig, zu brutal war die "Tour de force" des Joaquin Phoenix für meine festivalerschöpften Nerven. Merkur schärft Ihren Blick, Venus das Fühlen … das kann man wohl sagen!
Von Maja Ellmenreich
Horoskopen mag man Glauben schenken oder auch nicht. Manchmal aber passt ihr Inhalt zum eigenen Leben wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Als unsere Filmkritikerin Maja Ellmenreich vor eineinhalb Wochen im Flugzeug gen Cannes durch eine Zeitschrift blätterte, fühlte sie sich vom Horoskop angesprochen wie selten zuvor.
"2017-05-27T17:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:29:40.629000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/postkarte-aus-cannes-stars-und-sternchen-100.html
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Wie die Gegner Ceta noch aufhalten wollen
Ceta-Protest vor dem Bundeskanzleramt am 12.10.2016 (dpa/picture alliance/Kay Nietfeld) 340.000 Unterschriften haben Aktivisten gegen das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta gesammelt und heute dem Bundeskanzleramt übergeben. Mit der Petition fordern globalisierungskritische Nichtregierungsorganisationen den Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel dazu auf, gegen Ceta zu stimmen. Gabriel: Scheitern wäre "Katastrophe für Europa" Das Bundesverfassungsgericht verhandelt in Karlsruhe mehrere Eilanträge, um das Freihandelsabkommen aufzuhalten. Verschiedene Organisationen vertreten fast 200.000 Menschen, die gegen Ceta klagen. Sigmar Gabriel warnte vor einem Scheitern des Abkommens: Für Europa wäre das eine Katastrophe und es sei fraglich, ob Europa noch ernst genommen werde, wenn es mit einem ihm nahestehenden Land wie Kanada kein Abkommen zustande bekäme. In Interview mit der Tagesschau versuchte er die Befürchtungen aus dem Weg zu räumen: "Es ist vor allen Dingen endlich mal gut, weil wir Regeln schaffen für die Globalisierung. Nicht nur einfach Handelsregeln, sondern Regeln für den Schutz von Arbeitsstandards, Schutz von Sozialstandards, all das, was viele Menschen von Freihandelsabkommen befürchten, findet in Ceta gerade nicht statt." Kritik kommt auch von der Opposition. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter bemängelt, dass Ceta die Globalisierung beschleunige, statt sie zu regulieren. Das solle die Bundesregierung endlich klar sagen und einen Schlussstrich ziehen. Der Linken-Bundestagsabgeordneten Klaus Ernst erklärte, dass es sich die Bundesregierung und die EU von Anfang an auf die Fahnen geschrieben hätten, dieses Abkommen auch gegen den Willen der Bürger durchzusetzen. "Es ist überhaupt nicht so, dass es intransparent wäre" Die Linken-Abgeordneten im Bundestag möchten Ceta mit einer Verfassungsbeschwerde und einer Organklage aufhalten. Nichtregierungsorganisationen wie Foodwatch kritisierten vor alle, die Intransparenz der EU-Kommission in der Debatte um das Freihandelsabkommen. Alexander Graf-Lambsdorff, Vorsitzender der Liberalen im Europäischen Parlament, widerspricht: "Wir haben das hier sehr transparent gemeinsam mit der Kommission diskutiert, debattiert, die verschiedenen Phasen der Verhandlungen begleitet, das Endergebnis liegt uns vor. Der Handelsausschuss hat volle Einsicht, alle Bürgerinnen und Bürger, die das wollen, können sich das im Internet auch anschauen, also mit anderen Worten, es ist überhaupt nicht so, dass es hier irgendwie intransparent wäre. Das Gegenteil ist der Fall, Kanada ist vielleicht sogar das Land auf der Welt, das uns Europäern am allernächsten steht, was Werte, was Politik, was die Wirtschaftsstruktur angeht. Da eine Bedrohung für unsere Gesellschaftsordnung an die Wand zu malen, ist vollkommen absurd." Das Freihandelsabkommen soll am 27. Oktober auf dem EU-Kanada-Gipfel ratifiziert werden.
Von Azade Pesmen
Bereits Ende des Monats wollen die EU und Kanada das Freihandelsabkommen Ceta unterzeichnen. Doch vor dem Bundesverfassungsgericht werden seit heute mehrere Eilanträge bearbeitet, die das Abkommen noch aufhalten sollen. Parallel dazu reichten Gegner Unterschriftenlisten beim Kanzleramt ein. Bundeswirtschaftsminister Gabriel warnt vor einem Scheitern von Ceta.
"2016-10-12T12:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:55.962000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommen-wie-die-gegner-ceta-noch-aufhalten-100.html
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Mike Groschek als "Callboy"
Michael Groschek, genannt Mike, zieht im Wahlkampf mit Flyern und Marmelade von Haus zu Haus. (Deutschlandradio/Moritz Küpper) Michael Groschek steht vor der Tür eines Mehrfamilienhauses in Gelsenkirchen-Bulmke. Acht Klingelknöpfe hat er gerade kurz hintereinander gedrückt, wie schon beim Haus zuvor. Doch diesmal regt sich auch was an der Gegensprechanlage. "Ihre SPD mit etwas Süßem zur Bundestagswahl." Gespannte Stille, mehrere Sekunden Pause. "Ah, geht doch.""Guten Tag.""Guten Tag. Wir wollten Ihnen nur noch eine kleine Marmelade da lassen.""Ja, ich bin sowieso SPD-Wähler.""Wunderbar, schön." Freude, Erleichterung, Gelächter. "Sind die alle arbeiten, die anderen?""Das weiß ich nicht." Es ist das erste, kleine Erfolgserlebnis auf einer Tour, die Michael Groschek, genannt Mike, rund 1,70 Meter groß, blauer Anzug, hellblaues Hemd, Schnauzer und dunkle, leicht gewellte Haare, durch acht Mehrfamilienhäuser führen wird, in einen Fahrradladen und abschließend auf den Gelsenkirchener Feierabendmarkt. In Oberhausen geboren, war er bis Mitte Mai NRW-Verkehrsminister und ist seit der Niederlage bei der NRW-Landtagswahl und Hannelore Krafts Rückzug aus politischen Spitzenämtern, neuer SPD-Parteichef an Rhein und Ruhr. In dieser Funktion läuft er jetzt durch die Treppenhäuser des Ruhrgebiets, wie eben hier in Gelsenkirchen - und trifft die alten Stammwähler, beispielsweise auf dem Weg nach draußen, am Briefkasten an der Haustür: "Hallo.""Ich bin der Mike Groschek.""Ja.""Das ist der Markus Töns.""Ja, wir sind noch die letzten, ne ...""Jau.""… die die SPD immer wählen, ne.""Ich hoffe nicht die letzten.""Jo, ist doch nichts mehr …""Wie kommt’s?""Früher haste hier 4.000 Mann gehabt…""Ja, auf dem Betrieb, nicht?""Ja, auf dem Betrieb, richtig. Schalker Verein.""… und da war 80 Prozent SPD.""Ja, so war‘s.""Heute ist keiner mehr." Betretenes Schweigen, bis eine Mitarbeiterin sagt: "Och, der Kucincik ist doch noch da.""Der ist doch im Altenheim." "Nicht in nostalgischer Träumerei stehenbleiben" Auch kein Mutmacher. 15,2 Prozent, so viel wie nirgendwo sonst bei der NRW-Landtagswahl, hat beispielsweise die Alternative für Deutschland, AfD, in Gelsenkirchen bekommen. In der von Strukturwandel geprägten Region, weg von Kohle und Stahl, seit Jahrzehnten eine Hochburg der Sozialdemokratie, haben sich Zweifel breit gemacht, gärt Protest. Kümmern sich die Genossinnen und Genossen wirklich noch? "Ich glaube, wir dürfen jetzt nicht in der nostalgischen Träumerei der glorreichen Vergangenheit stehenbleiben. Wir müssen sehen, dass in unseren ehemaligen Hochburgen die prozentuale Zustimmung zur SPD schmilzt. Wir holen noch sehr viel Direktwahlkreise, aber mit weniger Stimmen, und wir müssen begreifen, dass die Gipfelkreuze der AfD auch in unseren Hochburgen errichtet wurden." Groschek läuft über den Bürgersteig der Siedlung. Er hat einen entschlossenen Schritt - und eine klare Ausdrucksweise. "Diese Gipfelkreuze müssen wir schleifen und wir müssen Menschen wieder davon überzeugen, dass es sich lohnt, SPD zu wählen. Mehr als in der Vergangenheit. Wir dürfen nicht diesen schleichenden Zustimmungsprozess akzeptieren. So nach dem Motto: Für zweimal reicht es noch und dann ist egal, sondern wir müssen jetzt sagen, wir wollen wieder wirkliche Hochburg werden. Wir wollen im Ruhrgebiet die 50 als Ziel haben und uns nicht auf 30 Prozent herumkrebsen lassen." Denn: Ein Erfolg bei der Bundestagswahl, hing für die SPD auch immer an den vielen Stimmen aus dem Ruhrgebiet. Auch deswegen entschied sich die SPD an Rhein und Ruhr gegen ein Neuanfang nach der historischen Niederlage bei der Landtagswahl - und für Groschek an der Spitze des Landesverbandes, der gleich darauf in der parteieigenen Zeitung "vorwärts" ankündigte, sich als - Zitat - "Callboy von den Ortsverbänden buchen" zu lassen: "Das war eine flapsige Formulierung, die deutlich macht: Die Kandidatinnen und Kandidaten, die mich im Wahlkampf brauchen, denen stehe ich zur Seite. Und die können anrufen beziehungsweise konnten anrufen. Jetzt bin ich wirklich restlos ausgebucht, jetzt könnten wir vielleicht noch über die Europawahl reden, aber nicht mehr über die Bundestagswahl." Markus Töns hat also Glück gehabt, er hat ihn bekommen. "Mike Groschek ist definitiv ein Gewinn für den Wahlkampf, weil Mike Groschek ist anzuspüren, dass er aus dem Ruhrgebiet kommt, die Menschen hier versteht und auch deren Sprache spricht." Knapp zwei Stunden dauert die Tour durch den ehemaligen Arbeiterstadtteil, an dessen Ende Groschek und Töns insgesamt mehr als hundert Klingelknöpfe gedrückt, Marmeladen verteilt, Flyer an Türklinken gehängt - und viele frustrierte Stammwähler getroffen haben. "Und, wie ist die Lage schlecht, oder?""Ach, man darf sich nicht entmutigen lassen. Schalke glaubt auch an die Meisterschaft.""Genau, der Mike auch bei Schalke.""Ja, für mich ist das eine große Herausforderung als Zecke." Groschek hat Galgenhumor, doch dem Fan von Borussia Dortmund begegnet die Farbe Gelb nur ein paar Wohnungstüren später in der Person eines Ex-Genossen. "Danke, ich bin aber mittlerweile für die Gelben.""Warum dat denn?""Ich bin von der SPD enttäuscht." Martin Schulz sei der falsche Kandidat, auch eine Meinung. Eine Wohnungstür darauf, wird die von Groschek angepriesene Marmelade zwar genommen ... "Die ist so süß, da werden Sie aus dem Lächeln nicht mehr rauskommen.""Mir wäre lieber, die SPD würde die 18 Prozent zurücknehmen. Mehr als die Marmelade.""Welche 18 Prozent?""Ja. Den Rentenabzug. Nach 40 Jahre Arbeit." Zuversicht sieht anders aus Es ist wahrlich nicht leicht: Zu viele Schulstunden fallen aus, der Zustand der Straßen sei schlecht. Für Groschek, bis vor wenigen Monaten noch Verkehrsminister, keine einfache Situation. Aber: Er lässt sich nicht unterkriegen: Da müsse Geld fließen. "Nem nackten Bergmann kann man auch nicht in die Tasche packen. Da braucht die Stadt Geld. Ohne Moos nix los. Ne?" Optimismus aber, der fehlt. An eigentlich jeder Tür. Und die Umfragen?, heißt es dann auch noch. Wahlkreiskandidat Töns relativiert: "Ich glaube, dass muss man auch sagen: Jedem, dem man so sagt: Och, das ist schon entschieden. Dat ist noch lange nicht entschieden, entschieden ist es am 24. September um 18 Uhr.""Das hat man ja hier gesehen, in Nordrhein-Westfalen.""Ja, genau.""Ihre Kollegin, ich meine, die hat ja nicht mehr viel gemacht, zum Schluss, die hat gesagt: Ich werde ja sowieso wieder gewählt. Was soll ich machen? Und dann stand sie da. Jetzt geht es uns trotzdem nicht besser, aber ich mein nur… Die Sicherheit ist.""Die ganzen Prognosen sind alle Schall und Rauch." Hannelore Krafts Abwahl als Mutmacher, als eine Parallele für eine trügerische Selbstsicherheit bei der Union und der Kanzlerin? Auch auf dem Feierabendmarkt trifft Mike Groschek bei vielen Stammwählern auf Ratlosigkeit (Deutschlandradio/Moritz Küpper) Sechs Uhr, der Feierabendmarkt inmitten von Gelsenkirchen. Hier gibt es nicht nur Currywurst und Pils, sondern eher italienische Käseplatten und Weißweingläser sowie - als einzigen Info-Stand - einen gelb-pinken Auftritt der FDP. "Ach, guck mal, die FDP macht einen Stand hier? Das ist ja interessant." Töns und Groschek schieben sich daran vorbei, weiter zu einer Kaffeebude. Groschek weiß, worum es geht: "Wir müssen dafür sorgen, dass das wieder funktioniert. Die Menschen sind skeptisch. Die SPD ist in Teilen, Teil von 'die da oben' und wir müssen deutlich machen: Wir sind mit beiden Beinen am Boden geblieben, wir hören zu und hören hin und reden nicht über die Menschen hinweg." Wie eben hier auf dem Markt - auch, wenn es bitter ist: "Bei der Landtagswahl war schon AfD zu viel hier in Gelsenkirchen.""Ja, aber: SPD auch traurig, traurig.""Wat finden Sie denn besonders traurig?""Ich verstehe es nicht. Solange ich wählen darf, habe ich nichts anderes gewählt als wie die SPD. Aber zurzeit, ich weiß nicht. Einfach. Wat soll ich jetzt sagen?" Ein Stückweit Ratlosigkeit. Es scheint ein Gefühl zu sein, dass - bei aller Selbstkritik - nicht nur bei den alten Stammwähler vorherrscht.
Von Moritz Küpper
Die historische Landtagswahl-Schlappe in NRW war ein Warnschuss für die SPD im Hinblick auf die Bundestagswahl. Schließlich hing der Erfolg der Partei immer auch an den Stimmen aus dem Ruhrgebiet. Und das soll auch wieder so werden: Dafür lässt sich NRW-Parteichef Michael Groschek als "Callboy für Tür-an-Tür-Einsätze" buchen. Eine bitter-süße Stammwählersuche.
"2017-08-23T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:47:14.749000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spd-vor-der-bundestagswahl-mike-groschek-als-callboy-100.html
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Die Hürden der Digitalisierung an deutschen Schulen
Schulaufgaben machen im Wohnzimmer mit Laptop und Internet während der Pandemie: Die meisten Schulen bieten aber nur rudimentären Online-Unterricht - oder nicht mal den (picture alliance / dpa / KEYSTONE / Peter Klaunzer) Die Schule, die der russisch-amerikanische Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1954 in einer seiner Erzählungen beschreibt, diese Schule wirkt fast so, als hätte er sie für die Zeit einer Pandemie erdacht. Die Kurzgeschichte, fast 70 Jahre alt, wirkt aktueller denn je. Sie handelt von zwei Kindern, Tommy und Margie, die in ferner Zukunft leben – und eine Schule mit Klassenzimmern und Lehrern und Mitschülern gar nicht mehr kennen. Jedes Kind wird nur noch von einem mechanischen Lehrer unterrichtet, einer Maschine, die bei den Kindern zu Hause im sogenannten Schulzimmer steht. "Groß und schwarz und hässlich, mit einer großen Mattscheibe darauf, wo alle Lektionen gezeigt wurden, und mit einem Lautsprecher daneben, der die Fragen stellte. Aber das war nicht das Schlimmste. Der Teil, den Margie am meisten hasste, war ein Schlitz, in den sie die Hausarbeiten und die Antworten auf seine Fragen stecken musste. Alles das musste sie in einem Lochkode schreiben, den sie mit sechs Jahren gelernt hatte, und der mechanische Lehrer rechnete die Noten im Nu aus." Bildungsministerin Prien (CDU) - "Wir können die Schulen jetzt nicht verantwortlich öffnen"Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) steht einer Öffnung der Schulen zum 11. Januar skeptisch gegenüber. Je höher das Infektionsgeschehen in der Gesellschaft insgesamt sei, umso höher sei es auch an Schulen, sagte sie im Dlf. Jetzt müsse der digitale Distanzunterricht erprobt werden. Ein Schulzimmer zu Hause, ein mechanischer Lehrer und eine Mattscheibe, auf der Lektionen gezeigt werden: Das wäre jedenfalls eine Schule ohne Ansteckungsrisiko. Öffnung der Schulen unwahrscheinlich Und tatsächlich dürften sich manche Schülerinnen und Schüler während Corona-Lockdown oder Quarantäne gefühlt haben wie in der Zukunftsvision von Isaac Asimov. Allerdings können diejenigen von Glück reden, die einen Distanzunterricht mittels Computer überhaupt kennengelernt haben. "Wir sind in Deutschland noch nicht so weit wie wir sein wollen, das ist klar", sagte Stefanie Hubig im März vergangenen Jahres im Deutschlandfunk, als die Schulen gerade zum ersten Mal wegen Corona geschlossen worden waren. Die sozialdemokratische Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz war bis Jahresende Präsidentin der Kultusministerkonferenz. "Nicht alle sind so weit, wie wir uns das wünschen würden und wie das jetzt in dieser Situation hilfreich wäre." Schule in Coronazeiten - "Für den hybriden Unterricht ist Deutschland noch nicht vorbereitet“Die Folgen des ersten Lockdowns seien für einzelne Schüler wirklich dramatisch, sagte der Bildungsforscher Andreas Schleicher im Dlf. Bei der Digitalisierung sei bei Ausstattung wie dem Personal noch viel zu tun. Den Präsenzunterricht hält er vor allem aus sozialen Gründen für alternativlos. Am Dienstag (5.1.2021) beraten Bund und Länder über den weiteren Kurs im Kampf gegen das Corona-Virus; eine reguläre Öffnung der Schulen mit voll besetzten Klassenzimmern gilt dabei als höchst unwahrscheinlich. Schüler bekommen E-Mails mit Aufgabenblättern Doch die Probleme mit Distanzunterricht und Online-Lernen, die sich bereits während des ersten Lockdowns an den Schulen zeigten, sind längst nicht gelöst. Bayern etwa musste im Dezember melden, dass die digitale Schulplattform Mebis überlastet war. Auch anderswo in Deutschland gingen Schulserver in die Knie. Viele Schulen sind noch immer nicht mit Videokonferenzsystemen ausgestattet und somit gar nicht in der Lage, echten Digitalunterricht anzubieten. Während unzählige, auch kleine Unternehmen in Deutschland in der Corona-Krise Online-Konferenzen etabliert haben und inzwischen ganz selbstverständlich per Video mit ihren Mitarbeitern im Homeoffice kommunizieren, bekommen viele Schüler hierzulande weiterhin bloß E-Mails mit Aufgabenblättern. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Spott und Häme für viele Lehrer "Was hier deutlich wird, dass wir im Grunde genommen eine Fehlentwicklung haben, die vielleicht zehn oder fünfzehn oder vielleicht sogar zwanzig Jahre sich langsam entwickelt hat und jetzt kriegen wir mit Corona die ganz große Baustelle und wundern uns, dass wir die nicht von jetzt auf gleich in den Griff bekommen", sagt Harald Willert, der lange Zeit Schulleiter an einem Gymnasium in Oberhausen war und jetzt Vorsitzender der Schulleitungsvereinigung Nordrhein-Westfalen ist. Willert und seine Kollegen mussten sich in den vergangenen Monaten viel Kritik und auch Spott und Häme anhören. Als Beamte seien Lehrerinnen und Lehrer faul und unflexibel, viele seien in Digitalfragen überfordert oder einfach nicht willens, Online-Unterricht abzuhalten. Digitaler Unterricht in der Coronakrise - Bildungsexpertin fordert Listen mit Plattformen, die Schulen nutzen dürfenBildungsexpertin Verena Pausder hat die Maßnahmen für verbesserten Digitalunterricht an deutschen Schulen kritisiert. Zwar habe es Fortschritte bezüglich der Ausstattung gegeben, sagte sie im im Dlf. Darüber hinaus gebe es vor allem Verbote, welche Online-Plattformen Schulen nicht nutzen dürften. Mangel allerorten Harald Willert lässt das nicht gelten. Unmotivierte Lehrer gebe es zwar – aber das seien Einzelfälle. Die allermeisten engagierten sich mit Leidenschaft und machten Überstunden, um ihre Schülerinnen und Schüler auch während der Pandemie gut zu unterrichten: "Ich möchte nicht, dass es hier zum Lehrerbashing wird. An dieser Stelle muss ich wirklich auch für mich den Strich ziehen." Wer pauschal über die Lehrer herziehe, mache es sich zu einfach, sagt der ehemalige Schulleiter. Und berichtet vom Mangel allerorten: Viele Schulen in Deutschland seien noch immer nicht ans schnelle Internet angebunden, viele Lehrer besäßen keine Dienst-Laptops und auch keine dienstlichen E-Mail-Adressen. Auch nicht alle Schüler seien mit tauglichen Endgeräten ausgestattet. "Man muss natürlich sagen, dass über Jahre in den Ländern das Thema Digitalisierung des Unterrichtes ganz offensichtlich keine so große Rolle gespielt hat", sagt Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbildungsministerium und CDU-Abgeordneter. "Durch das Thema Corona ist allen noch mal vor Augen geführt worden, welche Chancen und Notwendigkeiten in der Digitalisierung des Unterrichts liegen." Digitalisierung der Schulen - " Die Politik ist in der Pflicht, vernünftige Angebote zu machen"Mangelnde Fortbildungsangebote, hoher bürokratischer Aufwand, zu wenig Personal: Der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, sieht nach den Beschlüssen des jüngsten Schulgipfels die Politik in der Pflicht, Rahmenbedingungen für eine Digitalisierung der Schulen zu schaffen. Tatsächlich hat die Corona-Krise schonungslos offenbart, wie es um die Digitalisierung deutscher Schulen bestellt ist. Dabei steht das Thema seit vielen Jahren auf der politischen Agenda. Studien und Umfragen zufolge ist aber nicht viel passiert. "Das Geld liegt auf dem Tisch" Weil Schulpolitik Ländersache ist, durfte der Bund die Schuldigitalisierung lange Zeit nicht fördern. Dafür wurde 2019 erst das Grundgesetz geändert, Artikel 104c. So konnte der "DigitalPakt Schule" geschlossen werden, ein milliardenschweres Programm vor allem für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur. Zum Beispiel für WLAN in den Schulgebäuden und zur Anschaffung digitaler Tafeln, sogenannter Smartboards. Anfangs gab der Bund fünf Milliarden Euro, die Länder steuerten 500 Millionen dazu. Wegen der Corona-Krise wurde kräftig aufgestockt, zum Beispiel für die Wartung digitaler Technik und auch für das Verleihen von Endgeräten. So schwoll der Topf an auf mehr als sieben Milliarden Euro. Thomas Rachel: "Das ist wirklich eine Menge Geld und wir sind sehr froh, dass wir es jetzt schaffen, einen Schub für digital unterstützten Unterricht zu erreichen." Wobei der echte Schub erst noch kommen muss. Dem Bundesbildungsministerium zufolge haben die Länder bis Ende 2020 nämlich erst etwa 700 Millionen Euro abgerufen beziehungsweise beantragt. Also nur rund zehn Prozent – und das trotz Pandemie und Fernunterricht. Bürokratische Hürden und Förderrichtlinien Staatssekretär Rachel sieht die Länder am Zug: "Ich sage es mal anders: Das Geld liegt auf dem Tisch. Nehmen müssen es die Länder natürlich selber." Digitalisierung in Schulen - Kein einheitliches Online-Konzept für Schulen in DeutschlandBund und Länder wollen die Digitalisierung an Schulen voranbringen – und 500 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Bevor das Geld fließt, müssen Schulen sogenannte Medienkonzepte vorlegen. Die Vorgaben und Handreichungen der Länder für ihre Schulen sind dabei höchst unterschiedlich. Es sind wohl vor allem bürokratische Hürden, die die Investitionen bremsen. Die Schulen müssen ihren Bedarf zunächst in einem technisch-pädagogischen Medienkonzept darlegen. Damit wenden sie sich an die Schulträger, bei öffentlichen Schulen sind das etwa Städte und Gemeinden, bei Privatschulen kann das ein Verein sein oder eine Religionsgemeinschaft. Die Schulträger reichen die Anträge beim Land ein, wobei jedes Land eine eigene Förderrichtlinie hat. Auch die Vorgaben für die Medienkonzepte sind unterschiedlich. "Das ist keine Doktorarbeit", sagt Mathias Richter, Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Schulministerium. "Das kann durchaus auf zehn Seiten untergebracht werden, was man vorzulegen hat. Wir haben dafür auch Handreichungen." Dem Land Nordrhein-Westfalen steht aus dem "Digitalpakt" gut eine Milliarde Euro zu. Bis Jahresende wurden davon 223 Millionen beantragt. Sachsen und Hamburg gelten als Musterschüler bei der Digitalisierung, eher zögerlich werden die Mittel offenbar etwa aus Bayern und dem Saarland abgerufen. "Wenn es Probleme gibt, muss das in jedem Bundesland betrachtet werden", so Thomas Rachel vom Bundesbildungsministerium. Warten auf Videolösungen Auch die Vorgehensweise bei den sogenannten Lernplattformen oder Lernmanagementsystemen ist von Land zu Land unterschiedlich. Gemeint sind Computersysteme, um zum Beispiel Lernmaterialien digital auszutauschen, aber auch zur Kommunikation unter Lehrern und zwischen Lehrern und Schülern. Einige Länder setzen auf eigene Entwicklungen, so zum Beispiel Bayern mit Mebis, das allerdings nicht störungsfrei läuft und von Nutzern immer wieder kritisiert wird. In Baden-Württemberg ist die landeseigene Bildungsplattform Ella gescheitert; für die versenkten Millionen gab es eine Rüge des Landesrechnungshofs. Und auch Nordrhein-Westfalen brauchte viele Jahre, um sein System Logineo ans Laufen zu bringen. "Wir haben aber jetzt hier mit Logineo ein landesweit auch einheitliches Produkt, das funktioniert und angenommen wird und als attraktiv wahrgenommen wird", lobt NRW-Staatssekretär und FDP-Politiker Mathias Richter. Allerdings ist bislang nicht einmal jede dritte Schule in Nordrhein-Westfalen an Logineo angeschlossen. Und auf das lang ersehnte Videokonferenz-Tool werden die Nutzer wohl noch bis zum nächsten Schulhalbjahr warten müssen. Neben den Bildungsplattformen der Länder gibt es auch noch die so genannte "Schul-Cloud" des Hasso-Plattner-Instituts an der Universität Potsdam, die vom Bundesbildungsministerium gefördert wird. Bildung in Coronazeiten - Welchen Einfluss die Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung hatDie Schule ist zentral für die Identitätsentwicklung: Kinder brauchen Kontakte zu Gleichaltrigen und zu Lehrern, die auch als emotionale Vermittler wirken. Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert fordert im Hinblick auf die psychische Gesundheit von Kindern deshalb, die Schulen unbedingt offen zu lassen. Was kommt nach dem Digitalpakt? Als Corona über die Schulen hereinbrach und sie dringend ausgereifte Lösungen brauchten für den Fernunterricht, entschieden sich viele kurzerhand für private Anbieter, zum Beispiel für Microsoft 365 mit der Videokonferenzlösung Teams. Auch deutsche Mittelständler bieten entsprechende Software-Lösungen an, so etwa das niedersächsische Unternehmen IServ. "Die Nachfrage ist extrem angestiegen", erzählt Jörg Ludwig. Vor rund zwanzig Jahren hat er das Unternehmen IServ gemeinsam mit einem Schulfreund gegründet; hervorgegangen ist das Produkt aus einem Jugend-Forscht-Projekt. Heute beschäftigt IServ mehr als hundert Mitarbeiter und hat bereits mehr als 4.000 Schulen in Deutschland mit der eigenen Plattform ausgestattet. "Wir nennen das Schulplattform, weil wir den Anspruch haben, dass das ganze Spektrum an Anforderungen aus der Schule abgedeckt wird. Das ist eingeteilt in vier Bereiche: Kommunikation, also E-Mails, Messenger, dann haben wir den Bereich Organisation, dann Pädagogik, wo wir Videokonferenzen anbieten. Und dann der letzte Bereich ist die Netzwerkbetreuung, das heißt, wir können das ganze Schulnetzwerk mit allen Endgeräten, Druckern, W-Lan und so weiter versorgen." Der Diplom-Informatiker verspricht den Schulen, sie innerhalb von 45 Minuten, also einer Schulstunde, zu digitalisieren. Die IServ-Plattform koste rund fünf Euro pro Schüler und Schuljahr. In Online-Kursen erklären Administratoren, die selbst Lehrer sind, wie das System funktioniert. Homeschooling sei auch für IServ eine Notlösung, sagt Firmenchef Jörg Ludwig. Die Schulplattform sei schließlich nicht für die Anwendung während einer Pandemie entwickelt worden. Allerdings habe die Corona-Krise die Schuldigitalisierung vorangebracht. Bürokratie-Hürden - Woran der Digitalpakt für Schulen und die Ausbildungsprämien bislang scheiternWechselnde Standards, bürokratische Hürden, zähe Umsetzung: Das sind die Kritikpunkte am Digitalpakt für Schulen und an der Ausbildungsprämie für Betriebe. Warum ist das so? Warum werden die Fördergelder für die Digitalisierung der Schulen nur schleppend abgerufen? Wo hakt es bei der angelaufenen Förderung von Ausbildungsplätzen in Coronazeiten? Mehr als Multimedia Die Prozesse im föderalen Schulsystem seien dennoch langwierig und bürokratisch. Und auch der "DigitalPakt", der bis 2024 läuft, ist aus seiner Sicht falsch angelegt: "Das große Problem, was wir sehen, ist, dass diese Mittel jetzt einmalig da sind, aber solche IT-Systeme natürlich auch langfristig fortgeführt, gewartet werden müssen. Und der Punkt wurde komplett übersehen. Dass man jetzt eigentlich schon darüber sprechen muss, was nach dem Digitalpakt kommt." Auch Nordrhein-Westfalens Schulstaatssekretär Mathias Richter plädiert für eine langfristige Finanzierung: "Im Moment leben wir vom Digitalpakt Schule bis 2024, von Sofortausstattungsprogrammen, von zeitlich befristeten Programmstrukturen. Und das kann keine dauerhafte erfolgreiche Finanzierungsgrundlage sein." Der CDU-Politiker Thomas Rachel, Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, hat für dieses Argument kein Verständnis: "Ehrlich gesagt, ich glaube, das ist jetzt nicht die Frage, die im Vordergrund steht. Es liegen Milliarden bereit, um für die Digitalisierung der Schulen genutzt zu werden. Und bevor man politische Debatten aufmacht, ob es danach noch etwas gibt, würde ich vorschlagen, dass man erstmal das, was an Geld da ist, dass dieses genutzt wird." Doch was soll mit den Milliarden überhaupt gemacht werden? Was ist das Ziel der Digitalisierung? "Digitalisierung in der Schule bedeutet nicht Multimedia-Einsatz. Das ist ein durchaus noch gängiges Missverständnis", sagt Dennis Sawatzki. Er ist Erziehungswissenschaftler und leitet ein privates Institut für Schulentwicklung und Lehrerfortbildung. Er und sein Team bieten Trainings und Seminare für Lehrer an – auch zum Thema Digitalisierung in der Schule. "Es geht nicht darum, möglichst viele Geräte im Unterricht einzusetzen, sondern es geht um Digitalisierung von Konzepten, von Materialien, vor allem aber um Digitalisierung von Lern-, Kommunikations- und Arbeitsprozessen." Bildungsbericht - Digitales Lernen - Deutschland im OECD-Schnitt abgeschlagenDie Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisiert die unzureichende Ausstattung deutscher Schulen mit digitalen Lernplattformen. Positiv hoben die Experten die berufliche Ausbildung in Deutschland hervor. Kinder werden zu Kunden Dass während der ersten Schulschließung Schüler vor allem mit Aufgaben versorgt wurden, die zu Hause erledigt werden mussten, das sei eine bedauerliche Reduzierung auf eine einzige Sozialform, nämlich die Einzelarbeit, sagt Sawatzki. "Die Digitalisierung muss aus meiner Sicht auch damit einhergehen, dass alle Sozialformen ihre Berücksichtigung finden, weil sie wichtig sind für erfolgreiches und nachhaltiges Lernen. Und das ist es: Den Lehrkräften zu zeigen, wie kann denn so etwas wie Partnerarbeit, wie Gruppenarbeit gelingen, wie Plenumsarbeit gelingen." Digitalisierung sei aber nicht nur in der Corona-Pandemie wichtig, sondern könne den Unterricht grundsätzlich bereichern, sagt der Bildungsexperte. Etwa mit dem Konzept des Flipped Classroom: "Bisher ist der Unterricht ja häufig so gestaltet, dass im Unterricht das Wissen bereitgestellt wird. Das Konzept des Flipped Classroom geht von einer Umkehrung dieses Gedankens aus, dass die Schülerinnen und Schüler sich dieses Wissen zu Hause mittels digitaler Medien selbst erschließen können, und im Unterricht selbst findet das Üben, das Wiederholen, das Nachfragen, das Verständnissichern mit der Peergroup und mit der Lehrkraft statt." Allerdings macht Digitalisierung allein weder den Unterricht noch die Schulen besser. Viele Lernforscher warnen sogar davor, in der Schul- und Unterrichtsentwicklung zu einseitig auf Computer und auf Technik zu setzen. Ralf Lankau ist Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Die Digitalisierung der Schulen ist seiner Ansicht nach zu einem Selbstzweck geworden: "Als gäbe es nichts anderes mehr! Und das ist natürlich völliger Quatsch. Digitale Medien sind wie analoge Medien ein Hilfsmittel im Unterricht. Aber wir müssen alle Medien, ob analog oder digital, wieder zu dem machen, was sie im Unterricht sind, nämlich Hilfsmittel." Er warnt vor einer Entwicklung wie etwa in den USA, wo an öffentlichen Schulen Lehrkräfte bereits durch Computer-Lernprogramme ersetzt und Leistungen von Schülern digital ausgewertet würden. Private Unternehmen gewönnen so Einfluss in Schulen; Kinder würden zu Kunden gemacht. Der Datenschutz sei oft mangelhaft. Computer an Schulen - Hitzige Debatte über "digitale Verdummung"Der Vorstoß der designierten Staatsministerin für Digitales, Bär, zum Programmieren in der Grundschule hatte 2018 eine Diskussion ausgelöst. Der Neurowissenschaftler Spitzer sorgte im Dlf-Interview mit kontroversen Thesen für Aufsehen. Widerspruch kommt aus der Politik und von Experten. Menschen statt Mattscheibe Das größte Problem aber sei, dass in einer solchen Schule das echte Lernen auf der Strecke bleibe: "Für Verstehensprozesse brauchen wir den Dialog. Ein direktes, ein soziales Gegenüber, weil dann muss ich das, was ich gelesen oder geschaut habe, mit eigenen Worten formulieren. Dann sortiert sich das erst im Kopf und wenn ich Glück habe und mein Gegenüber mir sinnvolle Fragen stellt, dann klärt sich das. Und erst dann entwickelt sich das Verstehen." Studien und Erhebungen aus der Zeit des ersten Lockdowns im vergangenen Frühjahr zeigen: Am meisten haben darunter Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien gelitten; ihr Lerndefizit war am größten. Weil sie zum Lernen keine Mattscheibe brauchen, sondern Menschen. Ralf Lankau: "Also der Fokus müssen die Kinder und Jugendlichen sein und nicht die Technik und das ist komplett verdreht im Moment." Lehrer aus Fleisch und Blut Die Erfahrungen aus dem Fernunterricht während der Corona-Krise sind aus Sicht vieler Lernforscher ein Beleg dafür, dass Schülerinnen und Schüler am besten gemeinsam lernen, in einem gemeinsamen sozialen Raum. Das wusste auch Isaac Asimov, als er 1954 seine Zukunftsgeschichte schrieb und die Protagonistin Margie überlegen ließ, welche Art von Schule ihr am liebsten wäre. "Sie dachte an die alten Schulen zu der Zeit, als der Großvater ihres Großvaters ein kleiner Junge gewesen war. Alle Kinder aus der ganzen Nachbarschaft kamen dort lachend und schreiend im Schulhof zusammen, saßen miteinander im Klassenzimmer und gingen nach dem Unterricht zusammen nach Hause... Und die Lehrer waren Leute." Vielleicht ist das eine Lehre aus der Corona-Pandemie: Die Technik kann helfen, einen ansteckungsfreien Schulunterricht aufrecht zu erhalten. Doch kann sie gute Lehrer aus Fleisch und Blut nicht ersetzen.
Von Monika Dittrich
Milliarden stehen bereit - doch für die Digitalisierung deutscher Schulen haben die Länder bislang nur einen kleinen Teil des Geldes abgerufen. Obwohl die Corona-Pandemie den Digital-Unterricht so nötig macht wie nie zuvor. Viele Eltern sind wütend, Lehrer müssen Spott und Häme einstecken.
"2021-01-04T18:40:00+01:00"
"2021-01-05T12:02:11.337000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unterricht-im-corona-lockdown-die-huerden-der-100.html
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Umweltverbände fordern mehr Anstrengung
Wasserdampfschwaden steigen aus den Kühltürmen des Braunkohlekraftwerkes der Vattenfall AG in Jänschwalde (Brandenburg). (Aufnahme von 2015) (picture alliance / dpa/ Patrick Pleul) Georg Ehring: Papst Franziskus erhofft sich "konkrete und gemeinsame" Maßnahmen zum Schutz des Klimas, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon gibt sich "halbwegs optimistisch", dass der UN-Gipfel im Dezember in Paris ein gemeinsames Klimaprotokoll hervorbringen wird. In der nächsten Woche findet in Bonn die letzte Vorbereitungskonferenz für den Gipfel statt, vorab wurde ein erster Vertragsentwurf herausgegeben. Werden wir Ende dieses Jahres einen Klimaschutzvertrag haben, der diesen Namen wirklich verdient? Umweltverbände haben heute in Berlin ihre Erwartungen formuliert. Dieter Nürnberger in Berlin - sind die auch "halbwegs optimistisch" wie der UN-Generalsekretär? Dieter Nürnberger: Die Formulierung halbwegs optimistisch - die kann man so stehen lassen. Die Umweltverbände gehen davon aus, dass die Vertragsstaaten diesmal allesamt auch wirklich einen Vertrag wollen, und das sei in der Vergangenheit nicht per se der Fall gewesen. Das ist der Grund für diesen vorsichtigen Optimismus, aber - interessant sei eben auch die Frage, wie ambitioniert und gerecht ein solches, künftiges Klimaabkommen sein könne. Und da gibt es noch Zweifel. Es gibt einen ersten Vertragsentwurf von Anfang Oktober - ausgearbeitet von länderübergreifenden Vorbereitungsgruppen. Und vieles gehe in die richtige Richtung, so die Umweltverbände. Allerdings hofft man, dass einige Formulierungen und Ziele doch noch etwas konkreter gefasst werden. Beispiel: die Dekarbonisierung. Das heißt nichts anderes, als das bis zur Mitte des Jahrhunderts der Ausstieg aus fossilen Energieträgern stehen sollte. Im Umkehrschluss bedeutet dies eine nahezu 100-Prozent-Versorgung aus erneuerbaren Energien. Und dieses Ziel sollte in den Vertrag mit aufgenommen werden, sagt Jan Kowalzig, er ist Klimaexperte von Oxfam Deutschland. "Es ist sowohl technologisch, wie auch wirtschaftlich realistisch. Es ist also absolut machbar. Im Vertragsentwurf wehren sich viele Parteien noch dagegen, weil sie sich nicht auf die erneuerbaren Energien festlegen lassen möchten. Sie wollen sich ihre Flexibilität bewahren. Das ist ein Problem, weil es zum Beispiel auch den Unternehmen der fossilen Energien erlaubt, ihre Technologie als sauber zu verkaufen - nur, weil sie vielleicht etwas effizienter sind als noch vor 20 Jahren. Aber letztlich wollen sie den Umbau behindern." Keine Hinweise auf ernsthafte Blockiererstaaten bei den Verhandlungen Ähnlich verhalte es sich mit der Festlegung eines sogenannten Peaks. Also einem Zeitpunkt, ab wann die globalen Treibhausgas-Emissionen auf jeden Fall zurückgehen müssten. Auch hier sei der bisherige Entwurf zu schwammig, konstatiert Ann-Kathrin Schneider, die Klima- und Energieexpertin des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, des BUND. "Dieser Vertrag wird wohl eine Laufzeit von 10 Jahren haben, wir wollen eine kürzere Laufzeit. Wir sagen, eigentlich hätten wir schon gestern damit anfangen sollen. Auch deswegen muss der Ausstieg aus den fossilen Energien bis 2050 festgeschrieben werden. Das darf nicht verschoben werden. Das ist für uns ganz zentral." Ein großes Problem bei den vorangegangen Weltklimaverhandlungen war ja stets auch die Frage, inwieweit die reichen Industrieländer, sie sind auch die bisherigen Hauptverursacher der Schadstoffemissionen, kleineren Ländern auch finanziell helfen müssten, die Folgen des Klimawandels zu meistern. Hier gibt es eine Zusage von 2009 dafür rund 100 Milliarden US-Dollar jährlich einzusetzen. Hier hoffen die Umweltgruppen zum einen auf eine konkrete Festschreibung zumindest bis 2020 - sie machen aber auch darauf aufmerksam, dass diese Summen auch längerfristig nötig und zudem wohl auch zu gering seien. Jan Kowalzig von Oxfam: "Dieses 100-Milliarden-Versprechen der Industrieländer ist tatsächlich nur der Anfang. Da gibt es Fragen: Wird dieses Ziel auch wirklich erreicht bis 2020? Was legen die Industrieländer bis zum Gipfel in Paris hier noch an Fahrplänen vor? Und zweitens natürlich - was passiert nach 2020? Gilt das Ziel dann weiter? Hier wehren sich noch viele große Industrieländer, während die Entwicklungsländer dies einfordern." Kowalzig verweist hier beispielsweise auch auf eine Einschätzung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, wonach wohl eher 200 bis 300 Milliarden jährlich nötig seien.Die Umweltverbände fordern somit in vielen Passagen des künftigen Vertrages ehrgeizigere Zielformulierungen. Und man sollte sozusagen auch die Gunst der Stunde nutzen - denn diesmal seien richtige Blockierer eines Abkommens nicht auszumachen. Auch China sende inzwischen deutliche Signale, dass man sich konstruktiv einbringen wolle. Ann-Kathrin Schneider vom BUND. "Das ist ein Novum, dass ein Land, welches vor kurzem noch Entwicklungsland war und Unterstützung bei der Anpassung an den Klimawandel verlangte, nun sagt, dass es dafür Geld auf den Tisch legen will. Um die ärmsten Länder bei der Bewältigung der Folgen zu unterstützen. Da ist viel passiert, gerade auch bilateral zwischen China und den USA. Beide Länder bewegen sich, sie werden wohl nicht mehr die großen Bremser sein."
Georg Ehring im Gespräch mit Dieter Nürnberger
In der nächsten Woche findet in Bonn die letzte Vorbereitungskonferenz für den UN-Klima-Gipfel im Dezember in Paris statt. In Berlin haben heute Umweltverbände ihre Erwartungen an die Politik formuliert.
"2015-10-16T11:35:00+02:00"
"2020-01-30T13:04:38.913000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-klima-gipfel-in-paris-umweltverbaende-fordern-mehr-100.html
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"Hier geht es um das nackte Menschenleben"
Die MS Aquarius, das Schiff der privaten Seenotrettung "SOS Mediterranee" (dpa/picture alliance/Carmen Jaspersen) Ein Boot der Küstenwache läuft in den kleinen Hafen von Lampedusa ein. Der Wind pfeift und selbst im Hafenbecken schlagen die Wellen heftig an die Mauer. Es lässt sich nur erahnen, wie hoch der Wellengang im offenen Meer sein muss. Karin Vogel läuft vorsichtig über eine schmale Planke an Land. Ihr folgen weitere Mitarbeiter der privaten Seenotrettung SOS Mediterranee. Eigentlich wollten sie ihr Schiff, die Aquarius, im Hafen von Lampedusa präsentieren, einen kleinen Empfang für Presse und Politik geben. Aber das ist sprichwörtlich ins Wasser gefallen, das Meer ist unberechenbar, das zeigt sich an diesem Nachmittag wieder. Bis zu 500 Menschen haben auf dem Schiff Platz Ihr Mann, Klaus Vogel, der noch auf der Aquarius ist, hat die private Seenotrettung ins Leben gerufen. Drei Monate werden sie nun vor Lampedusa Flüchtlinge von hoher See retten. Wenn sie ein Schlauchboot auf hoher See finden, planen sie, dass "mit zwei stark motorisierten Schlauchbooten beidseitig längsseits von dem havarierten Schiff gegangen werden soll. Auch mit einer Ärztin in dem zweiten Schlauchboot." Um den Leuten Schwimmwesten zu bringen, um die Leute zu beruhigen. Bis zu 500 Menschen können auf der Aquarius Platz finden. Blick in eine Kajüte der MS Aquarius, des Schiffes der privaten Seenotrettung SOS Mediterranee (dpa/picture alliance/Carmen Jaspersen) Nein, einen Widerspruch sieht die 58-Jährige nicht. Wenn zu Hause in Deutschland über Obergrenzen diskutiert werde, dann sei das das Eine. Die konkrete Rettung von Menschen aus Not etwas anderes: "Uns geht es ums konkrete Retten, was danach kommt, ist Sache der Politik und auch Sache der europäischen Bevölkerungen. Da kann sich keiner mehr davor verschließen." Eigentlich navigiert ihr Mann, Klaus Vogel, riesige Containerschiffe für eine Hamburger Reederei über die Meere. Aber dann war er bestürzt, gerührt von der humanitären Not im Mittelmeer. Seit Mai haben sie Spendengeld gesammelt, 270.000 Euro, haben ein Schiff samt Mannschaft gechartert. Das Projekt ist erst mal für drei Monate finanziert. Sie hoffen, dass es noch weitergeht. Eine Konkurrenz zur Küstenwache oder dem Militär wollen sie nicht sein. Eher unterstützend wirken. "Die ganze Rettungsaktion ist mit der Rettungskoordinationsstelle in Rom abgesprochen. Die weisen uns an, wo wir hinmüssen, wo wir die Geretteten dann auch wieder abgeben müssen." Wunsch nach mehr Offenheit und Willen zur Integration Lampedusa ist schon seit Jahren einer der Kristallisationspunkt der europäischen Flüchtlingskrise. Tausende Schiffbrüchige kommen auf der kleinen Insel an, die viel näher an Tunesien, denn am italienischen Festland liegt. Mit dabei in dieser Menschentraube im Hafen von Lampedusa ist auch die Chefin der deutschen Grünen, Simone Peter. Sie unterstützt die SOS Mediterranee seit einer Weile. Wie blickt sie auf die Rettungsversuche vor dem Hintergrund der Debatte in Deutschland - dort, wo der Bundestag gerade erst die Asylregeln verschärft hat? "Die deutsche und europäische Debatte über Asylpolitik erscheint einem zynisch, wenn man sieht, was hier die Herausforderungen sind. Hier geht es darum, das nackte Menschenleben zu retten. Und wir in Deutschland reden darüber, Familiennachzug einzuschränken oder uns abzuschotten im europäischen Kontext. Hier braucht es mehr Hilfe in der Seenotrettung und vor allem sichere Ankunftswege." Auch der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz begleitet die private Rettungsmission schon länger. Er steht im Hafen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. "Vor dem Hintergrund ist es traurig, aber wahr, dass unsere Regierungen es nicht schaffen, dementsprechend zu handeln, genügend Kapazität an die Küste zu bringen." Auch wenn Schiffe im Rahmen der Mission Sophia schon mehrere Tausend Menschen gerettet hätten, blieben Lücken. Karin Vogel von der SOS Mediterranee zieht am Reißverschluss ihrer Wetterjacke, die Tage auf See waren anstrengend. Selbst an der Südspitze Italiens ist es Ende Februar noch kalt. Sie wünscht sich in Europa mehr Offenheit und mehr Willen zur Integration von Flüchtlingen.
Von Nadine Lindner
Lampedusa ist seit Jahren ein hoch frequentierter Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Vor der Küste geraten jedes Jahr viele von ihnen in Seenot. Ein deutsches Ehepaar hat deswegen eine private Seenotrettung ins Leben gerufen. Mit einem gecharterten Schiff retten sie die Flüchtlinge aus ihren Schlauchbooten. Konkurrenz zu Küstenwache und Militär wollen sie nicht sein.
"2016-02-26T05:19:00+01:00"
"2020-01-29T18:15:48.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingsrettung-vor-lampedusa-hier-geht-es-um-das-100.html
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Erste Gespräche über Berg-Karabach geplant
Skulptur in Stepanakert in Berg-Karabach. Die Region ist zwischen Armenien und Aserbaidschan umstritten. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene) Sersch Sarkissjan (Armenien) und Ilham Alijew (Aserbaidschan) trafen sich in Wien. Dazu eingeladen hatten US-Außenminister John Kerry und seine Kollegen aus Russland, Sergej Lawrow, und Frankreich, Jean-Marc Ayrault. Anschließend veröffentlichten Sarkissjan und Alijew eine gemeinsame Erklärung, in der sie Gespräche für Juni ankündigten. Außerdem erklärten sie, dass sie die vereinbarte Waffenruhe einhalten wollten. Es war das erste Gespräch der beiden Präsidenten, seit der Konflikt Anfang April eskaliert war. Dort wurde mehrere Tage lang gekämpft, dabei wurden mindestens 110 Soldaten und Zivilisten beider Seiten getötet. Am 5. April wurde ein Waffenstillstand vereinbart, vermittelt von Russland. Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan streiten seit vielen Jahren um die Region Berg-Karabach. Sie gehörte zu Sowjetzeiten zu Aserbaidschan, wird aber überwiegend von Armeniern bewohnt. Ende der 80er Jahre brachten proarmenische Rebellen das Gebiet unter ihre Kontrolle – mit Unterstützung der armenischen Regierung. In den 90er Jahren erklärte sich die Region für unabhängig. Aserbaidschan erkennt das allerdings nicht an.
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Armenien und Aserbaidschan wollen im Juni über den Konflikt in der Kaukasusregion Berg-Karabach beraten. Die Präsidenten beider Länder haben sich nach eigenen  Angaben außerdem darauf verständigt, die vereinbarte Waffenruhe einzuhalten und den Konflikt friedlich zu lösen. Danach sah es zuvor nicht aus.
"2016-05-17T06:07:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:38.233000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umstrittene-region-erste-gespraeche-ueber-berg-karabach-100.html
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Überforderte Lehrer, unvorsichtige Schüler
Wie funktioniert Internet- und Medienpädagogik in der Schule heute? ( picture alliance / dpa) "Auf Yotube Video gucken; Emails checken, Spiele spielen." "Ich habe kein Smartphone. Wir können uns das nicht leisten. Ich bin ein bisschen neidisch, weil die anderen alle WhatsApp und sowas haben und ich nicht." Theresa und Ivan gehen in die siebte Klasse der Friedensburg Oberschule Berlin. Drei von vier Jugendlichen zwischen 12 und 19 besitzen heute ein eigenes Smartphone. Das ergab die jüngste Jugend-Medien-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. Täglich sind die Jugendlichen demnach fast drei Stunden im Internet. Schulen tun sich oft schwer, über Gefahren aufzuklären und gleichzeitig das kreative Potenzial dieser Werkzeuge zu nutzen, sagt Birgit Kimmel, pädagogische Leiterin des staatlich geförderten Informationsportals klicksafe: "Die Problematik, die wir haben ist, dass Lehrkräfte nicht mit diesen Themen in ihrer Ausbildung konfrontiert werden. Es gibt zwar in vielen Bundesländern viele Fortbildungen dazu, aber trotzdem stellen wir fest, dass sich viele Lehrkräfte hier noch nicht rantrauen." Internet als Schulfach gefordert Doch bis die Lehrerausbildung geändert, junge Lehrer nachgerückt sind, dauert es Jahre. Medienpädagogin Kimmel plädiert daher dafür, dass Lehrer und Eltern eng zusammenarbeiten, die Medien-Erziehung der Kinder als Gemeinschaftsprojekt begreifen: "Wie können wir Elternabende auch so gestalten, dass man sagt: Welche Regeln haben Sie denn zu Hause, was Mediennutzung angeht? Oder Handynutzung? Hier mal andere Perspektiven anhören, mal sehen, was funktioniert in den einen Familien, in den anderen nicht?" Der Chaos Computer Club fordert, Risiken und Chancen des Internets zum Schulfach zu machen. Medien-Pädagogin Kimmel weiß von Schulen, die Facebook zum Unterrichtsfach gemacht haben. Viele Bundesländer lehnen es dagegen ab, dass Lehrer mit ihren Schülern über Facebook kommunizieren, Rheinland-Pfalz hat das gar verboten. Davon hält Medienpädagogin Kimmel nicht viel: "Statt Verbote auszusprechen, müssen wir sagen, dass bestimmte Daten nicht über diese Kanäle laufen sollen. Aber ich bin dagegen, dass diese Kontakte - hier geht es ja um Beziehung und Bindung - völlig untersagt werden." Digitale Medien produktiv nutzen Weil Lehrer oft überfordert sind von digitalen Medien, sind externe Aufklärer sehr gefragt, Internetaufklärer wie Felix Ebner. Der Medienexperte vom öffentlich geförderten Informationsportal Handysektor.de geht an Schulen, klärt etwa darüber auf, welche Daten Smartphone-Apps abgreifen. "Medienkompetenz sind ja immer verschiedene Felder. Was ich mache, ist Gefahrenbewusstsein wecken. Das bedeutet, hingehen, aufklären: Was sind die Gefahren? Wie könnt ihr Euch schützen? Medienkompetenz ist aber auch kompetenter Umgang mit den Medien selber: Wie kann ich sicher im Netz suchen? Wie kann ich die Ergebnisse einordnen? Wie kann ich Medien wirklich anwenden? Das kann ich in der Schule machen." Digitale Medien produktiv nutzen - wie das konkret aussehen kann, erklärt Tina Küchenmeister. Die Lehrerin an der Friedensburg Oberschule bearbeitete mit ihrer Klasse etwa das Thema "Punk in der DDR". "Wir sind für vier Tage auf ein Landheim gefahren, haben einen eigenen Blog erstellt und den haben wir gefüttert mit eigenem Material. Wir haben selber Punk gemacht, mehr als zwei Akkorde waren verboten." Smartphones als Werkzeuge "Wir haben recherchiert, was hieß es in Westberlin Punk zu sein? Was hieß es in Ostberlin Punk zu sein? Wir haben Zeitzeugen interviewt." "Von vielen Seiten haben die Jugendlichen was dazu gelernt. Die haben die Sachen alle selber hochgeladen und bearbeitet, die Telefoninterviews selbst geschnitten, und, und, und." An der Friedensburg Oberschule in Berlin, sagt Lehrerin Küchenmeister, seien Smartphones Werkzeuge. Schüler filmen Experimente im Biologie-Unterricht und schneiden einen Film daraus, nutzen Apps im Musik- oder Matheunterricht. So lernten Schüler wirklich alle Aspekte der digitalen Medien, Gefahren und Risiken. Küchenmeister rät zögernden ihren Kollegen: "Man soll den Schülern auch mal was zutrauen. Man soll die auch mal machen lassen. Man darf auch mal scheitern mit einem Projekt und dann kann man analysieren, wieso das nicht geklappt hat. Also, man muss die Kinder auch mal machen lassen."
Von Philip Banse
Jugendliche surfen täglich fast drei Stunden im Internet, ergab eine Studie. Lehrer hingegen sind nicht selten von digitalen Medien überfordert. Für Schulen ist es deshalb oft schwer, über Risiken und Chancen des Internets aufzuklären.
"2014-02-11T16:58:00+01:00"
"2020-01-31T13:25:48.069000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/medienpaedagogik-ueberforderte-lehrer-unvorsichtige-schueler-100.html
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"Es gibt kein Argument, den Leitzins jetzt anzuheben"
Der US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz ist auch Träger des Wirtschafts-Nobelpreises. (dpa / picture alliance / Orestis Panagiotou) Silke Hahne: Sollte die US-Notenbank Fed heute den Leitzins heben oder nicht? Joseph Stiglitz: Ich bin absolut überzeugt, dass sie den Leitzins auf dem gleichen, niedrigen Niveau belassen sollten wie bisher. Das BIP ist leicht gestiegen. Aber die offizielle Arbeitslosenquote maskiert nur, was wirklich passiert. Die offizielle Arbeitslosenquote steht bei etwas über fünf Prozent. Aber wenn Sie Menschen mit einrechnen, die Teilzeit arbeiten, weil sie keine volle Stelle finden, und Menschen, die aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind – dann kommen Sie auf Zahlen, die doppelt so hoch sind. Und bei den Afro-Amerikanern ist es üblicherweise noch einmal das Doppelte. Fakt ist also: Amerika hat sich noch nicht erholt! Die Fed hat zwei Mandate: Arbeitslosigkeit und Inflation. Wir haben ein hohes Niveau von versteckter Arbeitslosigkeit, einen schwachen Stellenmarkt, die Löhne stagnieren. Das mittlere Einkommen liegt unter dem vor 25 Jahren. Das ist keine Erholung! Gleichzeitig haben wir keine Inflation. Sie liegt unter dem Ziel der Fed. Meine Ansicht – und die der meisten Ökonomen, inklusive des Chef-Ökonomen des IWF – diese Ansicht ist, dass die Zielmarke für die Inflation auch nicht bei zwei, sondern bei vier Prozent liegen sollte. Aber die tatsächliche Inflation liegt unter zwei Prozent. Also gibt es kein Argument, den Leitzins jetzt anzuheben. "Griechenland rutscht weiter in die Depression" Hahne: Am Sonntag wählt Griechenland ein neues Parlament. Welches Ergebnis würden Sie gerne sehen? Stiglitz: Das ist eine schwierige Frage. Denn egal, wie es ausgeht: Griechenland wird tiefer in die Wirtschaftskrise rutschen und diese Krise wird länger dauern. Denn das Programm, das Griechenland auferlegt wurde - und das sie akzeptiert haben - ist ein Krisen-Programm. Es garantiert im Grunde, dass das Land in die Depression rutscht: Egal was es tut und insbesondere wenn es tut, wozu es aufgefordert wird. Hahne: Sie glauben also, dass auch Syriza sich an das Sparprogramm halten wird, sollte die Partei die Wahl gewinnen? Stiglitz: Ja, das glaube ich. Der Grund, warum ich hoffe, dass Tsipras die Wahl gewinnt, ist folgender: Es gibt nur zwei weitere mögliche Ergebnisse. Das erste lautet: Es gibt kein Ergebnis, keiner kann eine Regierung bilden. Und das wäre eine Katstrophe. Die zweite Möglichkeit wäre, dass Nea Dimokratia gewinnt – also die Partei, die Griechenlands Schwierigkeiten erst verursacht hat. Eines der tieferliegenden Probleme in Griechenland sind die Oligarchen, die das Land bisher dominiert haben. Und die Nea Dimokratia ist so eng mit diesen Oligarchen verbunden, dass es eigentlich nicht überraschend ist, dass sie in ihrer Regierungszeit nichts gegen das Problem getan haben – auch nicht in der Zeit unter dem Reformprogramm. Wenn jetzt also diese Partei wieder an die Macht kommt, ändert sich daran nichts. Und dann wird es sehr schwierig für Griechenland, eine starke, robuste und wettbewerbsfähige Wirtschaft zu entwickeln. "Troika sollte reformiert werden" Hahne: Der ehemalige Finanzminister Griechenlands – Yanis Varoufakis – hat einmal gesagt: Griechenland sollte Deutschland den Mittelfinger zeigen. Unabhängig von der Wortwahl – sollte Griechenland das sprichwörtlich tun? Stiglitz: In erster Linie hoffe ich, dass die Troika reformiert wird! Aber wenn das nicht passiert, dann denke ich, dass Griechenland gut beraten wäre, die Euro-Zone zu verlassen. Und viele in Deutschland haben ja ebenfalls gesagt, dass sie das für die angemessene Lösung halten. "Austerität ist ein Todesurteil" Hahne: Die Deutschen Politiker die das gefordert haben, hatten allerdings andere Motive: Sie wollten Deutschland vor einer Transferunion schützen. Warum meinen Sie, dass Griechenland den Euro verlassen sollte? Stiglitz: Dazu zwei Punkte. Erstens: Es wird eine Umstrukturierung der Schulden geben - ob es Deutschland gefällt oder nicht. Der IWF hat das ja auch gesagt - damit blickt man den Tatsachen nur ins Auge.Aus meiner Sicht sollte Griechenland die Eurozone verlassen, weil Austerität ein Todesurteil ist. Mit einem flexiblen Währungskurs und einer Schulden-Umstrukturierung hingegen könnte Griechenland zu Wachstum zurückkehren. Genau wie Argentinien wieder Wachstum verzeichnete, nachdem es seine Schulden umstrukturiert und seinen Wechselkurs angepasst hatte. Griechenland würde seinen Währungskurs ja nur wieder auf das richtige Niveau zurückbringen. Und das wäre ein wichtiger Schritt, um Griechenlands Wohlstand wieder herzustellen. Hahne: Die Schulden Griechenlands wären dann aber immer noch in Euro – Wäre es da nicht viel schwieriger für das Land, sie zurückzuzahlen? Stiglitz: Deswegen müssen die Schulden umstrukturiert werden. Das muss die Eurozone einsehen. Die Gläubiger Griechenlands werden sonst ihr Geld nicht zurückbekommen. Es wäre also wahrscheinlich in ihrem eigenen Interesse, wenn das Reformprogramm der Troika reformiert würde – sodass Griechenland wieder wachsen könnte. Und wenn Griechenland dann wachsen würde, wäre es in der Lage, mehr Schulden zurückzuzahlen. Um auf das Beispiel Argentinien zurückzukommen: Das Land stagnierte und war in einer schrecklichen Situation. Weil es aber nach der Schulden-Umstrukturierung und der Währungsabwertung so gewachsen ist, konnte es doppelt so viele Schulden zurückbezahlen wie ohne dieses gute Wachstum. In der Flüchtlingskrise von den Amerikanern lernen Joseph Stiglitz äußerte sich aber nicht nur zur Austeritätspolitik – auch sonst sei die europäische Wirtschaftspolitik nicht ausgereift. Insbesondere die Bankenunion müsse schneller vorangetrieben werden. Und: Die Eurozone brauche endlich Eurobonds. Die größte Gefahr für die Weltwirtschaft sieht Stiglitz aber in der abkühlenden chinesischen Konjunktur. Die Reformen, die das Land brauche, seien andere als vor der Wirtschafts- und Finanzkrise. Welche, schildert er hier: China ist die größte Gefahr für die Weltwirtschaft. Zur wachsenden Zahl von Flüchtlingen in Europa verwies er auf die seiner Ansicht nach nicht gelungene Integration südamerikanischer Einwanderer in den USA. Um die Menschen gut zu integrieren, müsse Deutschland ihnen vor allem eines bieten: Zugang zu hoch qualitativer Bildung. Europa könne einiges von den USA lernen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Joseph E. Stiglitz im Gespräch mit Silke Hahne
Die US-Notenbank Fed wird heute Abend verkünden, ob sie den Leitzins in den USA anhebt. Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz ist dagegen: Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt leicht steige - die Arbeitslosigkeit in den USA sei in Wirklichkeit deutlich höher als offiziell angegeben, sagte Stiglitz im DLF. Das zeige, dass sich die USA wirtschaftlich noch nicht erholt hätten.
"2015-09-17T17:05:00+02:00"
"2020-01-30T13:00:09.263000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nobelpreistraeger-stiglitz-es-gibt-kein-argument-den-100.html
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Özoğuz: Keine politischen Scharmützel um Familiennachzug
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) (Imago) Christiane Kaess: Wir haben es gehört: Der Familiennachzug beschäftigt weiter die Politik und wird anscheinend wieder ein brisantes Thema bei möglichen Gesprächen zwischen SPD und Union über eine Regierungsbildung. Noch ist es aber nicht soweit, dass SPD und Union schon über eine Regierungsbildung reden. Erst muss ein SPD-Parteitag ab morgen grünes Licht für erste Gespräche geben und dazu muss die Parteiführung die Delegierten von ihrer 180-Grad-Wendung überzeugen, von einem strikten Nein zu einer Großen Koalition hin zu einem "alles ist möglich". Und dann sollen zum Schluss auch noch die Mitglieder entscheiden. Vor wenigen Minuten habe ich mit Aydan Özoğuz gesprochen. Sie ist stellvertretende SPD-Vorsitzende und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Ich wollte zuerst von ihr wissen, was sie Herrn Seehofer beim Thema Familiennachzug entgegenhalten will, wenn es zu Gesprächen mit der Union kommt. Aydan Özoğuz: Ja, Sie sagen es schon: Gespräche haben ja nun noch nicht mal angefangen. Und wir wissen ja noch nicht einmal, ob wir überhaupt miteinander sprechen. Aber ich sage mal, als Integrationsbeauftragte möchte ich hier in jedem Fall einmal deutlich machen, dass es nicht darum geht, etwas wieder einzuführen, sondern eine Ausnahmesituation, die wir ja nun vor zwei Jahren beschlossen haben, wieder in die Normalität zurückzubringen, nämlich dass natürlich bei Flüchtlingen, bei denen wir ja sagen, ja, sie haben ein Recht, hier zu sein, ob jetzt als subsidiär geschützte oder auf anderen Wegen, sei jetzt mal dahingestellt, aber dass diejenigen selbstverständlich dann auch ihre Familien nachholen können, wobei damit immer die Kernfamilie gemeint ist. Das ist mir noch mal wichtig. Manche denken ja, dann darf sozusagen gleich jeder kommen, der irgendwie zu der Familie gehört. Das ist natürlich nicht der Fall. Aber die Kernfamilie, also Ehepartner und Kinder, und das ist selbstverständlich für uns auch geltendes Recht und das werden wir nicht weiter aussetzen wollen. "Keine politischen Scharmützel, wenn Menschen vor Krieg und Verfolgung fliehen" Kaess: Aber, Frau Özoğuz, Sie wissen genauso wie alle anderen Beteiligten an möglichen Gesprächen, dass diese Forderung der CSU ein Kernanliegen für die CSU ist. Das ist ja auch klar geworden in den Jamaika-Gesprächen, dass die CSU davon nicht abrücken wird. Auf der anderen Seite die Position der SPD. Ist das für die Partei eine rote Linie? Özoğuz: Ich spreche nicht von roten Linien, bevor man überhaupt mit Gesprächen begonnen hat. Das ist ja eine Eigenartigkeit der letzten Tage. Aber ich möchte schon noch mal ganz, ganz deutlich machen: Man kann nicht wirklich immer wieder politische Scharmützel daraus ziehen wollen oder führen, wenn es um Menschen geht, die wirklich vor Krieg und Verfolgung fliehen - und das stellen wir ja zunächst einmal fest bei denjenigen, die hier herkommen -, und dann zu sagen, damit wir jetzt noch mal ganz stark auftreten können, werden wir das begrenzen. Es war eine Ausnahmesituation, weil so unglaublich viele Menschen gekommen sind. Darauf spielt Herr Seehofer ja auch an. Das ist wahr. Unsere gesamten Auslandsvertretungen waren völlig überlastet in den Jahren 2015/2016. Da haben wir gesagt, es werden eh nicht mehr Anträge überhaupt bearbeitet werden können. Aber diese Situation haben wir heute nicht mehr. Kaess: Ich möchte noch mal gerne zurück zu diesen roten Linien, von denen Sie sagen, die gibt es gar nicht. Die SPD nennt es essentielle Punkte. Özoğuz: Das habe ich nicht gesagt! Ich möchte nicht, dass man ständig immer weiter rote Linien auffährt, bevor man überhaupt sagt, dass man miteinander reden wird. Kaess: Ja, gut. Im Moment heißt es essentielle Punkte. Aber da würde die Öffentlichkeit doch ganz gerne wissen, wie ernst meint es die SPD damit. Wie verrückbar sind diese essentiellen Punkte beziehungsweise sind es nicht? Özoğuz: Das ist schon ganz geschickt gefragt von Ihnen und ich sage Ihnen, ich bin ja auch Integrationsbeauftragte, und als solche kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass man weiterhin sagt, Familien bleiben auseinandergerissen. Und ich weiß, dass natürlich auch eine absolute Mehrheit meiner Partei diese Position teilt, und das werden wir auch immer sehr klar sagen. "Minderjährige haben beispielsweise keine Chance, noch jemanden zu holen" Kaess: Das heißt, das ist auch ein Punkt, an dem die Gespräche scheitern … Özoğuz: Ob wir überhaupt zu Gesprächen kommen, wissen wir noch nicht. Kaess: Aber an diesem Punkt könnten die Gespräche scheitern, sollte es zu Gesprächen kommen? Özoğuz: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob wir Gespräche führen werden, und ich weiß nicht, ob Herr Seehofer noch ganz andere Punkte finden würde, wenn es zu solchen Gesprächen käme. Da sind so viele Konjunktive drin, dass ich sagen würde, bleiben wir mal einfach bei dem Thema. Das Thema Familiennachzug gibt es wirklich nicht her, daraus nun Koalitionsscharmützel zu betreiben. "Repräsentative Studie spricht von ungefähr 60.000 berechtigten Personen" Kaess: Einmal möchte ich noch nachfragen, und zwar mit Hilfe von Markus Söder. Der hat noch mal darauf hingewiesen, dass sogar die Grünen in den Jamaika-Gesprächen die CSU-Position akzeptiert hätten. Zumindest ist das offenbar seine Interpretation. Ist das vorstellbar für die SPD, ein Kompromiss, der sich ein bisschen angedeutet hat bei den Jamaika-Gesprächen, Kontingente und Einzelfallentscheidungen in Härtefällen, wenn es um das Thema Familiennachzug geht? Özoğuz: Na ja. Es ist ja ohnehin so, dass jeder einzelne Fall ganz genau geprüft wird, ob es überhaupt geht. Faktisch ist es so, dass beispielsweise Minderjährige, die 16, 17 sind, fast gar keine Chance haben, noch jemanden zu holen. Faktisch ist es so, dass wir teilweise ja auch Familien hier haben, die niemanden holen werden. Ich glaube, der wichtige Punkt ist, dass wir zunächst einmal sehr deutlich machen, dass nicht jeder aus seinem Bauchgefühl heraus jetzt irgendwelche Zahlen nennen kann, wie viele sind es denn überhaupt. Wir haben nur eine repräsentative Studie, die spricht von ungefähr 60.000 berechtigten Personen, die überhaupt einen Antrag stellen können. Und wenn solche Zahlen im Raum stehen, braucht man nicht noch weiter über Kontingente sprechen. Kaess: Und von diesen Zahlen gehen Sie aus? Das ist für Sie die Argumentationsgrundlage? Denn es gibt ja verschiedene. Es gibt die, die Sie gerade genannt haben. In der Union kursierte mal die Zahl von 300.000. Die AfD nennt zwei Millionen. Für Sie sind es diese, ich sage jetzt mal, paar zehntausend Menschen? Özoğuz: Ich nehme mal die für mich seriösen Zahlen. Das ist einmal diese repräsentative Studie vom IAB, Institut für Arbeitsmarktforschung. Die haben die 60.000 gesagt. Dann sagt das Bundesinnenministerium, sie gehen ungefähr von 100.000 aus. Gehen wir mal irgendwo in die Zahlen dazwischen. Das ist für mich schon eine Grundlage. Aber das können wir ja auch noch weiter verifizieren. Wir werden da auf jeden Fall keine Eile haben, irgendwelche faulen Kompromisse zu schließen. Kaess: Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann gäbe es schon eine Kompromisslinie, wo die SPD von ihrer eindeutigen Position abrücken könnte, wie Sie das jetzt angedeutet haben mit einer Härtefallregelung? Özoğuz: Nein, das habe ich nicht angedeutet. Ich gehe jetzt gerade von denjenigen aus, die nachzugsberechtigt sind, und ich sage, es sieht ganz danach aus, als ob alle möglichen Zahlen - Ich meine, die AfD-Zahlen braucht man ja nun wirklich nicht zur Grundlage nehmen. Aber die Zahlen, die einfach mal immer wieder irgendwo genannt werden, haben keine Grundlage. Das Bundesinnenministerium nennt eine, das IAB nennt eine, und wenn die Zahlen gar nicht so hoch sind, dann ist ja das, was immer gesagt wird als Argument, wenn Herr Seehofer sagt, es wird wieder eine Situation wie 2016, die ist damit ja wunderbar geregelt. Er kann aufatmen, wir können alle aufatmen und wir können dafür sorgen, dass Familien wieder zusammenkommen und dass auch die Kinder und Ehepartner in Sicherheit sind und nicht mehr in einem Kriegsland leben müssen. "Keinen Automatismus für eine Große Koalition" Kaess: Frau Özoğuz, es wird ja schwer genug werden für die SPD-Spitze, diese 180-Grad-Wende in Bezug auf die Regierungsbildung auf dem Parteitag morgen und dann später eventuell auch noch den Mitgliedern zu verkaufen. Wie wollen Sie denn generell diese essentiellen Punkte, wie es die SPD im Moment nennt, durchsetzen? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie zum Beispiel mit der Union eine Bürgerversicherung auf den Weg bringen können. Özoğuz: Wir werden erst einmal sehr genau ausloten, wo steht die SPD. Es kommt ja im Moment sehr stark auf die Sozialdemokratie an, denn es haben nicht wir verursacht, dass die Jamaika-Koalition geplatzt ist. Da waren die anderen schuld dran, das haben die nicht geschafft. Ob das jetzt CSU, CDU oder die FDP hauptsächlich waren, lasse ich jetzt mal dahingestellt. Aber letztendlich müssen sich alle bewegen, wenn sich etwas verändern soll im Land, und deswegen sagen wir - und ich finde, das tun wir auch zurecht -, wir haben hier keinen Automatismus für eine Große Koalition. Wir haben auch keinen Automatismus, irgendeine Regierung bilden zu müssen. Da müssen sich jetzt alle bewegen und wir müssen das ausloten miteinander auf dem Parteitag. Kaess: Dass es keinen Automatismus gibt, haben wir jetzt schon öfter gehört. Aber heißt das denn auch, diese essentiellen Punkte, wie die SPD sie nennt, sind eigentlich eine Wunschliste, mehr nicht? Özoğuz: Nein, natürlich nicht. Ich meine, alle gehen mit Forderungen ja nun in diesen Tagen hausieren. Das ist auch nicht ganz unnormal, muss man sagen. Aber auch wir zeigen schon deutlich, ja, da sind Punkte, die für uns sehr, sehr wichtig sind. Die sind ja auch nicht ganz neu und auch nicht unbekannt. An manchen Punkten wird es dann immer härter sein, an manchen Punkten weicher, aber das alles sagen wir jetzt vor dem Fakt, wir wissen noch nicht einmal, wer mit wem Gespräche führen wird. Da muss die SPD auf dem Parteitag jetzt sehr klarmachen, was ist ihr der wichtigste Punkt bei der ganzen Situation heute, wie kann sie sich am besten dort auch positionieren, um natürlich auch für Deutschland das beste jetzt zu machen. Denn wir wissen alle, Neuwahlen sind sicherlich nicht der Wunsch der allermeisten in unserem Land, aber es kann auch nicht sein, dass man sagt, na ja, dann wirft man seine Ideen über den Haufen. Das werden wir sicher nicht tun. Kaess: … sagt Aydan Özoğuz, stellvertretende SPD-Vorsitzende und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Danke für das Gespräch heute Morgen. Özoğuz: Ich danke Ihnen auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Aydan Özoğuz im Gespräch mit Christiane Kaess   
Beim Thema Familiennachzug könnte es bei Gesprächen über eine mögliche Regierungsbildung mit der Union und der SPD durchaus schwierig werden, sagte die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoğuz im Dlf. Sie betonte: Es dürfe keine politischen Scharmützel geben, wenn es um Menschen gehe, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssten.
"2017-12-06T06:50:00+01:00"
"2020-01-28T11:03:50.206000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regierungsbildung-oezoguz-keine-politischen-scharmuetzel-um-100.html
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Juncker: So geht man nicht miteinander um
Gefundene Kompromisse spiegeln sich nicht in der neuen Reformliste wider: Juncker reagiert verärgert. (dpa/Julien Warnand) Neue Papiere aus Athen gibt es zwar seit gestern, aber dass die den Verhandlungen neues Leben eingehaucht hätten, lässt sich nicht behaupten. Im Gegenteil: Die griechische Reformliste scheint dafür zu sorgen, den Geldgebern die Laune zu verderben.EU-Kommissions-Chef Jean-Claude Juncker soll, wie der ARD-Hörfunk aus EU-Kreisen erfuhr, in einer internen Sitzung richtig sauer geworden sein: "So geht man innerhalb der EU nicht miteinander um", schimpfte der Luxemburger dem Vernehmen nach. Und der gilt eher noch als Fürsprecher der Griechen. Neues Krisentreffen am Rande des Lateinamerika-EU-Gipfels Geplant ist für heute Abend ein erneutes Dreier-Krisentreffen zum Schulden-Drama. Mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sowie der französische Staatspräsident Hollande und Griechenlands Regierungschef Tsipras als Teilnehmenden.Doch auch das hing gestern Abend in der Schwebe. Medien zitierten EU-Offizielle mit den Worten: Wenn es keine Bewegung gebe, gebe es auch kein Treffen. Das kann aber auch ein Manöver sein, den Druck auf Athen zu erhöhen.Die Forderungen der Gläubiger unterscheiden sich weiterhin deutlich von denen der Griechen: Einschnitte bei den Renten und auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer lehnt Athen als unzumutbar ab. Selbst in Punkten, bei denen man sich zuletzt angenähert hatte, lässt das neue griechische Papier nach Angaben aus EU-Kreisen wenig Entgegenkommen erkennen.
Von Kai Küstner
Auch wenn die Griechen neue Reformvorschläge vorgelegt haben - Brüssel ist alles andere als zufrieden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker soll sogar richtig sauer darauf reagiert haben. Die Forderungen der Gläubiger unterscheiden sich weiterhin deutlich von denen der Griechen.
"2015-06-10T05:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:41:20.427000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechische-reformliste-juncker-so-geht-man-nicht-100.html
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Bafin verbietet Wetten gegen Wirecard-Aktie
Wirecard könnte Opfer gezielter Marktmanipulation durch Medienberichte sein (Sven Hoppe / dpa) Die Finanzdienstleistungsaufsicht geht von einer ernstzunehmenden Bedrohung aus; einer Bedrohung, die durch die jüngsten Kursschwankungen der Wirecard-Aktien an der Börse für das Marktvertrauen entstanden ist. "Anlass für unser Verbot sind die Entwicklungen seit Ende Januar. Seitdem haben wir wiederholt negative Presseberichte gesehen und entsprechend starke Kursbewegungen beobachtet. Wir haben darüber hinaus einen deutlichen Anstieg der Netto-Leerverkaufs-Positionen in Aktien der Gesellschaft identifiziert. Und diese hat sich in den letzten Tagen auch noch einmal verstärkt. Vor diesen Hintergrund haben wir uns für das Verbot als Marktschützende Maßnahme entschieden". Sagt Anjan Schuchhardt, eine Sprecherin der Aufsichtsbehörde Bafin. Die Finanzaufseher hegen den Verdacht, dass Wirecard Opfer von Short-Attacken sein könnte. Damit sind Wetten auf fallende Kurse gemeint, die man durch so genannte Leerverkäufe eingehen kann. Bei denen leiht sich ein Investor gegen eine Gebühr Aktien von einem anderen Aktienbesitzer für einen bestimmten Zeitraum. Zu Beginn dieses Zeitraums verkauft er die Aktien zum Marktpreis. Fällt der Kurs, kann er sie sich billiger zurückkaufen – und hat damit Profit gemacht. Der Ausgang der Untersuchung der Bafin auf mögliche Marktmanipulationen steht durch das nun erlassene Verbot von Leerverkäufen von Wirecard-Aktien aber noch nicht fest, unterstreicht die Bafin. Schon in der Vergangenheit Opfer von Spekulanten "Unsere Marktmanipulationsuntersuchung läuft nach wie vor. Gegenstand der noch laufenden Untersuchung ist es ja gerade, herauszufinden, ob es Anhaltspunkte für eine mögliche Marktmanipulation in Aktien der Wirecard gab". Es ist nicht das erste Mal, dass Wirecard Opfer von Spekulanten ist. So hatte beispielsweise vor gut zehn Jahren der Chef der Schutzgemeinschaft für Kapitalanleger den Verdacht auf Unregelmäßigkeiten bei Wirecard geäußert. Pikanterweise stellte sich im Nachhinein heraus, dass er selbst auf einen fallenden Kurs des Unternehmens gewettet hatte. Deswegen wurde er wegen Markmanipulation verurteilt. Warum ist gerade Wirecard immer wieder von solchen Spekulationen betroffen? Klaus Nieding, Aktionärsschützer der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. "Die Frage muss man sich in der Tat stellen, warum bei Wirecard? Das kann natürlich daran liegen, dass von außen das ein oder andere undurchschaubar erscheint, nicht ganz so transparent ist wie das bei anderen Aktiengesellschaften der Fall ist. Es kann aber auch sein, dass das Management, ich sage mal: zumindest im kommunikativen Bereich entsprechenden Nachholbedarf hat – und man diese Schwäche entsprechend ausnutzt". Bisher keine Spur von strafbarem Verhalten Auch 2016 wurde Wirecard attackiert. Da erschien ein langer Report eines Analystenhauses namens "Zatarra". Darin ging es um angebliche kriminelle Machenschaften bei Wirecard. Auch in diesem Fall stürzte der Kurs ab. Gegen den Herausgeber des Reports, den Briten Fraser Perring, hat die Staatsanwaltschaft in München mittlerweile Strafbefehl erlassen. Dass Wirecard oft das Ziel von Marktmanipulation ist, mag auch mit der Geschichte des Zahlungsdienstleisters zusammen hängen. Denn die ersten Geschäfte machte Wirecard in der Abwicklung der Bezahlung von Schmuddelseiten im Internet – etwa von Porno-Seiten oder Glücksspiel-Angeboten. Wirecard will nun jedenfalls rechtlich gegen die Berichterstattung der Financial Times vorgehen. Inhaltlich hat das Unternehmen zwar bestätigt, dass es eine Untersuchung zu Vorwürfen in Singapur gebe. Bislang habe aber weder die Konzernführung, noch eine extern engagierte Anwaltskanzlei Hinweise auf strafbares Fehlverhalten von Mitarbeitern des Unternehmens in Singapur gefunden. Die Untersuchung stehe kurz vor Abschluss. Für Anleger ist das aber kein Trost: Seit den neuen Gerüchten und Berichten seit Ende Januar hat die Wirecard-Aktie rund 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt.
Von Mischa Ehrhardt
Die Finanzaufsicht Bafin hat Spekulationen auf fallende Wirecard-Aktien verboten. Sie vermutet eine gezielte Attacke von Spekulanten, nachdem Betrugsvorwürfe in der "Financial Times" den Aktienkurs einstürzen ließen. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den Verfasser der Berichte.
"2019-02-18T13:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:24.449000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/boerse-bafin-verbietet-wetten-gegen-wirecard-aktie-100.html
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Der eskalierte Streit zwischen Magnus Carlsen und Hans Niemann
Hat er betrogen? Der US-Amerikaner Hans Niemann muss sich einiges an Vorwürfen gefallen lassen. (dpa / picture alliance / Bill Greenblatt) Während die Schachwelt noch immer darüber rätselt, ob und wie Hans Niemann betrogen hat, tritt Niemann selbst in dieser Woche bei den US-Meisterschaften an. Nach seinem Sieg in der ersten Runde gab der US-Amerikaner ein kurzes, aber deutliches Statement ab: "Das Spiel ist eine Botschaft. Ich habe gesagt, dass Schach für sich selbst spricht. Diese Partie hat den Schachspieler gezeigt, der ich bin und dass ich nicht nachgebe. Das ist alles, was ich über diese Partie zu sagen habe." Betrugsvorwürfe im Schach Neue Phase der Verdächtigungen Betrugsvorwürfe im Schach Neue Phase der Verdächtigungen Magnus Carlsen ist für große Schach-Schlagzeilen zuständig: Er will seinen Titel nicht verteidigen und nun gibt es einen großen Zwist mit einem US-amerikanischen Kontrahenten. Hans Niemann hat Betrug bei Online-Spielen in der Vergangenheit zugegeben. Carlsen suggeriert, er habe wieder betrogen. Betrug per KI Wozu braucht es Menschen im Schach? Die jüngsten Betrugsvorwürfe im Schach werfen jetzt Fragen auf, die zwar nicht neu sind, aber im Zeitalter der KI-getriebenen Schachprogramme immer mehr an Brisanz gewinnen. Wäre es nicht sinnvoller, Computer machen es gleich unter sich aus? Der Bericht von chess.com legt sich klar fest Sein Sieg in der ersten Partie: Für den selbstbewussten und umstrittenen Amerikaner ein klares Signal, dass er nicht betrogen hat und betrügt. Schließlich wurde er vor der Partie penibel untersucht und durchleuchtet und stand während der Partie unter maximaler Beobachtung. Die US-Meisterschaften laufen seit einer Woche. Niemann hat mehrere Partien verloren und so rätseln alle weiter: Spricht das nun für oder gegen die Betrugsvorwürfe? Die bekannteste Schachhomepage der Welt, chess.com, hat sich in einem Bericht klar festgelegt. Auf 72 Seiten wird Niemann vorgeworfen, dass er bis zum Jahr 2020 in über 100 Online-Partien auf der Seite betrogen haben soll. "Die arbeiten mit sehr vielen Daten, da sind sehr viele Personen involviert. Dass Niemann auf chess.com betrogen hat, steht für mich zweifelsfrei fest und zwar genau in dem Maße, wie es im Bericht erwähnt wird", sagt Georgios Souleidis aka "The Big Greek", der als Schach-Youtuber über 100.000 Abonnenten hat. WM-Hype„Schach als Beruf in Deutschland gilt als total abwegig“ 05:09 Minuten04.12.2021 Niemanns steiler Aufstieg werfen Fragen auf Chess.com wirft Niemann vor, auch in Turnieren mit Preisgeld betrogen zu haben. Sein steiler Aufstieg in den vergangenen zwei Jahren sei einzigartig und seine Leistungsexplosion sei für sein Alter ausgesprochen spät gekommen. Der Sieg gegen Carlsen Anfang September, der den ganzen Skandal auslöste, war aber keine Onlinepartie. Sondern ein sogenanntes OTB, also Over the Board-Spiel. Carlsen und Niemann saßen sich in einem Raum Gesicht zu Gesicht gegenüber. Dazu heißt es in dem Bericht von chess.com: „Es fehlt unserer Ansicht nach an konkreten statistischen Beweisen, dass Hans Niemann in seiner Partie mit Magnus oder in anderen Over the Board-Partien betrogen hat.“ Niemann hatte Carlsen in der Partie Anfang September beim Sinquefield Cup mit den schwarzen Figuren überspielt. Carlsen selbst schrieb in einem Statement, dass Niemann bei der Partie für ihn unkonzentriert gewirkt habe und nur eine Handvoll Spieler ihn mit den schwarzen Figuren so schlagen könnten. Das Spiel hätte ihn deshalb in seinem Glauben bestärkt, dass Hans Niemann häufiger betrogen hätte als zugegeben. Öffentlich bekannt hat sich Niemann nur zu zwei Betrugsvorfällen bei Onlinespielen als Jugendlicher. SchachDie Computer haben die Nase vorn 06:33 Minuten26.12.2021 Hinweise über Analkugeln? Offen bleibt, wie ein Spieler in einer klassischen OTB-Partie am Brett betrügen soll. Im Netz kursierten sogar Gerüchte, Niemann habe mithilfe von Analkugeln Hinweise bekommen. Schach-Streamer Georgios Souleidis nimmt diese Gerüchte nicht ernst. "In diesem Zusammenhang wird viel spekuliert über Minigeräte, die nicht erkannt werden. Ein Komplize übermittelt irgendwie die Züge, aber ich bezweifle, dass sowas unerkannt durchführbar ist." Für Souleidis steht fest: "Ob Niemann beim Präsenzschach betrogen hat, kann man seriös nicht beurteilen." Trotzdem wird fleißig diskutiert und vermutet. Selten hatte Schach so viel Aufmerksamkeit wie zuletzt. Schach-Insider verweisen auf zwei Partien, die Carlsen und Niemann im August, also kurz vor der ominösen Partie beim Sinquefield Cup, an einem Strand spielten. Dort schlug Carlsen Niemann nach wenigen Zügen zweimal vernichtend. Wenn Niemann dort, ohne Cheating, an einem Strand, so unterlegen gewesen sei, hätte er Carlsen kurz danach nicht schlagen können, ist die Lesart. Ende September gab Carlsen eine Partie gegen Niemann nach nur einem Zug auf. In einem Interview kurz danach auf der Schach-Seite "Chess24" sagte er mehrdeutig: "Ich kann nicht im Detail darüber sprechen. Aber die Leute können ihre eigenen Rückschlüsse ziehen und haben das schon getan." Viele andere Großmeister unterstützen Carlsen Viele andere Großmeister unterstützen Weltmeister Carlsen inzwischen und zweifeln an Niemanns Unschuld. Wichtig ist aber auch: Chess.com, also die Seite, die Niemann in ihrem Bericht vielfachen Online-Betrug vorwirft, steht gerade in Verhandlungen mit Carlsens Play Magnus-Firmengruppe, um diese zu übernehmen. Wie unabhängig die Seite da noch ist, zweifeln manche an, auch wenn beide Seiten behaupten, sich bei ihren Untersuchungen gegen Niemann nicht abgesprochen zu haben. Eine Kommission vom Weltschachverband FIDE soll die Vorfälle nun in den kommenden Wochen aufklären. Mit Klaus Deventer kommt eines der drei Mitglieder der Kommission vom Deutschen Schachbund. Deren Sportdirektor Kevin Högy erklärt, warum Betrug im Schach so ein großes Problem ist. "Das ist ein noch größeres Problem als in anderen Sportarten, etwa Epo im Radsport. Da hole ich mit Doping die letzten drei, vier Prozent raus. Aber im Schach kann jemand, der gar keine Ahnung hat, mit Hilfe der besten Computerzüge problemlos den Weltmeister schlagen." Der Schachsport profitiert von dem Skandal Deshalb steht für Schach-Streamer Georgios Souleidis aka „The Big Greek“ auch fest: Der Skandal um Magnus Carlsen und Hans Niemann schadet dem Schachsport trotz aller negativen Schlagzeilen nicht: "Im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit wird auf ein dringendes Problem gelenkt. So müssen der Schachverband FIDE und die Turnierorganisatoren deutlich mehr gegen Betrug unternehmen, so wird das saubere Spiel gefördert. In diesem Zusammenhang hatte Carlsens Verhalten einen positiven Effekt."
Von Niklas Schenk
Für viele ist es der größte Schachskandal aller Zeiten: Weltmeister Magnus Carlsen bezichtigt den US-Amerikaner Hans Niemann des Betrugs. Eine Studie von chess.com scheint Carlsen recht zu geben. Trotzdem sind noch immer viele Fragen offen.
"2022-10-16T19:10:00+02:00"
"2022-10-16T16:16:19.884000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/magnus-carlsen-hans-niemann-schach-100.html
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USA erlauben erstmals Verkauf von Hühnchen aus Zellkulturen
In Deutschland wird es die Produkte in absehbarer Zeit nicht auf den Teller geben - die Hersteller des Fleisches haben keinen Zulassungsantrag gestellt. (imago / ingimage / via imago-images.de)
Wildermuth, Volkart
Die USA haben die ersten zwei Hähnchen-Produkte zugelassen, die im Labor aus Zellkultur entstanden sind. Kultiviertes Fleisch wirbt mit Vorteilen bei Tierwohl und Umwelt. Für die Umwelt sind diese allerdings noch nicht belegt.
"2023-06-26T16:36:22+02:00"
"2023-06-26T17:24:13.044000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/huehnchen-aus-zellkulturen-usa-erlauben-erstmals-verkauf-von-laborfleisch-dlf-2247a1a2-100.html
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Gesetzesverstöße eher verhindern
Bei Volkswagen will man künftig mehr auf die Einhaltung von Gesetzen achten. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte) Die Empörung ist groß über die Manipulationen von Volkswagen, das haben die Kongressabgeordneten in Washington den USA-Chef des weltgrößten Autobauers, Michael Horn, deutlich spüren lassen. Auch wenn der sich einsichtig zeigte, den Abgeordneten versicherte, er habe nichts von der Betrugssoftware gewusst bis Anfang September. Und er habe nicht geglaubt, dass so etwas im Volkswagen Konzern möglich sei:´"I did not think that something like this was possible at the Volkswagen Group." In einem Großunternehmen müsse eigentlich viel mehr Transparenz herrschen, meint Jürgen Pieper, Autoexperte des Bankhauses Metzler: "Dass hier ein solches Ding über so viel Jahre gelaufen ist, ohne dass es zumindest mal einige entscheidende Personen gewusst haben, das mag man sich nicht so richtig vorstellen." Mehr Acht auf Verhinderung von Gesetzesverstößen Horn kündigte gestern unter anderem an, man werde sich künftig stärker um die "Compliance" kümmern, also die Verhinderung von Gesetzesverstößen. So wolle man sicherstellen, dass so etwas nie wieder vorkommen könne: "We will examine our compliance processes and standards at Volkswagen and adopt measures to make certain that something like this cannot never happen again." Nach Informationen des Rechercheverbunds von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR soll dazu ein neues Vorstandsressort geschaffen werden und womöglich innerhalb der nächsten zwei bis drei Wochen besetzt werden könnte. Das bestätigt der Wolfsburger Konzern zwar nicht. Aber es wäre vor allem für einen so großen Konzern wie VW eine richtige Entscheidung, glaubt auch Autoexperte Pieper: "Gerade bei einem so Riesenkonzern kommt das definitiv einfach ein paar Jahre zu spät. Aber ich meine, es ist gut, dass es jetzt passiert. Und ich glaube auch, das ist das Entscheidende. Irgendwann bringt einen ein Rückblick auch nicht mehr weiter, sondern man soll nach vorne schauen, und dann ist es ja auch einfach essentiell wichtig, dass Volkswagen jetzt einen neuen Kurs beschreitet und dass sich verschiedene Dinge auch einfach ändern. Und das ist eines davon. Und ich glaube mit Sicherheit, dass das kommen wird." Finanzielle Folgen des Skandals unabsehbar Auch der Münchner Siemens-Konzern hatte während des Schmiergeldskandals vor einigen Jahren einen Rechtsvorstand berufen, der ein Regelwerk für gesetzestreues Verhalten im Unternehmen aufbaute. Bei einem Rechtsvorstand allein sollte man es aber nicht belassen, mahnt der Analyst und rät zu einer größeren Diversität im Management: "Ich glaube, dass es auch gerade nach einem solchen Vorfall angesagt ist, dass dieses hundertprozentige Ingenieursunternehmen eben auch andere Einflüsse in Zukunft haben wird, dass eben sicherlich Wirtschaftler, Juristen, hier und da auch einmal ein Geisteswissenschaftler, der sich einfach mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, dass die hier einfach mehr Einfluss haben und dass es nicht einfach ein "inner circle" von Personen ist, die zwar sehr fähig sind, aber sich nicht ausschließlich ihr Kopf nur ausschließlich um technische Fragen und Lösungen dreht. Das ist sicherlich einer der Gründe, glaube ich, die da zu dieser Misere geführt haben." Diese Misere will der Vorstand zunächst mit technischen Mitteln beheben. Doch auch die finanziellen Schäden scheinen immer größere Ausmaße anzunehmen: Heute wurde bekannt, dass der amerikanische Bundesstaat Texas die Landesgesellschaften von Audi und VW verklagen will wegen des Verstoßes gegen Verbraucherschutz- und Umweltgesetze. Die möglichen finanziellen Schäden schätzen Beobachter bisher auf zwischen 20 und 50 Milliarden Euro. Dass diese noch höhere Ausmaße annehmen, kann man wohl nicht mehr ausschließen.
Von Brigitte Scholtes
Die Folgen für Volkswagen nach den Manipulationen von Abgaswerten sind noch unklar. Der Konzern will aber nach eigenem Bekunden Ähnliches in Zukunft verhindern. Mehr "Compliance" wird gefordert. Zu Deutsch: Künftig will man stärker darauf achten, dass Gesetze und Richtlinien eingehalten werden.
"2015-10-09T17:05:00+02:00"
"2020-01-30T13:03:37.451000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vw-abgasskandal-gesetzesverstoesse-eher-verhindern-100.html
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Missbrauchs-Vorwürfe erschüttern Westminster
Das britische Unterhaus in London: Hier soll eine Liste kursieren, auf denen die Verfehlungen von Politikern aufgelistet sind. (AFP/Daniel Leal-Olivas ) Der Vorfall, der Michael Fallon jetzt einholt, liegt 15 Jahre zurück. Beim Mittagessen während eines Parteitages tätschelte er wiederholt das Knie einer neben ihm sitzenden BBC-Journalistin. Sie war es auch, die den Fall jetzt öffentlich machte, ohne aber den Namen des Politikers zu nennen. Das tat der britische Verteidigungsminister vor zwei Tagen selbst – und zog nun die Konsequenzen. "Ich habe die Standards der britischen Streitkräfte verletzt. Ich trete deswegen als Verteidigungsminister zurück." Julia Hartley-Brewer, das betroffene Opfer, äußerte sich in einem Tweet überrascht von dem Rücktritt. Ihr Knie könne nicht der wahre Grund für den Rücktritt sei. Sie habe den Vorfall längst abgehakt und trage Fallon nichts nach. Und dann bezeichnete sie selbst die derzeitige Serie von Anschuldigungen als "Hexenjagd". Die Zeitung "Daily Mail" behauptet dagegen, gegen Fallon lägen noch weitere Vorwürfe vor. "Was früher akzeptiert wurde, ist eindeutig heute nicht mehr akzeptabel", räumte Verteidigungsminister Fallon ein. "Wir müssen unser Verhalten verbessern und unsere Mitarbeiter vor Übergriffen schützen." Rücktrittsforderungen an stellvertretenden Premierminister Green Westminster wird seit Tagen von einer ganzen Serie von Sex-Vorwürfen erschüttert. Selbst der stellvertretende Premierminister Damian Green wird bezichtigt, eine 30 Jahre jüngere Frau belästigt zu haben. Er weist den Vorwurf aber zurück. Dennoch gibt es schon Rücktrittsforderungen an ihn. Mark Garnier, Staatssekretär im Handelsministerium, musste zugeben, eine junge Mitarbeiterin beauftragt zu haben, Sex-Spielzeug einzukaufen. Das sei ein Scherz gewesen, verteidigte er sich. Auch die Opposition ist von den Vorwürfen betroffen. Eine 25 Jahre alte Frau wurde nach eigenen Angaben sogar von einem Labour-Politiker vor sechs Jahren vergewaltigt. "Ich wurde sexuell missbraucht. Es war kein Abgeordneter, aber ein Vorgesetzter von mir bei Labour. Zwei Jahre später fand ich endlich den Mut, mich zu beschweren. Aber man sagte mir bei Labour, wenn ich das öffentlich mache, würde mir das Schaden." Liste von Verfehlungen kursiert in Westminister Premierministerin Theresa May hatte schon vor dem Rücktritt ihres Verteidigungsministers Michael Fallon dafür plädiert, Mediatoren zu benennen, an die sich betroffene Opfer sexueller Übergriffe im Parlament oder in der Regierung wenden können. "Ich habe alle Parteivorsitzenden für Anfang nächste Woche eingeladen, ein entsprechendes Verfahren zu entwickeln. Wir haben die Pflicht, alle, die sich hier in den Dienst der Allgemeinheit stellen, mit Respekt zu behandeln." In Westminster in London kursiert eine Liste, auf denen die Verfehlungen von Politikern aufgelistet sein sollen. Nach Fallons Amtsverzicht drohen jetzt noch weitere Rücktritte zu folgen.
Von Friedbert Meurer
Der britische Verteidigungsminister Michael Fallon zog jetzt die Konsequenzen aus einem Vorfall, der bereits 15 Jahre zurück liegt - und trat zurück. Es könnte nicht der letzte Politiker gewesen sein: Im britischen Unterhaus soll eine Liste mit den Verfehlungen aller britischen Politiker kursieren.
"2017-11-02T05:13:00+01:00"
"2020-01-28T10:59:11.719000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-missbrauchs-vorwuerfe-erschuettern-100.html
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Mysteriöses Ende der Bronzezeit
Ausstellung "Blutiges Gold - Macht und Gewalt in der Bronzezeit" im Museumsgebäude des Archäologischen Freilichtmuseums Groß Raden (Mecklenburg-Vorpommern) (dpa / Jens Büttner) Nur das Reich der Ägypter überlebte und Inschriften der Pharaonen berichten, dass Überfälle obskurer "Seevölker" das nahezu weltumspannende Desaster ausgelöst hätten. Moderne Forscher stehen jedoch vor einem Rätsel: Sie können die Aggressoren nirgendwo dingfest machen. Hat es sie wirklich gegeben? Weitere Themen: Kommunismus und GewaltExpertentreffen in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, 6.11.2017 Mensch und Tier. Ein besonderes VerhältnisAusstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, vom 3.11.2017 - 4.3.2018 Sprache und KolonialismusSüdpazifische Sprachen haben viele deutsche Worte übernommen Am Mikrofon: Carsten Schroeder
Von Matthias Hennies
In einer dramatischen Epochenwende um 1200 vor Christus brachen fast alle hoch entwickelten Reiche des Mittelmeerraums auf einen Schlag zusammen. Es war das Ende der Bronzezeit - und eine jahrhundertelange Phase kulturellen Niedergangs folgte.
"2017-11-09T20:10:00+01:00"
"2020-01-28T11:00:03.878000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/epochenwende-vor-drei-jahrtausenden-mysterioeses-ende-der-100.html
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Kritik an EU-Hilfe für Türkei
Der Außenminister der Türkei Mevluet Cavusoglu bei einem Besuch in der Villa Borsig im März 2018 in Berlin (imago / Florian Gärtner) Es ist eine Menge Geld, das die EU seit 2007 im Rahmen des Beitrittsprozesses an die Türkei gezahlt hat: rund neun Milliarden Euro. Aber wie sinnvoll wird das Geld dort eingesetzt? Dennis Wernerus vom Europäischen Rechnungshof hat Zweifel. "Auf Basis von diesen zehn Jahren, können wir feststellen, dass vor allem die türkischen Behörden, ihre Verwaltung keine Fortschritte gemacht haben. Dass Verzögerungen passiert sind. Das ist vor allem der Fall im Bereich des Rechtsstaates. Wo systematisch Projekte, die zu tun haben mit Justiz, mit Menschenrechten, mit Pressefreiheit, entweder verhindert werden oder nicht richtig durchgeführt." Wenig positive Ergebnisse in Sachen Pressefreiheit Der Europäische Rechnungshof hat nun einen Bericht über die Gelder vorgelegt, die der Türkei helfen sollen, sich an EU-Standards anzugleichen. Vor allem bei den Projekten zur Pressefreiheit, sieht der Rechnungshof die Ergebnisse langfristig gefährdet. Die Türkei hat sogar einen Index zur Pressefreiheit zurückgewiesen, den die Kommission einführen wollte. Der sei nicht vernünftig. Gleichzeitig berichten Beobachter von systematischen Attacken gegen Medienvertreter, vor allem seit dem Putschversuch im Sommer 2016. Ska Keller: "Wir machen uns erpressbar gegenüber Erdogan" Im Parlament zeigt man sich heute wenig überrascht über den Bericht. Die Grünen Abgeordnete Ska Keller sieht die Kommission in der Pflicht und meint: "Dass zu laute Kritik, sicherlich nicht getan wird auch wegen dem EU-Türkei-Deal. Und der Angst, dass Erdogan den irgendwann aufkündigt, aber somit machen wir uns aber erpressbar gegenüber Erdogan selbst." Die Türkei spielt für die EU eine zentrale Rolle, um Migration in die EU einzudämmen. "Wir brauchen dringend eine klare Linie der Kommission aber auch der Mitgliedsstaaten gegenüber der Türkei, denn die Menschenrechtssituation in der Türkei ist katastrophal, deswegen sollten wir die Hebel nutzen, die wir noch haben." EU-Komission erwägt Sanktionen Die Gelder komplett auszusetzen, das geht nicht so lange die Türkei ein Beitrittskandidat der EU ist. Aber einzelne Projekte, die nicht funktionieren, können sanktioniert werden. Zum Beispiel könnte die Kommission Projekte nicht mehr von türkischen Behörden durchführen lassen. Der außenpolitische Sprecher der Sozialdemokraten im Europaparlament, Kurt Fleckenstein findet, man solle das Geld lieber für Begegnungsprojekte einsetzen. "Ein Land, das so offensichtlich kein Interesse mehr an einem Beitritt zur EU hat, muss auch keine Beitrittsgelder mehr erhalten." In Deutschland wird immer wieder über die sogenannte Heranführungshilfe debattiert. Die Kommission hat jetzt alle Empfehlungen des Rechnungshofs akzeptiert. Sie will offenbar gezielt daran arbeiten, dass die Gelder an den richtigen Stellen ankommen - und dafür zur Not auch Sanktionen nutzen.
Von Pia Rauschenberger
Rund neun Milliarden Euro hat die EU seit 2007 im Rahmen des Beitrittsprozesses an die Türkei gezahlt. In vielen Bereichen wurden die daran geknüpften Erwartungen laut dem Europäischen Rechnungshof allerdings nicht erfüllt. Einzelne Projekte, die nicht funktionieren, könnten sanktioniert werden.
"2018-03-14T12:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:20.027000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeischer-rechnungshof-kritik-an-eu-hilfe-fuer-tuerkei-100.html
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Das Internet als Sündenbock
Die Angst vor Fake News wächst angesichts der Bundestagswahl im Herbst. (imago / Christian Ohde) "Es gibt eine Studie im Kontext der dritten Fernsehdiskussion zwischen Clinton und Trump. Und die hat gezeigt, dass ein Drittel aller Kommunikation auf Twitter für Trump wahrscheinlich von Bots erzeugt wird. Und bei Clinton sind es auch über 20 Prozent." Professor Jürgen Pfeffer, Informatiker und Spezialist für Soziale Medien an der Hochschule für Politik in München: "Weil es sehr einfach ist Bots herzustellen oder Fake News und insofern die eigene Nachricht zu verstärken, liegt die Vermutung nahe, dass beides extrem zunimmt." Computerprogramme beteiligen sich an der politischen Meinungsmache Dr. Jonas Kaiser, Kommunikationswissenschaftler am Humboldt Institut in Berlin und in Harvard: "Das Gefahrenpotenzial von Fake News ist heute schon erheblich, auch wenn sich noch keine demokratierelevanten Auswirkungen gezeigt haben. Eine unwahre Meldung zum Gegenstand einer Wahlentscheidung zu machen, ist aus Sicht der Demokratie eine Katastrophe." Prof. Rolf Schwartmann, Leiter der Forschungsstelle für Medienrecht an der Technischen Hochschule in Köln. Social Bots manipulieren Meinungen. Sie schüren Streit in Diskussionsforen. Fake-News, also absichtlich falsch gestreute Nachrichten entscheiden Wahlen. Spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps werden Befürchtungen laut, dass Computerprogramme sich zunehmend an der politischen Meinungsmache beteiligen. Wie solche Meinungs-Roboter funktionieren, erläutert Jürgen Pfeffer: "Generell ist die Funktion eines social bots, menschliches Verhalten zu imitieren. Das heißt alles, was Sie mit dem Computer zum Beispiel auf sozialen Medien machen können, das können auch social bots machen. Mit dem Vorteil, dass sie es natürlich rund um die Uhr machen können und dass sie es tausendfach machen können." Bots reagieren automatisch auf bestimmte Schlüsselwörter Auf Facebook oder Twitter legen sich solche Bots ein menschlich wirkendes Profil zu. Sie versenden Botschaften, folgen anderen Nutzern der sozialen Medien. "Wenn zum Beispiel eine Facebook-Meldung, eine Twitter-Nachricht mit einem bestimmten Wort fällt, dann warten die Bots darauf und setzen eine automatisierte Antwort. Das heißt, sie liken etwas oder auf Twitter, sie retweeten eine Information. Das geht relativ automatisiert. Eine geringere Anzahl versucht tatsächlich in Interaktionen einzusteigen, allerdings wird hier auf von Menschen vorgefertigte Informationen zurück gegriffen. Anders gesagt: Die Programme reagieren zum Beispiel bei Twitter automatisch auf bestimmte Schlüsselwörter wie "Trump" oder "Ukraine" oder "Flüchtlinge", indem sie diese Tweets weiter verbreiten. Oder auch - wie ein menschlicher Nutzer –kommentieren. Bots können jede noch so hirnrissige Verschwörungstheorie kopieren und verbreiten und so verzerrte Meinungsbilder entstehen lassen. Und sie können noch mehr: "Es wurde in den letzten Jahren immer wieder darüber berichtet, dass Politiker sich Follower gekauft haben, die dann die eigenen Nachrichten teilen und auch liken. Was somit die eigenen Nachrichten scheinbar populärer macht, als sie de facto sind." Jonas Kaiser über die Arbeitsweise der künstlichen Meinungsmacher: "Andererseits werden Bots aber nicht nur zur Verbreitung der eigenen Nachrichten genutzt, sondern auch dazu, um Gegner kritisch darzustellen, um Hashtags zu überladen oder ein disruptives Element reinzubringen, indem man zum Beispiel vollkommen störenden Spam in einen Hashtag reinsetzt, sodass die Debatte nicht mehr möglich ist auf Twitter. Passt die Meldung ins Profil des Users? Die absurdesten Nachrichten können sich in Windeseile verbreiten. Zum Beispiel: "Flüchtlinge schlachten Schwäne" oder "Hillary Clinton betreibt mit anderen Demokraten einen Kinderpornoring". Oder auch "Flüchtling starb nach tagelangem Warten vor dem Berliner Lageso". Wie schnell eine Meldung bei Facebook kommuniziert wird, hängt nicht von ihrem Wahrheitsgehalt ab, sondern davon, wie oft sie von Menschen geteilt wird und ob eine Nachricht in das jeweilige Profil des Users passt. "Facebook hat ja bekanntlich seine journalistischen Menschen aus den Redaktionsstuben entfernt. Das heißt, die Nachrichten, die jetzt unter Facebook in Benutzerprofilen angezeigt werden, werden ausschließlich algorithmisch erzeugt. Es wird ausschließlich darüber entschieden, was haben Sie in der Vergangenheit gelesen, was lesen Ihre Freunde, was wird Ihnen wahrscheinlich gefallen. Und das macht es auch schwierig, die Verbreitung von Fake News zu verhindern." "Es gibt keine belastbare Möglichkeit, eine Fake News von einer Real News zu unterscheiden", sieht auch Medienrechtler Rolf Schwartmann. Verleumdung und üble Nachrede nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt "Wenn Sie eine Lüge verbreiten im Netz, dann ist es für mich als Empfänger der Nachricht aufgrund der Information nicht möglich zu entscheiden, ist das falsch oder wahr. Es kann ja noch so hanebüchen sein und trotzdem realistisch klingen." Verleumdung und üble Nachrede sind aber – auch im Internet - nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, so Justizminister Heiko Maas im vergangenen Dezember. Rolf Schwartmann teilt diese Auffassung und denkt über juristische Konsequenzen nach: "Wenn klassische Medien in einer Weise berichten, die man ethisch beanstandet, dann gibt es eine Instanz, das ist der Presserat. Jetzt kann man sich die Frage stellen, ob man das nicht auch für Plattformen braucht. Man könnte überlegen, das wird auch schon diskutiert, dass man eine jederzeitige Erreichbarkeit bei den Plattformbetreibern hat und dass sie innerhalb einer kurzen Frist – 24 Stunden –nachprüfen können, ob eine Info falsch ist oder wahr. Und dann müsste darüber aber noch eine andere Instanz stehen, eine Kontrollstelle, die die Arbeitsweise der Plattformbetreiber überprüft. Und das, was diese Kontrollstelle an Information ermittelt, dass müsste dann wieder justiziabel sein und von Gerichten überprüft werden können." Facebook: Müsste gezielte Falschmeldungen schnell löschen Weitergehende Forderungen zielen darauf ab, dass die Betreiber von Plattformen wie Facebook selbst dafür sorgen müssen, gezielte Falschmeldungen schnell zu löschen oder gar nicht erst ins Netz zu bringen. "Wir stehen ja am Beginn der Debatte. Am Ende stellt sich grundlegend die Frage, ob die Plattformbetreiber sogar verantwortlich sind, das zu überprüfen, was dritte ohne ihr Wissen auf der Plattform bereitstellen. Und vor dem Hintergrund würde ich deren Verantwortung an der Stelle sehen, sie muss aber durch den Gesetzgeber letztlich angeordnet werden". Allerdings ist das öffentliche Verbreiten von handfesten Lügen nichts Neues. Fake News war zum Beispiel der Satz, den die französischen Königin Marie Antoinette angeblich über den hungernden dritten Stand verlauten ließ: "Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen". Fake News waren die "Protokolle der Weisen von Zion", vermeintliche Mitschriften jüdischer Geheimsitzungen zum Ziel der "Weltherrschaft des Judentums". Und Fake News waren die Behauptungen der Bush-Administration, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen. Jürgen Pfeffer: "In den USA hat man während dem Zweiten Weltkrieg schon Labors eingerichtet, die sich mit wissenschaftlicher Analyse von falschen Informationen, von Gerüchten beschäftigt, weil klar war, dass das die Moral im eigenen Land zerstört. Das heißt, seit 70, 80 Jahren ist die Forschung am Werk und auch das Bewusstsein dafür, dass falsche Information problematisch sein kann." Politische Probleme einer Gesellschaft, die sich zunehmend polarisiert Zudem sind sich die meisten Forscher einig, dass auch die heutigen Bots und die Verbreitung von Fake-News eher meinungsverstärkend als meinungsverändernd sind. Und bei den Meinungen, so Jonas Kaiser, liege das Problem. Das Internet diene lediglich als Sündenbock für die politischen Probleme einer Gesellschaft, die sich zunehmend polarisiere und für deren Spaltung noch keine versöhnende Lösung gefunden worden sei. "Das Problem, das wir haben ist nicht zwingend eines des Internets, sondern dass unsere Gesellschaft immer polarisierter wird, bzw. sich an bestimmten Fragen polarisiert. In Deutschland beispielsweise, wen man spricht, wer in Deutschland für und gegen Flüchtlingspolitik ist, dann gibt’s da kaum einen Konsens, dass wir jetzt X oder Y machen müssen, sondern es heißt entweder Ja oder Nein. Und daran entlädt sich eine Identitätspolitik, dass sich das radikalisiert, dass man nicht mehr miteinander spricht. Und dann sucht man sich im Zweifel die Quellen, die der eigenen Meinung entsprechen oder sie verstärken. Und dann les ich nicht mehr die Süddeutsche, sondern schau auf Seiten, die dem entsprechen, was ich mir vorstelle."
Von Ingeborg Breuer
Social Bots können liken und retweeten, wie menschliche User. Doch Forscher sind sich weitgehend darüber einig, dass Bots oder auch Fake News weniger meinungsverändernd als lediglich meinungsverstärkend sind. Das Internet werde zum Sündenbock für die politischen Probleme einer Gesellschaft, für die man noch keine Lösung habe.
"2017-01-05T20:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:26:15.035000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/social-bots-und-fake-news-das-internet-als-suendenbock-100.html
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"Viele Berufstätige sind nebenbei zum Doktortitel gekommen"
Manfred Götzke: In unserer losen Reihe "Plagiate aktuell" gibt es heute mal wieder eine Folge. Diesmal: Mediziner. Das "Handelsblatt" hat recherchiert, was mancher schon immer geahnt hat: In der Medizin, wo Doktorarbeiten auch schon mal in vier Monaten entstehen, wird es mit der Redlichkeit nicht immer so ganz ernst genommen. Den Kollegen liegen fast ein Dutzend Fälle vor, in denen die Habilitationsschrift eines Profs mehr oder weniger identisch ist mit den Arbeiten seiner Doktoranden. Solchen Schmalspurwissenschaftlern hat der Journalist und Autor Bernd Kramer jetzt ein ganzes Buch gewidmet: "Der schnellste Weg zum Doktortitel. Warum selbst recherchieren, warum selbst schreiben, wenn's auch anders geht?" - ist der nicht ganz ernst gemeinte Titel. Bernd Kramer, der schnellste Weg zum Doktortitel endete für viele Politiker in letzter Zeit ja peinlich und mit Amtsverlust. Haben sich die prominenten Plagiatoren einfach zu blöd angestellt? Eine Mischung aus Halbehrlichkeit Bernd Kramer: Tja, das ist eine gute Frage. Was auffällt, ist, dass viele Plagiatoren praktisch die Spuren selbst legen, über die sie überführt werden. Meistens ist es so eine Mischung aus Halbehrlichkeit und ein wenig den Weg der Erleichterung gehen, das heißt, man schreibt eine Stelle ab, aber zitiert nur einen Teil der abgeschriebenen Stelle und führt dann praktisch das, was man abgeschrieben hat, im Literaturverzeichnis auf. Und das führt natürlich dann schnell dazu, dass der kritische Leser auf die richtige Fährte geführt wird. Am besten nicht auf Literatur verweisen Götzke: Besser wäre es also, ganze Passagen zu übernehmen und keine Literaturangabe zu machen? Kramer: Genau, am besten überhaupt nicht auf die Literatur verweisen, aus der man sich da bedient hat. Und das machen überraschend viele Plagiatoren dann doch irgendwie falsch. Götzke: Welche schnellen Alternativen zum Plagiat würden Sie für den schnellen Doktor denn empfehlen? Kramer: Na ja, empfehlen ist natürlich so eine Sache. Ich würde irgendwie überhaupt nicht empfehlen zu betrügen, aber es ist interessant, dass es doch immer wieder geht. Das Einfachste wäre wahrscheinlich, sich einen Ghostwriter zu suchen, der eine garantiert plagiatsfreie Dissertation einem schreibt, damit werben diese Anbieter ja auch, und die dann einfach einzureichen. Kostet nur ein bisschen. Götzke: Sie haben das Ganze ja in Ihrem Buch analysiert und kommen zu dem Schluss: Die Promifälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Eine Restgröße wird immer bleiben Kramer: Ja, es gibt Schätzungen, wonach, ich weiß nicht, ein, zwei, drei Prozent aller Dissertationen jedes Jahr auf irgendeine Weise betrügerisch zustande kommen. Was auffällt, ist, dass ganz viele Fälle wirklich rein zufällig aufgedeckt werden. Götzke: Viele Fälle, die Sie auch in Ihrem Buch beschreiben, haben sich vor diesen prominenten Fällen Guttenberg, Schavan und Co. ereignet. Haben Sie den Eindruck, dass sich seitdem was geändert hat, oder sind die Leute immer noch, ich würde mal sagen, so dreist zu plagiieren? Kramer: Es gibt bestimmt immer noch welche, die so dreist sind. Also, das ... Eine Restgröße Betrug wird immer bleiben, denke ich. Was auffällt, ist, dass das Thema zumindest, glaube ich, bei Doktoranden eine große Rolle spielt, da gibt es heute eine weit verbreitete Angst, dass man vielleicht versehentlich sogar plagiiert, und dafür gibt es auch Beispielfälle. Vor allem in der Musikgeschichte zum Beispiel, dass Songs sich als Plagiat herausgestellt haben und der Komponist wusste das gar nicht und hat dann unbewusst plagiiert. Und die Angst geht teilweise, glaube ich, bei Doktoranden inzwischen auch um. Götzke: Im Zuge Ihrer Recherchen, was ist da der spektakulärste Betrug für Sie gewesen? Kramer: Es gab viele Fälle, wo man sich wirklich fragt, wie kann das möglich sein. Es gab zum Beispiel an der Universität Würzburg lange Jahre ein Institut für Medizingeschichte, das auch mit einem Promotionsberater zusammengearbeitet hat und wo sich dann hinterher herausstellte, dass der Professor sozusagen handschriftlich offenbar die Dissertation selbst geschrieben hat und die Doktoranden die möglicherweise nur abgetippt und eingereicht haben. Er bestreitet das, er sagt, sie sind dann in Klausur gegangen und haben, Doktorand und er als Professor, zusammen diesen Text formuliert und er hat ihn handschriftlich protokolliert. Und das ist seltsam, dass das wirklich funktioniert hat so lange, und damit viele Berufstätige nebenbei zum Doktortitel gekommen sind. Es gibt keine anderes Mittel um zur Elite zu gehören Götzke: Ein Protagonist in Ihrem Buch, der nennt den Doktor das Ausrufezeichen vor dem Namen jedes Akademikers. Warum sind die Deutschen so versessen auf dieses Ausrufezeichen? Kramer: Ich glaube, es hängt zum einen damit zusammen, man hatte irgendwie kein anderes Mittel, um zur Elite zu gehören. Also, in Frankreich zum Beispiel gibt es die Grande Ecole, diese Elitehochschulen, so was hat man in Deutschland eigentlich traditionell nicht, und das einzige Mittel ist im Prinzip der Doktortitel. Damit zeigt man, man gehört zur Elite, und das ist gleichzeitig auch so eine etwas mysteriöse, magische Elite, weil man nicht so genau weiß, was steckt da jetzt hinter. Also, diese Doktorarbeiten liest irgendwie kein Mensch, das eröffnet natürlich so den Raum der Fantasie, da hat jemand viel geforscht, hat irgendwas geschrieben, irgendwie eine völlig unsinnige Mühe in Kauf genommen, viele Jahre auf etwas verzichtet, um etwas zu schreiben, was dann kein Mensch liest. Und das wirft natürlich Fragen auf und das ist irgendwie ... Irgendwie, glaube ich, ist da noch so ein gewisser Zauber, der da drin ist, was es vielleicht bei Elitehochschulen in dem Sinne nicht so gibt. Götzke: Ihr letztes Kapitel haben Sie "Weg mit dem Titel" genannt. Warum halten Sie Promotionen für überflüssig? Es gibt ja immerhin Zehntausende, die eine ernsthafte wissenschaftliche Karriere anstreben und deswegen promovieren. Die Forschung sollte zählen, nicht der Titel Kramer: Ja, ja, absolut. Ich glaube, dass das kein Widerspruch sein muss. Natürlich würde ich jetzt nicht sagen, dass man nicht forschen sollte und dass niemand eine wissenschaftliche Karriere anstreben sollte. Aber die Frage ist irgendwie, warum braucht es dafür einen Titel, das gibt es in anderen Berufen auch nicht. Wenn ich mich jetzt als Berufseinsteiger irgendwo bewerbe, dann bekomme ich nicht nach drei Jahren plötzlich einen Titel, den ich dann auch noch völlig kontextfrei in sämtlichen Lebensbereichen mir auf die Visitenkarte oder aufs Klingelschild schreiben kann. Das ist irgendwie was, was es so eigentlich nirgends gibt in der Gesellschaft. Und ich frage mich, warum es das in der Wissenschaft geben sollte. Vor allem, weil es ja eigentlich auch darum geht, was forscht man und zu welchen Erkenntnissen kommt man und betreibt man gute Forschung? Die Forschung an sich sollte zählen und nicht dieser Titel. Götzke: Vielleicht sollte man differenzieren zwischen Karrieredoktor und einem Doktortitel, Promotion mit wissenschaftlichen Ambitionen? Kramer: Ja, diese Differenzierung sollte man machen, aber ich glaube, sie ist auch ein bisschen scheinheilig. Weil, es ist einfach so natürlich, dass die Karrierewege in der Wissenschaft in Deutschland so sind, wir haben 25.000 Doktoranden jedes Jahr, je 25.000 Doktortitel, die vergeben werden, aber nur ein Bruchteil wird es überhaupt schaffen, auf eine Professur zu kommen, ich glaube, irgendwie unter zehn Prozent oder so was dieser ganzen Doktoranden. Das heißt, irgendwie muss es ja einen Anreiz geben, das zu machen, und der Anreiz ist natürlich, dass es auch irgendwie eine Bedeutung hat außerhalb der Hochschulen. Und ich glaube, davon leben die Hochschulen auch. Denn ein Professor will natürlich gerne viele Doktoranden haben, das erhöht sein Prestige, der hat dann natürlich seinen Mitarbeiterstab, und diese starre Hierarchie an den Hochschulen lebt natürlich auch davon, dass viele Doktorarbeiten geschrieben werden, ohne dass da je eine wissenschaftliche Karriere drauf folgt. Götzke: Weg mit dem Doktortitel, meint der Autor Bernd Kramer. Er hat eine launige Kulturgeschichte des Promotionsbetrugs geschrieben. "Der schnellste Weg zum Doktortitel" heißt es. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bernd Kramer im Gespräch mit Manfred Götzke
Journalist und Autor Bernd Kramer hat Plagiate analysiert und kommt zu dem Schluss, dass die prominenten Plagiatsfälle nur die Spitze des Eisbergs sind. Jährlich kämen bis zu drei Prozent aller Dissertationen auf irgendeine Weise betrügerisch zustande. Ganz viele Fälle würden rein zufällig aufgedeckt.
"2014-11-05T14:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:12:00.094000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/plagiate-aktuell-viele-berufstaetige-sind-nebenbei-zum-100.html
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Ausnahmesituation Alltag
Polizisten patrouillieren in der Düsseldorfer Altstadt. Nicht immer ist ihr Dienst reine Routine, oftmals sind sie prekären Situationen ausgesetzt und müssen Ruhe bewahren. (dpa / picture alliance / Horst Ossinger) Freude am Beruf des Polizisten, auch wenn es gefährlich wird? Es sollte ein Routineeinsatz werden. Er endete mit einem erschossenen Polizisten. So geschehen im März 2006 in Berlin, als Uwe Lieschied ums Leben kam. Eine Woche nach den tödlichen Schüssen wurden die Täter verhaftet. Mehr als 1.000 Menschen kamen zur Trauerfeier, darunter Polizeidelegationen aus allen Bundesländern. Wie bewahren Polizisten unter diesen Umständen einen klaren Kopf? Kann dieser Beruf auch Freude machen? Was ist das: eine moderne Polizei? Die Beamten reden nicht gern über sich selbst und müssen sich doch ständig erklären. Erst recht seit der Silvesternacht von Köln - die auch bei den Berliner Polizisten ihre Spuren hinterlassen hat.
Von Maximilian Klein und Thomas Klug
Die Polizei soll Gefahren abwehren, sie soll Recht und Gesetz durchsetzen - und gerät immer wieder in die Schlagzeilen: schleppende Ermittlungen, zu brutale Einsätze, zu laxe Einsätze. Fremdenfeindlichkeit, zu viel Angst vor Rassismusvorwürfen.
"2016-03-18T19:15:00+01:00"
"2020-01-29T18:10:24.601000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polizei-im-einsatz-ausnahmesituation-alltag-100.html
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"Die Werte des Sports haben höchste Priorität"
Nach Handball auch bald Olympia am persischen Golf? (afp / Karim Jaafar) Mit Hintergrund Agenda 2020 ist erneute Bewerbung Katars um die Olympischen Spiele sehr wahrscheinlich geworden. Da ist sich auch Helmut Digel sicher. Katar suche nach neuen Industrien und benötige neue Wirtschaftsfelder. Sport sei das Primärziel des Emirs und deswegen werde dort viel Geld investiert. Katar verfüge auch über die notwendigen Kapazitäten, um entsprechende Wettbewerbe auszurichten. Das Problem sei nur, dass die Stadien nicht gefüllt werden können und man deswegen auf den Tourismus angewiesen sei. Digel sieht es als problematisch, wenn so viel Geld investiert werde, weil die Konkurrenz keine Chancen mehr habe, sich durchzusetzen. Für die Leichtathletik-Weltmeisterschaft wurden die Bewerber eingeladen zusätzliche Leistungen zu erbringen. Katar habe da mit Projekten und Geld am besten abgeschnitten, Digel hält das für falsch. Die Werte des Sports müssten höchste Priorität haben, es bleibe die Frage, ob Verbände käuflich geworden sind. Die Menschenrechte sollten Grundlage für jede sportpolitische Entscheidung sein.
Helmut Digel im Gespräch mit Philipp May
Der ehemalige Handballer und Mitglied im Council, der Regierung des Weltleichtathletik-Verbandes IAAF, Helmut Digel spricht im Deutschlandfunk über die Chancen von Katar demnächst die Olympischen Spiele ausrichten zu dürfen.
"2015-01-18T19:18:00+01:00"
"2020-01-30T12:17:31.337000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/olympia-die-werte-des-sports-haben-hoechste-prioritaet-100.html
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Über die Zukunft der Zeitung
Im Gespräch mit Markt und Medien zog er eine Bilanz des vergangenen Jahren und unterstrich, dass sich die Verleger von der Regierung mehr Unterstützung erwarten.Das vollständige Gespräch mit Helmut Heinen können Sie mindestens bis zum 19. Mai 2010 in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
null
Der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Helmut Heinen, hält nichts von Subventionen für Tageszeitungen, wie sie Alfred Neven DuMont am vergangenen Wochenende gefordert hatte und wie sie in Frankreich inzwischen gewährt werden.
"2009-12-19T17:05:00+01:00"
"2020-02-03T09:37:42.888000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ueber-die-zukunft-der-zeitung-100.html
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Bürgermeister werden? Nein danke!
Viele Rathäuser in kleinen Kommunen haben Personalprobleme (dpa / picture-alliance / Stefan Puchner) Schnelldorf an der A6 zwischen Ansbach und Heilbronn ist ein typisch bayerisches Dorf. Großer Fussballplatz am Ortseingang, Vereinsheim, Supermarkt, Bäcker, kleine Äcker und Wälder drumrum. 3500 Einwohner leben hier in der mittelfränkischen Gemeinde. Bürgermeisterin Christine Freier sitzt seit 2014 im Chefsessel des Rathauses. Die 58-Jährige kam als Quereinsteigerin ins Amt - aus einer Führungsposition der Telekom. Sieüberaschte mit einem erdrutschartigen Sieg über den Favoriten der CSU. Sie hatte sich viel vorgenommen, aber jetzt reicht es: "Ich trete nicht mehr an nach den Erfahrungen der letzten fünfeinhalb Jahre." Immer wieder blockiert Die studierte Diplomingenieurin wollte ein Neubaugebiet ausweisen lassen, direkt neben dem Sportplatz. Keine Chance. Der Grund: das Emissionschutzgesetz, sprich: Fussball spielende Kinder oder Erwachsene? Zu laut für eine Wohnanlage. Freier wollte ebenfalls eine neue Kläranlage bauen lassen: Zu groß, zu teuer, brauche man nicht, so der Gemeinderat. Kommunalwahl 2020? Ohne sie: "War für mich eine sehr interessante Zeit, weil ich ganz fremd gekommen bin, ohne Verwaltungserfahrung und wirklich ins kalte Wasser gesprungen bin. Der Grund dafür, dass ich jetzt hier aufhöre ist die Zusammenarbeit im Gemeinderat, die teilweise ins Persönliche geht und teilweise dann auch so weit geht, dass sehr viele Themen mehrfach hinterfragt werden, nochmal abgestimmt werden sollen und das kostet Zeit, Energie und unterm Strich dann auch Geld." In den vergangenen fünf Jahren krempelte sie die Verwaltung um, holte schnelles Internet in die Gemeinde, wobei ihre Kontakte zur Telekom halfen, und sorgte dafür, dass endlich wieder eine Landarztpraxis eröffnete. Von Mitgliedern der vier Fraktionen des Gemeinderats wurde sie trotzdem immer wieder blockiert, sagt sie. Ein Miteinander zum Wohle der Gemeinde war aus ihrer Sicht nicht drin: Aufgerieben im Klein-Klein "Es geht doch darum, Ziele zu stecken und man hat Ziele gesteckt in einem gemeinsamen Klausurwochenende, wo man gesagt hat, so will man vorangehen. Und dann kommt es doch immer wieder zu Streitigkeiten, die ins Persönliche gehen, wie der Weg dann dorthin gehen soll. Die Sanierung der Kläranlage steht an, wir arbeiten da seit zwei Jahren jetzt dran." Die Bürger bedauern ihren Weggang, können es aber verstehen: "Die hat Recht. Die hat sehr Recht sogar, aber mit so einem Gemeinderat, den wir haben ist das ein Unding." Sagt ein älterer Mann vor dem Rathaus und ein anderer ergänzt: "Also ich finde es schade, aber es ist zu verstehen. Man hofft ja, dass es besser wird, zurzeit ist alles so verfahren und zerstritten. Dass mehr Zusammenhalt da ist, das hat ja gefehlt die letzten Jahre." Rund die Hälfte aller bayerischen Bürgermeister treten nicht mehr an, heißt es vom Bayerischen Gemeindetag. Aus unterschiedlichen Gründen. Nicht wenige kapitulieren aus gesundheitlichen Gründen. Aber auch die staatlichen Vorschriften, schwer verständliche Gesetzesvorlagen und juristischen Fallstricke seien mehr geworden: "Wenn man früher vielleicht mal in einem Monat ein Anwaltsschreiben bekommen hat, dann ist das viel gewesen und heute, muss ich sagen, ist es tägliches Brot." Juristisches Hickhack Bestätigt Josef Walz, CSU, diese Tendenz. Seit dreißig Jahren ist er Bürgermeister von Pfaffenhofen an der Roth bei Neu-Ulm. Auch er tritt nicht mehr an, obwohl er es aus Altersgründen noch einmal könnte. Während man früher nach einer hitzigen Gemeinderatssitzung gemeinsam ins Wirtshaus ging, so Walz, sei dies heute nicht mehr möglich. Die beiden Volksparteien CSU und SPD hätten immer einen Weg gefunden, würden jetzt sogar gemeinsam einen Kandidaten aufstellen, so Walz, der auch Bezirksvorsitzender des Bayerischen Gemeindetages in Schwaben ist: "In ganz Bayern sind es über 1.000 Bürgermeister, die nicht mehr antreten. Ich habe jetzt die Zahlen für Schwaben nicht ganz parat, aber ich weiß nur, in unserem Landkreis tritt ebenfalls die Hälfte der Kollegen nicht mehr an. Das gibt schon auch einen Grund zum Nachdenken. Und es ist dann schwierig einen Kandidaten für so ein Amt zu finden und ich weiß von einigen Kommunen, die bislang noch immer keinen Kandidaten haben." "Suchen Bürgermeister in Vollzeit" hieß es im Sommer in einer Zeitungsannonce der Stadt Schwanfeld, eine Kommune in Unterfranken mit 2.000 Einwohnern. Wenn immer weniger Bürger das Amt übernehmen wollen, vor allem ehrenamtlich, müsse man offen über den Status der Bürgermeister*innen diskutieren, sagt Hans-Peter Mayer, Finanzexperte und Vizegeschäftsführer des Bayerischen Gemeindetags. Mehr hauptberufliche Bürgermeister seien notwendig, die aber Steuergelder kosten: "Wir fordern seit mehr als zwanzig Jahren, dass zum Beispiel in die Gemeindeordnung die Regelung genommen wird, dass man ab 5.000 Einwohner grundsätzlich hauptberuflich ist. Die Lebenswirklichkeit zeigt, dass ab 3.000 Einwohnern nahezu alle bereits hauptberuflich tätig sind, zumindest ein hoher Prozentsatz. Und das sind Dinge, die wir bereden müssen." Mehr als ein Ehrenamt Bis zum 23. Januar müssen in Bayern die Wahlvorschläge bei den Ämtern eingereicht worden sein. Für die Bürgermeisterin Christine Freier ist das jetzt vorbei, nach einer Legislaturperiode. Die Noch-Bürgermeisterin klingt erleichtert und bleibt bei der Entscheidung: "Ich lasse mich nicht mehr umstimmen, ganz klar. Ich habe sehr viel Feedback von den Bürgern direkt bekommen, die sagen, sie finden das sehr schade. Sie finden es schade für die Entwicklung von Schnelldorf, weil ich doch Einiges in diesen Jahren vorangebracht habe."
Von Susanne Lettenbauer
Überall in Deutschland mangelt es an Kandidatinnen und Kandidaten für das Bürgermeisteramt. Viele wollen sich das Ehrenamt nicht mehr antun - angesichts von Hasskampagnen und Bürokratie. In Bayern, wo im März 2020 Kommunalwahlen stattfinden, fehlt es ebenfalls an Interessierten.
"2019-11-29T14:10:00+01:00"
"2020-01-26T23:21:33.940000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kommunalwahlen-in-bayern-buergermeister-werden-nein-danke-100.html
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Folge 5: Lauschangriff auf Erdbeben
Seismos ist das griechische Wort für Erdbeben. Es steht für gewaltsame Erschütterungen und einstürzende Häuser. Seismologie – die Erdbebenkunde – ist dagegen ein Fachgebiet der leisen Töne: Findet irgendwo auf der Welt ein Erdbeben statt, breiten sich durch das Gestein Schallwellen weiter und weiter aus, werden dabei schwächer und schwächer – und bringen irgendwann irgendwo eine Nadel zum Erzittern. Der Seismograf ist ein empfindliches Messgerät. Er ist fest mit dem Boden verbunden, um die winzigen Schwingungen überhaupt wahrzunehmen. Aus dem All waren deshalb bisher nur die Folgen eines Bebens erkennbar – etwa über genaue Radarmessungen der deutschen Missionen TerraSAR-X und Tandem-X. Peter Schaadt vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt war an der Planung beider Satelliten beteiligt. "Sie müssen sich das vorstellen: Wir haben da eine Radarlampe im All. Die strahlt also einen Strahl auf die Erdoberfläche ab und kann deswegen unabhängig von Beleuchtungsverhältnissen zum Beispiel auch bei Nacht Aufnahmen durchführen." Zusätzlich zu einfachen Bildern vermessen TerraSAR-X und Tandem-X die Erdoberfläche interferometrisch. Ihre Instrumente werden also auch zusammengeschaltet, um aus den Daten am Ende ein metergenaues Abbild der Oberfläche zu errechnen. Im Computer entsteht ein Geländemodell, das Rückschlüsse auf Prozesse im Gestein erlaubt. "Man kann durch Erhebung von Radardaten vor dem Erdbeben und nach dem Erdbeben Vergleiche anstellen und kann dort die Bruchzonen finden, die man möglicherweise durch einfache Ortsbegehung nicht so leicht findet." So können Geologen nachträglich leicht herausfinden, wo sich die Gesteine tektonischer Platten gewaltsam gegeneinander verschoben haben. "Aber dass man mit dem Radar ein Erdbeben sieht, das ist nicht möglich." Beim Tohoku-Beben vor Japan im März 2011 – einem der stärksten aller Zeiten – bewegte sich der Untergrund bis zu 50 Meter seitwärts und sieben Meter nach oben. Auf einer Länge von über 300 Kilometern vor der japanischen Küste schabten Gesteinsblöcke aneinander. Sogar die Erdachse verschob sich um einige Zentimeter. Zeitgleich hob sich die Wasseroberfläche so schnell, dass erstmals ein Satellit direkt davon Wind bekam: Der europäische Goce, dessen Mission vor einigen Wochen zu Ende ging. Schaadt: "Mit Hilfe von Goce wurde das Erdbeben vor der japanischen Küste sozusagen wirklich gesehen. Da das ein marines Erdbeben war, hat die Wasseroberfläche wie ein Lautsprecher gewirkt, der eine akustische Schockwelle freigesetzt hat." Die Aufgabe von Goce war es, das Schwerefeld der Erde untersuchen. Drei Beschleunigungssensoren an Bord kontrollierten ständig, wie stark der Satellit in Richtung Boden gezogen wurde. Verantwortlich für diese Anziehung war aber nicht allein die Gravitation, sondern auch die Wirkung der Restatmosphäre, die Goce auf seiner niedrigen Umlaufbahn abbremste. Und in dieser extrem dünnen Luft können sich auch Schallwellen fortpflanzen, entdeckte der Seismologe Raphael Garcia von der Universität Toulouse. "Es handelt sich um Infraschall, also sehr tiefe Schallwellen, die sich nahezu senkrecht durch die Atmosphäre ausbreiten. Ihre Bewegungsenergie muss aus physikalischen Gründen erhalten bleiben. Und weil die Atmosphäre nach oben immer dünner wird, breiten sich diese Wellen zunehmend ungestörter und damit immer schneller aus. Auf dem Weg nach oben wird der Schall regelrecht verstärkt und kann von Satelliten gemessen werden." Wie geplant stürzte Goce im November 2013 aus seinem gerade 250 Kilometer hohen Orbit ins Meer. Seine eigentliche Aufgabe – die Untersuchung des Schwerefelds – konnte er erfolgreich abschließen. Aber er wies während seiner viereinhalb Jahren im All nur ein einziges Erdbeben nach – und das auch nur, weil das die Atmosphäre sehr stark in Wallung versetzt hatte. Gegen ein dichtes Netz von Erdbebenmesstationen kommen also selbst hochgenaue Satelliten wie Goce nicht an. Garcia: "Wenn Sie einen Seismologen fragen, würde der immer ein Messinstrument am Boden vorziehen, weil es im All so viele störende Phänomene gibt." Einen wirklichen Nutzen satellitengestützter Infraschallmessungen sieht auch der Seismologe Garcia daher woanders: bei den verheerenden Folgen der Erdbeben – dem frühen Nachweis von Tsunamis. "Tsunamiwellen sind unglaublich schwer nachzuweisen, weil sie auf hoher See nur wenige Zentimeter hoch sind. Aber auch sie erzeugen Schallwellen in der Atmosphäre, die sich auf dem Weg nach oben verstärken. Das könnte für neue Satellitenmissionen interessant sein. Künftige Weltraumseismometer könnten die Arbeit anderer Tsunami-Warnsysteme allerdings nur ergänzen. Raphael Garcia kann sich auch vorstellen, die Messmethode aus dem Orbit dort einzusetzen, wo bislang noch gar keine Erdbeben gemessen werden: auf fernen Planeten.
Von Karl Urban
Erdbeben und Tsunamis können die größten Katastrophen auslösen und die Menschheit ist ihnen weitgehend ungeschützt ausgeliefert. Kein Wunder, dass Wissenschaftler versuchen, auch Satelliten für ihre Untersuchung einzusetzen. Der Esa-Satellit Goce war ein dafür geeigneter Flugkörper.
"2014-02-13T16:50:00+01:00"
"2020-01-31T13:26:09.120000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mission-erde-folge-5-lauschangriff-auf-erdbeben-100.html
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Provokationen von Rechtsextremen in KZ-Gedenkstätte nehmen zu
Lagertor in der Gedenkstätte am KZ Buchenwald (imago / VIADATA) Die Vorwürfe reichten vom Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole über die Schändung des Totengedenkens bis hin zu gezielten Zerstörungen, führte Lüttgenau im Mitteldeutschen Rundfunk aus. Häufig seien volksverhetzende oder verfassungsfeindliche Einträge im Besucherbuch mit vollem Namen unterzeichnet. In Deutschland sei ein gesellschaftliches Klima entstanden, das Extremisten ermutige, ihre Einstellungen öffentlich zu machen, kritisierte er. In das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar hatten die Nationalsozialisten von Sommer 1937 bis April 1945 rund 250.000 Menschen aus vielen Ländern Europas verschleppt, 56.000 wurden ermordet, starben an Hunger oder Krankheiten. Im April war der 70. Jahrestag der KZ-Befreiung begangen worden. (tgs/pg)
null
Die KZ-Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar sieht sich immer häufiger mit provozierenden Auftritten Rechtsextremer konfrontiert. Inzwischen würden jeden Monat Strafanzeigen erstattet, sagte der stellvertretende Gedenkstättenleiter Rikola-Gunnar Lüttgenau.
"2015-11-16T14:33:00+01:00"
"2020-01-30T13:09:25.656000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buchenwald-provokationen-von-rechtsextremen-in-kz-100.html
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"Wir würden mit Bruegel das ein oder andere Bier trinken"
Bruegel-Porträt mit lebendem Pelzkragen an neuzeitlicher Fassade (Alexander Göbel) Die weltberühmte "Landschaft mit der Flucht nach Ägypten": Pieter Bruegel hat sie auf dünne Platten aus Eichenholz gemalt. Maria und Josef fliehen mit dem Jesuskind vor Herodes. Mehr als 450 Jahre später erzählt der Street-Art-Künstler Piotr Szlachta die Geschichte auf seine Weise. Und dafür nutzt er gleich eine ganze Häuserwand, und zwar mitten im Brüsseler Marollenviertel. Piotr Szlachta: "Es geht für mich um Migration. Die gab es immer schon, sie kennt keine Grenzen und keine Epochen. In meinem Bild wollen die Menschen ins vermeintliche Paradies, nach Europa, sie tragen hier Plastiktüten, sie werden von der Jungfrau Maria angelockt - mit einer virtuellen Karotte." Links unten sticht die blaue Europafahne mit den goldenen Sternen heraus. Weiter oben, auf dem Berg, weist ein Menschenschmuggler den Weg. Er hat einen Spiegel in der Hand, der das Sonnenlicht reflektiert. Piotr Szlachta: "Das Thema Migration ist sehr präsent in diesem Viertel. Das Thema verbindet alle, die hier leben, egal, woher sie kommen." Bruegels Heimatviertel: bodenständig und von Einwanderern geprägt Bruegel würde diese Idee bestimmt gefallen, ist Piotr Szlachta überzeugt. Tatsächlich hat der berühmte Maler damals hier gelebt, und hier ist er auch gestorben – in den Marollen. Dieses bodenständige und von Einwanderern aus aller Welt geprägte Arbeiter- und Künstlerviertel hat so gar nichts mit den Glaspalästen und Bürotürmen der EU zu tun. Dafür umso mehr mit dem prallen Leben. Und das hat schon damals Bruegel fasziniert. Piotr Szlachta: "Bruegel hat die Straße gemalt, wie sie ist. Ungeschönte Szenen aus dem Alltag, ohne Pathos, das war sehr mutig. Für mich ist Bruegel Street Art im besten Sinne. Das Harte, das Raue, der Dreck, der Müll, das Verruchte, der tägliche Kampf ums kleine Glück, aber auch die pure Lebensfreude – all das gab es damals genauso wie heute." Bruegel gilt als Chronist der Marollen, und deshalb haben Piotr und seine Freunde vom Künstlerkollektiv Farm Prod keine Sekunde gezögert, als die Stadt Brüssel ihnen den Auftrag gab, den Flämischen Maler buchstäblich nach Hause zu holen. Guillaume Desmarets: "Das ist schon etwas Besonderes, wenn man bedenkt, dass Street Art, dass Graffiti noch vor 10, 15 Jahren keinerlei Renommee hatte – damals war das für viele eher Vandalismus als Kunst. Wir freuen uns jedenfalls, dass wir hier unsere eigenen Visionen von Bruegels Werken umsetzen konnten, mit einer aktuellen Prägung." Ironische Brechung gesellschaftlicher Codes Das Ergebnis: Ein schräger Rundgang durch die Marollen. So surreal wie Bruegels Kunst und so absurd wie Belgien, sagt Guillaume schmunzelnd. Kostenlose Kunst - auch für die, die noch nie ein Museum von innen gesehen haben. 14 Werke, an 14 Hauswänden, alle brechen sie ironisch die gesellschaftlichen Codes. Aus Bruegels "Turmbau zu Babel" wird eine Apokalypse in düsterem Lila, die "Jäger im Schnee" werden zu Rattenfängern und versprühen rosafarbenes Gift, der "Gute Hirte" trägt nicht mehr den Mantel eines Schäfers, sondern einen bunten, afrikanischen Umhang, statt einem Schaf trägt er einen Fuchs – der viel zu schlau ist, um sich bekehren zu lassen... In der Kapellenkirche soll Pieter Bruegel der Ältere beerdigt sein. Draußen, auf dem kleinen Platz vor der Kirche, ist er als Bronzefigur verewigt – lebensgroß. Hier sitzt der Alte Meister und malt für die Ewigkeit. Mit einem Äffchen auf der Schulter und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Was würde er wohl zur Street Art sagen? Piotr Szlachta: "Ich glaube, er hätte Spaß mit unseren Ideen… wir müssten ihm ein bisschen was erklären, dass heutzutage eigentlich alles Kunst sein kann… Aber ich bin sicher, wir würden mit Bruegel das eine oder andere Bier trinken, hier in den Marollen. Ich glaube, der hat sehr gern einen drauf gemacht!"
Von Alexander Göbel
Zum 450. Todestag wird Pieter Bruegel (der Ältere) in seinem Heimatviertel Marolles auf originelle Weise gewürdigt. Graffiti-Sprayer, Zeichner und Grafik-Designer interpretieren den flämischen Meister auf privaten Häuserwänden neu. Und entdecken in dessen Werk erstaunlich aktuelle Aspekte.
"2019-08-23T15:17:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:31.235000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/flaemischer-meister-belgische-streetart-wir-wuerden-mit-100.html
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"Wir sind nicht neutral"
Der Europaabgeordnete Michael Gahler bei einer Abstimmung im Parlament in Straßburg (AFP/Frederick Florin) Jonas Reese: Die Reaktionen auf die Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlaments ist weltweit auf Ablehnung gestoßen. Die Bundesregierung nannte es erneut Verfassungsbruch, die USA haben der spanischen Regierung ihre Unterstützung angeboten, und EU-Ratspräsident Donald Tusk, er hat getwittert, für die EU ändere sich nichts, der Konflikt bleibe eine innerspanische Angelegenheit. Das möchte ich nun besprechen mit Michael Gahler. Er ist Europa-Abgeordneter von der CDU, er sitzt in Straßburg auch im Auswärtigen Ausschuss. Guten Abend, Herr Gahler! Michael Gahler: Guten Abend, Herr Reese! "Grenzen überflüssig machen" Reese: Herr Gahler, für die EU habe sich nichts geändert, sagt Donald Tusk. Stimmt das, müsste die EU nicht spätestens jetzt eingreifen und vermitteln? Gahler: Also für die EU hat sich in der Tat nichts geändert, das hat auch der Kommissionspräsident gesagt. Er hat das so formuliert, er möchte eigentlich nicht in relativ kurzer Zeit Vorsitzender von 95 Regionen sein, und damit hat er in dieser Form natürlich recht. Ziel der EU ist von jeher gewesen, seit ihrer Gründung, Grenzen überflüssig zu machen und ihnen Bedeutung zu nehmen, und Ziel der EU ist es eben nicht, neue Grenzen aufzurichten. Madrid muss den Katalanen Angebote machen Reese: Nur wenn man das jetzt heute sich anschaut, eine Region in Europa steht unter Zwangsverwaltung, ein Regionalparlament wurde abgesetzt, aufgelöst, es droht möglicherweise auch Gewalt, und die EU guckt da zu? Gahler: Wir sehen das weiterhin als einen innerspanischen Konflikt, und wenn wir die Lage rechtlich bewerten, ist es ganz eindeutig, dass die spanische Regierung sich verfassungsgemäß verhält und die katalanische, die bisherige katalanische Regionalregierung sich verfassungswidrig verhält. Natürlich ist jetzt die Frage, nachdem beide sozusagen alle ihre Register gezogen haben, wie geht es jetzt weiter, und da ist ein wichtiges Datum diese Neuwahlen für den 21. Dezember, und natürlich muss aus meiner Sicht auf dem Weg dorthin ein Dialog in Gang kommen, auch von Madrid, und zwar würde ich sagen, nicht nur der Regierung, sondern von allen staatstragenden Parteien in Madrid gemeinsam in der Form befördert werden sollte, dass man auch Angebote auf diesem Weg macht. Das Angebot könnte zum Beispiel sein, dass man sagt, diese Autonomie, die in Spanien ja je nach Region unterschiedlich ausgestaltet ist, dass man den Katalanen in der Beziehung entgegenkommt, indem man ihnen mehr Rechte anbietet, zum Beispiel auch, was die Finanzen betrifft, dass zum Beispiel eine Gleichbehandlung mit dem Baskenland diskutiert werden könnte. Das ist kein ganz neuer Vorschlag, den gab es schon mal, das ist auch schon mal in der Vergangenheit nicht dazu gekommen. "Wir sind auf der Seite der spanischen Regierung" Reese: Aber, Herr Gahler, wenn ich da kurz einhaken darf: Das sind ja alles Ideen und Vorschläge, die längst auf dem Tisch liegen. Müsste da jetzt nicht ein neutraler Beobachter vermitteln, wie es die EU sein könnte, muss es da nicht eine rote Linie geben, wenn jetzt auch in den kommenden Tagen vielleicht die Gewalt dann doch eskaliert? Gahler: Wir sind nicht neutral. Wir sind auf dem Boden der Verfassung unserer Mitgliedsstaaten. Das heißt, wir sind auf der Seite der spanischen Regierung und rufen die natürlich auf, jetzt ihren Beitrag, und ich sagte, nicht nur auf die Regierung beschränkt, die ja auch eine Minderheitsregierung ist, sondern möglichst breit mit einem breiten politischen Madrider Konsens auf die Bevölkerung zuzugehen. Auf die Regierung, die ist abgesetzt, auf die kann man nicht zugehen. Ich glaube, man sollte die Gelegenheit jetzt nutzen, die Tatsache – und davon gehe ich persönlich auch aus –, dass eine Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung weiterhin für einen Verbleib bei Spanien ist. Diese Tatsache muss man nutzen, und dieser verfassungstreuen Mehrheit die Gelegenheit geben, sich auch in diesem Sinne äußern zu können. Das könnte jetzt diese Wahl sein. Man könnte auch, aber das ist noch nicht diskutiert worden, aus meiner Sicht durchaus ein legales Referendum dadurch ermöglichen, dass man die Verfassung für diesen Zweck ändert, die spanische Verfassung, und es dann ermöglicht, aber natürlich mit der Kautele zu sagen, es muss eine Mehrheit der wahlberechtigten Menschen dieses wollen und nicht nur 90 Prozent von 42 Prozent. Das ist nämlich deutlich keine Mehrheit. Ich bin überzeugt, wenn jetzt die spanischen Parteien aus Madrid weise und klug vorgehen, dann werden sie diese Mehrheit, die potenziell da ist, auch für einen zum Beispiel 21. Dezember für sich instrumentalisieren können und auf diese Art ein legales Votum der Mehrheit herbeiführen, mit Spanien gemeinsam zu bleiben. "Wir können uns nicht äquidistant zwischen beide Parteien stellen" Reese: Nur was lässt Sie da so hoffnungsvoll sein, wenn man jetzt sich die letzten Monate anschaut, dann ist ja alles andere von Kompromiss und aufeinander zugehen festzustellen. Es ist ja eigentlich jetzt der Höhepunkt der Eskalation und die Fronten so verhärtet wie noch nie. Ist dieses Bild nicht eigentlich noch viel verheerender für die Europäische Union, dass sie sowas sozusagen in ihrem Inneren zulässt, Recht hin oder her – das mag auf der Seite der EU sein –, aber ist die Angst vor so einer Sezessionsbestrebung auch in anderen Ländern da nicht viel zu groß? Müsste man da nicht schon längst eingeschritten sein? Gahler: Gerade weil diese Befürchtung groß ist, hat man sich ja zunächst mal bisher auf den … Auf was soll man sich beziehen anders als eine demokratische Verfassung? Spanien ist ja kein zentralistischer, autoritär regierter Staat. Wenn Sie sich in Katalonien umschauen, dann sehen Sie überall zweisprachige Schilder. Es gab die Autonomie bis zum heutigen Tage, so wie sie praktiziert wurde. Es haben sich ja sogar eher kastilianisch sprechende Spanier, also die Sprache der Hauptstadt sprechende Spanier, darüber in den vergangenen Jahren beschwert, sie könnten eigentlich nicht mehr Spanisch sprechen, sondern müssten Katalanisch lernen. Also da ist jetzt nicht eine unterdrückte Minderheit, die jetzt hier um ihre Rechte kämpft, sondern es befindet sich in einem demokratischen Staat, eine demokratische, autonome Region, die ihre Rechte bisher hatte, und da gibt es einige, die, wie der bisherige Ministerpräsident dort, der Regionalpräsident, die das aus meiner Sicht in unverantwortlicher Weise ausnutzen und dabei nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben. Wenn wir jetzt den Eindruck erwecken würden, wir stehen äquidistant, also in gleichem Abstand zu den verfassungsmäßigen und zu den verfassungswidrig Handelnden, diese Äquidistanz kann es nicht geben. Was es geben kann ist die Ermunterung zum Dialog. Es sind Vorschläge, wie man jetzt auf einem Weg zum 21. Dezember zu Lösungen möglichst kommen könnte. Da könnten wir vielleicht auch kreative Hinweise geben, aber wir können hier nicht eine Situation herbeiführen, wo wir uns äquidistant zwischen beide Parteien stellen. Reese: Sagt Michael Gahler, Mitglied des Europäischen Parlaments und Mitglied in der CDU, heute Abend hier im Deutschlandfunk. Herr Gahler, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Gahler im Gespräch mit Jonas Reese
Im Katalonien-Konflikt könne die Europäische Union nur zum Dialog aufrufen, und zwar alle spanischen Parteien, nicht nur die Minderheitsregierung, sagte der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler im Dlf. Eine Vermittlung verbiete sich, da sonst verfassungsmäßig und verfassungswidrig Handelnde auf eine Stufe gestellt würden.
"2017-10-27T23:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:58:28.113000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-als-vermittler-im-katalonien-konflikt-wir-sind-nicht-100.html
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Historische Ergebnisse für CSU und Grüne
Der Jubel bei den Grünen in Bayern ist groß (dpa / Karl-Josef Hildenbrand) Ein historisch schlechtes Wahlergebnis. Und ein sichtlich enttäuschter Markus Söder tritt kurz nach 18 Uhr an die Mikrofone. "Natürlich ist es heute kein einfacher Tag für die CSU. Wir haben kein gutes Ergebnis erzielt. Wir haben teilweise ein schmerzhaftes Ergebnis erzielt. Wir werden den Wahlabend noch abwarten müssen. Wir nehmen das Ergebnis an, auch mit Demut." Seit Monaten schon haben die Christsozialen desolate Umfragewerte vor sich hergetragen. Nun liegt sie bei 37,4 Prozent. Und damit 10 Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2013. Ministerpräsident Markus Söder sieht die Ursachen nicht in der bayerischen Landespolitik. "Natürlich ist klar – das spürt man ja auch an den Wahlergebnissen an den anderen Parteien -, dass die Hauptherausforderung der letzten Jahren auch eine Diskussion war, die auch in Berlin geführt wurde. Man sieht den Bundestrend, der stattfindet. Vom Bundestrend sich völlig abzukoppeln ist nicht so leicht." Viele machen Seehofer verantwortlich Für das historisch schlechte Abschneiden machen viele in der CSU Parteichef Horst Seehofer und seinen Streit mit den Koalitionsparteien in Berlin verantwortlich. Allerdings hielt man sich in der Partei mit der Forderung nach personellen Konsequenzen heute weitestgehend zurück. Seehofer zumindest sieht vorerst den Fehler nicht bei sich. Heute nur soviel: "Natürlich wird es in den nächsten Wochen auch darauf ankommen, dass wir genau aufarbeiten, woran dieses Ergebnis liegt. Das werden wir wie immer in aller Sorgfalt tun und dann auch die nötigen Konsequenzen daraus ziehen." Ein anderes Bild bei den bayerischen Grünen. Bei Verkündung der ersten Hochrechnung um 18 Uhr platzen die Konfettikanonen – Jubel im grünen Glitzerregen. Und eine Spitzenkandidatin Katharina Schulze im Freudentaumel: "Am heutigen Abend überwiegt die Freude und auch die Dankbarkeit, dass so viele Wählerinnen und Wähler uns ihr Vertrauen geschenkt haben. Ich freue mich ganz ungemein, dass die Themen, die wir nach vorne gestellt haben, nämlich gleiche Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, gleiche Rechte und Chancen für Frauen, eine proeuropäische Politik, eine Pro-Demokratie-Politik - dass die von so vielen Menschen geteilt wurde." Grüne fahren bestes Ergebnis ihrer Geschichte ein Das Ergebnis ist das beste in der Geschichte der Grünen. Seit 1982 sind sie im bayerischen Landtag. Vor fünf Jahren verhagelten ihnen Steuererhöhungspläne im Wahlprogramm das Wahlergebnis. Damals waren es knapp 9 Prozent. Nun etwa doppelt so viel. Doch zu Schwarz-Grün kommt es wohl nicht. Die erste Koalitionsalternative für die CSU – und wohl auch die leichtere für die Christsozialen wären die Freien Wähler, eine konservative Regionalpartei, die in Bayern zahlreiche Bürgermeister stellt. Sie kann sich freuen über gute Ergebnisse. Spitzenkandidat Hubert Aiwanger vor Parteifreunden: "Zumindest unterm Strich wird es für eine bürgerliche Koalition reichen. Das war seit Monaten unser Ziel. Wir haben immer gesagt, wir wollen Bayern davor bewahren, dass hier schwarz-grüne oder sonst irgendwelche Spielchen Einzug halten." Die Freien Wähler, die sich auf 11,4 Prozent leicht verbessern konnten, stehen für eine ähnlich restriktive Asylpolitik wie die CSU. Ideologisch versteht man sich gut mit den Christsozialen, Differenzen gibt es bei der Kostenfreiheit für die Kita-Betreuung. Die Freien Wähler fordern sie, die CSU lehnt sie ab. Viele Gemeinsamkeiten von Freien Wählern und CSU Dennoch sind sich auch CSU-Mitglieder einig, dass sich die relativ geringen Differenzen zwischen beiden Parteien ausräumen lassen. So macht auch Generalsekretär Markus Blume klar: "Wenn es eine bürgerliche Option gibt, dann hätten wir dafür natürlich eine ganz klare Präferenz" Enttäuschung dagegen bei der SPD. Mit 9,6 Prozent hat sie gegenüber dem Ergebnis von vor fünf Jahren über die Hälfte eingebüßt. Die Spitzenkandidatin Natascha Kohnen: "Das ist eine echt schwere Stunde für die bayerische SPD, das ist ein echter Tiefschlag. Und ich sage das auch, weil ich gerade gefragt wurde: Wie geht’s Ihnen? – Es tut weh. Es tut unglaublich weh." Kohnen stellte in Aussicht, in den nächsten Tagen über alles reden zu wollen – und damit auch über die Zukunft ihrer Person als bayerische Parteichefin. Bayerische AfD gibt sich zufrieden Bei der bayerischen AfD gibt man sich zufrieden, wenn man sich auch erwartet hatte, zweitstärkste Kraft zu werden: Mit 10,3 Prozent liegt man noch hinter CSU, Grünen und Freien Wählern. Dennoch sei die Ausrichtung im Wahlkampf gut gewesen. Bundesparteichefin Alice Weidel auf der Wahlparty im niederbayerischen Mamming. "Unser Wahlkampf war ja darauf zugeschnitten, wirklich hemmungslos und auch sehr prägnant die Wählertäuschung der CSU auch offenzulegen. Und diese Rechnung ist auch voll aufgegangen. Ebenfalls wohl im Landtag vertreten, nach fünf Jahren Pause, die FDP mit knappen 5 Prozent.
Von Tobias Krone
Die CSU hat bei der Landtagswahl ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Mit Forderungen über personellen Konsequenzen hält man sich derzeit noch zurück. Der Jubel bei den Grünen könnte dagegen kaum größer sein: Nie zuvor hat die Partei in Bayern so viele Stimmen bekommen.
"2018-10-15T05:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:15:30.860000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landtagswahl-bayern-historische-ergebnisse-fuer-csu-und-100.html
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Anker-Zentren für Asylbewerber: Eine gute Idee?
Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen (dpa-Bildfunk / Stefan Puchner) Wie führt man abgelehnte Asylbewerber wieder in ihr Heimatland zurück? Diese Frage ist eines der dicksten Bretter, das Deutschland und Europa bohren müssen. Dabei wäre eine Lösung gar nicht so kompliziert, glaubt Gerald Knaus von der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative. Die von der Bundesregierung geplanten Anker-Zentren seien dagegen eine völlig wirkungslose Maßnahme, so der Experte. Ihren bewaffneten Kampf hatte die baskische Untergrundorganisation ETA bereits aufgegeben, jetzt hat sie sich auch offiziell aufgelöst. Die spanische Zentralregierung hat den Konflikt mit dem Baskenland durch die Gewährung weitgehender Autonomierechte befriedet. Doch diese Rechte könne man nicht ohne weiteres auch Katalonien gewähren, glaubt ARD-Madrid-Korrespondent Marc Dugge. Dann würde der spanische Staat finanziell ausbluten.
Von Philipp May
Die Ereignisse in der Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen lassen die Kritik an den von der Bundesregierung geplanten Sammelunterkünften für Asylbewerber zur schnelleren Rückführung wieder lauter werden lassen. Dabei gibt es verblüffend einfache Ideen, wie man die Migration aus Afrika besser steuern könnte. Außerdem: Das Ende der baskischen Terrororganisation ETA. Eine Lehre auch für Katalonien?
"2018-05-03T17:00:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:43.618000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-anker-zentren-fuer-asylbewerber-eine-gute-idee-100.html
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Regenrauschen und Rohrblattzwitschern
Ihre wichtigste Inspriration bei "Juniper"? Die Platte "Carrie and Lowell" von Sufjan Stevens, sagt Linda Fredriksson. (Iiris Heikka / Sanna Hellikki Thurunen) Ihr punkiges Trio Mopo gibt es schon seit 2009. Mit der Ricky Tick Big Band begleitete sie finnische Hip Hop-MCs. Nun erst, mit Mitte 30, hat die Alt- und Baritonsaxofonistin Linda Fredriksson mit "Juniper" ihre erste eigene Platte veröffentlicht. Dafür hatte sie über mehrere Jahre Ideen gesammelt und in einem langen Produktionsprozess weiterverarbeitet. Rohentwürfe ihrer Songs hatte sie auf einer alten Gitarre oder auf einfachen Keyboards eingespielt, dazu sang sie. Später kombinierte sie diese Demos mit neuen Studioeinspielungen ihrer Band. Schmerzhafter Selbstfindungsprozess Besonderen Do-It-Yourself-Charme gewinnt "Juniper" durch die Einbeziehung von eigenen Feld-Aufnahmen: In Fredrikssons atmosphärischen Stücken hört man zu ihrem Saxofonspiel auch mal den Regen rauschen oder Bäume knarzen. Die Entscheidung für diese Platte sieht Fredriksson als Teil einer Rückbesinnung auf sich selbst. In der Porträtsendung erkärt sie, warum die Arbeit an "Juniper" für sie auch ein persönlicher, manchmal schmerzhafter Befreiungsprozess war.
Von Thomas Loewner
Wir stellen Linda Fredriksson vor, die bisher für wilde Sounds zwischen Jazz, Punk und Hip Hop stand. Auf ihrem berührenden Debut "Juniper" experimentiert die Finnin mit Songformen und Naturaufnahmen und spielt dazu die Hälfte der Instrumente selbst.
"2022-03-24T21:05:00+01:00"
"2022-03-24T17:06:55.278000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/saxofonistin-linda-fredriksson-jupiter-100.html
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"Was du ererbt von deinen Vätern"
"Was du ererbt von deinen Vätern hast,erwirb es, um es zu besitzen." "Was du ererbt von deinen Vätern" - Deutschlands kulturelles Gedächtnis auf dem Weg ins digitale Zeitalter. Ein Feature von Michael Gessat."Wir haben hier den Cruiser-Auflichtscanner, das ist ein großer Apparat, wie Sie sehen. Mit einem Auflagetisch und Glasplatte, auf den wir Objekte drauflegen können." Der Scanner steht in einem Kellergewölbe des Pergamonmuseums in Berlin. Tageslicht gibt es hier nicht, die Luft ist ausgesprochen warm und ausgesprochen trocken – ideale klimatische Bedingungen also für die Objekte, die Fabian Reiter auf dem Auflagetisch platziert hat – sie stammen aus Ägypten und sind über 2000 Jahre alt. "Die werden von zwei Lichtquellen, die so aussehen wie Neonröhren beleuchtet. Und das Objektiv ist oben drüber, aufgehängt an einem Pfahl, und es bewegen sich also die Objekte unter der Kamera, unter dem Objektiv hindurch." Und zwar beim eigentlichen Feinscan im Schneckentempo, Millimeter für Millimeter – nur im Vorschaumodus macht der Apparat etwas mehr Tempo. Praktischerweise sind die uralten und kostbaren Objekte auf dem Auflagetisch für eine Ablichtung schon quasi ideal vorbereitet:"Papyri werden grundsätzlich verglast, seit über 100 Jahren, seit wir Papyri haben, die ersten Papyri wurden in den 20er-Jahren des 19.Jahrhunderts angeschafft ... " ... das war nämlich die Geburtsstunde der Papyrussammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Mit ihrem Bestand von mittlerweile mehreren zehntausend beschrifteten Papyri, Pergamenten, Papieren und Tonscherben, den sogenannten Ostraka, gehört die Sammlung zu den fünf größten und bedeutendsten weltweit. Bisher musste nach Berlin kommen, wer einen Blick etwa auf die Komödie "Die Perser" des griechischen Dichters Timotheus werfen wollte, aufgezeichnet in einer Buchrolle aus dem 4. Jahrhundert vor Chr. – demnächst geht das vom heimischen PC aus. Fabian Reiter leitet ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG gefördertes Projekt, das einem bedeutenden Teil der Papyrussammlung den Weg in die Welt der Bits und Bytes bereiten soll:"Im Rahmen des Projektes haben wir uns vorgenommen, innerhalb von drei Jahren 6000 Stücke zu digitalisieren, und im Internet zu präsentieren, also die Bilder und die Metadaten. Dahinter steckt ja zum einen der technische Aufwand, das Scannen und die Bildbearbeitung, zum anderen die wissenschaftliche Bearbeitung, die Feststellung des Inhalts. Herkunft, Datierung, diese Daten werden eingetragen in unsere Filemaker-Datenbank und im Internet zur Verfügung gestellt. Und wir verlinken die Datenbank mit anderen Datenbanken und Portalen, sodass man nachher ein Netz hat, mit dem man arbeitet, und die Berliner Sammlung wird ein Teil davon sein."Mittlerweile ist die von Reiter und seinen Kollegen erstellte Website online und für jedermann unter der Adresse "http://smb.museum/berlpap" zugänglich – "BerlPap" steht für "Berliner Papyrusdatenbank". Der interessierte Laie kann einfach herumstöbern, aber vor allem dient die Datenbank natürlich der wissenschaftlichen Kooperation. Digitalisierung und Internet machen den wissenschaftlichen Diskurs erheblich einfacher und ergiebiger – die Berliner Papyrologen hoffen denn auch auf eine Verlängerung der DFG-Projektförderung, um noch mehr Exponate für die Datenbank erschließen zu können - oder um vielleicht gar einmal einige der Bleikisten aufzumachen, die seit einem Jahrhundert quasi unberührt im Depot stehen: "Da sind also unbearbeitete, sowohl restauratorisch als auch wissenschaftlich, Papyri drin. Das sind die Originalfundkisten aus den Grabungsorten, wo die Berliner Museumsangehörigen, die Papyrologen auch gegraben haben Anfang des Jahrhunderts; Otto Rubensohn und Friedrich Zucker zum Beispiel, so wie sie hierher gekommen sind. Und die werden jetzt sukzessive in säurefreie Kartons gepackt, und dann sicher gelagert im neuen Depot, und harren dann der restauratorischen und wissenschaftlichen Bearbeitung."Wie lange, das steht noch völlig in den Sternen. Zur Zeit gibt es für die riesige Papyrussammlung nur noch eine einzige Restauratorin, die sich auf Anfrage von Kollegen gezielt um einzelne Stücke kümmert und ansonsten mit der Vorbereitung von Ausstellungen ausgelastet ist. Ohne zusätzliche finanzielle Mittel, bedauert Fabian Reiter, bleibe halt nicht viel Raum für größere Projekte.Was Du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.Was man nicht nützt ist eine schwere Last ... Auch in vielen anderen deutschen Museen, Bibliotheken und Archiven schlummern Schätze, schlummert Kulturerbe vor sich hin. Das gilt gar nicht einmal nur für die Bestände, die aus Platzgründen in Depots ausgelagert sind. Sondern eigentlich für alle Kunstgegenstände, Bücher oder Urkunden, die zwar in internen Katalogen verzeichnet, aber der Öffentlichkeit im Grunde gar nicht präsent sind. Was hängt da eigentlich alles an den Wänden, was steht da alles in den Regalen, wo sind die historischen Beziehungen, die inhaltlichen Zusammenhänge? Am 26. Januar 2012 beschließt der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP eine "Digitalisierungsoffensive für das kulturelle Erbe".Genauer gesagt: Eine "Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe zu beginnen". Keine Mehrheit nämlich finden die Alternativanträge aus den Reihen der Oppositionsparteien - in denen zum Beispiel gefordert wird, die "Digitalisierung von Kulturgütern zu beschleunigen" bzw. die "Digitalisierung des kulturellen Erbes als gesamtstaatliche Aufgabe umzusetzen". Die Geister scheiden sich an einer nicht ganz unwesentlichen Frage – wieviel soll, wieviel darf die ganze Sache denn kosten? Und vor allem, wer soll die Zeche bezahlen – der Staat allein, oder ist vielleicht eine Kooperation mit privaten Unternehmen möglich und wünschenswert?Zumindest aber über den Motor, den Dreh- und Angelpunkt der Digitalisierungsoffensive besteht parteiübergreifend Einigkeit: Finanziert von Bund, Ländern und Kommunen soll die "Deutsche Digitale Bibliothek", kurz "DDB", den kulturellen Schatz heben und die verstreuten Informationen aus sämtlichen deutschen Bibliotheken, Museen und Archiven sammeln und im Internet abrufbar machen. Oder vielmehr: Nutzbar machen für die Generation der Gegenwart und für die Generationen der Zukunft. Online gehen soll die DDB im Laufe des Jahres 2012 zunächst in einer Art Beta-Version, mit einem ersten Datenbestand von etwa 6 Millionen Objekten. Und zwar nicht nur als Riesenkatalog, als rein quantitative Zusammenfassung, sondern mit dem Anspruch, einen Mehrwert zu generieren, Sinnzusammenhänge deutlich machen – das Zauberwort lautet hier: Semantik; die Verknüpfung von Worten mit ihrer Bedeutung. Monika Hagedorn-Saupe, die stellvertretende Leiterin des Instituts für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin:"Sie sollen mehrere Möglichkeiten haben: zum einen die einfache Suche, dass man also stichwortmäßig etwas findet. Es soll aber auch die Möglichkeit gegeben werden, dass man über Facetten oder über browsen sich in bestimmte Themen hineinzoomen kann, im Prinzip, dass man auch entdecken kann. Es geht nicht nur darum, dass man schon wissen muss, was man sucht, sondern man soll auch etwas finden können, was zu der Thematik gehört, mit der man sich beschäftigt."Nur einfach digitalisieren, nur einfach immer mehr Daten ansammeln bringt nicht automatisch einen Erkenntnisgewinn. Ob beim Recherchieren im Web oder in einer großen Datenbank - bei einer normalen, lexikalischen Suche kapituliert man notgedrungen vor der schieren Menge von Suchtreffern, deren Relevanz man nicht mehr einschätzen oder durchprobieren kann. Und wahrscheinlich noch gravierender: Man bekommt die Dinge gar nicht erst zu Gesicht, die haarscharf neben dem eingegebenen Suchbegriff liegen. "Den Zugang zu Informationen vereinfachen, Daten zu neuem Wissen vernetzen und die Grundlage für die Entwicklung neuer Dienstleistungen im Internet schaffen" – so lautete die Zielsetzung für das IT-Forschungsprojekt "Theseus", das nach fünf Jahren Laufzeit in diesen Wochen ausläuft - 200 Millionen Euro wurden investiert, je zur Hälfte aufgebracht vom Bundeswirtschaftsministerium und den beteiligten Partnern aus Forschung und Industrie. Speziell um Konzepte für die Erschließung der Bestände von Bibliotheken, Museen und Archiven – und damit um die Bedürfnisse der Deutschen Digitalen Bibliothek – ging es beim Theseus-Anwendungsszenario "Contentus". Einer der hier beteiligten Partner ist das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme in St. Augustin, kurz IAIS. Gerhard Paaß versucht hier, dem Computer in der vermeintlich leichtesten Disziplin zur im Institutsnamen beschworenen Intelligenz zu verhelfen – nämlich beim Umgang mit Text über eine rein lexikalische Verschlagwortung herauszukommen. "Das Wichtige bei einer sogenannten semantischen Erschließung, also einer bedeutungsmäßigen Erschließung ist, dass man über die Wortreihenfolge in den Texten hinausgeht und jedem Wort eine Bedeutung zuordnen möchte, diese Bedeutung kann man sich verdeutlichen bei dem Begriff "Bank", der kann einerseits eine Finanzinstitution sein, andererseits ein Möbelstück."Um was es vermutlich geht, das kann der Computer durch die statistische Analyse des Kontexts herausbekommen – je nach dem, ob dort mehr von Kredit, Konto und Eurokrise oder von Holz, Garten oder "sitzen" die Rede ist. Auch wenn in einem Text Eigennamen auftauchen, die noch nirgendwo lexikalisch verzeichnet sind, hilft die Methode weiter:"Weil zum Beispiel Personen nur im Zusammenhang mit gewissen Verben auftauchen, zum Beispiel "sagen", während ein Ort im Zusammenhang mit anderen Begriffen auftaucht, zum Beispiel "Straße" oder "hinfahren" und ähnlichem. Insofern kann man mithilfe der Umgebung von Begriffen herausfinden, um welche Kategorie von Begriffen es sich hier handelt." Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dem Rechner ein formales Modell von Begrifflichkeiten und von den Beziehungen, die zwischen ihnen herrschen, vorgegeben wird – eine sogenannte "Ontologie". "Eine ganz wichtige Ontologie für uns ist zum Beispiel Wikipedia. Wikipedia ist hierarchisch strukturiert, es gibt da sogenannte Kategorien. Wir versuchen die einzelnen Begriffe, die wir in einem Artikel finden, den Kategorien der Wikipedia zuzuordnen."Ein Katalog von Kategorien ist allerdings noch ein recht grobes semantisches Modell – komplexere Ontologien definieren Beziehungsgeflechte zwischen Begriffen: Romanautoren schreiben Bücher. Bücher werden geschrieben. Bibliotheken sammeln Bücher. Bücher werden gesammelt. Bücher werden gelesen. Möglicherweise schreiben also Romanautoren für Leser, vielleicht aber auch für Bibliotheken: Im Idealfall kann der Computer mit den vorgegebenen Regeln und der statistischen Analyse Rückschlüsse aus dem Datenmaterial ziehen, Zusammenhänge erkennen und bei einer Suche anbieten. "Diese Erkenntnisse werden dann schließlich in einem sogenannten Index abgelegt. Dieser Index enthält ähnlich wie bei einem Google-Index sämtliche Wörter des Textes, aber zu den Wörtern auch deren Eigenschaften; das heißt, handelt es sich um einen Namen, aber auch die Beziehungen zwischen den Wörtern."Trotz der speziell für diesen Zweck eingeführten Datenformate brauchen semantisch angereicherte, "annotierte" Materialien wesentlich mehr Speicherplatz und Rechenkapazität bei der Verarbeitung. Und – die Erkenntnisse des Computers, datenbanktechnisch gesprochen, die annotierten Metadaten, bleiben natürlich immer nur errechnet; mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit und damit Vertrauenswürdigkeit oder "Konfidenz" für den Nutzer. "Es gibt natürlich das Problem, dass diese semantischen Verfahren nicht hundertprozentig genau sind. Das bedeutet, wir sind sehr froh, wenn wir 95 oder 90 Prozent hinkriegen. Je komplizierter die Aussage ist, desto geringer, muss man auch sagen, ist die Genauigkeit."Vom Fraunhofer IAIS fließen nicht nur die im Rahmen von "Contentus" entwickelten semantischen Komponenten in die "Deutsche Digitale Bibliothek" ein – von hier stammt auch die eigentliche Betriebssoftware, der Datenbank-Kern für die DDB. Der soll einmal mit den automatisch errechneten semantischen Metadaten umgehen können – vor allem aber auch erst einmal mit den von Menschenhand erzeugten; sprich, mit den beschreibenden Informationen zu den digitalisierten oder noch zu digitalisierenden Objekten. Das Problem dabei: Museen, Bibliotheken und Archive haben völlig unterschiedliche Traditionen, Bedürfnisse und Standards. Für ein Buch etwa sind die Angaben "Autor und Titel" elementar und sogar notfalls zur Beschreibung ausreichend, für ein archäologisches Objekt hingegen irrelevant - entsprechend unterschiedlich sehen also auch die Datenformate aus, die ein Museum oder aber eine Bibliothek typischerweise verwenden. Die Entwickler des Datenbank-Kerns für die DDB setzen auf eine speziell für die Erfassung von kulturellem Erbe konzipierte Ontologie, das "CIDOC CRM". Dieses Datenmodell, das vom "Internationalen Komitee zur Dokumentation" entworfen wurde, auch programmiertechnisch konkret umzusetzen, ist alles andere als trivial – als Lohn winken dann extrem flexible Suchmöglichkeiten für den Endbenutzer. Der Datenbankkern, das Herzstück der DDB, geht nur mit beschreibenden, mit Metadaten um; und selbst die können für ein einzelnes Objekt schon einmal einen Umfang von mehreren 100 Megabyte haben. Aber die Objekte selbst - so sieht es das dezentrale Konzept der Deutschen Digitalen Bibliothek vor - die Digitalisate; Text, Bild, oder Videodateien also, liegen im Regelfall weiterhin auf den Servern der einzelnen teilnehmenden Institutionen. Die bleiben also auch für die Datensicherheit und Datenarchivierung zuständig; eine große Verantwortung, denn Digitalisate sind längst mehr als notfalls wiederbeschaffbare Kopien eines physischen Originals. Monika Hagedorn-Saupe vom Institut für Museumsforschung: "Wenn wir Originale digitalisieren, zum Beispiel Tonaufnahmen, oder Filmaufnahmen, wo wir wissen, dass das Original in Kürze gar nicht mehr da ist, weil es einfach aufgelöst ist, kaputtgegangen ist, dann haben wir eine ganz wichtige Aufgabe, zu sehen, das wir dann das Digitale erhalten. Das Problem aber mit der digitalen Welt ist, dass die sich einerseits sehr schnell entwickelt, und zum anderen noch nicht wirklich umfassende Kenntnisse da sind, wie man umgehen muss, die Fragen der Langzeiterhaltung digitaler Daten sind noch in der Klärung, noch in der Entwicklung. Wir haben in Deutschland ja dafür das Nestor- Kompetenznetzwerk, das mit Vertretern der verschiedenen Sparten gemeinsam versucht, diese Frage für den Kulturbereich weiter anzugehen. Aber das ist eine Herkules-Aufgabe, der wir uns stellen müssen, und wo man sagen kann: Hier hat man die Wege noch nicht gefunden."Oder zumindest noch nicht die endgültigen Wege: Immerhin haben die zahlreichen Arbeitsgruppen des Nestor-Projekts, das bei der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt angesiedelt ist, in den letzten Jahren Erfahrungsberichte, Anleitungen und Empfehlungen zu allen denkbaren technischen, organisatorischen und rechtlichen Aspekten beim Umgang mit digitalem Kulturgut vorgelegt. Zusammengefasst finden sich die Erkenntnisse im fortlaufend aktualisierten "Nestor-Handbuch": Die "kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung", so lautet der Untertitel, hat momentan einen Umfang von 634 Seiten. Am Nestor-Handbuch mitgewirkt hat auch Angela Ullmann, sie leitet im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages die Gebiete "Datenverarbeitungs-Koordination und Audiovisuelle Medien". "Und wir haben jetzt hier auch unsere Sicherungsmedien, und zwar sind das jetzt die Sicherungs-Medien von der Digitalisierung der Audiodebatten, die sind jetzt auf LTO abgelegt, LTO ist ein empfohlenes Sicherungsformat. Und da ist jetzt zum Beispiel aus der zehnten Wahlperiode die erste bis 27. Sitzung auf so einem Band."Anspruch und Aufgabe des Parlamentsarchivs ist es, das Handeln des obersten deutschen Gesetzgebers zu dokumentieren und transparent zu machen – gesammelt und aufbewahrt werden also Akten aus der Bundestagsverwaltung ebenso wie Schriftstücke, Bild- und Tonaufnahmen aus den Ausschüssen, Enquete-Kommissionen und natürlich aus den Plenarsitzungen. "Was wir meinen mit Langzeitarchivierung, ist eben über Jahrhunderte. Und dann wird die Frage des physischen Verfalls eben relativ dringend. Mit 10, 20 Jahren können sie das alles locker auf dem Material aufbewahren, auf dem es entstanden ist. Aber gerade digitale Daten oder auch analoge Sachen, die verfallen dann schlicht und einfach über die Jahrhunderte."– Atmo historische Ansprache im Bundestag Ende – ausblendenAuch an den historischen Tonbandaufnahmen der Bundestags-Plenardebatten nagt der Zahn der Zeit – bei der seit etwa sechs Jahren laufenden Digitalisierung haben die Archivare daher mit den ältesten Bändern aus dem Jahr 1949 angefangen. Jetzt ist gerade einmal die Hälfte der Wegstrecke geschafft, denn natürlich werden die Aufnahmen nicht einfach nur überspielt, sondern abgehört und mit den entsprechenden beschreibenden Metadaten versehen. Dabei sind die Mitarbeiter im Vergleich zu anderen Archiven in einer ungewöhnlich komfortablen Situation – zu allen Plenarsitzungen liegen die gedruckten Protokolle der Parlamentsstenografen vor. Aber die Erschließung erfolgt eben manuell und in Echtzeit – und auch das Bundestagsarchiv verfügt nur über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen. Da ist Pragmatismus angesagt:"Also was wir nicht machen: Wir digitalisieren keine Akten. Weil sich für die Langzeiterhaltung tatsächlich der Film besser als Medium eignet. Es gibt ja in der Bundesrepublik ein standardisiertes Verfahren, Sicherheitsverfilmung von Kulturgut, wo also die Sachen auf Silberhalogenidfilm aufgenommen werden, und das machen wir hier auch. Aber das hat mit Digitalisierung erst einmal nichts zu tun, da geht es nur um Sicherung. Was man später noch machen könnte, und die Idee haben wir auch, dass man vom Film dann digitalisiert, und das Digitalisat im Internet bereitstellt."Ein schneller und komfortabler Zugriff auf das Material – für einen Archivar ist das zwar wünschenswert, aber letztlich eine Luxusoption. Allererste Priorität hat die Aufgabe, das Archivgut langfristig zu sichern – und zwar im Rahmen des verfügbaren Budgets: "Sie müssen ja auch die Folgekosten bedenken. Es kostet ja alles, wenn sie einmal in die digitale Spirale einsteigen, können sie nie wieder aussteigen. Und die dreht sich immer schneller. Das heißt, sie müssen verantwortungsvoll auf Formate setzen, von denen sie annehmen können, dass sie zu mindestens für einige Jahrzehnte halten. Das sehe ich im Dokumentenbereich noch nicht so."Auch gegenüber den Versprechungen der Semantik, der automatischen Erschließung von Inhalten, hegt Angela Ullmann noch große Skepsis – angesehen hat sie sich zum Beispiel Entwicklungen aus dem Theseus-Projekt, die etwa in Videos von Plenardebatten Abgeordnete oder bestimmte Themen erkennen wollen. Viele Verfahren, so das vorläufige Fazit von Angela Ullmann, funktionieren mit einem bestimmten, ausgiebig trainierten Test-Datensatz schon ganz ausgezeichnet. Aber wenn es dann an Material aus der täglichen Praxis geht, steigt die Fehlerquote rapide in die Höhe: "Bis jetzt hat es uns noch einfach nicht überzeugt. Das Problem ist ja auch so ein bisschen, und das ist für alle Archivare und für alle Bibliothekare das Problem: Die Zeit, die sie damit verbringen, Verfahren zu evaluieren, die fehlt Ihnen natürlich, um das Material, was sie jetzt schon haben, zu erschließen."Ob bei der Einführung von semantischen Verfahren oder bei der Digitalisierung insgesamt – für eine einzelne Institution ist es immer riskant, technologisch vornweg zu marschieren: Wer zu früh auf das falsche Pferd setzt, der muss später kostenträchtig umsatteln. Bei einem speziellen Bereich der digitalen Langzeitspeicherung aber haben Angela Ullmann und ihre Kollegen versucht, Maßstäbe zu setzen: Seit 2005 wird das Webangebot des Deutschen Bundestages archiviert und wiederum im Internet zur Verfügung gestellt. Das hört sich weit trivialer an, als es tatsächlich ist: "Wenn sie sich in einem Webangebot befinden, dann haben Sie sozusagen nur einen Topf. Wenn sie da zwischen den Seiten springen, dann es gibt einen Link, der führt zu Seite "Aktuelles", im Archiv haben Sie ja ganz verschiedenen Fassungen, sie haben eine vom 1. November, sie haben eine vom 1. Dezember, da gibt es unter Umständen 100 Fassungen der Seite "Aktuelles"."Auch die Verlinkungen aus einer Website heraus ins Netz sind natürlich inhaltlich wichtig – nach kurzer Zeit schon kann das Ziel aber ganz anders aussehen oder gar nicht mehr vorhanden sein. Und wenn Datenschutzbelange berührt sind, oder, ganz banal, wenn temporär eingekaufte Bildnutzungsrechte abgelaufen sind, dann kann es sogar nötig sein, das eigentlich sakrosankte Archivgut selbst zu verändern, zumindest in der nach außen hin sichtbaren Benutzungsversion. Alle Modifikationen, so die wichtigste Empfehlung der Archivare, müssen dem Benutzer dokumentiert werden. Daran, dass auch Webseiten zum erhaltungswürdigen Kulturerbe gehören können, gibt es keinen Zweifel: Seit 2006 ist analog zur Pflichteinlieferung von deutschsprachigen Druckwerken bei der Deutschen Nationalbibliothek auch die Pflichteinlieferung von Webpublikationen gesetzlich vorgeschrieben. Betroffen davon sind Webseiten, an denen ein "besonderes öffentliches Interesse" besteht - zumindest theoretisch, denn bislang hat die DNB noch kein fertiges Konzept, wie sie den Sammel- und Archivierungsauftrag umsetzen soll, gibt die Direktorin Ute Schwens zu:"Es läuft eigentlich noch gar nicht. Wir haben alle Ablieferer, wie wir die immer nennen, die auf uns zugekommen sind, und gefragt haben, wie sollen wir das denn jetzt machen, welches Verfahren, haben wir vertröstet, und gesagt: Lasst uns erst mal ein gemeinsames Verfahren überlegen, was eine sinnvolle Art und Weise ist."Die Devise lautet also ganz klar – je mehr Standard, je mehr Konsens und Kooperation zwischen verschiedenen Institutionen, desto besser. Auch am Konzept der Deutschen Digitalen Bibliothek arbeitet ein ganzes Kompetenznetzwerk mit; in Frankfurt bei der Deutschen Nationalbibliothek werden die Arbeiten koordiniert. Und hier finden auch Tests der vom Fraunhofer IAIS entwickelten Software statt. Noch gebe es angesichts der schieren Datenmenge und aufgrund von noch vorhandenen Unstimmigkeiten in den zugelieferten Datensätzen immer wieder Überraschungen, berichtet Bibliotheks-Informationswissenschaftler Uwe Müller: "Und die versuchen wir im Moment zumindest zu minimieren, dass wir uns dann nicht blamieren, wenn das Betaszenario der DDB an die Öffentlichkeit geht."Fehlerhafte Metadaten führen nämlich zu unsinnigen Suchergebnissen oder Querverweisen, die den Benutzer im günstigsten Fall amüsieren, im schlechtesten Fall aber an der Seriosität des gesamten Projektes zweifeln lassen – und diese Gefahr besteht in noch viel stärkerem Maße bei den semantischen Annotationen. Wahrscheinlich wird die DDB, was computererrechnete Metadaten angeht, zunächst einmal mit sehr konservativen Einstellungen in den öffentlichen Betabetrieb gehen. Im Moment stellt sich der Informatiker ohnehin noch ganz andere, pragmatische Fragen: "Wie schnell bekomme ich eigentlich meine Daten in das System? Das sieht jetzt für den Endbenutzer nicht so wichtig aus, ist aber aus betrieblicher Sicht durchaus relevant, weil es ja dazu kommen kann, dass ich ab und zu mein System neu aufbauen muss. Andererseits will ich natürlich auch eine gewisse Reaktionszeit haben, mit der ich Daten neu in das System einspielen kann."Das konzeptionell vielversprechende, aber eben auch sehr komplexe Datenmodell, bei dem jeder Datensatz mit unzähligen anderen querverbunden ist, droht das System träge werden zu lassen – und zwar umso spürbarer, je mehr Objekte hinzukommen.Genau das sind auch die Erfahrungen beim Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur FIZ in Karlsruhe – hier stehen die Rechner, auf denen die DDB-Datenbank in der Test- und Betaphase und dann möglicherweise auch im späteren Standardbetrieb läuft. Aus Sicherheits- und aus Geschwindigkeitsgründen besteht die Hardwarearchitektur aus zwei oder später sogar drei kompletten Einzelsträngen: So können Benutzer auf ein DDB-System zugreifen, während auf dem anderen gerade neue Daten eingespielt werden. Aber wenn es bei einem solchen Ladevorgang, dem sogenannten Ingest, zu einem Abbruch kommt, hat man anschließend das Problem, die verschiedenen DDB-Instanzen wieder zu synchronisieren, berichtet die Bereichsleiterin "Entwicklung und angewandte Forschung", Leni Helmes: "Und der andere Fall ist der, mit dem wir uns auch stark auseinandersetzen: Was macht man eigentlich, wenn man feststellt am Ende dieses Ladeprozesses, der schon einmal zwei, drei Wochen dauern kann; wenn man feststellt, es wurden Daten fälschlicherweise in das System eingebaut? Sei es, dass der Betreiber irgend einen Fehler gemacht hat, oder auch der Datenlieferant feststellt: "Oh Gott, diese Daten hätte ich eigentlich gar nicht liefern wollen." Dann müssen diese wieder aus dem System heraus, und dann wird es erst richtig kompliziert. Weil man dann all diese Verlinkungen, die stattgefunden haben, die muss man dann auch wieder zurücksetzen." Je mehr Semantik und Vernetzung man in die Daten einbaut, umso komplexer wird das System. Einerseits fordern die immer größeren Datenmengen neue, intelligentere Wege der Datenverarbeitung. Aber andererseits generieren die intelligenten Wege wieder neue, riesige Datenmengen. Die existierenden Konzepte stecken in ihrer Nutzbarkeit noch halb in den Kinderschuhen und stoßen doch schon an Limits. Vielleicht steuert man sogar auf eine Wand zu, was die in absehbarer Zeit verfügbaren technischen und finanziellen Ressourcen angeht?"Nicht außer Acht lassen darf man letztendlich auch irgendwann den Energiebedarf. Also diese neuen Systeme sind sehr leistungsfähig, aber sie verbrauchen teilweise auch entsprechend Energie. Rechenzentren und der Anspruch an "Green IT", das ist schon auch etwas, was man hier bedenken muss oder überlegen muss bei der Anschaffung dieser Server - was bedeutet das letztendlich auch für mein Rechenzentrum?" Weit besser hätt ich doch mein Weniges verpraßt, Als mit dem Wenigen belastet hier zu schwitzen! Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.Lohnt sich der gewaltige Aufwand für die Digitalisierung und Archivierung des Kulturerbes? Wird aus dem Alten Neues entstehen? "Wenn hinterher wirklich größere Datenmengen von unterschiedlichsten Anbietern und Sparten in dieser zentralen Plattform sein werden, und man eben sieht, wie durch die Semantik man dann auf Inhalte stößt, auf die man sonst gar nicht gekommen wäre - Ich glaube, dann ist der Punkt, wo man sagt: Ja, das hat sich gelohnt."" Also da kann man sich viele neue Sachen noch vorstellen, die jetzt in der ersten Stufe nicht sichtbar sind, die aber sicherlich zu Mehrwert führen, den man dann monetär gar nicht mehr abschätzen kann. Insofern denke ich, das ist sehr gut investiertes Geld, das man in ein solches Projekt hier rein steckt.""Denken wir doch einfach einmal 400 Jahre weiter. Man muss sich einfach, wenn man diese Arbeit macht, aus der aktuellen Zeit lösen und einfach diesen Zeitstrahl sehen. Was man jetzt macht, ist etwas, was eine Kette fortsetzt, aber nach Einem werden auch wieder welche kommen, die diese Kette fortsetzen."
Von Michael Gessat
Mit der Digitalisierungsoffensive und der "Deutschen Digitalen Bibliothek" sollen Kulturgüter aus deutschen Museen, Bibliotheken und Archiven gehoben und im Internet digital zur Verfügung gestellt werden. Doch das deutsche Kulturerbe auf den Weg ins digitale Zeitalter zu bringen, bedeutet gewaltige finanzielle Anstrengungen und technische Herausforderungen.
"2012-04-29T16:30:00+02:00"
"2020-02-02T14:00:53.210000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/was-du-ererbt-von-deinen-vaetern-100.html
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"Allen Tendenzen entgegentreten, die zivile Seenotrettung kriminalisieren"
Das private Rettungsschiff "Ocean Viking" durfte in der sizilianischen Hafenstadt Porto Empedocle anlegen, nachdem es mehrere Suizidversuche von Migranten an Bord gegeben hat (picture alliance/ZUMA Press/ Fabio Peonia) Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geht mit hohen Erwartungen einher - auch an die Flüchtlingspolitik, bei der die EU seit Jahren kaum vorankommt in ihren Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen. Am Dienstag (07.07.2020) haben sich die EU-Innenminister unter Vorsitz von Horst Seehofer (CSU) mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten beschäftigt, die auf dem Mittelmeer gerettet wurden. Seehofer appellierte an die EU-Staaten, die Verantwortung für die aus Seenot geretteten Menschen gerechter zu verteilen. Bislang nehme nur ein verschwindend geringer Teil der EU-Staaten gerettete Menschen auf. Auch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson drängte die Länder dazu, eine nachhaltige Lösung zu finden. Diese Seenotrettung betreiben derzeit vor allem private Organisationen, bekannt ist etwa das Rettungsschiff "Sea-Watch 3". Eine staatliche EU-Seenotrettungsmission gibt es derzeit nicht. Im September 2019 wurde auf Malta ein vorläufiger Mechanismus vereinbart, um Gerettete schneller an Land bringen und auf EU-Länder verteilen zu können. Daran beteiligen sich jedoch nur wenige Staaten. Petra Bendel ist Professorin an der Uni Erlangen-Nürnberg und Expertin für Flüchtlings- und Asylpolitik, außerdem Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Deutschland sieht sie beim Thema Flüchtlinge in der Rolle eines "ehrlichen Maklers". Martin Zagatta: Frau Bendel, bei der Flüchtlingspolitik der EU, besonders bei der Seenotrettung hat man ja schon lange den Eindruck, dass da nichts oder nur ganz wenig vorangeht. Wie groß ist denn jetzt Ihre Hoffnung, dass sich unter der deutschen Ratspräsidentschaft daran irgendetwas ändert? Petra Bendel: An Deutschland werden sehr hohe Erwartungen gestellt, die von Ihnen erwähnten Gordischen Knoten nun zu zerschlagen. Es wird vor allem erwartet, dass Deutschland bei der geplanten Reform des europäischen Asylsystems zwischen den Mitgliedsstaaten vermittelt, dass es sich stärker für die Seenotrettung einsetzt und hier die EU vorantreibt, dafür zu sorgen, dass die im internationalen Seerecht verankerte Pflicht, Menschenleben zu retten, hier auch wahrgenommen wird. Keine breite Unterstützung für Seehofers Verteilmechanismus Das Treffen der EU-Innenminister im Oktober 2019 sollte einen Durchbruch für den neuen Verteilmechanismus für gerettete Flüchtlinge im Mittelmeer bringen. Doch der blieb aus. "Deutschland kann ein ehrlicher Makler sein" Zagatta: Glauben Sie da an einen Durchbruch? Bendel: Der Bundesinnenminister hat ja die Erwartungen schon ein bisschen abgesenkt heute. Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass unter den Corona-Bedingungen, wo viele informelle Gespräche gar nicht vor Ort in Brüssel stattfinden können – und all das kann man nicht durch Zoom-Konferenzen ersetzen -, dass nun wirklich alle Gordischen Knoten zerschlagen werden können. Aber die Bundesregierung steht ja nicht alleine da, sondern sie ist in einer Trio-Ratspräsidentschaft mit den Regierungen Portugals und Sloweniens. Und mit dieser Trio-Ratspräsidentschaft kann sich Deutschland gemeinsam dann auch mit der Kommission und den anstehenden Vorschlägen dafür einsetzen, jetzt wirkmächtiger auf nachhaltige Lösungen hinzuarbeiten. Zagatta: Jetzt wollte die EU-Kommission ja eigentlich schon längst Vorschläge machen. Das hat man mit der Begründung Corona vertagt, ein entsprechendes Regelwerk vorzuschlagen. Sind der Bundesregierung jetzt nicht die Hände auch irgendwie gebunden, wenn die EU-Kommission da nichts vorlegt? Bendel: Nein. Sie kann auf jeden Fall ein guter, ehrlicher Makler sein. Denn Deutschland ist ja dafür bekannt, in den letzten Jahren sehr viele Geflüchtete aufgenommen zu haben und diese auch integriert zu haben, und ist von daher ein ernstzunehmender, ehrlicher Makler auch zwischen den Mitgliedsstaaten. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die zuständige Kommissarin Ylva Johansson haben jetzt die neue Migrationsagenda angekündigt. Hier kann Deutschland gemeinsam mit der Kommission vorangehen. EU-Asylpolitik: Strittige Fragen nicht länger vertagen Der Anspruch Deutschlands sollte sein, bei seiner EU-Ratspräsidentschaft gemeinsame Lösungen in der Asyl- und Migrationspolitik zu finden, sagte Julian Lehmann vom Global Public Policy Insititute im Dlf. "Flexible Solidarität" bei der Aufnahme von Flüchtlingen Zagatta: Seehofer fordert ja von mehr EU-Mitgliedsstaaten, sich an der Aufnahme von Bootsflüchtlingen zu beteiligen. Er will heute auch wissen, wer da mitmacht. Er setzt da auf eine Koalition der Willigen. Bisher hat das ja kein großes Echo gefunden. Warum sollte sich daran jetzt etwas ändern? Bendel: Die Idee ist, dass nicht alle Mitgliedsstaaten das Gleiche machen müssen, sondern die Idee ist – sie ist nicht ganz neu; sie wurde unter der slowakischen Präsidentschaft schon mal lanciert vor einigen Jahren -, dass es eine Art von flexibler Solidarität gibt. Also eine Art Jobsharing innerhalb Europas. Und dann kann man natürlich immer auch mit finanziellen Anreizsystemen arbeiten, indem man mit einer Koalition der Willigen vorausgeht und dann über Finanzanreize nach und nach weitere Staaten versucht ins Boot zu holen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Zagatta: Das wäre dann eine Art Arbeitsteilung. Länder wie Deutschland nehmen Flüchtlinge auf und andere, vielleicht Ungarn, die zahlen dann dafür, mehr für Grenzkontrollen oder für die Versorgung von Flüchtlingen. So würde das funktionieren? Bendel: Genau, oder beteiligen sich an den Agenturen, etwa an Frontex, an der Grenzschutzagentur und oder an EASO, dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen. Zagatta: Wie ist da das Echo? Sind die Visegrád-Staaten oder andere, die da bisher große Bedenken haben – glauben Sie, die sind dazu bereit? Bendel: Die sind natürlich der wichtigste Blockierer und die werden auch weiterhin wahrscheinlich nicht so schnell zu erweichen sein. Aber man sieht, dass andere Staaten, auch Staaten an den Außengrenzen unlängst sich positiv geäußert haben, etwa Italien und Spanien, also große Staaten an den Außengrenzen, um Deutschland und Frankreich darin zu unterstützen, ein neues Verteilsystem aufzusetzen. Schwabe (SPD) - Flüchtlingssituation in Griechenland eine Schande für die EU Frank Schwabe, Menschenrechtsbeauftragter der SPD, plädiert dafür, mehr Druck auf EU-Länder auszuüben, die keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Situation lasse sich nur durch eine europäische Lösung ändern, sagte er im Dlf. Vorschlag zur Seenotrettung Zagatta: Sie haben es auch schon angedeutet: Die EU-Flüchtlingspolitik, so sagen Kritiker, die verstößt gegen gültiges Recht, gegen Menschenrechte. Was heißt das aber für die Seenotrettung? Sehen Sie da jetzt irgendwelche Bewegung, weil das wird ja in den nächsten Monaten wieder ein Thema, das wahrscheinlich ganz groß auf uns zukommt? Bendel: Allen Tendenzen, zunächst mal die humanitäre zivile Seenotrettung, die ja die einzige ist, die überhaupt noch im Mittelmeer agiert, zu kriminalisieren, sollte die EU erst mal entgegentreten. Die EU selber hat keine rechtliche Befugnis, selbst Seenotrettung zu betreiben, aber was sie tun kann ist, die Programme der Mitgliedsstaaten zu koordinieren und im Rahmen von Einsätzen bei Notfällen selbstverständlich zu helfen. In diesem Zusammenhang liegt ja jetzt der Vorschlag auch auf dem Tisch, die staatlich koordinierte Seenotrettung im Mittelmeer regional neu aufzulegen, indem die Mittelmeer-Anrainerstaaten gemeinsam dafür sorgen, dass gerettete Personen auch tatsächlich an einen sicheren Ort gebracht werden, der internationalen Menschenrechtsstandards genügt. Das heißt, man kann sie nicht einfach auf ein Schiff im Mittelmeer aussetzen und warten, dass sie auch noch krank werden womöglich. Hier brauchen wir einen EU-arbeitsteiligen Ansatz der Verantwortung der Aufnahme und schließlich dann auch der Integration der Geretteten. Zagatta: Das hört sich gut an, aber diese Forderung gibt es seit Jahren. Wo sehen Sie da Bewegung? Oder gibt es keine? Bendel: Bewegung gibt es vor allem interessanter Weise in einzelnen Mitgliedsstaaten. Das sind Staaten wie Deutschland, Frankreich, Portugal. Es ist dabei, zuletzt habe ich gesagt, Italien und Spanien haben sich bewegt. Auch das kleine Luxemburg ist da immer an Bord. Und es gibt auch Bewegung bei dem Engagement von Städten und Kommunen interessanterweise, die sich ja zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären. Und wenn man dies als eine Chance sieht, über die bestehenden Aufnahmeregelungen hinaus den Herausforderungen zu begegnen, dann kann die EU auch hier die Kommunen unterstützen. "Staaten sind nicht zur Seenotrettung verpflichtet" Das Seerecht biete keine Lösung für Bootsflüchtlingen, sagte die Völkerrechtlerin Nele Matz-Lück im Dlf. Kein Staat sei verpflichtet, Schiffe mit Geretteten in seine Häfen zu lassen. Nötig sei eine Reform des EU-Asylrechts. Kritik an Zusammenarbeit mit Libyen Zagatta: Hat aber in der Vergangenheit bisher nicht geklappt. Diese Forderung gibt es ja schon lange. Wie sehen Sie denn die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache, wenn man weiß, dass in Libyen die Menschen in Gefängnisse gebracht werden, die aus dem Mittelmeer wieder zurückgebracht werden, teilweise gefoltert? Da gibt es ja ganz schlimme Vorwürfe. Verhält sich die EU da kriminell, oder wie ordnen Sie das ein? Bendel: Das ist eine ganz schwierige Frage. Libyen ist auf jeden Fall ein Staat, ein gescheiterter Staat, ein "failed state", der in keiner Weise seiner Schutzverantwortung gerecht wird, im Gegenteil die Menschenrechte mit Füßen tritt. Hier muss sich die Europäische Union ernsthaft fragen, ob sie mit einem solchen Staat zusammenarbeiten will. Zagatta: Sehen Sie da Bewegung? Es passiert ja nichts. Bendel: Sehr wenig. Wenn ich jetzt sehe, dass sich auch internationale Akteure in Libyen immer stärker noch weiter engagieren, aber natürlich mit ihren Einzelinteressen, dann muss die EU hier wirklich ein ernsthaftes Monitoring betreiben, wenn es um die Kooperation mit dieser Küstenwache geht, und da muss man fragen, wer sind eigentlich diese Menschen, die da in der Küstenwache auch arbeiten, und von wem werden sie unterstützt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Petra Bendel im Gespräch mit Martin Zagatta
Die Migrationsexpertin Petra Bendel plädiert für einen arbeitsteiligen Ansatz bei der Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtlingen in Europa. Die EU selbst habe keine Befugnis, Seenotrettung zu betreiben, könne aber die Programme der Mitgliedsstaaten koordinieren, sagte sie im Dlf.
"2020-07-07T12:10:00+02:00"
"2020-07-08T09:50:39.466000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-fluechtlingspolitik-allen-tendenzen-entgegentreten-die-100.html
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"Es wird mehr Geld im Land bleiben"
Der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Anton Börner. (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier) Zeitlich genau steht das Ende der Sanktionen gegen den Iran noch nicht fest. "Aber wir bereiten uns natürlich darauf vor. Und wir rechnen uns gute Chancen aus", sagte Börner. Zwar hätte China in Zeiten der Sanktionen an Terrain gewonnen, weil der Iran importieren musste. Dennoch sei er optimistisch, sagte Börner. "Wir glauben einfach, dass wir Produkte haben, die die Iraner auch brauchen. Da wird für uns einiges übrig bleiben." Handel war nie auf Null gesunken Zudem sei der Handel nie auf Null heruntergegangen, da Lebensmittel und Medizin von den Sanktionen ausgenommen waren. "Da sind wir ganz gut dabei mit unseren Produkten." Da der Iran nun Milliarden in seine Infrastruktur und die Erdölförderung investieren werde, habe Deutschland mit seinen Stärken in Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie und Dienstleistungen gute Chancen. "Unsere Unternehmen haben lange Erfahrung im Iran. Die Kontakte von früher sind da. So fängt man halt wieder an." Auch für die iranische Bevölkerung habe das Vorteile, sagte Börner. "Wenn der Iran auf einen Wachtsumspfad zurückkommt, dann werden Arbeitsplätze geschaffen. So bleibt mehr Geld im Land, das Wohlstandsniveau wird angehoben." Politische Gefangene, die es auch nach dem Ende der Sanktionen im Iran geben werde, seien der Wirtschaft derweil keineswegs gleichgültig. "Wandel durch Handel ist ein Credo von uns. Durch die Öffnung und die Wiedereingliederung des Irans in die Weltwirtschaft wird sich etwas bewegen." Das Interview in voller Länge:Friedbert Meurer: Die Woche hat mit zwei zentralen, vielleicht sogar historischen Entscheidungen begonnen. Die Eurostaaten wollen Griechenland ein drittes Hilfspaket zusagen, und die Sanktionen gegen den Iran werden aufgehoben, Teheran verpflichtet sich, sein Atomprogramm zu reduzieren und kontrollieren zu lassen. Die Nachricht, dass der Westen die Sanktionen gegen den Iran aufheben will, elektrisiert natürlich die Wirtschaft weltweit, ganz besonders hier in Deutschland. Deutschland war mal Außenhandelspartner Nummer eins für den Iran. Anton Börner ist Präsident des Bundesverbands des Großhandels, Außenhandel und Dienstleistung, und ihn habe ich vor der Sendung gefragt, ob er schon weiß, wann genau die Sanktionen fallen. Anton Börner: Nein, die Durchführungsverordnungen, wenn Sie so wollen, die liegen ja noch nicht vor. Wir sehen das jetzt erst mal generisch und bereiten uns natürlich darauf vor. Ich sage mal, auf der Basis, wo wir mal aufgehört haben, wieder aufzusetzen, und wir rechnen uns gute Chancen aus, dass das auch gelingen wird. Also wir sind sehr optimistisch. Meurer: Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel wird ja jetzt schon am Sonntag mit einer Wirtschaftsdelegation in den Iran reisen. Das geht ja ziemlich schnell. Läuft das ein wenig auf ein Wettrennen mit anderen Nationen hinaus? Börner: Ja, man muss ja schon sehen, auch in der Vergangenheit, ich kann mich selber erinnern, dass mal eine iranische Delegation hier in Berlin war, während dieser Sanktionen, dann hat man uns also gesagt, wenn wir da sozusagen zu formalistisch sind und da nichts tun, dann würden und die Chinesen da den Rang ablaufen, die wären da nicht so empfindlich wie wir. Ich sagte, na ja gut, das können die Chinesen halten, wie sie wollen, wir respektieren den Primat der Politik, und wenn die Politik uns eben anweist, das zu machen, dann halten wir uns da auch dran, dann unterlaufen wir das nicht. "Wir haben gute Produkte, die die Iraner brauchen" Meurer: Also formalistisch, damit war gemeint, Sie sind so formalistisch, sich an Einfuhrkontrollen und Sperren zu halten. Börner: Ja, so haben die das gemeint, ja, genau. Aber wie gesagt, es ist schon so, dass die Chinesen dort unheimlich an Terrain gewonnen haben, weil irgendwo haben die Iraner ja auch ihre Dinge da importieren müssen, und da ist halt China eingesprungen. Aber wir sehen das trotzdem jetzt nicht entspannt, das sollte man so nicht sagen, aber wir sind trotzdem optimistisch, weil wir glauben einfach, dass wir ziemlich wettbewerbsfähig sind und gute Produkte haben, die die Iraner jetzt auch brauchen. Also im Grunde genommen brauchen sie alles, was wir auch haben und was wir exportieren können. Und da wird für uns einiges übrig bleiben. Meurer: Auf Null ist das Ganze ja nicht zurückgefahren, Herr Börner, zweieinhalb Milliarden im letzten Jahr. Was ist denn geliefert worden im letzten Jahr, beispielsweise? Börner: Ja, bei den Sanktionen sind ja explizit Lebensmittel ausgenommen worden, es sind auch Medizin, also Pharmazeutika und Medizintechnik ausgenommen worden, und da sind wir natürlich mit unseren Produkten ganz gut dabei. Meurer: Was könnte bei den Sanktionen als erstes aufgehoben werden. Was glauben Sie, oder was wünschen Sie sich? Börner: Ja, was wünsche ich mir? Ich meine, unsere starken Sektoren, die wir haben, also das ist in erster Linie ja der Maschinenbau, das ist Elektrotechnik, das ist Chemie, das sind aber auch Dienstleistungen. Wir sehen also, dass wir ein sehr starker Dienstleistungsexporteur werden, und wie gesagt, die Iraner müssen ihre komplette Infrastruktur ja, ich will nicht sagen, neu machen, aber sie müssen unheimliche Milliarden da investieren, auch, sagen wir mal, die Erdölförderung und so weiter. Da ist sehr, sehr viel zu tun, und da haben wir außer den richtigen Produkten eben auch die richtigen Dienstleistungen, und da glaube ich, dass wir sehr gut dabei sind. Meurer: Wie bereitet sich die deutsche Wirtschaft jetzt darauf vor, einen Fuß in die Tür zu bekommen? Börner: Unsere Unternehmen haben ja eine jahrzehntelange Erfahrung. Wir haben ja die Mitarbeiter, die ja auch eine Iran-Erfahrung mitbringen in den Abteilungen. Die ist jetzt auf Eis gelegt worden, aber die sind natürlich alle noch in den Unternehmen da, die ganzen Kontakte sind da, man kennt sich ja noch, und da wird man schlicht und ergreifend reaktivieren, indem man sich an die Leute im Unternehmen wendet, die sich dort auskennen. Ja, und dann wird man auch die Teams entsprechend vergrößern, und so fängt man halt wieder an. "Kein Auftrag wird an der Frage der Bonitätsprüfung scheitern" Meurer: Wird alles davon abhängen, ob der Iran Gas und Öl verkaufen kann und damit Devisen bekommt, um eben deutsche Produkte zu kaufen? Börner: Ja, das ist jetzt halt die Frage, wie bonitätsmäßig stark der Iran eingestuft wird. Gibt es Hermes-Deckungen, gibt es keine, in welcher Form, in welcher Höhe, wie werden die ausgestattet? Gibt es eine Exportfinanzierung, beispielsweise über eine KFW-Tochter, die ja da spezialisiert ist? Also, das kann man jetzt noch nicht so genau sagen, da wird ein Bündel geprüft werden. Die Frage ist auch, wie solvent ist der Iran? Vielleicht hat er ja genug Geld, um sozusagen die offenen Rechnungen sofort bezahlen zu können. Das muss man eben jetzt sehen. Das sind dann auch Teile auch der Lieferverhandlungen, Zahlungskonditionen sind ein wichtiger Punkt, und dann muss man halt sehen, wie man da weiterkommt. Aber ich gehe davon aus, dass der Iran alles tun wird, um sehr schnell wieder Vertrauen zu schaffen und zu wecken, sodass an der Frage der Bonitätsprüfung, glaube ich, kein Auftrag scheitern wird. Meurer: Da sehe ich ja ehrlich gesagt schon vor meinem geistigen Auge, Herr Börner, Heerscharen von, ich sage jetzt mal, Wirtschaftslobbyisten im Wirtschaftsministerium rennen, um eben Hermes-Bürgschaften und Ähnliches durchzusetzen. Wird das so sein? Börner: Nein, das wird nicht so sein. Wir haben ja einen permanenten Ausschuss im Wirtschaftsministerium, der ist ja besetzt mit Fachleuten aus der Wirtschaft, eben aus dem Ministerium und eben aus dem Versicherungswesen, und da wird man sich sehr schnell einig werden. Ich glaube nicht, dass das eine Lobby-Schlacht wird. Credo: "Wandel durch Handel" Meurer: Es ging ja bei der Aufhebung der Sanktionen um das Nuklearprogramm des Iran. Es ging nicht um die Menschenrechte. Wir wissen, dass immer noch Hunderte oder Tausende politische Häftlinge im Gefängnis sitzen im Iran. Interessiert das die deutsche Wirtschaft? Börner: Ja, das interessiert uns sehr stark. Wir achten da sehr drauf, und das ist also nicht etwas, was uns völlig gleichgültig ist. Wir sagen aber, Wandel durch Handel, das ist so ein Credo von uns. Und natürlich ist es so, dass man mit Geschäftspartnern auch über diese Dinge spricht. Und wir denken, dass durch die Öffnung und das Wiedereingliedern des Irans in die Weltgemeinschaft auch da sich einiges bewegen wird, bewegen muss, weil auch der Iran seinerseits natürlich auf Reputationsgewinn aus sein muss. Und er muss ja auch schauen, wie er in den Märkten sich dann positioniert. Also ich glaube, ich bin da optimistisch, das kann man nicht erwarten, dass das so von heute auf morgen passiert. Aber das ist ein Prozess, der, glaube ich, auch nicht zu stoppen ist. Meurer: Wie darf ich mir das vorstellen, dass deutsche Wirtschaftsvertreter mit iranischen Partnern über diese Menschenrechtsfragen reden? Börner: Ja, wir reden ja nicht nur, ich sage mal so, rein fachlich-sachlich, sondern man sitzt ja auch mal zusammen, man geht ja auch mal Abendessen und spricht über das eine oder andere. Das andere ist dann natürlich auch, dass die Iraner ihre Studenten in unsere Universitäten und unsere Betriebe schicken müssen. Und da kriegen sie so viele informelle Kontakte, die kann man nicht immer sozusagen an der Garderobe hängen lassen, sondern das ist ein schleichender Prozess. Und da sind wir relativ optimistisch, dass sich da was bewegt. Wir müssen dann auch sehen, wir leben im Zeitalter des Internets, wir leben im Zeitalter der Handys und der Smartphones und, und, und. Da gibt es – heute ist es für Staaten schon relativ schwierig, dass so wirklich wasserdicht abzuschließen oder ... "Irans Wohlstandsniveau wird angehoben" Meurer: Aber abzuhören scheint kein Problem zu sein. Ist das nicht die große Gefahr, dass alles abgehört, abgelauscht wird? Börner: Ich persönlich sehe – die Gefahr ist natürlich da, aber das hat jetzt mit Iran nichts zu tun. Wenn Sie anschauen, ich sage das nur mal, Italien, Frankreich, um mal nicht immer USA zu nehmen, Russland, China, alle hören ab. Jeder hört jeden ab, und die Unternehmen müssen wissen, dass es so ist, und da muss man dann halt auch mithilfe der Technologie, soweit es möglich ist, und auch mit Vorsichtsmaßnahmen sich schützen, dass man eben seine Betriebsgeheimnisse nicht unbedingt immer am Laptop mit sich herum trägt und in jedem Hotel kopiert werden. Also da hat die Sensitivität und die Sensibilität in den Unternehmen in den letzten Monaten und Jahren gewaltig zugenommen, da sind wir weit, weit, noch nicht am Ende der Fahnenstange, aber das ist ein Prozess, das ist einfach so, damit müssen wir leben, das können wir nicht wegdiskutieren, und das werden wir auch nicht ändern, sondern das wird zunehmen. Meurer: Die deutsche Wirtschaft will Geschäfte machen, das liegt nun mal in der Natur der Sache. Was haben die Menschen im Iran davon, wenn die Sanktionen jetzt fallen? Börner: Ja, ich meine, wenn der Iran wieder zu einem Wachstumspfad zurückkommt und schlicht und ergreifend damit die finanzielle Basis auch hat, in seinem eigenen Land Infrastrukturmaßnahmen zu modernisieren und dann letztendlich auch im Land zu investieren, dann werden Arbeitsplätze geschaffen, dann kriegen die Leute auch mehr Zukunft, dann gibt es mehr Optimismus und schlicht und ergreifend bleibt mehr Geld im Land, sodass das gesamte Wohlstandsniveau angehoben wird. Meurer: Die deutsche Wirtschaft ist optimistisch, dass die Sanktionen gegen den Iran fallen und das Regime der Mullahs gelockert wird dank "Wandel durch Handel", so das Zitat. Anton Börner ist Präsident des Bundesverbands des Großhandels, Außenhandel und Dienstleistung. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anton Börner im Gespräch mit Friedbert Meurer
Die Sanktionen gegen den Iran fallen durch das Atom-Abkommen, nun beginnt das Rennen um Aufträge. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel reist bereits am Sonntag mit einer Delegation von Wirtschaftsvertretern in den Iran. Anton Börner, Präsident des deutschen Groß- und Außenhandelsverbandes, hofft auf Profit für die deutsche Wirtschaft - und für die iranische Bevölkerung.
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"2020-01-30T12:47:46.509000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atomabkommen-mit-dem-iran-es-wird-mehr-geld-im-land-bleiben-100.html
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Michael Hüther: Krankenkassen-Überschüsse sollten nicht im Fonds verbleiben
Dirk Müller: Rentenversicherung, Pflegeversicherung, Krankenversicherung und die Arbeitslosenversicherung – da gibt es zumeist immer äußerst lange Gesichter, wenn davon die Rede ist, vor allem, wenn von den Kosten und von den Defiziten die Rede ist. Jetzt aber nicht: Jetzt geht es um Überschüsse, um fast 14 Milliarden Euro, die die Sozialkassen auf der hohen Kante haben. Was soll damit passieren? Zurückgeben an diejenigen, die diese Überschüsse erwirtschaftet haben, also an die Versicherten, an die Arbeitnehmer, oder einfach horten, bunkern für schlechte Zeiten? Die Kanzlerin ist offenbar fürs Horten. – Am Telefon begrüße ich nun Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Guten Morgen!Michael Hüther: Guten Morgen, Herr Müller.Müller: Herr Hüther, wem gehört das Geld?Hüther: Zunächst einmal gehört es rechtlich den Kassen und es ist zum Teil ja mit Regeln auch versehen, wie man mit solchen Überschüssen umzugehen hat. Deswegen macht es Sinn, sehr differenziert zu schauen. Sie haben in der Anmoderation deutlich gemacht, die Arbeitslosenversicherung, die Pflegeversicherung, das sind ja nur kleine Beträge, dort haben wir mehr oder weniger ausgeglichene Haushalte. Es geht also um die Krankenversicherung und um die Rentenversicherung.Bei der Rente ist es ganz eindeutig. Wenn dort die Nachhaltigkeitsrücklage, das heißt so eine Art Puffer, ein Liquiditätspuffer, mehr als das 1,5-fache einer Monatsausgabe beträgt, dann werden die Beiträge gesenkt. So ist das auch zum 1. Januar 2012 ja geschehen, wo der Beitrag von 19,9 auf 19,6 angepasst wurde. Insofern haben wir bei der Rentenversicherung relativ wenig Handlungsbedarf, hier gibt es einen Regelmechanismus, der sollte auch umgesetzt werden. Das heißt, wenn solche Überschüsse da sind, dann gehen sie an die Beitragszahler zurück.Das Problem stellt die Krankenversicherung dar. Dort haben wir den höchsten Überschuss, 9,3 Milliarden, davon 5,3 im Gesundheitsfonds, der andere Teil direkt bei den Kassen, und es gibt hier keine Regelung und da ist in der Tat zu fragen, was macht man damit, denn hier ist offensichtlich etwas vergessen worden im gesetzgeberischen Werk.Müller: Was ist vergessen worden?Hüther: Man hat im Grunde den Gesundheitsfonds so gerechnet, als wäre es ständig eine Situation unter Ausgabendruck. Tatsächlich finden wir aber in den letzten Quartalen, auch eineinhalb Jahren durch die gute Beschäftigungslage, für die wir auch keinen Abbruch sehen, bei gleichzeitig ja auch beachtlicher Ausgabendisziplin, dass diese Kassen in Überschuss geraten. Es gibt keinen Regelmechanismus dafür, wie man nun umzugehen hat. Das ist der Preis, den wir für diese Gesundheitsreform zahlen. Früher war es ja üblich oder möglich, dass die einzelnen Kassen je nach ihrer Liquiditätslage dann den Beitragssatz anpassen konnten. Nun geschieht das ja nicht mehr, wir haben einen allgemeinen Beitragssatz, der 15,5 Prozent beträgt und den die gesetzlich Versicherten an den Gesundheitsfonds entrichten. Es ist nicht im Gesetz vorgesehen, diesen Beitragssatz abzusenken oder ähnlich wie mit der Liquiditätsreserve bei der Rentenversicherung zu verfahren, die hier auch mindestens 20 Prozent der Monatsausgabe tragen soll. Es gibt also keinen Höchstliquiditätspuffer, und insofern ist die Diskussion verständlich. Der Gesundheitsminister verweist auf die Praxisgebühr, die könnte man indirekt nutzen, indem man auf sie verzichtet, um das Geld zurückzugeben, aber es wäre schon zu überlegen, ob nicht hier eine Lücke im Gesetzgebungsverfahren ist und eine Analogie zum Rentenrecht hergestellt wird.Müller: Also wäre das im Grunde gar kein Problem zu sagen, wir haben die Rentenbeiträge gesenkt aufgrund der guten finanziellen Situation, dann machen wir das mit den Beiträgen für die Krankenkasse ebenfalls?Hüther: Und wir machen das ja nach dem Regelmechanismus der Rentenversicherung auch nicht irgendwie kurzfristig, sondern man weiß, es gibt dafür einen Schätzerkreis, der das überprüft, wenn die Monatsrücklage so groß ist, dass sie dieses 1,5-fache übersteigt, dann wird der Beitrag angepasst, und wir können ja derzeit davon ausgehen, dass zum 1. Januar 2013 der Rentenbeitrag noch mal um 0,4 auf 19,2 und ein Jahr später Richtung 19 Prozent abgesenkt werden kann. Hier gibt es also in der Tat eine Logik, und das sind ja auch dann in langer Sicht keine großen Schwankungen. Das ist ja immer das Gegenargument, ein stabiler Beitrag ist ein wert an sich. Aber es ist natürlich richtig: wir sollten die Beschäftigten, die das ja als Verringerung ihres verfügbaren Einkommens auch spüren, dann auch teilhaben lassen an einem Effizienzgewinn.Müller: Reden wir, Herr Hüther, noch einmal über Mathematik und Politik. Sie haben das schon ein wenig anklingen lassen: irgendeiner hat da falsch gerechnet. Es gab massive Klagen der Versicherten über die Zusatzbeiträge, die ja nun auch bestanden haben, die jetzt etwas zurückgegangen sind, über die Praxisgebühr, dann über steigende Beiträge, die ja auch alle getroffen haben, und dann kommt die Politik beziehungsweise dann kommen die Kassen mit fast neun Milliarden oder gut neun Milliarden Euro Überschuss. Darf die Politik sich so verrechnen?Hüther: Na ja, es ist, glaube ich, für viele schon erstaunlich, welches Maß an Beschäftigungsdynamik wir haben, denn das ist ja der große Treiber, die Einnahmen entwickeln sich deutlich günstiger als erwartet. Auf der anderen Seite gilt aber auch, dass die Maßnahmen auf der Ausgabenseite gerade bei der Gesundheitskasse dazu geführt haben, dass wir eine höhere Disziplin beobachten. Richtig ist aber auch, für die Politik zu sagen, na ja, sind wir mal ein bisschen vorsichtig bei der Disziplin der Ausgabenseite, da haben wir jetzt mittlerweile 30 Jahre oder 35 Jahre Erfahrung mit Gesundheitsreformen, das waren nie wirklich Dauerhaft-Effekte. Entscheidend ist also das, was auf der Einnahmenseite passiert, und dann ist das sehr erfreulich, aber dann in der Tat stellt sich auch genau die Frage, wie gehen wir eigentlich damit um, denn es ist ja so, dass das Geld, das in den Kassen ist, dann auch irgendwie verwendet wird. Also es muss schon auch erkennbar sein, dass bei einer solchen Entwicklung auch die Beitragszahler beteiligt werden.Müller: Bleiben wir beim Rechnen, Herr Hüther. Abgaben und Beiträge sind zumindest unter dem Strich in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Das heißt, es gibt für die Arbeitnehmer Nettoverluste. Warum?Hüther: Nun, wir haben auf der einen Seite, wenn wir die letzten 20 Jahre grob nehmen, in der Tat einen Rückgang der Nettolöhne im Durchschnitt von 18.600 auf 17.650. Das ist geschuldet der Steuer- und Abgabenlast, die ist stärker gestiegen als die Einkommen. Das hat einmal damit zu tun, dass wir in der Lohnsteuer diese klassische Kalte Progression haben. Das heißt, dort wird jeder Euro gleich bewertet und wir haben hier einen höheren Grenzabgabenbereich, in den die Einkommen hineinwachsen. Da ist nicht entsprechend viel zurückgegeben worden. Und es gilt halt für die Beitragssätze, man darf nicht vergessen: Über die Zeit sind die Beiträge in der Rentenversicherung angehoben worden, es ist der Beitrag der Pflegeversicherung hinzugekommen, wir haben im Gesundheitsbereich steigende Beiträge, und das ist ja sozusagen auch die Geschichte, vor der wir das alles diskutieren. Wir stehen jetzt vor einer völlig anderen Situation, einmal beschäftigungsbezogen, aber auch, weil sich in den Systemen doch viele Dinge als richtig erwiesen haben – nehmen wir beispielsweise die Rentenversicherung mit dem Nachhaltigkeitsfaktor, mit dem Nachholfaktor. Das sind alles ganz wichtige Elemente, die zur Stabilisierung beigetragen haben, auch die Rente mit 67, die jetzt anläuft. Insofern ist da über die 20 Jahre etwas zum Teil nicht erfreulich gewesen, weil wir Belastungen hatten, aber wir haben auch reagiert, und jetzt ist die Frage, wie tragen wir das in die Zukunft.Müller: Da spielt es auch keine Rolle, ob ich jetzt SPD wähle oder Schwarz-Gelb?Hüther: Ich glaube nicht wirklich, denn die Gesundheitsreform mit dem Gesundheitsfonds ist ja das Ergebnis von Schwarz-Rot und sie ist nicht unter Schwarz-Gelb verändert worden, sondern der jetzige Gesundheitsminister der FDP agiert auf diesem Plafond. Man hat sozusagen natürlich ein Instrument auch in dem System mit den Zusatzbeiträgen, das noch mal Disziplinierung auslösen soll, Sie haben es angedeutet, faktisch haben wir das aber nicht und insofern haben wir da auch nicht die Befürchtungen, die ja viele Politiker hatten, dass es eine soziale Schieflage gibt, tatsächlich erlebt. Ich halte das auch nicht für problematisch. Aber wenn man das politische Argument nimmt, bleibt also jetzt die Frage, wie gehen wir wirklich mit solchen Überschüssen um, und ich finde, das sollte nicht einfach im Fonds verbleiben, sondern die Analogie der Rentenversicherung ist relativ klug.Müller: Ich glaube, der Zug wartet auf Sie. Vielen Dank, Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Vielen Dank für das Gespräch und gute Fahrt.Hüther: Sehr gerne. Danke!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Hüther im Gespräch mit Dirk Müller
Neun Milliarden Euro haben die Krankenkassen auf der hohen Kante. Hier fehle ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass Überschüsse an die Beitragszahler zurückgehen, sagt Michael Hüther. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln hält eine analoge Regelung zur Rentenversicherung für klug.
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https://www.deutschlandfunk.de/michael-huether-krankenkassen-ueberschuesse-sollten-nicht-100.html
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Mit geballter Faust in die Wahlkabine
Wahlen in Italien (picture alliance / Miguel Medina) "Oh mein Gott, zeig mir den Weg", das wird sich an diesem Sonntag wohl so mancher Wähler auf dem Weg in die Wahlkabine denken. Mit mehreren Großveranstaltungen war der Wahlkampf zuende gegangen, aber ob das an der Ratlosigkeit vieler Wähler noch etwas geändert hat? Beppe Grillo hat den Anhängern der Fünf Sterne-Bewegung noch einmal in Rom eingeheizt. Zuvor hatte Luigi di Maio, der sich mit seinen 31 Jahren für das Amt des Ministerpräsidenten bewirbt, seine Regierungsmannschaft vorgestellt: "Heute habt ihr eine Regierungsmannschaft für Italien kennengelernt, die es von 2018 bis 2023 geben kann. Das hängt allein von den italienischen Bürgern ab. Wir glauben, dass wir die richtigen Personen an den richtigen Ort gebracht haben. Erlaubt ihr uns, dass wir Montag anfangen können, diese Minister einzusetzen und anfangen, die Dinge wirklich zu verändern." Keine Koalitionspartner in Sicht Ob es dazu kommt, ist mehr als fraglich: zwar könnten, glaubt man den letzten Umfragen, die Fünf Sterne als stärkste Partei ins Parlament einziehen, aber Koalitionspartner sind weit und breit nicht in Sicht. Regierungsfähige Mehrheit? Unwahrscheinlich. Am nächsten kommt der vielleicht Silvio Berlusconi, der als letzter im Programm der staatlichen RAI noch einmal seine Versprechen ausbreiten durfte: Flat Tax und die Abschaffung von Abgaben für alle, 1.000 Euro Grundeinkommen für Alte, Arme, Arbeitslose, Jobs für die Jungen. Und allen Wählern, die seine vielen Skandale vergessen haben und ebenso, dass er als Regierungschef Italien Ende 2011 an den Rand des Abgrunds geführt hat, sagte er noch das: "Die oberste Moral der Politik ist es, die Verpflichtungen, die man im Wahlkampf gegenüber den Wählern eingegangen ist, einzuhalten. Da darf es keinen Zweifel geben." Keinen Zweifel gibt es daran, dass auch Berlusconi am Ende nicht Italiens Ministerpräsident wird. Ein politisches Amt darf er als verurteilter Steuerhinterzieher nicht bekleiden. So will er, sollte es für sein Mitte-rechts-Bündnis reichen, Antonio Tajani vorschicken, den Präsidenten des Europaparlaments, und selbst im Hintergrund Regie führen, wie er sagt. Matteo Renzi hat da deutlich größere Ambitionen. Er will regieren, auch um den Beweis anzutreten, dass er in seinen fast drei Jahren als Italiens Ministerpräsident das Land vorangebracht hat. "Die echte Nachricht ist, dass Italien angesichts dieser Krise, die uns heimgesucht hat, wieder in Gang gekommen ist. Was tut man, damit das weitergeht? Denkt man sich ein Grundeinkommen aus? Oder eine Flat Tax? Hört zu, davon wird nach dem 5. März keine Rede mehr sein. Es wird keine Flat Tax geben, so wie der Schnee schmilzt, wird sich das in Luft auflösen." Dümpeln bei 20 Prozent Renzis Problem ist allerdings, dass Paolo Gentiloni, der amtierende Ministerpräsiden populärer ist als er, und vor allem: dass sein Partito Democratico bei knapp über 20 Prozent zu dümpeln droht, wie die SPD in Deutschland. Und weil Silvio Berlusconis Forza Italia noch schwächer abschneiden könnte, wird es wahrscheinlich noch nicht einmal zu einer GroKo all’Italiana reichen. Für eine der absurdesten Szenen im Wahlkampf-Endspurt, sorge aber Matteo Salvini, der mit der Lega Nord, die lange Jahre für Hetze auf den Süden und für die Abspaltung Norditaliens stand, nun ganz Italien erobern will. Der Lega werden keine 15 Prozent zugetraut, trotzdem leistete Salvini, vor dem Mailänder Dom, quasi schon mal den Amtseid: "Vor Euch verpflichte ich mich und schwöre meinem Volk, den 60 Millionen Italienern treu zu sein, Euch mit Ehrlichkeit und Mut zu dienen. Ich schwöre wahrhaft anzuwenden, was von der italienischen Verfassung vorgesehen ist, die von einigen ignoriert wird. Und ich werde die Inhalte dieses heiligen Evangeliums respektieren. Ich schwöre – schwört Ihr mit mir zusammen?" So versuchten die einen vor dieser Wahl den Bauch, die anderen das Hirn der Italiener anzusprechen. Fest steht eigentlich nur, dass viele der fast 51 Millionen Wahlberechtigten mit geballter Faust in der Tasche in die Wahlkabine gehen werden. Und was dabei herauskommt ist nach Lage der Dinge völlig offen.
Von Jan-Christoph Kitzler
Im italienischen Wahlkampf versuchten die Kandidaten entweder den Bauch oder das Hirn der Italiener anzusprechen, aus unterschiedlichen Lagern, mit unterschiedlichen Mitteln. Dennoch, das Ergebnis scheint so kurz vor der Wahl immer noch so ungewiss, wie die Wähler ratlos.
"2018-03-03T12:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:41:43.779000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italien-nach-dem-wahlkampfabschluss-mit-geballter-faust-in-100.html
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Frankreichs Botschafter dankt Deutschland für die Anteilnahme
Der französische Botschafter in Deutschland, Philippe Etienne. (picture alliance / dpa / Lukas Schulze) Die Anschläge in Paris vom Freitag bezeichnete Etienne als einen Angriff auf die "gesamte französische Bevölkerung", vor allem aber auf die jungen Franzosen. Der Schmerz sitze sehr tief. Die Folgen seien noch nicht alle absehbar, klar sei aber: "Diese terroristischen Angriffe haben eine tiefgreifende Bedeutung." Wahrscheinlich nicht nur für Frankreich. Die Angriffe würden nicht ohne Gegenreaktion bleiben, so Etienne. Er forderte "Maßnahmen in der europäischen Innen- und Sicherheitspolitik" im Kampf gegen die Angreifer. Auch die weltweite Staatengemeinschaft sei gefragt. Auf die Frage, ob nun der NATO-Bündnisfall eintrete, sagte Etienne: "Diese Frage wurde in Frankreich nicht gestellt." Auf alle Fälle sei man aber den Verbündeten für ihre Unterstützung sehr dankbar. Ausdrücklich lobte der Botschafter auch die Reaktionen auf die Anschläge aus Deutschland. Trauer- und Unterstützungbekunden seien "wichtige Signale". Das Interview in voller Länge: Sandra Schulz: 132* Menschen sterben am Wochenende bei und nach den Anschlägen von Paris: bei einer Terrorserie, die weltweit für Entsetzen gesorgt hat. Drei Terrorkommandos an sechs Orten schlagen koordiniert zu, schießen auf Menschen in Restaurants und Cafés und in der Konzerthalle Bataclan. Selbstmordattentäter sprengen sich in der Nähe der Fußballarena Stade de France in die Luft. Sehr wahrscheinlich hatten sie eigentlich vor, das im Stadion während des Spiels Frankreich-Deutschland zu tun und unzählige Fans mit in den Tod zu reißen. Jetzt antwortet Frankreich militärisch mit Luftanschlägen gegen den IS. Mitgehört hat der französische Botschafter in Berlin, Philippe Etienne. Guten Morgen und ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben und uns heute zugesagt haben. Philippe Etienne: Guten Morgen, Frau Schulz. Schulz: Die Anschläge auf Charlie Hebdo, die liegen noch nicht mal ein Jahr zurück. Jetzt ein neuer Anschlag, eine neue Anschlagsserie mit noch mehr Toten. Wie tief sitzt der Schmerz? Etienne: Der Schmerz ist sicher sehr tief und deswegen brauchen wir auch sehr die Anteilnahme, diese Beziehung zu unseren deutschen Freunden. Aber die Anschläge vom letzten Mal waren gezielte Anschläge. Diesmal galt der Angriff vom letzten Freitag der gesamten französischen Bevölkerung und insbesondere der Jugend und deren Lebensstil, wie Ihre Korrespondenten es gut geschildert haben. Trotzdem: In beiden Fällen müssen wir diese terroristischen Bedrohungen angehen, und das ist sehr, sehr ernst. "Diese Angriffe haben natürlich eine tiefgreifende Bedeutung" Schulz: Herr Etienne, ich weiß, die Frage kommt früh. Aber können Sie uns schon sagen, was diese Anschläge für Frankreich bedeuten? Etienne: Ja, die Frage kommt ein wenig früh, wenn Sie von mir alle Folgen hören möchten. Aber diese terroristischen Angriffe haben natürlich eine tiefgreifende Bedeutung, vielleicht auch nicht nur für Frankreich, und unser Staatspräsident wird heute vor der Versammlung beider Kammern des französischen Parlaments - das ist ein relativ seltenes Verfahren - eine Rede halten. Er hat gestern mit allen Parteien gesprochen und wir haben schon diesen Ausnahmezustand beschlossen. Wir werden erstens natürlich - das ist die erste Priorität -, wir müssen die Sicherheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sichern und den Kampf gegen die Terroristen noch entwickeln. Schulz: Und da ist natürlich interessant und da fragen sich viele, wie dieser Kampf aus französischer Sicht aussehen soll. Sieht Frankreich den Bündnisfall, den NATO-Bündnisfall als gegeben? Etienne: Ja! Erstens haben Sie schon gesehen und Ihre Korrespondentin hat das auch bezeichnet, dass wir schon Vieles intern gemacht haben. Aber auch - und das ist die Bedeutung dieses Ausnahmezustands - werden wir mehr zu tun haben, um die Unterstützungspunkte der terroristischen Bewegung zu identifizieren und zu bekämpfen. Zweitens: Natürlich brauchen wir auch europaweit neue Maßnahmen in dem Bereich der Innen- und Sicherheitspolitik. In diesem Sinne wird am kommenden Freitag eine außerordentliche Tagung des Rates Justiz und Inneres stattfinden und wir brauchen die rasche Umsetzung insbesondere aller Entscheidungen, die schon seit Januar im Prinzip getroffen wurden, zum Beispiel die Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, und natürlich auch eine wirksame Kontrolle von Feuerwaffen, aber das sind nur einige Beispiele. Und drittens: Natürlich international müssen wir in der internationalen Gemeinschaft alles tun, um diesen Kampf wirksamer zu machen. In diesem Sinne gibt es schon sehr, sehr wichtige Beratungen. Zum Beispiel war in Antalya die Rede über die Finanzierung des Terrorismus und darüber, wie man diese Finanzierung stoppen kann, also viele, viele Baustellen. "Die Frage nach dem Bündnisfall wurde in Frankreich nicht gestellt" Schulz: Herr Etienne, an der Stelle muss ich einhaken, einfach weil es viele so brennend interessiert und weil die Diskussion ja schon im Gange ist darüber. Sie sprechen über die internationale Unterstützung, die Sie sich erhoffen und die Sie natürlich auch erwarten. Welche Erwartungen haben Sie an die NATO? Etienne: Ja! Bei der NATO gibt es natürlich auch Sitzungen und ich verweise auf die nächsten Zeichen der Solidarität, die wir dort haben. Die Frage, die sie erstens gestellt haben, wurde nicht in Frankreich gestellt. Schulz: Die Frage nach dem Bündnisfall? Etienne: Ja. Wenn Sie die Frage des Artikels fünf meinen, wurde diese Frage nicht gestellt. Aber auf alle Fälle sind wir natürlich unseren Verbündeten für ihre Unterstützung sehr dankbar, und wir brauchen diese Unterstützung. Wir brauchen diese Solidarität. Ihre Korrespondentin und Sie haben auch die Reaktionen der französischen Armee in den letzten Stunden in Syrien auf Rakka bezeichnet. Wir werden natürlich nicht ohne Aktionen bleiben. "Anteilnahme der deutschen Bevölkerung sehr stark und sehr bewegend" Schulz: Was konkret erwarten sie von Deutschland? Etienne: Erstens war und ist die Anteilnahme der deutschen Bevölkerung sehr, sehr stark, sehr bewegend. Ich habe auch mit vielen, vielen Menschen gesprochen, aber auch, was wir in der Presse gelesen haben, Titel wie "wir trauern mit Frankreich", "wir leiden mit Frankreich", wir kämpfen mit Frankreich". Das sind wichtige Zeichen. Die Deutschen haben es von ganz nahem erleben können am Freitagabend, natürlich mit dem deutsch-französischen Fußball-Freundschaftsspiel. Und wir sehen natürlich die Zeichen, was der Bundespräsident gesagt hat, was die Bundesregierung auch gesagt hat, die Besucher in der Botschaft. Alles das war sehr, sehr wichtig. Was wir natürlich auch erwarten ist die Beratung mit Deutschland und dann die Unterstützung Deutschlands bei den nächsten Tagungen. Ich habe zum Beispiel die Tagung der Minister, der Innenminister erwähnt, die in den kommenden Tagen stattfinden soll. Und ich habe keinen Zweifel daran übrigens, weil die Koordinierung bis jetzt - und so wird es auch bleiben - zwischen unseren Innenministern zum Beispiel oder insgesamt zwischen den beiden Regierungen sehr, sehr gut immer geblieben ist. Schulz: Der französische Botschafter Philippe Etienne heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk nach den Anschlägen auf Paris. Haben Sie ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit heute Morgen. Etienne: Dankeschön! *Die Moderatorin spricht von 132 Menschen, Frankreichs Präsident Hollande hat am Nachmittag (16.11.) erklärt, dass es 129 Todesopfer bei den Terrorangriffen in Paris gegeben hat, Anm. der Red. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Philippe Etienne im Gespräch mit Sandra Schulz
Trauerbekundungen und Unterstützungszusagen seien wichtige Singale, sagte der französische Botschafter in Deutschland, Philippe Etienne, im DLF. Er forderte allerdings auch "neue Maßnahmen" in der europäischen Sicherheitspolitik im Kampf gegen die Terroristen. Auch auf die Frage nach dem NATO-Bündnisfall ging er ein.
"2015-11-16T07:15:00+01:00"
"2020-01-30T13:09:20.495000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlaege-in-paris-frankreichs-botschafter-dankt-100.html
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Stadt in Trümmern
"Hier ist der Sender der Armija Krajowa"Der letzte Schuss im Warschauer Aufstand fiel am Abend des 2. Oktober 1944 – um 19 Uhr Warschauer Ortszeit. Den ganzen Tag hatten zähe und mühsame Verhandlungen zwischen polnischen und deutschen Unterhändlern um den Kapitulationsvertrag stattgefunden. Einen Tag später veröffentlichte der im Untergrund agierende polnische Ministerrat noch einen letzten Aufruf "An das polnische Volk", in dem er das Ausbleiben wirkungsvoller Hilfe aus dem Ausland beklagte."Unser Aufstand scheitert zu einem Zeitpunkt, an dem unsere Armeen im Ausland bei der Befreiung Frankreichs, Belgiens und Hollands mithelfen. Wir halten uns mit einem Urteil über diese Tragödie zurück. Möge Gott der Gerechte ein Urteil über das schreckliche Unrecht fällen, das der polnischen Nation widerfahren ist, und möge er die Täter bestrafen."1944 deutet alles darauf hin, dass das Deutsche Reich bald zusammenbrechen wird. Die sowjetische Sommeroffensive erreicht in schnellem Tempo immer neue Städte und Gebiete und nähert sich der polnischen Hauptstadt. Seit 1939 befand sich die polnische Regierung im Exil in London, aber sie unterhielt in Warschau ein Untergrundparlament, Untergrundministerien, und hier befand sich auch das ihr unterstellte Hauptkommando der polnischen Armee, der "Armija Krajowa", der Heimatarmee. Im Winter 1943/44 hatten sich die Zusammenstöße zwischen deutschen Truppen und der polnischen Heimatarmee zu einer Art Guerillakrieg verdichtet.Noch vor dem Aufstand hatte die Führung zu einem dann stufenweise ausgelösten Kampf gegen die Deutschen aufgerufen: Aktion "Burza" - "Sturm". Sie war militärisch gegen die Deutschen gerichtet, politisch aber auch gegen die Russen: Die Heimatarmee wollte der nach Westen vorrückenden Roten Armee als Territorialherrscher im eigenen Land entgegentreten. Der Warschauer Aufstand, Teil dieser Aktion, sollte verhindern, dass die polnische Hauptstadt bei einem Zusammentreffen von Deutschen und Russen völlig zerstört würde. Er sollte außerdem verhindern, dass in Warschau eine sowjetfreundliche Regierung gebildet würde. "Hier spricht Warschau"Die Entscheidung, am 1. August 1944 in Warschau mit dem Aufstand zu beginnen, traf der Oberkommandierende der Heimatarmee, General Tadeusz Komorowski, Deckname "Bór”, am Vortag in Gegenwart von anderen Militärs. Geplant war, dass der Kampf nur drei oder vier Tage dauern sollte. Handstreichartig sollten die Deutschen durch die 50.000 Soldaten der Heimatarmee entmachtet werden. Die Anfangserfolge der Aufständischen veränderten sich aber bald in ein langsames Sterben der Stadt angesichts von Waffen-SS, schwerer deutscher Artillerie und deutschen Luftangriffen. Ab September 1944 stand die Rote Armee direkt vor Warschau - auf der östlichen Seite der Weichsel - und sah dem verzweifelten Kampf der Polen tatenlos zu. Stalin bezeichnete den Aufstand als einen feindlichen Akt gegen die Sowjetunion. Ihm kam die Vernichtung der polnischen Elite entgegen. In einem letzten, in London aufgezeichneten Funkspruch der Armija Krajowa heißt es: "Unsere Helden sind die Soldaten, deren einzige Waffe gegen Panzer, Flugzeuge und Geschütze ihre Revolver und Petroleumflaschen waren. Unsere Helden sind die Frauen, die die Verwundeten pflegten und unter Kugeln Meldedienste leisteten, die in zerbombten Kellern für Kinder und Erwachsene kochten, die den Sterbenden Linderung brachten und trösteten."Die verzweifelten Hilferufe blieben bei den westlichen Alliierten ungehört. Churchill und Roosevelt sahen ebenfalls passiv zu, wie der polnische Widerstand verblutete und 200.000 Zivilisten Opfer der Kämpfe wurden. Eine halbe Million Warschauer der westlichen Stadthälfte geriet in deutsche Gefangenschaft: ausgehungert, erschöpft, häufig krank. General Bór-Komorowski musste sich mit 11.000 Soldaten, unter ihnen etwa 2000 Frauen, ergeben. Hitler war begeistert über den Fall Warschaus und sann auf Rache. Systematisch gingen seine Truppen nach dem Aufstand daran, Straßenzug für Straßenzug in die Luft zu sprengen. Von Warschau blieb nur noch ein Trümmerfeld übrig. Mit der Niederschlagung des Aufstandes musste Polen die Hoffnung aufgeben, nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine Souveränität zurückzuerlangen.
Von Doris Liebermann
Er war eine der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts: der Warschauer Aufstand von 1944. Doch hierzulande werden diese Kampfhandlungen häufig mit dem Warschauer Gettoaufstand von 1943 verwechselt. In Polens Hauptstadt erinnert heute ein Museum an die Geschehnisse vor 65 Jahren.
"2009-10-02T09:05:00+02:00"
"2020-02-03T09:39:57.031000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stadt-in-truemmern-100.html
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Kampf um eine Chance
Simbabwe - das Land mit dem einst besten Bildungswesen Afrikas. Im vergangenen Jahrzehnt jedoch haben Diktator Robert Mugabe und seine Partei Zanu-PF ihr Land zugrunde gerichtet. Bei Hyperinflation und 85 Prozent Arbeitslosigkeit flohen vier von elf Millionen Simbabwern ins Ausland. Zurück blieb eine Jugend, die in einer sich stetig verschärfenden Krise aus Hunger, Aids und politischer Gewalt aufwuchs - ohne Chancen und zunehmend ohne Hoffnung. Inzwischen hat eine Übergangsregierung, der auch die Opposition angehört, Simbabwes Währung durch den Dollar ersetzt und so zumindest die Inflation gestoppt; es gibt wieder Nahrungsmittel zu kaufen. An Arbeitslosigkeit und Bildungsmisere aber hat sich nichts geändert, erklärt in Harare Bildungsminister David Coltart. Viele ländliche Schulen seien funktionsunfähig.700 Schüler in zwölf Klassenräumen aus Zementblöcken und unter vier Bäumen - das ist, gelegen in öder Steppe, die "Ganye Primary School" außerhalb des Städtchens Gokwe im Nordwesten Simbabwes. Vor kurzem haben die 17 Lehrer wieder einmal gestreikt. Jetzt schreibt Lehrerin Lydia Chrirongoma "Drei mal fünf ist 15" an eine rissige Tafel, während mehrere der am Boden sitzenden 50 Kinder vor sich hin dösen. Bücher gibt es nicht; im Dach des Klassenraums klaffen fußballgroße Löcher."Dies Jahr regnete es von Beginn des Schuljahres im Januar bis Mitte Februar. Und wir mussten uns dort in der Ecke, wo das Dach einigermaßen dicht ist, zusammen drängen. 135 Kinder knieten auf dem Boden; und überall tropfte es. Das war schon eine schwierige Situation."Simbabwe - das Land mit dem einst besten Bildungswesen Afrikas. Im vergangenen Jahrzehnt jedoch haben Diktator Robert Mugabe und seine Partei Zanu-PF ihr Land zugrunde gerichtet. Bei Hyperinflation und 85 Prozent Arbeitslosigkeit flohen vier von elf Millionen Simbabwern ins Ausland. Zurück blieb eine Jugend, die in einer sich stetig verschärfenden Krise aus Hunger, Aids und politischer Gewalt aufwuchs - ohne Chancen und zunehmend ohne Hoffnung. Inzwischen hat eine Übergangsregierung, der auch die Opposition angehört, Simbabwes Währung durch den Dollar ersetzt und so zumindest die Inflation gestoppt; es gibt wieder Nahrungsmittel zu kaufen. An Arbeitslosigkeit und Bildungsmisere aber hat sich nichts geändert, erklärt in Harare Bildungsminister David Coltart. Viele ländliche Schulen seien funktionsunfähig."Im Durchschnitt besuchen an einer solchen Schule vielleicht hundert Kinder die erste Klasse. In Klasse sieben aber sind davon gerade noch 35 übrig. Das heißt: Fast zwei Drittel der Kinder absolvieren nicht einmal die Grundschule - wobei insbesondere Mädchen betroffen sind. Sehr oft nämlich bemühen sich arme Eltern auf dem Land zunächst darum, ihren Jungen ein wenig Bildung zu vermitteln; und die Mädchen leiden darunter."Immerhin sind derzeit alle Schulen geöffnet; aus einem Bildungsfond, in den internationale Geber fast hundert Millionen Dollar eingezahlt haben, finanziert Coltart das größte Druckprogramm für Schulbücher in der Geschichte Afrikas - das allerdings zu spät kommt für junge Menschen wie die 20-jährige Almita. Mit 15 verlor das in Bulawayo lebende Mädchen seine Mutter; musste die Schule verlassen; wurde Haushaltshilfe bei einer eigentlich recht netten Tante."Aber mein Onkel, ihr Ehemann, bedrängte mich sexuell. Er wollte, dass ich mit ihm schlief. Das schrieb ich meiner Schwester, die dann mit der Tante sprach. Die aber sagte nur, sie kenne ihren Mann. Jetzt konnte ich nur noch meine alte Großmutter in Kwekwe um Hilfe bitten. Die sprach dann mit der Tante; und sie beschlossen, dass ich zur Oma ziehen sollte."Zunehmend empfand sich die junge Frau als Last; suchte verzweifelt Arbeit; beschloss zu heiraten, sobald es ging. Im Dezember 2009 schließlich war Almita schwanger - von einem Schulfreund, der ihr dann beichtete, dass er schon mit einer anderen Frau verlobt war und ein Kind hatte. Dass der Freund sie mit dem HIV-Virus infiziert hatte, erfuhr Almita bei einer Vorsorgeuntersuchung.Mehrfach hat Almita versucht, sich umzubringen - mit Rattengift und Tabletten. Schließlich fand sie den Weg zu der lokalen Hilfsorganisation "Contact", die Almita vorläufig in einem Frauenasyl unterbrachte. Ihre einzige Hoffnung: die Liebe ihres ungeborenen Kindes. - Es gibt viele Almitas in Simbabwe - Millionen junger Menschen, deren Eltern an Aids gestorben oder ausgewandert sind; HIV-positive Zwölfjährige, die allein für jüngere Geschwister sorgen; Jugendliche, missbraucht von Verwandten als billige Arbeitskräfte und sexuelles Freiwild. Behörden, die solchen jungen Menschen helfen, gibt es kaum in Simbabwe; nur kirchennahe Initiativen wie "Contact". Und Zukunftsperspektiven entwickeln allenfalls Jugendliche, die einen Job finden - oder Rückhalt bei, wiederum, fast immer kirchlichen Hilfsorganisationen.Im Dorf Ganye, zum Beispiel, lassen sich der 19-jährige Wenslot und fünf seiner Freunde erklären, wie man junge Mango-, Avocado- und Papayabäume pflegt. Schwester Chiedza vom Kinder- und Jugendprojekt der katholischen Diözese hat den sechs Arbeitslosen drei Hektar Land zur Verfügung gestellt; und die wollen sie jetzt bestmöglich nutzen."Drei meiner Brüder sind nach Südafrika gegangen; und meine große Schwester lebt als Nonne in Harare. Wie anderen sind hiergeblieben, bei unserer Oma. Die lässt die Kleinen zur Schule gehen; und ich kümmere mich um Hühner und Schweine - und um diesen Garten, den ich mit einigen Freunden bewirtschafte. Aber dafür brauchen wir Wasser."Und noch mehr Wasser für die jungen Obstbäume, von denen einige, vor Tieren mit Draht geschützt, bereits auf dem Feld stehen. Das Problem: Das Wasser eines nahebei fließenden Baches beanspruchen auch andere Bauern - weshalb es immer wieder Streit gibt. Doch die Lösung des Problems hat Wenslot bereits klar vor Augen."Wir müssen jetzt unbedingt etwas Zement besorgen, um einen Tiefbrunnen anlegen zu können. Die Schwester gibt uns dann noch einen Schlauch und eine Fußpumpe, mit der wir das Wasser nach oben pumpen können. Ja, wir müssen unbedingt mit diesem Garten vorwärtskommen, weil es sonst keine Arbeit hier gibt - außer ab und zu auf den Feldern anderer Leute. Und auch in Südafrika gibt es keine Arbeit, haben mir meine Brüder geschrieben." Noch kurz einen Bewässerungsgraben fertigstellen und etwas Asche auf das sandige Erdreich des Zwiebelbeets streuen - dann ist die Arbeit für heute beendet.Und zufrieden machen sich die sechs jungen Männer auf den Weg zurück ins Dorf, wo sie ein Glas "Skindo" trinken werden, Bier aus afrikanischem Getreide.
Von Thomas Kruchem
Einst war Simbabwe das Land, mit dem besten Bildungswesen in Afrika. Das ist vorbei. Im vergangenen Jahrzehnt haben Diktator Mugabe und seine Partei Zanu-PF ihr Land zugrunde gerichtet. Viele Menschen sind geflohen. Zurück bleibt eine Jugend ohne Chancen und ohne Hoffnung.
"2010-12-18T13:30:00+01:00"
"2020-02-03T17:38:22.859000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-um-eine-chance-100.html
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"Geben und Nehmen in der Großen Koalition"
Bettina Klein: Erste Einigung in einigen Punkten in dieser Woche bei den Koalitionsverhandlungen. – Am Telefon ist jetzt Hans Michelbach, der Chef der CSU-Mittelstandsunion. Guten Morgen!Hans Michelbach: Guten Morgen, Frau Klein.Klein: Herr Michelbach, schauen wir uns einige ja doch durchaus interessante Punkte an, auf die man sich nun wohl verständigt hat: Stärkerer Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, Kappung der Mietpreiserhöhungen, Makler werden künftig bezahlt von jenen, die sie beauftragt haben. Das klingt nach Wohltaten für die Bürger. Weshalb nicht gleich so?Michelbach: Wir wollen natürlich zunächst alles besprechen, was Wachstum und Beschäftigung fördert, und wollen natürlich aber an einigen Schrauben drehen, die die Arbeitnehmerschaft verbessert. Also es ist verteilt. Die Einigung in den Wirtschaftsfragen zwischen CDU und CSU ist ein Mutmacher für den Wirtschaftsstandort und für Wachstum und Beschäftigung. Wir wollen die Chancen für eine starke Wirtschaft nutzen. Das steht im Vordergrund und natürlich gibt es einige Bereiche, die auch einer Verbesserung bedürfen.Klein: Lassen Sie uns bei diesen Punkten bleiben. Ist da jetzt klar, das ist auch mit der CSU schon abgesegnet, genau so wird es heute beschlossen werden in der großen Runde? "Dann müssen wir natürlich auch bei anderen Dingen nachgeben" Michelbach: Es ist erst dann beschlossen, wenn die große Runde das beschlossen hat. Wir haben in den Arbeitsgruppen Vorarbeiten geleistet. Wir haben einen Überbau, der Überbau heißt Haushaltskonsolidierung, keine Steuererhöhungen und Innovations- und Investitionsanreize für Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Das ist der Überbau und darauf aufgebaut haben wir in den einzelnen Gruppen, in den Arbeitsgruppen Wirtschaft, Soziales, Familien natürlich Schwerpunkte gesetzt.Klein: Herr Michelbach, ich habe gerade drei ganz konkrete Punkte Ihnen genannt, dass wir so ein bisschen von dem Überbau mal zum Detail kommen. Können wir davon ausgehen, dass das so auch von der CSU zumindest durchgewunken werden wird, oder bestehen da aus Ihrer Hinsicht noch Hürden, die es zu nehmen gilt?Michelbach: Wir haben natürlich ein Geben und Nehmen in der Großen Koalition. Uns war natürlich wichtig, dass wir Innovations- und Investitionsanreize schaffen. Da haben wir bei der degressiven AfA, bei der Ansparabschreibung für Ausrüstungsinvestitionen, einen wesentlichen Erfolg in der Mittelstandsfinanzierung, in der Mittelstandsförderung durchgesetzt. Dann müssen wir natürlich auch bei anderen Dingen nachgeben.Klein: Und dann verstehen wir richtig, deswegen haben Sie in diesen Punkten, die ich gerade genannt hatte, was Mietrecht angeht zum Beispiel und den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, deswegen hat sich die CSU da auch bewegt? Mietpreisbremse nur in Ballungszentren Michelbach: Wir haben uns bewegt, insbesondere was die Mietpreisgrenze in Ballungsgebieten betrifft. Das muss natürlich noch eingegrenzt werden, das kann man nicht übers ganze Land machen, sondern man muss die Ballungsgebiete München, Stuttgart, Frankfurt, Berlin, Düsseldorf sehen, da sind große Unterschiede. Wir werden hier natürlich Begrenzungen auf die Ballungsgebiete haben.Klein: Eine Frage, für die sich viele Bürgerinnen und Bürger interessieren, die auf der Suche nach einer Wohnung sind, die immer erst mal über die Hürde Maklergebühr kommen. In anderen Staaten ist es durchaus üblich, dass diese Maklergebühr vom Vermieter bezahlt wird, also von dem, der in der Regel den Makler beauftragt. Kann man davon ausgehen, dass das jetzt in trockenen Tüchern ist?Michelbach: Man kann davon ausgehen, dass wir eine Umkehrung des Maklersystems bekommen. Wir haben hier sowieso sehr viele Streitfälle, das ist sehr streitanfällig, was wir im Moment haben. Ich gehe davon aus, dass wir hier dadurch Verbesserungen erreichen.Klein: Ein Gegenargument war ja immer, das würde dann automatisch auf die Miete umgelegt. Aber bei diesem Argument beharren Sie nicht mehr?Michelbach: Ich glaube, wenn wir gleichzeitig hier gerade in den Ballungsgebieten, wo das besonders eklatant ist, eine Begrenzung auf 15 Prozent Erhöhung haben, ist diese Gefahr gebannt.Klein: Herr Michelbach, schauen wir noch mal auf die Punkte, wo noch nicht ganz klar ist, ob es eine Einigung gibt oder nicht, oder das zumindest noch nicht feststeht. Stichwort Mindestlohn. Wird das heute ein Thema sein? Hans Michelbach, Chef der CSU-Mittelstandsvereinigung (picture alliance / dpa / Tobias Hase) "Mindestlohn ist nach wie vor umstritten" Michelbach: Mindestlohn wird noch kein Thema sein. Mindestlohn ist nach wie vor umstritten. Wir müssen natürlich deutlich machen aus Sicht der Arbeitsgruppe Wirtschaft, dass wir alles ablehnen müssen, was Beschäftigung kostet. Wir wollen zunächst einmal den Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig halten. Es wird da einen Kompromiss geben müssen beim Mindestlohn, aber der ist noch nicht in Sicht.Klein: Können Sie den andeuten, Herr Michelbach? Von der CDU gab es ja deutlich mehr Bereitschaft an der Stelle. Da wurde schon gesagt, Arbeitgeber und Gewerkschaften können sich verständigen, der Bundestag würde das dann beschließen. Da, sage ich mal, schießt die CSU noch quer?Michelbach: Wir schießen nicht quer, sondern wir wollen natürlich die marktwirtschaftlichen Ansätze der Tarifautonomie, der Tarifpartnerschaft erhalten. Deswegen wollen wir natürlich keine gesetzliche Lösung. Die Lösung liegt zwischen dem Gesetzgeber und der Tarifpartnerschaft.Klein: Aber so sah es ja zum Schluss aus, dass man das wirklich den Tarifparteien durchaus überlässt. Was spricht denn dagegen aus Sicht der CSU?Michelbach: Das spricht dahin gehend dagegen, dass nach wie vor die Tarifpartnerschaft nur eine Statistenrolle spielen soll. Das wollen wir nicht. Wir wollen die Verantwortung der Tarifpartner mit einbinden und deswegen wird es in diesem Bereich noch Verhandlungen geben müssen.Klein: Wo konkret erwarten Sie da Entgegenkommen der SPD?Michelbach: Ich erwarte natürlich bei der SPD, dass sie auch die Tarifautonomie als wesentliches Gut in einer sozialen Marktwirtschaft noch stärker gewichtet.Klein: Das heißt was?Michelbach: Das heißt, dass sie natürlich darauf zugeht, dass ein reiner Beschluss durch den Gesetzgeber ohne Rücksicht auf die Umstände, die beim einzelnen Wirtschaftsstandort in der Region vorhanden sind, Rücksicht nimmt.Klein: Herr Michelbach, schauen wir noch auf ein Thema, das viele Bürger in den vergangenen Tagen beschäftigt hat: die Frage nach der Pkw-Maut. Das klang heute Morgen auch in der Sendung schon an. Die CSU hat ja davon den Koalitionsvertrag abhängig gemacht. Bleiben Sie bei dem Standpunkt? "Muss eine Pkw-Maut geben" Michelbach: Ich bin der Auffassung, dass es eine Pkw-Maut geben muss, weil ich nicht weiß, wo wir sonst die notwendigen Finanzmittel für die Infrastruktur-Verbesserung her bekommen sollen. Wir lehnen ja Steuererhöhungen ab, und wie man sieht, kann man ohne Belastung der Inländer diese Finanzmittel über eine Maut erschließen. Deswegen verstehe ich nach wie vor nicht, wie man sich gegen eine solche Lösung wenden kann. Es bleibt auch immer wieder ein Rätsel, wie man die Gelder anders erschließen kann, und das bleibt bisher bei den Gegnern natürlich schuldig.Klein: Herr Michelbach, ein zentrales Argument ist ja, wenn die deutschen Staatsbürger wiederum entlastet werden über die Kfz-Steuer, dann bleiben noch fünf Prozent ausländische Nutzer von Straßen, und was die reinbringen, so eine Rechnung der Gegenseite, das würde durch die Verwaltungskosten komplett verschlungen. Das heißt, es würde eigentlich gar nicht mehr Geld bringen.Michelbach: Ja, diese Rechnung ist eine Milchmädchenrechnung. Wir haben ausgerechnet, dass hier rund 900 Millionen für den Infrastruktur-Topf erschlossen werden kann. Ich glaube, diese offiziellen Rechnungen, die auch durch das Verkehrsministerium erhärtet sind, sollte man für bare Münze nehmen und nicht immer wieder Wasserstandsmeldungen dagegen führen.Klein: Kurz abschließend: es kann durchaus sein, dass an der Frage Pkw-Maut die Koalition noch platzt beziehungsweise nicht zustande kommt, weil die CSU sagt, ohne Pkw-Maut mit uns kein Koalitionsvertrag?Michelbach: Ich sehe die Koalitionsverhandlungen auf dem Weg, uns entgegenzukommen. Wir sind auch bei vielen Teilen entgegengekommen. Wir haben jetzt in der Wirtschaftsarbeitsgruppe wesentliche Fortschritte erzielt im Bereich Investitionsanreize, Innovationen und wir sind auf einem guten Weg. Wir brauchen eine starke Wirtschaft, wir müssen Mut für einen starken Wirtschaftsstandort haben und da sind wir natürlich alle gefordert, Kompromisse zu bekommen beziehungsweise zu verhandeln, und wir sind da auf einem guten Weg. Ich sehe zuversichtlich in die Entwicklung und in die Verhandlungen hinein.Klein: Die CSU hofft weiter auf Entgegenkommen beim Thema Pkw-Maut – das war heute Morgen im Deutschlandfunk Hans Michelbach, der Chef der CSU-Mittelstandsunion, zum Stand der Koalitionsverhandlungen in Berlin. Danke für das Interview.Michelbach: Vielen Dank!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans Michelbach im Gespräch mit Bettina Klein
Die Bürger könnten davon ausgehen, dass künftig derjenige den Makler bezahlt, der ihn beauftragt habe, sagt Hans Michelbach, Chef der CSU-Mittelstandsunion. Seine Partei sei der SPD auch bei weiteren Themen entgegengekommen. Er erwarte deshalb einen Kompromiss beim Mindestlohn.
"2013-11-05T07:15:00+01:00"
"2020-02-01T16:43:21.426000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geben-und-nehmen-in-der-grossen-koalition-100.html
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"Größtmögliche Transparenz schaffen"
Martin Zagatta: Der britische Geheimdienst, der amerikanische Geheimdienst hört uns offenbar alle ab - wir hatten jetzt etwas Schwierigkeiten, den Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes BITKOM, also des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien, Bernhard Rohleder, zu erreichen, aber jetzt hat es geklappt. Guten Tag, Herr Rohleder!Bernhard Rohleder: Ja, schönen guten Tag!Zagatta: Herr Rohleder, was sagen Sie denn zu diesen Informationen, dass in Deutschland tätige Telekommunikationsunternehmen offenbar aktiv an der Ausspähung mitmachen? Regt Sie das noch auf, oder traut man Briten und Amerikanern in ihrer Branche mittlerweile alles zu?Rohleder: Ich weiß nicht, ob die Briten und die Amerikaner dort alleine hingehören, wo sie jetzt stehen, nämlich am Pranger. Es ist nun mal eine seit fast schon Jahrhunderten geübte Realität, dass Geheimdienste im Ausland spionieren, Ausforschungsarbeiten betreiben, dass ihnen das für Inländer untersagt ist. Und die Frage, die uns beschäftigen muss, ist, inwiefern gibt es Zirkelschlüsse zwischen den einzelnen Auslandsgeheimdiensten, sodass zwar jeder die eigenen Bürger im Inland nicht abhört, sich dafür dann aber der Dienste des befreundeten Geheimdienstes bedient.Zagatta: Die Frage, die wir mit Ihnen erörtern wollen, ist aber jetzt: Wie weit müssen denn Unternehmen, die in Deutschland tätig sind, da mitmachen, wenn wir hören, dass sich jetzt angeblich Unternehmen sogar dafür bezahlen lassen, Telekommunikationsunternehmen sogar dafür bezahlen lassen, dass sie ihre Kunden ausspähen?Rohleder: Ja, der Umstand, dass Unternehmen dafür entschädigt werden, und zwar deutlich unterhalb der Kosten, die ihnen dafür entstehen, dass sie den Auskunftsersuchen der Behörden nachkommen, das ist nicht neu, das gibt es auch in Deutschland und schon seit Jahren. Es gib in Deutschland eine sehr strengen Regularien unterworfene Telekommunikationsüberwachung, gebunden an den richterlichen Beschluss im jeweiligen Einzelfall, und wenn der vorliegt, müssen die Unternehmen tätig werden, und dafür gibt es eine kleine Entschädigung. Das sind in der Regel so 25 Euro.Zagatta: Aber das sind Einzelfälle, wir sprechen ja jetzt von einer generellen Ausspähung.Rohleder: Na, ob das eine generelle Ausspähung ist, das müsste zunächst mal noch nachgewiesen werden. Dass die Unternehmen ein Interesse daran haben, diesen Prozess möglichst effizient auch zu gestalten, das ist evident, denn so, wie es derzeit läuft, kommen alle Anfragen völlig unstrukturiert bei den Unternehmen herein. Das reicht in der Tat von dem Dorfpolizisten, der mal bei der örtlichen Telekom-Niederlassung anruft und gern bestimmte Verbindungsdaten hätte, und geht bis zu der sehr strukturierten Anfrage dann von großen Behörden. Und darauf müssen die Unternehmen ihre Prozesse abstellen, sie müssen Technologien zur Verfügung stellen, und sie müssen ihre Mitarbeiter entsprechend schulen, und beschäftigen damit auch große Rechtsanwaltskanzleien. Und dass die Unternehmen hier den Aufwand gerne minimieren möchten, auch im Sinne ihrer Kunden, die dafür letztlich alles bezahlen, das, denke ich, ist normal, und dafür habe ich dann auch Verständnis.Zagatta: Das ist die eine Sache, aber es geht ja jetzt um den Vorwurf - und sollten diese Informationen stimmen, dass ein Unternehmen wie Vodafone da bei einer generellen Ausspähung mitmacht, dafür bezahlt wird, und das - dadurch, dass das Unternehmen ja in Deutschland auch tätig ist - auch auf deutschem Gebiet, wäre das nach Ihrer Ansicht rechtmäßig überhaupt? Ist Deutschland ein rechtsfreier Raum?Rohleder: Ja, Deutschland ist sicherlich kein rechtsfreier Raum, und zum Glück wird dieses Thema auch hier in Deutschland so intensiv diskutiert, das ist ja genau das, was wir etwas kritisch betrachten, dass wir doch weitgehend allein stehen, wenngleich die Diskussion auch in anderen Ländern jetzt zunehmend an Bedeutung gewinnt. Aber ich gehe fest davon aus, dass sich ein Unternehmen, das hier in Deutschland tätig ist, auch an deutsches Recht hält. Wenn es das nicht täte, hätte es maßgebliche Probleme und möglicherweise auch existenzielle Probleme. Dem wird sich kein Unternehmen aussetzen, insofern meine ich schon, dass hier, bevor wir einen Generalverdacht auf Basis von zwei, drei Folien, die wenige Einzelne gesehen haben, aber zum Beispiel die Sicherheitsbehörden selbst gar nicht gesehen haben konnten bislang, dass wir auf dieser Basis einen Generalverdacht aussprechen und bereits über Unternehmen urteilen.Zagatta: Wer muss das ausräumen? Das sind ja jetzt knallharte Vorwürfe gegen ein Unternehmen wie beispielsweise Vodafone. Sehen Sie da Ihren Verband in der Frage auch gefordert, da mal nachzufragen bei Vodafone, oder ist das Sache der Politik?Rohleder: Wir sprechen darüber natürlich mit unseren Unternehmen, aber die Unternehmen unterliegen gerade in Deutschland einer noch strengeren Geheimhaltungspflicht, als das in den USA der Fall ist. Das wird oft übersehen. Die Unternehmen haben hier letztlich einen Maulkorb verpasst bekommen und können deshalb selbst dann, wenn sie möchten, so gut wie keine Informationen an die Öffentlichkeit geben, und auch nicht an uns als Verband geben.Zagatta: Von der deutschen Politik, von der deutschen Gesetzgebung oder von Ihnen?Rohleder: Von der deutschen Gesetzgebung, genau.Zagatta: Müsste das nicht schnellstens aus Ihrer Sicht geändert werden?Rohleder: Ja, das sollten wir ändern, und wir sollten es in der Tat schnellstens ändern, und auch nicht nur in Deutschland ändern, sondern wir sollten die größtmögliche Transparenz schaffen, die möglich ist, ohne die Geheimdienste in ihren berechtigten Interessen zu behindern.Zagatta: Sind Sie da im Gespräch mit der Bundesregierung?Rohleder: Wir sind im engen Dialog dazu mit der Bundesregierung. Die Aufgabe hat hier im Übrigen nicht nur die Regierung, sondern auch der Gesetzgeber, hier ist der Bundestag gefordert. Also an der Stelle gilt es, sicherlich noch zwei, drei Monate abzuwarten, bis die Wahlen gelaufen sind, aber dann meine ich, dann muss sich der Gesetzgeber auch dieses Thema vornehmen, und muss es so lösen, dass wir uns wieder sicher im Internet bewegen können, nicht nur in Deutschland, sondern auch als Reisende und als international tätige Unternehmen weltweit.Zagatta: Herr Rohleder, Sie haben da Einblick: Entwickeln deutsche Firmen, entwickeln die das auch, solche Überwachungssoftware, von der wir jetzt hören? Oder überlässt man das den Amerikanern?Rohleder: Ja, Sie sprechen ein nicht ganz einfaches Kapitel in der Geschichte der deutschen Kommunikationstechnik an. Natürlich hatte jedes Telekommunikationsnetz, das ja auch von deutschen Unternehmen, die sich auf dem Markt leider weitgehend verabschiedet haben, weltweit installiert wurde, bestimmte Backdoors, bestimmte Schnittstellen, zum Beispiel Wartungsschnittstellen, aber auch Schnittstellen für Behörden, die dann aktiviert wurden, wenn die entsprechenden gesetzlichen lokalen, nationalen gesetzlichen Voraussetzungen gegeben waren. Sie können davon ausgehen, dass in vielen Ländern Technologien ohne diese Schnittstellen nicht hätten verkauft und nicht hätten eingesetzt werden können. Und diese Technologien kamen nicht nur aus den USA, sondern auch aus fast allen anderen Ländern.Zagatta: Und diese Technologie als technische Einrichtung unterscheidet ja nicht - sind das spezielle Anfragen, oder kann man da generell überwachen, das wäre auch damit möglich, ja?Rohleder: Nun, Sie können diese Schnittstellen natürlich so konfigurieren, dass eben nicht der beliebige und der beliebig häufige und der beliebig unbeobachtete Zugriff möglich ist, und wie sie konfiguriert werden, das hängt von den nationalen gesetzlichen Anforderungen ab, und da sind die Anforderungen in diktatorischen Staaten ganz andere als die, wie wir sie aus den meisten demokratischen Staaten, auch hier aus Deutschland kennen.Zagatta: Bernhard Rohleder, der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes BITKOM. Herr Rohleder, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!Rohleder: Danke an Sie!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bernhard Rohleder im Gespräch mit Martin Zagatta
Telekommunikationsunternehmen müssen der Öffentlichkeit mehr Auskünfte über ihre Zusammenarbeit mit Behörden geben können, sagt Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer von BITKOM. Dabei dürften jedoch berechtigte Interessen der Geheimdienste nicht behindert werden.
"2013-08-02T12:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:29:07.832000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/groesstmoegliche-transparenz-schaffen-100.html
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Die vergessenen Fluchthelfer des Zweiten Weltkrieges
Durch die entlegene Landschaft Nord-Norwegens führte während der deutschen Besatzungszeit eine Fluchtroute hinüber ins neutrale Schweden. (Ingrid Norbu) Ole Henrik Fagerbakks Vater besaß keinen Außenbordmotor. Er musste den Bergsee rudernd überqueren. Danach folgte ein stundenlanger Fußmarsch durch ein Hochmoor bis zu einem Einsiedlerhof. Heute weiß Ole Henrik Fagerbakk, wie viel Mühen sein Vater auf sich genommen hatte, um anderen Menschen zu helfen. Durch die entlegene Landschaft Nord-Norwegens unweit der Stadt Bodø führte während der deutschen Besatzung eine Fluchtroute hinüber ins neutrale Schweden. Fagerbakks Vater Oskar ging immer voran. Er war einer von dutzenden Fluchthelfern, denn er kannte die Gegend wie kein Zweiter. Von seinem Almhof aus führte er die Verzweifelten über die Grenze. Bis zu einer Nacht im November 1942: "Als er aufwachte, standen drei schwer bewaffnete deutsche Soldaten über ihm und blendeten ihn mit ihren Taschenlampen. Sie nahmen ihn mit nach Deutschland. Darüber hat er zu Lebzeiten so wenig gesprochen wie über seine Fluchthelfertätigkeit. Nach seinem Tod 1982 fand ich in seinem Nachlass diesen Aufnäher aus dem KZ Sachsenhausen mit seiner Häftlingsnummer 72811." Etwa zehn Stunden Fußmarsch waren es noch vom Almhof hinüber ins rettende Schweden. Eine gefährliche Route – nicht nur wegen der deutschen Grenzposten: Keine Erinnerung an Norwegens Fluchthelfer "Eines Tages im Winter musste er auf dem Rückweg einen Fluss durchqueren. Das eiskalte Wasser ging ihm bis zur Hüfte und hätte ihn fast mitgerissen. Hätte er sich nicht mit seinen Skiern abstützen können, hätte er das nicht überlebt." Fluchthelfer wie Oskar Fagerbakk sind in Norwegen heute fast vergessen. In Büchern und Museen wird an den militärischen Kampf gegen die deutschen Besatzer erinnert. Doch zum Einsatz der rund 1.000 Fluchthelfer in Nord-Norwegen findet sich so gut wie nichts. Vielleicht auch, weil viele Fluchthelfer Angehörige der samischen Ureinwohner waren. Der samisch-stämmige Historiker Oddmund Andersen fand heraus, dass einige der samischen Fluchthelfer nach Kriegsende sogar wegen Landesverrat angeklagt worden waren: "Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie die Flüchtlinge nicht bis ans Ziel gebracht und dass sie dafür Geld genommen hätten. Diese Anklagen gab es nur gegen samische Fluchthelfer. Wir Samen sind den Verdacht nie losgeworden, dass die damals vorherrschenden rassistischen Einstellungen uns gegenüber der Grund war für diese Anschuldigungen." Warten auf eine angemessene Würdigung Auch die Nachkommen der norwegischen Fluchthelfer warten bis heute auf eine angemessene Würdigung des Einsatzes ihrer Väter. Ein verwitterter Gedenkstein an einer entlegenen Schnellstraße, mehr erinnert in Fauske, dem Wohnort der Fagerbakks, nicht an die Fluchtlotsen, wie sie sich selber nannten. Ole Henrik Fagerbakk findet das unwürdig – auch wenn sein Vater sich nicht als Held gesehen hatte: "Die Lotsen taten das Selbstverständliche und halfen Menschen, die in not waren. Für sie war das nichts Besonderes. Egal, ob es sich bei den Flüchtlingen um Norweger, um russische oder serbische Kriegsgefangene oder manchmal sogar um deutsche Deserteure handelte. Das war ihnen egal. Ein vorbildliches Verhalten, das man heute wieder mehr in den Vordergrund stellen und ehren sollte." Vergeblich hat Ole Henrik Fagerbakk versucht, Spuren zu den Menschen zu finden, die von seinem Vater gerettet worden waren. Keiner von ihnen hatte sich bei seinem 1982 gestorbenen Vater noch einmal gemeldet. Auch die Geretteten scheinen die mutigen norwegischen Fluchthelfer vergessen zu haben.
Von Gunnar Köhne
Kriminelle Schleuser, Schlepper und Menschenschmuggler prägen unser derzeitiges Bild von Fluchthelfern. In Norwegen dagegen kämpfen zurzeit die Nachkommen von sogenannten Fluchtlotsen im Zweiten Weltkrieg für deren späte Würdigung. Etwa 1.000 Bergkundige brachten damals die Verfolgten unter großen Gefahren in das neutrale Schweden.
"2015-09-09T09:19:00+02:00"
"2020-01-30T12:58:36.745000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/norwegen-die-vergessenen-fluchthelfer-des-zweiten-100.html
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Insolvenz statt Mondfahrt
Mission geplatzt? Firmengründer Böhme und sein Raumfahrzeug (PT Scientists) Der unscheinbare Gewerbekomplex in Berlin-Marzahn ist ganz gewöhnlich – ungewöhnlich dagegen die Idee der Firma "PT Scientists", die hier ihre Räume hat: Als Privatperson zum Mond aufbrechen- mit viel einfacheren Mitteln, als die großen Raumfahrtagenturen. Die Reise zum Mond lief eigentlich gerade richtig gut - doch im Juli dann der Absturz in die Insolvenz. Sind die hochfliegenden Pläne von Geschäftsführer Robert Böhme nun endgültig geplatzt? Der Mitdreißiger ist erstaunlich locker, während er über die Insolvenz spricht: "Wir hatten jetzt eine Phase, wo wir wirklich dringend einen Investor gebraucht haben. Das hat sich ein bisschen verzögert und das ist dann einfach zu kritisch geworden, so dass wir gesagt haben: rechtlich müssen wir jetzt einfach wirklich diesen Insolvenzantrag stellen, um einfach sauber und sicher zu sein. Der Geschäftsbetrieb bei uns geht ganz normal weiter. Es ist halt ein ganz normales Wissenschafts- und Forschungsunternehmen. Die Belegschaft arbeitet ganz normal weiter." Trotz Insolvenz – der Betrieb geht weiter Und es sind immerhin über 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Angefangen hatte alles viel kleiner: "Wir haben angefangen wirklich, ich kann mal sagen im Keller meiner Eltern haben viel am Anfang an Universitäten gearbeitet, dann kleinere Räumlichkeiten gehabt; und heute, wo wir hier stehen, ist wirklich unsere größte Räumlichkeit, schon jetzt mit 2200 Quadratmetern. Das sind Hallen und Produktionsfläche, Büros über uns". Die Büros sehen ganz gewöhnlich aus. "Hier ist mein Büro". Hier gibt es eine Sitzecke, einen Schreibtisch und viele Erinnerungsstücke, an den Wänden und in Vitrinen. Angefangen hat es im Jahr 2008, erzählt Robert Böhme, als ihm ein Bekannter vom Google-Lunar-X-Preis erzählt hat. "30 Millionen Dollar dafür, dass jemand etwas privat zum Mond schickt. Und ich fand das super, super spannend". Medaillen von Google Kurzentschlossen machte er mit, erzählt Böhme: "Man sieht hier diese großen Medaillen, die an der Wand hängen haben wir ja, da sieht man das, 750 000 in zwei Kategorien gewonnen: das heißt einmal für die Rovertechnik, einmal für die Kameratechnik, die ganze Elektronik". Knapp 10 Jahre später, im März 2018, lief jedoch die Frist ab, ohne dass seine Firma es zum Mond geschafft hatte – allerdings auch keiner der Mitbewerber. Scheitern gehört für Robert Böhme offenbar zum Geschäft, denn unbeirrt machte er weiter und gewann eine ganze Reihe weiterer Sponsoren und namhaften Kooperationspartnern. Und auch in der Insolvenz blickt Robert Böhme, der Zweimetermann, nach vorn und zeigt stolz sein Raumschiff, das ein wenig höher ist, als er selbst. Glitzernder Käfer für den Mondflug Die offene Konstruktion ist ein Leichtbau aus Karbon und Aluminium und ähnelt ein wenig einem glitzernden vierbeinigen Käfer – außen teilweise mit einer goldenen Schutzfolie bespannt. Die größten Bauteile der Konstruktion sind rote, rundliche Behälter, die im Zentrum angeordnet sind. "Das, was das Raumschiff am meisten ausmacht, das sieht man auch, dass sind diese großen mächtigen Treibstofftanks. Und Treibstoff braucht man eine ganze Menge, weil der Mond ist ja knapp 400 000 Kilometer entfernt von uns". Nicht nur zum Beschleunigen bracht das Raumschiff Treibstoff, sondern auch zum Bremsen und für die Landung. Weltweit gibt es noch weitere kleinere, private Firmen, wie die PT-Scientists. Sie verstehen sich als Dienstleister, die Nutzlasten sehr viel preisgünstiger als bisher zum Mond zu befördern wollen. Am Raumschiff sind an mehreren Stellen kleine und größere Pakete befestigt. Robert Böhme zeigt auf so eines: "Wir haben jetzt nicht einen Fixpreis für so eine Schachtel, sondern wir berechnen nach Gewicht. Ein Kilo Nutzlast zum Mond, ein wissenschaftliches Instrument zum Beispiel, ein Kilogramm, kostet 750 000 Euro. Egal wie sperrig ein Objekt ist. Bei der Deutschen Post ist das anders. Da zählt die Dimension natürlich mit rein von der Schachtel". Robert Böhme will aber nicht nur landen, er entwickelt auch ein Fahrzeug, zum Erkunden. Am Ende der Halle ist dafür ein Testbereich. Sein weißer Rover sieht so ein bisschen aus, wie ein Hund: Platter Rücken mit Solarzellen, komplizierte Federung, schickes Design. Dabei ist der mit Sensoren besetzte Kopf senkrecht nach oben gestreckt. Er hat fast menschliche Züge, denn der Abstand der beiden Kameraobjektive entspricht dem Augenabstand eines Menschen. Auf den Spuren der Apollo-Mission Das Ziel, das der Rover erkunden soll, steht bereits fest: Genau die Stelle, an der die letzte bemannte Mondmission gelandet ist. Und dabei ist das Apollo-Mondfahrzeug besonders interessant. "Viele nenne es den Moon-Buggy dort oben. Der steht dort etwas außerhalb geparkt, knapp 225 Meter außerhalb der Landesstelle. Und wir wollen einfach gucken, was mit dem passiert ist". Wird es nach über 50 Jahren tatsächlich neue Bilder vom Mond-Buggy geben? Vor der Insolvenz war Robert Böhmes Plan, das bis 2020 oder 2021 schaffen zu wollen. "Und uns wirft das Ganze zeitlich natürlich jetzt ein bisschen zurück, weil wir jetzt natürlich in den Investorenprozess reingehen müssen, auch mit dem Insolvenzverwalter, ist aber natürlich auch nochmal eine Gelegenheit. Das heißt für jeden, der das jetzt hier hört, und sagt: Ich habe Interesse in so ein Raumfahrtunternehmen zu investieren, der kann sich jetzt natürlich auch melden. Hätte er vorher auch gekonnt aber jetzt gibt's halt quasi nochmal einen Prozess, wo man einfach damit rein kann". Allen Schwierigkeiten zum Trotz: Für Robert Böhme bleibt der Paketdienst zum Mond das große Ziel. Ob er tatsächlich nur seinen Zeitplan nochmal etwas verschieben muss, das wird sich zeigen.
Von Reinhart Brüning
50 Jahre nach der Mondlandung der Amerikaner ist das Weltall zum Sehnsuchtsort für Investoren und Unternehmer geworden. Aber nicht alle hochfliegenden Pläne funktionieren. Beim Berliner Start-up PT Scientists geht es statt zum Mond erst einmal in die Insolvenz.
"2019-08-09T13:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:04:51.148000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reihe-up-up-to-the-moon-6-pt-scientists-insolvenz-statt-100.html
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"Kritische Musik-Berichterstattung geht zurück"
Auf dem Titelblatt des "Rolling Stone" war im Jahr 2013 auch ein Attentäter zu sehen - das Cover mit dem Boston-Marathon-Bomber wurde kontrovers diskutiert (imago stock&people) Adalbert Siniawski: "Eine Ära in der Popkultur geht zu Ende" - so lautet heute eine martialische Schlagzeile in der FAZ. Und auch viele andere Medien haben eine Art Nachruf geschrieben - auf den "Rolling Stone". Der Grund: Jann Wenner, der die Zeitschrift vor 50 Jahren mit 7.500 Dollar in der Hand gegründet hatte, will seine Anteile verkaufen. Im Alter von 71 Jahren will er die wichtigste Popkulturzeitschrift der Welt abgeben. Andreas Borcholte, Musikkritiker bei Spiegel Online, früher auch Autor bei der deutschen Ausgabe des "Rolling Stone", kommen diese Nachrufe verfrüht - oder ist es Aus mit dem "Rolling Stone"? Andreas Borcholte: Naja, also im Moment kann es ja sein, dass zum Beispiel "American Media", die ja auch schon "Us Weekly" und das "Man's Journal" gekauft haben, beides Rolling-Stone-Publikationen, die dem kleinen Verlag angehörten, den Wenner damals gegründet hat. Wenn die das zum Beispiel kaufen, die gehören einem Trump-Sympathisanten, dann kann das natürlich sein, dass es mit der liberalen Haltung des Blatts vorbei ist. Und dann müsste man schon davon sprechen, dass da eine Ära zu Ende geht, ja. "Wenner könnte Herausgeber bleiben" Siniawski: 49 Prozent wurden schon 2016 an das Singapurer Start-up BandLab Technologies verkauft. Es wird geführt von Kuok Meng Ru, dem Sohn des weltgrößten Palmöl-Händlers. Könnte dieser Investor der Retter sein, sollte er vielleicht aufstocken wollen, ähnlich wie Amazon-Gründer Jeff Bezos bei der "Washington Post"? Borcholte: Ja, und das wäre, glaube ich, auch die günstigste Lösung, dass jemand diese Anteile kauft, der keinen publizistischen Impetus hat, sondern einfach sagt, ähnlich wie Bezos, ihm ist daran gelegen, dass es die Marke weiter gibt und die auch genau so agieren kann wie sie immer agiert hat, sprich: publizistisch nicht eingreift. Das wäre für Wenner das Günstigste, dann könnte er Herausgeber bleiben und das Blatt so weiterführen, wie er es die letzten 50 Jahre auch getan hat. Siniawski: Eingestiegen ist der Investor 2016 - zwei Jahre zuvor musste der "Rolling Stone" einen tiefen Einschnitt verkraften. Grund war der Bericht über eine angebliche Massenvergewaltigung an einer Universität, die es aber nie gegeben hat. Die Recherchepraxis wurde infrage gestellt und das Magazin musste drei Millionen Dollar Entschädigung zahlen. War das der Anfang vom Niedergang der Zeitschrift? Borcholte: Das war sicherlich dumm. Ich glaube, die können sich beim "Rolling Stone" immer noch nicht erklären, wie das zustande kam. Drei Millionen ist natürlich eine sehr hohe Zahl, aber ich glaube, das ist letztlich nicht das, was dem Magazin das Genick bricht. Ich glaube, da sind andere Sachen entscheidender, nämlich andere Summen auch und die haben ja mit Anzeigenschwund zu tun und mit schwindender Relevanz von Musikmagazinen auch. Wir haben noch länger mit Andreas Borcholte gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs "Wir schreiben auch Verrisse" Siniawski: Sind Sie auch ein bisschen Schuld am Untergang? Kluge Pop-Kritik finde ich heutzutage kostenlos online, wie in ihrer "SpOn"-Kolumne "Abgehört". Borcholte: Haha, ja, vielen Dank. Ja, natürlich. Das Internet hat vieles, wenn nicht sogar alles, verändert. Und darauf muss sich Musikkritik einstellen. Und das gelingt eben manchen besser und eben manchen schlechter. Und das ist sicherlich für so ein Magazin wie "Rolling Stone", mit so einer langen Tradition, schwierig, da den richtigen Weg zu finden. Manche Entscheidungen waren sicherlich falsch, man konnte früher nicht absehen: Wie wichtig wird der Onlinebereich? Wie stärkt man das? Wie investiert man? Welche Themen setzt man? Das sind alles so Faktoren, die dann dazu führen, dass so ein Magazin dann auch an Bedeutung verlieren kann. Ich glaube, davor ist aber niemand gefeit. Also da muss man sich immer genau angucken: Wie verändern sich gerade Sachen? Und dann sehr flexibel sein. Siniawski: Und damit steht der "Rolling Stone" ja nicht alleine. Es gibt ja in der Musikpresse viele Blätter, die einstellen mussten, auch "De:Bug" zum Beispiel in Deutschland. Wenn nun diese etablierten Qualitätsmedien tatsächlich aussterben sollten – oder dramatisch kleiner werden sollten - und nur noch Musikblogs, Influencer und Pseudo-Journalisten bleiben - wo bleiben da die erfahrenen, kritischen Stimmen? Borcholte: Ja, das kann ein großes Problem werden, zumal Musikblogs, Influencer – das ist schwierig, weil da immer so eine große Nähe ist, auch zu den Konzernen oder Firmen, die da mit ihren Produkten dahinterstehen. Es geht ja um unabhängige Berichterstattung und da ist natürlich auch wichtig, dass ein Verlag dahintersteht hinter der Publikation, der sich auf publizistische Ideale beruft und sagt: Wir lassen uns nicht beeinflussen oder kaufen oder sonst wie als PR-Maschinerie missbrauchen. Siniawski: Wir schreiben auch Verrisse. Borcholte: Wir schreiben auch Verrisse, genau. Und wenn man sich das anschaut in der Musikkritik, auch in Deutschland im Moment, dann geht die Anzahl der wirklich kritischen Berichterstattung gerade schon auch zurück. "Das absolute Erfolgsrezept" Siniawski: Der "Rolling Stone", Sie sagen es, hat ein eigenes Markenzeichen geschaffen, Poltiker waren regelmäßig "On The Cover of The Rolling Stone", um einen Song von Dr. Hook & the Medicine Show zu zitieren. Barrack Obama oder neulich auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau, mit der Schlagzeile: "Warum kann er nicht unser Präsident sein?" Dieses Blatt war schon immer ein Stachel im Fleisch der Konservativen. Dieser weite Pop-Begriff, den die deutschen Musikmagazine vielleicht nicht ganz so verfolgen, war das ein Erfolgsrezept oder ein Verhängnis für das Blatt? Borcholte: Nein, ich glaube, das war das absolute Erfolgsrezept. Ich glaube, dass der "Rolling Stone" als reines Musikmagazin niemals so erfolgreich geworden wäre. Es waren tatsächlich ja auch dann die Autoren, die das Blatt geprägt haben, gerade in den 70ern, Joe Eszterhas, Joe Klein, jetzt zum Schluss Matt Taibbi, der eben die ganzen großen Enthüllungsgeschichten, auch über Goldman Sachs zuletzt, geschrieben hat, das war immer das Salz in der Suppe. Das war immer das, was den "Rolling Stone" hervorgehoben hat aus dieser Nische Popkultur oder Popmusikberichterstattung. Siniawski: Und "Rolling Stone"-Gründer Jann Wenner ist jetzt 71 Jahre alt, das Heft wird am 9. November 50. Auf welche Lebensleistung kann er zurückblicken? Borcholte: Er hat es geschafft, ein politisches Magazin aus der Popkultur heraus zu erschaffen, aus einem popkulturellen Ansatz. Und zwar mit den Autoren, Sie haben Hunter S. Thompson genannt. Er hat andere journalistische Formen befördert, Gonzo-Journalismus, New Journalism von Tom Wolfe. Er hat ein liberales Medium geschaffen, abseits der großen etablierten Medien. Und er hat natürlich Ikonen geschaffen, Annie Leibovitz, die Fotografin, Herb Ritts, Anton Corbijn. Das sind alles Leute, die durch den "Rolling Stone" groß geworden sind. Es gibt Dutzende Cover, das sind Ikonen der Popmusik. Alleine das John Lennon/Yoko Ono-Cover, wo die beiden nackt nebeneinander liegen, Charles Manson war auf dem Cover, der Boston-Marathon-Attentäter war auf dem Cover - hochkontrovers. Also das ist eine Lebensleistung. Er hat ein Instrument der Gegenkultur sozusagen in den Mainstream geführt. Siniawski: Andreas Borcholte - Musikkritiker bei Spiegel Online, früherer Autor der deutschen Ausgabe des "Rolling Stone" - vielen Dank für das Gespräch! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Borcholte im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
Ein Paukenschlag für die Musikpresse: Der Gründer des stilprägenden "Rolling Stone" will seine restlichen Anteile am Blatt verkaufen. "Es wäre für Jann Wanner die beste Lösung, wenn jemand die Anteile kauft, der keinen publizistischen Impetus hat", sagte Musikkritiker Andreas Borcholte im Dlf.
"2017-09-19T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:51:47.035000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verkauf-des-rolling-stone-kritische-musik-berichterstattung-100.html
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Maßvoll den Durst löschen
Wasserträger allüberall. Immer wieder sieht man zum Beispiel Jugendliche, die während der kurzen Straßenbahnfahrt zur Schule aus schicken Plastikbehältnissen trinken – es sieht ein wenig aus wie Nuckeln an der Flasche. Und die Getränkehersteller dürfte es freuen. Amerikanische Wissenschaftler, die enge Verbindungen zu dieser Branche unterhalten, haben an der Empfehlung mitgewirkt, der Mensch müsse täglich zwei, besser noch drei Liter Flüssigkeit zu sich nehmen."Für einen normalen Menschen würde ich sagen, der soll nach seinem Durst trinken, da wird er keinen Schaden nehmen," widerspricht Professor Andreas Pfeiffer vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung: "Ist es gesund oder bleibt man gar schöner, wenn man mehr trinkt, ist es gut für die Haut – das ist eine Frage, die glaube ich nicht sehr eindeutig beantwortet ist von der Medizin." Neuere wissenschaftliche Überprüfungen der Mehr-ist-besser-Hypothese ergaben, dass diese nicht nur unbewiesen ist, sondern dass zu viel Trinken sogar schädlich sein kann. Selbstverständlich ist Wasser einer der Grundbausteine des Lebens. Der Körper ist darauf angewiesen, um seine Temperatur zu regulieren, Nährstoffe zu transportieren und Gifte auszuscheiden. Und dazu benötigt ein gesunder Mensch eine tägliche Trinkmenge von etwa eineinhalb Litern. Einen weiteren Teil Flüssigkeit, etwa einen Liter, nimmt er mit der festen Nahrung auf. Allerdings gibt es Situationen, in denen mehr als üblich getrunken werden sollte."Hält eine Hitzewelle mehrere Tage an und achten wir nicht darauf, dass wir entsprechend Flüssigkeiten wieder auffüllen, die durch das Schwitzen verloren gegangen sind, dann sind wir relativ schnell nicht nur gefährdet, sondern lebensbedrohlich gefährdet," erläutert Professor Hans-Christian Gunga vom Institut für Physiologie der Charité. Und Dr. Angela Alei Abaei, Notärztin in derselben Berliner Uniklinik, ergänzt, dass besonders zwei Gruppen in Gefahr sind, einen Kreislaufkollaps oder einen Hitzschlag zu bekommen:"Kinder im Alter bis zu vier Jahren und ältere Menschen sind betroffen, bei den älteren Patienten ist es auch so, dass diese Regulationsmechanismen, die eben dieses Durstgefühl, was ja normalerweise auftritt – also das bemerken sie nicht, und deswegen haben die immer ein Flüssigkeitsdefizit im Winter wie im Sommer, und gerade unter den warmen Außentemperaturen, auch wenn die Heizperiode beginnt, vergessen die einfach das Trinken und dann kommt es eben zu diesen Krankheitsbildern." Bei Sommer denken Viele auch an Bewegung im Freien, einige Menschen betreiben sogar Hochleistungssport in der prallen Sonne. Wenn sich dann vermehrt Durst einstellt, sollte man darauf vertrauen und Wasser oder Saft trinken. Professor Gunga warnt allerdings vor Übertreibung:"Gerade bei sportlichen Aktivitäten – da besteht heute teilweise auch schon eine große Gefahr, dass die Teilnehmenden zu viel des Guten tun, zu viel vorher trinken. Das heißt, dass sie manche unserer Elektrolyte, insbesondere das Natrium, zu sehr verdünnen, man füllt den Körper übermäßig mit Flüssigkeit, ist auch nicht gut, sondern kann auch lebensbedrohlich sein." Bei bestimmten Erkrankungen jedoch ist es oft sinnvoll, mehr zu trinken als der Durchschnitt. Wenn zum Beispiel jemand eine Nierenfunktionsstörung hat, "dann braucht er mehr Flüssigkeit, um seine Schadstoffe loszuwerden, und dann ist es oft hilfreich, wenn wer ein bisschen mehr trinkt. Dann kommt es aber sehr darauf an, wie stark seine Nierenfunktion eingeschränkt ist, wenn die höhergradig eingeschränkt ist und er das Wasser auch nicht mehr ausscheiden kann, dann kann es wiederum ein Problem geben, und da sollte man mit seinem Arzt drüber reden."Anderereits kann ständiger, übermäßiger Durst auch ein Hinweis auf eine Zuckerkrankheit sein. Professor Andreas Pfeiffer ist auch Diabetologe:"Beim Diabetes hat man durch den hohen Blutzucker eine hohe Ausscheidung von Zucker im Urin, den Harnzucker, und der zieht Wasser an, sodass man eine sogenannte Diurese bekommt: Man scheidet mehr Wasser aus und verliert Wasser und dann muss man mehr trinken, man bekommt dann auch Durst, und das ist eines der Symptome, was auftritt, doch es ist bei einem beginnenden Typ-II-Diabetes im Allgemeinen nicht der Fall, das ist erst, wenn es schon ein bisschen weiter fortgeschritten ist, es ist typisch eigentlich für den Typ-I-Diabetiker. Die können da große Probleme kriegen durch den Wasserhaushalt und die Störung durch den erhöhten Blutzucker." Wasser – ob aus dem Bach, dem Hahn im Haushalt oder der Selters-Flasche – enthält zahlreiche notwendige Spurenelemente und Mineralstoffe. Deshalb gehört es zu den wichtigsten Regeln, nach starken Durchfällen viel zu trinken, um den Elektrolytverlust auszugleichen. Ansonsten ranken sich allerlei Mythen um das Thema Trinken und Flüssigkeitsbedarf. So zum Beispiel, dass Kaffee dem Körper Flüssigkeit entziehe.Pfeiffer: "Die Inhaltsstoffe von Kaffee haben eine diuretische Wirkung, also man muss dann etwas vermehrt auf die Toilette, das kommt aber auch drauf an, wie viel Kaffee man trinkt, wenn man den dauernd trinkt, dann verliert sich diese Wirkung, dann gewöhnt man sich daran. Und wenn man da was ausscheidet auf der Toilette, dann sind da auch die Stoffe drin, die man ausscheiden muss, die harnpflichtigen Substanzen. Also insofern ist Kaffee durchaus Flüssigkeit, und es ist nicht so, dass er dem Körper nur Wasser entzieht und man dann austrocknet vom Kaffee, sondern wer seine sechs Tassen Kaffee am Tag trinkt, der kann das ruhig machen, ist auch nicht ungesund, und wird dann entsprechend auf die Toilette gehen und das ausscheiden, ja." Alkohol hingegen ist gar nicht gut. Nichts gegen ein zischendes Bier gegen den Durst. Aber zu viel Promille bringen den Wasserhaushalt heftig durcheinander – man merkt's spätestens am nächsten Morgen an der trockenen Kehle. Wer hingegen den Geschmack von sprudelndem Mineralwasser mag, der tut sich nichts Schlechtes an. Anders sieht es mit industriellem, stillem Mineralwasser aus, wie die Stiftung Warentest im Juli 2012 festgestellt hat. Deren Projektleiterin Dr. Birgit Rehlender:"Wir haben festgestellt, dass jedes seine Mängel hat. Die einen bieten nur wenig Mineralstoffe, andere eignen sich nicht für Immunschwache, manche haben leichte Geschmacksfehler; Hinzu kommt: Der Preis von Leitungswasser ist unschlagbar. Wer beispielsweise in Köln einen Liter aus dem Hahn zapft, zahlt dafür nur 0,3 Cent, und dann spart man sich das Flaschenschleppen."
Von Justin Westhoff
Wie viel Liter Flüssigkeit braucht der Mensch am Tag? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Dass ausgerechnet den Getränkeherstellern nahestehende Forscher empfehlen, drei Liter täglich zu trinken - wen wundert das? Aber ist die Empfehlung auch gesund?
"2012-08-28T10:10:00+02:00"
"2020-02-02T14:21:48.114000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/massvoll-den-durst-loeschen-100.html
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"Werden eine Rückkehr des Staates erleben"
In der Coronakrise gebe es "eine neue Akzeptanz von Staatlichkeit", sagte der Soziologe Heinz Bude im Dlf (imago images / photothek / Thomas Imo) Christoph Heinemann: Auch Angela Merkel sprach vom Krieg, aber nur als Erinnerung an eine historische Epoche, als sie sich zur Corona-Krise in der vergangenen Woche im Fernsehen äußerte. Der französische Staatspräsident zog einen direkten Vergleich zum Kriegszustand: "Wir befinden uns im Krieg, zwar nur in einem Gesundheitskrieg; wir kämpfen nicht gegen eine fremde Armee oder gegen eine andere Nation. Der Feind ist allerdings da, unsichtbar, nicht zu fassen und er schreitet voran, und das erfordert unsere Generalmobilmachung. Wir befinden uns im Krieg!" Das Bild vom Krieg bemühte der Präsident auch am Mittwoch bei seinem Besuch im elsässischen Mulhouse. Nicht nur Sprache ändert sich; gestern wurde gemeldet, der Absatz von Toilettenpapier sei in Deutschland um 700 Prozent gestiegen. In der Politik werden gewaltige Ausgabenprogramme in wenigen Tagen beschlossen, heute im Bundesrat. Der Alltag, die Produktions- und Verhaltensweisen werden über Nacht neu geregelt. Zum Anstand gehört neuerdings der Abstand. Darüber wollen wir jetzt sprechen. Coronavirus (imago / Science Photo Library) "Es gibt eine große Zustimmung zu dieser Art der Aufgerufenheit" Am Telefon ist Heinz Bude, Professor für Soziologie an der Universität Kassel. 2016 erschien sein Buch "Das Gefühl der Welt: Die Macht von Stimmungen". Herr Professor Bude, alle müssen zu Hause bleiben. Sorgt Corona für Gleichheit? Bude: In gewisser Weise ja, denn Sie können noch so schlau und noch so reich sein; Sie sind auf andere angewiesen, die sich daran beteiligen, dass der Virus sich nicht weiter ausbreitet. Insofern würde ich zur Gleichheit sofort die Verbundenheit dazusagen. Ich glaube, wir befinden uns in einer großen gesellschaftlichen Struktur, die aus einer gewissen Betroffenheit eine Verbundenheit schafft auf Augenhöhe. Das ist merkwürdigerweise nichts, was die Leute wahnsinnig aufbringt, oder man sagt, wo bleiben meine Privilegien oder so etwas, sondern es gibt eine große Zustimmung zu dieser Art der Aufgerufenheit, sich aufeinander zu beziehen, und zwar in der Weise, dass jeder Einzelne auch Sorge für den jeweils anderen trägt und zu Hause bleibt. Heinemann: Das ist das Positive. Mit welchen Risiken und Nebenwirkungen ist das verbunden? Bude: Ich glaube, das Hauptproblem, was wir haben werden, ist die Zeit nach Ostern. Man kann jetzt schon sagen, dass es sicherlich eine gewisse Isolationsmüdigkeit besonders bei den Familien mit kleineren Kindern geben wird. Das ist ein Problem. Das Home-Schooling scheint, doch einigermaßen zu funktionieren. Es gibt digitale Möglichkeiten dazu. Aber – und da kommen wir schon zu einem ersten Punkt – das Home-Schooling wird eine Ungleichheit einführen in der Art der Beschulung unserer Kinder, nämlich schon allein bei denjenigen, die über einen stabilen Internet-Anschluss zu Hause verfügen und eine gute Gerätschaft, und denen, die nicht darüber verfügen, oder bei denen die Eltern im Hintergrund mitwirken, dass die Schüler wirklich die digital zugewiesenen Aufgaben erledigen und sich auf andere beziehen über Chat Rooms, und denen, die nicht darauf achten. Das heißt, hier taucht etwas auf, dass plötzlich in der Gleichheit eine starke Ungleichheit aufklafft, und das wird ein großes Problem werden, glaube ich, wenn wir da nicht versuchen, eine Struktur zu entwickeln, die dem entgegenwirkt und auch möglicherweise so etwas wie Sorgentelefone für Eltern einrichtet, die mit dieser Situation im Augenblick nicht mehr klarkommen. Digitalisierung an Schulen - Versäumnisse rächen sich in der Corona-KriseE-Learning, Tablets und Notebooks für Unterricht und Hausaufgaben – eigentlich sollte der Digitalpakt Lehrer, Schüler und Schulen auf den neuesten Stand der Technik und der didaktischen Möglichkeiten bringen. Aber so recht vorangekommen ist die Digitalisierung noch nicht, wie jetzt schmerzhaft klar wird. "Das ist mehr, als man in Kriegszeiten von Ihnen verlangt hat" Heinemann: Das Sorgentelefon der Nation, das sind die Politikerinnen und Politiker zurzeit. Sie appellieren genau an gemeinsames Handeln und Einheitlichkeit. Wir haben gehört: Einige sprechen vom Krieg. Wie passt Uniformität zu Demokratie und zur offenen Gesellschaft? Bude: Es ist sicher so, dass bestimmte Grundprinzipien der offenen Gesellschaft eingeschränkt worden sind – etwa ein Grundelement, das wir selbstverständlich in Anspruch nehmen, nämlich die Bewegungsfreiheit. Es kommt noch hinzu, dass man möglicherweise, wenn Sie etwa positiv getestet werden, eine starke Einschränkung erfahren müssen, insofern Sie sich in eine wohl definierte Isolationssituation begeben müssen, dass das von Ihnen verlangt wird. Das ist eigentlich ungeheuerlich. Das ist mehr, als man in Kriegszeiten von Ihnen verlangt hat, wo man – die älteren Generationen wissen das noch – in den Luftschutzkeller geflüchtet ist, aber man ist ja selber geflüchtet und man hat das selber auf eigene Initiative hin getan. Möglicherweise – und es wird sicher so sein -, dass es auch Isolationsaufrufe und Anordnungen geben wird für Leute. Das zweite Problem sicherlich ist das Problem, was jetzt auf dem Tisch ist: die Nutzung von Bewegungsdaten. Das heißt, dass bei Leuten, die sich isolieren sollen, auch darauf geachtet wird, dass sie das auch tun, durch eine digitale Steuerungsmöglichkeit und Überwachungsmöglichkeit. Das sind alles schwerwiegende Einschränkungen. Interessant auch da finde ich, dass es eine hohe Zustimmung offenbar bei den Leuten im Augenblick dazu gibt und ich auch den Eindruck gewinne, dass für viele erst mal sogar eine positive Deutung der Lage daraus folgt. Staatsrechtlerin - "Es sind ganz massive Grundrechtseinschränkungen"Solche massiven Grundrechtseinschränkungen wie derzeit habe man so noch nicht gekannt, weil eine Situation wie die Coronakrise noch nicht gegeben habe, sagte die Staatsrechtlerin Sophie Schönberger im Dlf. Derzeit werde abgewägt "zwischen der Einschränkung von Freiheit und dem Schutz eines höheren Ziels". "Es gibt eine neue Akzeptanz von Staatlichkeit" Heinemann: Das wollte ich Sie gerade fragen. Inwiefern sehnen sich Menschen vielleicht sogar nach Einklang und Gleichschritt? Bude: Jedenfalls scheint bei vielen, dieses Thema Entschleunigung eine Rolle zu spielen, dass man ein bisschen aus einer überhitzten Gesellschaft herausgekommen ist. Viele sagen, ich merke das auch, dass ich viele solche Informationen bekomme, eigentlich gehen wir doch jetzt in eine Situation der positiven Entschleunigung. Darunter steht natürlich eine ungeheure Anspannung - die habe ich Ihnen angedeutet – in den Familien, vor allen Dingen mit den Kindern, und ich glaube schon, dass die Frage, was eigentlich eine offene Gesellschaft sein wird, in der Zukunft eine Rolle spielen wird, weil wir etwas sehr Merkwürdiges erleben. Es gibt eine neue Akzeptanz von Staatlichkeit, wie wir das, glaube ich, in den letzten 30, 40 Jahren so nicht gekannt haben. Die Staatsaversion, die Staatsphobie, die man mit dem sogenannten Neoliberalismus in Verbindung bringt, ist wie weggeblasen. Heinemann: Die Frage ist, wie dauerhaft das ist. Der Kollege Thomas Assheuer warnt jetzt in der Wochenzeitung "Die Zeit" davor, dass Rechtsradikale diese Pandemie propagandistisch ausschlachten könnten – Tenor: Die Globalisierung als Angriff auf einen so bezeichneten Volkskörper. – Wer ist anfällig für solche Gedanken? Bude: Es gibt sicherlich solche Phänomene. Sie sehen das auch, wenn Sie das nach Gruppen aufschlüsseln, welche Gruppe ist am wenigsten einverstanden mit der augenblicklichen Situation und der Wiederkehr einer Staatlichkeit, die auch Direktionskraft hat. Interessanterweise die Mehrheit der AfD-Wähler ist gar nicht damit einverstanden, weil sie nämlich merken, dass ein großideologischer Anspruch, den sie erhoben haben, ihnen aus den Händen genommen wird. Es ist etwas sehr Interessantes. Ich glaube, dass die AfD und die Welt der AfD weniger Zustimmung bekommen wird in der Zukunft, weil teilweise ihre Vorstellungen in einer anderen Weise, ich würde sagen, in einer zivilisierten Weise übernommen worden sind und die Situation im Augenblick regieren. Ich glaube, die AfD und die rechte Gesinnung wird uns bald als eine sehr frivole Angelegenheit vorkommen und man im Grunde schulterzuckend davorsteht und sagt, was war das eigentlich für eine komische Angelegenheit. "Die Millennials werden ernsthaft erwachsen" Heinemann: Welche Folgen hat das mutmaßlich eingeschleppte Virus für die hypermobile Weltgesellschaft? Bude: Ich glaube schon, dass wir in einer Art von Deglobalisierung leben werden. Stellen Sie sich vor, die mittlere Generation von heute sind die sogenannten Millennials. Das ist die erste Generation, die in allen westlichen Gesellschaften mit der Botschaft in das Erwachsenenalter gegangen ist, dass sie die erste Generation sein werden, denen es schlechter geht als der Generation ihrer Eltern. Die haben sich quasi im Grunde ein bisschen von der Geschichte düpiert gefühlt und dieses Düpierungsgefühl ändert sich jetzt gerade. Ich glaube, diese mittlere Generation der heute 35- bis 45-Jährigen erlebt die Situation jetzt als eine Bewährungssituation, und das ist sehr interessant. Wenn Sie so wollen: Die Millennials werden ernsthaft erwachsen. Senioren und das Coronavirus - Erinnerungen an den KriegBesonders ältere Menschen gehören zur Risikogruppe bei der Coronavirus-Ausbreitung. Viele Seniorinnen und Senioren müssen deshalb lernen, mit der Isolation zurechtzukommen, ihre Enkel beispielsweise nicht mehr zu sehen. Bei manchen kommen auch Erinnerungen hoch. Heinemann: Deklinieren wir andere Generationen noch durch. Die älteren Bürgerinnen und Bürger, die 20er- und 30er-Jahrgänge haben in ihrer Kindheit gesellschaftliche Uniformität erlebt oder erleben müssen – die Menschen im Osten übrigens auch. Die Mittelalten, die 68er sind im Westen genau dagegen auf die Straße gegangen. Wie wirkt beides gerade nach? Bude: Ich glaube, die 68er sind, wenn Sie so wollen, vernünftiger, als man dachte. Der Alterungsprozess, das Altern dieser Generation ist ja dadurch gekennzeichnet, dass es eine nachholende Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie gegeben hat, eine nachholende Akzeptanz der Rechtsstaatlichkeit. Und wenn Sie sich so jemanden wie Joschka Fischer anschauen, dann ist es einer der glühendsten Vertreter einer parlamentarischen und repräsentativen Demokratie. Heinemann: Der wird auch immer vernünftiger? Bude: Der wird auch immer vernünftiger. – Und ich glaube, für diese Generation ist das kein Problem. Die Älteren, die jetzt teilweise die Urgroßeltern sind, das ist eine wirklich interessante Geschichte, die die vorzubringen haben, nämlich dass die manchmal sagen, wir haben eine Wohnung, wir haben warmes Wasser und wir können uns Milch und Eier besorgen und Kaffee, was ist so schlimm an der Situation. "Ich würde den Hamsterkauf nicht überbewerten" Heinemann: Das heißt, können Gesellschaften aus kollektiven Notlagen oder Bedrohungen dauerhaft lernen? Bude: Ich glaube, wir werden das tun. Wir werden eine Rückkehr des Staates haben in allen westlichen Gesellschaften. Das kann man auch ganz nett ausdrücken. Wir werden ein neues Bewusstsein über die Bedeutung kollektiver Güter haben, die nicht privat hergestellt werden können. Das betrifft das Gesundheitssystem, das betrifft auch die Strukturen der sozialen Absicherung in unserer Gesellschaft. Ich glaube, die Zeit der Minimierung des Staates und des Rückbaus von Sozialsystemen ist vorbei. Heinemann: Kollektive Güter, sagen Sie. Wofür steht dann, soziologisch gesehen, der Hamsterkauf? Bude: Ich würde den Hamsterkauf nicht überbewerten. Das war eine Schreckreaktion, die auch relativ hilflos war. Das ist etwas, was sehr billig war, was man sich sofort anschaffen konnte, und ich glaube, das ist so etwas wie eine anthropologisch tief sitzende Reaktion. Man versucht, irgendwelche Nüsse zu sammeln, um in der Höhle überwintern zu können. Nehmen Sie das nicht so ernst, das wird alles wieder vergehen. Heinemann: Wenn es Nüsse wären! – Gilt der Besitz von Toilettenpapier kurzfristig als neue Währung, in der Erfolg gemessen wird? Bude: Nein. Das ist einfach nur ein Autarkie-Symbol. Es gibt eine Gaststätte in Stuttgart, da können Sie ein Essen abholen; Sie kriegen als Plus eine Rolle Toilettenpapier. Da wird das schon ironisch bewertet. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heinz Bude im Gespräch mit Christoph Heinemann
Der Soziologe Heinz Bude glaubt, dass die Gesellschaft durch die Coronakrise ein neues Bewusstsein für die Bedeutung kollektiver Güter, die nicht privat hergestellt werden können, haben wird. Im Dlf bezog er sich dabei auf das Gesundheitssystem und die Strukturen der sozialen Absicherung.
"2020-03-27T08:10:00+01:00"
"2020-03-30T12:55:23.743000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-zu-coronakrise-werden-eine-rueckkehr-des-staates-100.html
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Hopp verklagt Schmähsänger
Fans des 1. FC Köln zeigten beim Spiel gegen 1899 Hoffenheim Schmähplakate. (imago / Revierfoto) "Dietmar Hopp, Du Sohn einer Hure!" Vor Spielbeginn des Bundesligaspiels TSG Hoffenheim gegen den 1. FC Köln Anfang März dieses Jahres schallen die gerade gehörten Rufe aus dem Block der FC-Fans. Seit die TSG Hoffenheim aus den unteren Amateurligen bis hoch in die Bundesliga durchmarschierte, auch dank der Millioneninvestitionen von SAP-Gründer Dietmar Hopp, schallen dem Mäzen diese Schmähgesänge entgegen. Nun hat er sich dazu entschlossen, Anzeige wegen Beleidigung nach §185 Strafgesetzbuch gegen die Kölner Fans zu stellen, wie die Staatsanwaltschaft Heidelberg dem Deutschlandfunk schriftlich bestätigt: Ermittlungen gegen 21 Personen "Nach unseren Informationen trifft es zu, dass das Polizeipräsidium Mannheim wegen des von Ihnen angesprochenen Sachverhalts gegen 21 Personen ermittelt. Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist allgemein, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten bestehen. Wie uns die Polizei mitgeteilt hat, dauern ihre Ermittlungen noch an." Ob letztendlich Anklage erhoben wird, steht demnach noch nicht fest. Wie unsere Recherchen ergaben, sind die FC-Fans aber nicht alleine davon betroffen: Bei insgesamt sechs Bundesligaspielen in der letzten Saison wurden aufgrund von Beleidigungen gegen Dietmar Hopp Ermittlungen eingeleitet. Hierbei konnten laut der Polizei Mannheim mehrere Tatverdächtige ermittelt werden. Eine rechtskräftige Verurteilung gibt es zudem aus Vorfällen im April 2017, als Hoffenheim beim 1. FC Köln gastierte. Damals ist Dietmar Hopp auf Plakaten verunglimpft worden, ein FC-Anhänger ist daraufhin mit einer Geldstrafe von 800 Euro belegt worden. Allerdings hatte er sich gegen diese Strafanzeige auch juristisch nicht zur Wehr gesetzt. "Spirale der Aufrüstung" Laut Informationen des Deutschlandfunks werden die 21 von den jetzigen Anzeigen Betroffenen darauf anders reagieren. Tobias Westkamp ist Mitglied in der Arbeitsgruppe Fananwälte, und berät seit Jahren die Kölner Anhängerschaft juristisch. In dem konkreten Fall hat er bis dato kein Mandat inne, sieht jedoch auf beiden Seiten eine Spirale der Aufrüstung: "In der Tat, Herr Hopp hat, was ja zunächst mal sein gutes Recht ist, eine äußerst geringe Frustationstoleranz, ist äußerst intolerant gegenüber dem vermeintlichen Gebaren der Anhänger des 1. FC Köln. Und zwar in jedem Aufeinandertreffen in der Vergangenheit, was ein Stück weit auch dazu geführt hat, dass natürlich auch die Fußballfans von Spiel zu Spiel noch einmal eine Schippe draufgelegt haben. Zur Deeskalation trägt das Verhalten von Herrn Hopp mit Sicherheit nicht bei!" Die Strafverfolgungsbehörden bewerten ausschließlich das mutmaßliche Delikt, und nicht die damit verbundenen Hintergründe des Schmähgesangs. Denn für die Fans regiert, diktiert, und bestimmt ein Mäzen die Geschicke eines Klubs alleine. Demokratische Prozesse, die einen Verein für sie ausmachen, sind damit ausgesetzt. Wer das Geld bringt, hat eben das Sagen. Die Fans sehen darin einen Vergleich zum horizontalen Gewerbe. Wir wollen darüber auch mit Dietmar Hopp ins Gespräch kommen. Die TSG Hoffenheim verweist uns an seinen Anwalt Christoph Schickhardt, der sich bei uns zurückmeldet, sich dazu aber nicht öffentlich äußern möchte. Sein Mandant Dietmar Hopp sprach allerdings schon vor zehn Jahren im Sport1-Doppelpass davon, dass er sich nicht mehr alles gefallen lassen wolle. Auch damals ging es um Beleidigung durch einen Fan: "Die zweite Seite ist die, dass ich ihn wegen Beleidigung anzeigen kann. Wir haben über eine Woche gewartet, und eigentlich erwartet, dass der junge Mann sich entschuldigt. Die Gelegenheit hat er immer noch - wenn er das tut, werden wir die Anzeige zurückziehen. Und eines kann ich hier versprechen: Wir werden dickhäutig genug sein, um uns das anzuhören. Aber Gewaltandrohung ist einfach keine einfache Geschichte, vor allem für denjenigen, den es gilt." "Hure" als Analogie Auch wenn die Verwendung des Begriffs "Hure" für die Fans eine Analogie darstellt, empfindet Dietmar Hopp die Schmährufe der Fans definitiv als Beleidigung, und bringt sie aus seiner Sicht zu Recht zur Anzeige. Vor ihm hat das noch niemand gemacht. Egal, in welcher Art und Weise er beleidigt wurde. Der DFB verweist darauf, dass sportgerichtliche Verfahren davon nicht tangiert seien, da beides unabhängig voneinander laufe. Deshalb wolle sich der Verband dazu auch nicht weiter äußern. Anders ProFans: Die Interessenvertretung der Anhänger setzt sich für den Erhalt der Fankultur ein. Für sie bildet der Rahmen des gesetzlich Zulässigen den Freiraum jedweder Kritik. Auch unter Beachtung der Kunstfreiheit. Unabhängig davon stellt ihr Sprecher Sig Zelt fest: "Herr Hopp hat mit seiner finanziellen Intervention in wahrhaft schamlosem Ausmaß die Käuflichkeit sportlichen Erfolgs demonstriert. Das wird der breiten Masse von Fans, denen die ideellen Werte des Sports etwas bedeuten, auch weiterhin ein gehöriger Dorn im Auge sein. Herr Hopp mag sich in Sinsheim feiern lassen. Er wird aber auch künftig damit leben müssen, dass nicht nur 21 Kölner Ultras, sondern vielmehr Hunderttausende Sportfreunde in seiner Person Unfairness, Unsportlichkeit und Demokratiefeindlichkeit verkörpert sehen werden." Diesen Kulturkampf im Stadion wird letztendlich keine der Seiten für sich entscheiden können. Der deutsche Profi-Fußball steht hier ebenfalls am Scheideweg.
Von Thorsten Poppe
"Dietmar Hopp, Du Sohn einer Hure!". Der Protagonist in diesem Schmähgesang hat Anzeige gegen Fans erstattet, die ihn aus der Stadionkurve mutmaßlich beleidigten. Der Fall sorgt bundesweit für Aufsehen, weil er den Kulturkampf im Stadion weiter aufheizt.
"2018-08-18T19:13:00+02:00"
"2020-01-27T18:06:42.023000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fussball-hopp-verklagt-schmaehsaenger-100.html
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Bedrohen verglühende Satelliten die Ozonschicht?
Durch Megakonstellationen wie Starlink ist die Zahl der Satelliten sprunghaft angestiegen. (Stellarium) "Bei Megakonstellationen geht es nicht nur darum, dass so viele Satelliten in den Orbit gebracht werden, sondern dass dies nach dem Vorbild der Unterhaltungselektronik passiert. Die Satelliten durchlaufen eine schnelle Entwicklung und werden dann, sagen wir, alle fünf Jahre ersetzt." Das sagt Aaron Boley von der University of British Columbia in Kanada. Der Astronom sorgt sich, dass Satellitenformationen wie Starlink oder OneWeb nicht nur den Sternenhimmel verändern, sondern dass das Projekt nicht zu Ende gedacht ist. "Ungefähr alle fünf Jahre muss jeder dieser Satelliten entsorgt werden. Wenn man die hunderttausend Satelliten von all den verschiedenen geplanten Megakonstellationen betrachtet, ist das eine beträchtliche Masse. Und es ist hauptsächlich Aluminium." Immer mehr Satelliten im niedrigen Erdorbit Im Formationsflug kreisen immer mehr Satelliten im niedrigen Erdorbit. Wenn hier ein Satellit ausgemustert wird, wird er bewusst abgesenkt, um das Risiko für Zusammenstöße zu verringern. Er wird in der oberen Atmosphäre abgebremst und dabei immer heißer, bis er schließlich verglüht. Und das nun gasförmige Metall setzt hier seine Verwandlung fort. "Wenn das Aluminium in die Atmosphäre gelangt, reagiert es mit Sauerstoff und bildet Aluminiumoxid. Diese Aluminiumpartikel haben dann ein paar Konsequenzen. Zunächst befinden sie sich in der Mesosphäre. Das ist die Schicht direkt oberhalb der Stratosphäre. Und die Stratosphäre ist die Region, in der sich die Ozonschicht befindet, die uns vor der UV-Strahlung schützt." Zwei Tonnen Aluminium pro Tag Zwar verglühen in der Atmosphäre auch viele Meteoriten, und zwar jeden Tag deutlich mehr als die zukünftig verglühenden Satelliten auf die Waage bringen. Aber Meteoriten enthalten kaum Aluminium. Aaron Boley hat berechnet, dass durch Megakonstellationen schon in wenigen Jahren zwei Tonnen Aluminium pro Tag in der oberen Atmosphäre deponiert werden dürften. Und das ist neu. "Eine ganze Menge davon wird sich nach unten ausbreiten und in die Stratosphäre gelangen, wo es mit Ozon in Kontakt kommt. Und diese Aluminiumpartikel bieten eine Oberfläche für ozonabbauende Reaktionen." Fehlende wissenschaftliche Informationen Gerhard Drolshagen von der Universität Oldenburg bestätigt, dass die Menge neuen Aluminiums, die durch Meteoriten eingebrachte Masse weit übersteigen dürfte. Ob verglühende Satelliten aber wirklich die Ozonschicht als Ganze gefährden, lässt sich für ihn momentan nur schwer sagen. "Was kann in der Ozonschicht passieren? Erst einmal liegt die viel tiefer. Diese Teilchen werden in einer Höhe von 90 bis vielleicht 50 Kilometern freigesetzt. Die Ozonschicht liegt zwischen 20 und 30 Kilometern Höhe. Irgendwann kommen die Teilchen da schon mal herunter und fliegen da durch. Auf jeden Fall sollte man das mal weiter untersuchen, denn ich hab auch keine wirklichen wissenschaftlichen Informationen darüber gefunden." Und es gibt eine weitere mögliche Konsequenz verglühender Satellitenmassen: Das Versprühen von Aluminium in der oberen Atmosphäre gilt seit Jahrzehnten als Option für Geoengineering, um die Erde vor allzu viel Sonnenstrahlung abzuschirmen und damit den Klimawandel aufzuhalten. Ob diese Idee aber überhaupt funktioniert – oder ob das Aluminium vielleicht genau das Gegenteil bewirkt und die Erde noch wärmer macht -, ist nie ausreichend untersucht worden. "Ein völlig unkontrolliertes Experiment" "Bevor wir jetzt allzu aufgeregt werden, weil das vielleicht eine Antwort auf die globale Erwärmung ist, sollten wir im Auge behalten, dass es momentan ein völlig unkontrolliertes Experiment ist. Es könnte genausogut negative Folgen haben." Tausende Satelliten wie vorgesehen in unserer Atmosphäre verglühen zu lassen, ist damit gleich mehrfach ein gewagtes Experiment.
Von Karl Urban
Im Erdorbit wird es voll. Allein in den letzten zwei Jahren hat sich die Zahl der aktiven Satelliten fast verdoppelt. Das könnte zu mehr Zusammenstößen und Weltraumschrott führen - und noch weitere Folgen haben. Denn verglühen die vielen Satelliten, könnten sie die Atmosphäre beeinflussen.
"2021-07-13T16:45:00+02:00"
"2021-07-14T16:11:55.044000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aluminium-im-orbit-bedrohen-vergluehende-satelliten-die-100.html
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Drei Bedingungen für einen Verbleib Orbans
Die wichtigsten Mitgliedsparteien, darunter CDU und CSU, haben sich noch nicht festgelegt, ob sie auch für einen Rauswurf stimmen werden (MTI /dpa-Bildfunk ) 13 Zeilen ist er lang. Der Brief, den Victor Orban an die 13 Vorsitzenden Christdemokratischer Parteien geschickt hat, die er als - Zitat - "nützliche Idioten" der Linken bezeichnet hat. Weil sie den Rauswurf von Orbans Fidesz-Partei aus der EVP gefordert hatten. Sollten sie sich persönlich dadurch beleidigt fühlen, so Orban an die Parteichefs, dann wolle er sich dafür entschuldigen. Wouter Beke aber, der Vorsitzende der Flämischen Christdemokraten, hat umgehend abgewunken: Nein, er werde seinen Antrag, Orbans Fidesz rauszuwerfen, nicht zurückziehen. Bislang sind es überwiegend kleine Mitgliedsparteien, die von Orbans antisemitisch eingefärbten Angriffen auf die EU die Nase voll haben. Die wichtigsten Mitgliedsparteien, darunter CDU und CSU, haben sich noch nicht festgelegt, ob sie auch für einen Rauswurf stimmen werden. Manfred Weber, der Spitzenkandidat der EVP für die Europawahlen, war am vergangenen Dienstag in Budapest, um Orban zum Einlenken zu bewegen. Drei Bedingungen hatte der CSU-Politiker dem ungarischen Ministerpräsidenten für einen Verbleib in der EVP gestellt. Erstens müsse Orban seine antisemitische Plakatkampagne gegen George Soros und Jean-Claude Juncker beendet. Als Weber am Dienstag in Budapest eintraf, waren die Plakate bereits überklebt. Zweitens hatte Weber eine Entschuldigung Orbans für seine beleidigenden Attacken auf Parteifreunde verlangt. Die kam nun per Post. Und drittens hatte Weber gefordert, dass die CEU, die Central European University, weiter in Budapest beheimatet bleiben solle. "Skandalös und vollkommen inakzeptabel" Die CEU ist eine amerikanisch-ungarische Privatuniversität, gestiftet von eben jenem George Soros, den Orban bereits mit mehreren antisemitischen Hetzkampagnen überzogen hat. Orban hatte der CEU durch rechtliche Winkelzüge das Überleben in Ungarn unmöglich gemacht, vom Herbst an wird sie deshalb in Wien ihre Arbeit aufnehmen. Weber hat nun Orban bei seinem Besuch Anfang der Woche einen Plan präsentiert, der das Überleben der CEU in Budapest garantieren soll. Danach will der Freistaat Bayern zwei Lehrstühle an dieser Universität in Budapest finanzieren. Der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament, Jens Geyer, ist empört: "Ich finde es skandalös und vollkommen inakzeptabel, wie jetzt öffentliche Gelder von deutschen Steuerzahlern offenbar benutzt werden, um die Fidesz in der christdemokratischen Parteienfamilie zu halten und damit Machtspielchen finanziert werden. Ich finde das ungeheuerlich." Noch hat sich Victor Orban nicht öffentlich festgelegt, ob er auf der Grundlage des bayrischen Vorschlags die CEU in Budapest tolerieren will. Falls ja, wäre damit auch Webers dritte Bedingung erfüllt. Und Victor Orban könne eventuell seinen Rauswurf aus der EVP vermeiden. Was Manfred Weber wiederum zusätzliche Stimmen sichern würde, wenn er sich im Sommer als Kommissionspräsident im Europaparlament zur Wahl stellt.
Von Peter Kapern
Nach dem beleidigenden Brief des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban an seine Parteifreunde hat CSU-Politiker Manfred Weber drei Bedingungen gestellt, die einem Rauswurf der Fidesz-Partei entgegenwirken sollen. Zwei sind derzeit erfüllt. Ob damit ein Ausschluss abgewendet werden kann, ist unklar.
"2019-03-14T18:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:42:22.417000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/evp-drei-bedingungen-fuer-einen-verbleib-orbans-100.html
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Wenn aus Nazis Islamisten werden
Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Islamisten Sascha L. in Braunschweig (dpa / Swen Pförtner) Ein Montagmorgen am Landgericht Braunschweig. Polizisten mit Maschinenpistolen stehen vor dem Eingang des Gebäudes. Drinnen wird der Angeklagte Sascha L. von drei Justizbeamten in Sturmmasken in den Gerichtssaal geführt. Seine Hände sind vor seinem Bauch gefesselt. Die Fußfesseln schleifen über den Boden. Sascha L.s weiche Gesichtszüge sind umrahmt von einem Bart. Er trägt Kapuzenpullover und Jogginghose. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm vor, eine schwere, staatsgefährdende Straftat geplant zu haben. Einen Bombenanschlag auf Polizisten, vielleicht auch auf Soldaten, im Namen des Islam. Bei seiner Festnahme in seiner Wohnung im niedersächsischen Northeim fanden die Ermittler alle Bauteile für einen improvisierten Sprengsatz: Einen Fernzünder, abgesägte Pfandflaschen, hochexplosives Acetonperoxid, Böller, aus denen das Schwarzpulver herausgekratzt wurde, und eine Anleitung zum Bombenbauen. Vor Gericht sagen die Ermittler aus, dass er die Planung für einen Anschlag unter Tränen zwar gestanden habe. Den Plan hätte er allerdings längst verworfen. Er soll bei der Vernehmung sogar nach einem Aussteigerprogramm gefragt haben. Doch als er in die Untersuchungshaft kommt, hängt er in seiner Zelle eine Flagge des sogenannten Islamischen Staats auf. "Wir sind gegen Demokratie" Neben Sascha L. sitzen drei weitere Männer auf der Anklagebank. Einer von ihnen, der 21-jährige Wladislav S. – hohe Stirn, Seitenscheitel, geduckte Haltung – passt jedoch nicht ins Bild. Mit dem Islam wolle er nichts zu tun haben, sagt er im Gerichtssaal. Er sei überzeugter Nationalsozialist. Er und Sascha L. kennen sich noch aus früheren Tagen. Damals tickte auch Sascha L. noch anders, wie er in einem Video auf seinem Youtube-Kanal zeigt. Darin sitzt ein junger Mann, vermutlich er selbst, vermummt vor der Kamera. "Ich meine, es fängt schon damit an: Wir sind gegen Demokratie. Ganz klar, ja. Jeder Rechte, der sagt Demokratie ... der lügt. Ich bin gegen Demokratie, ganz klar Nationalsozialismus." Das war 2013. Damals lebte Sascha L. noch in Berlin und zählte sich offensichtlich zu einer ganz anderen Szene. Kurz bevor er das Video hochgeladen hat, soll er zum Angriff auf die linke 1.-Mai-Demo in Berlin aufgerufen haben, heißt es aus Behördenkreisen. Auf seinen Social-Media-Profilen nennt er sich Peter Unsterblich - vermutlich in Anlehnung an eine militante Neonazi-Gruppe aus dem Süden von Brandenburg. Bei Facebook postet er Bilder mit der Aufschrift "Nationaler Widerstand". "Arbeitsplätze – zuerst für Deutsche. Arbeitsplätze – zuerst für Deutsche. Frei, sozial und national." März 2017: Demonstration von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen in Berlin (dpa-bildfunk / Maurizio Gambarini) Rechtsextreme, Islamisten: über 30.000 Gewaltbereite Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz gab es im vergangenen Jahr rund 12.100 gewaltorientierte Rechtsextremisten in Deutschland. Mehr als doppelt so viele Personen zählte die Behörde zum islamistischen Spektrum. Berührungspunkte zwischen den beiden Szenen gibt es kaum. Wie kann es sein, dass aus einem glühenden Rechtsextremisten ein fanatischer Islamist wird? Fälle wie der von Sascha L. lassen nicht nur die Sicherheitsbehörden aufhorchen. Auch Sozialarbeiter, Pädagogen und Extremismusforscher, die seit Jahrzehnten mit Rechtsextremen arbeiten, stehen vor der Frage: Sind sich die beiden Szenen doch ähnlicher als gedacht? Und was heißt das für die Arbeit mit Extremisten? Können wir die Methoden gegen Rechtsextremismus auch bei Islamisten anwenden? Oder fangen wir wieder bei null an? Warum Menschen überhaupt radikal werden Wer verstehen will, wie Menschen von einer extremistischen Szene in die andere wechseln, muss ganz vorne anfangen: Bei der Frage, warum Menschen überhaupt radikal werden. Michaela Glaser vom Deutschen Jugendinstitut in Halle erforscht seit Jahrzehnten, was junge Menschen in extremistische Szenen hineinzieht. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Vergleich zwischen der rechtsextremen und der salafistischen Szene in Deutschland. "Oft sind gerade in der Annäherungsphase so ideologische Gründe gar nicht im Vordergrund, weil das ist ja oft auch ein Alter, in dem Orientierungen und Weltbilder noch gar nicht so verfestigt sind. Also im Rechtsextremismus sind es ja oft 13- bis 15-Jährige sogar, dass die teilweise auch gar nicht über die einzelnen Ziele der rechtsextremen Ideologie so genau Bescheid wissen. Dass es schon so eine Affinität, eine fremdenfeindliche Affinität gibt, aber jetzt nicht dezidiert politische Inhalte bekannt sind." Konvertiten sind in der Regel religiöse Neulinge Das Gleiche gilt für viele Konvertiten, die sich einer radikal-islamistischen Szene anschließen. Sie sind in der Regel religiöse Neulinge. Im Elternhaus spielt die Religion häufig nur eine untergeordnete Rolle. Dass eine radikal-islamistische Einstellung von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird, sei also eher selten, sagt Michaela Glaser. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern spiele beim Einstieg in den Rechtsextremismus dennoch eine große Rolle. "Da ist es tatsächlich so, dass man auch sieht, dass auffällig viele dieser rechtsextrem orientierten Jugendlichen von so einem Klima von emotionaler Kälte, Verunsicherung, Vernachlässigung auf einer emotionalen Ebene berichten. Gerade die gewaltorientierten Jugendlichen, berichten oft auch über sehr gewalttätige Erfahrungen, die sie selber erlitten haben. Aber es gibt auch Jugendliche, die von erst mal nach außen gutbürgerlich intakt aussehenden Elternhäusern berichten, die dann eher von so einer emotionalen Kälte und von so einer Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern berichten." Beide Szenen vermitteln ihren Mitgliedern Exklusivität Sprachlosigkeit, emotionale Kälte, Gewalt in der Kindheit. Solche Voraussetzungen machen Jugendliche anfällig. Und die extremistischen Szenen, egal ob islamistisch oder rechtsextrem, reagieren darauf. Sie bieten in erster Linie das Gefühl dazuzugehören. "Was ja auch beide Szenen auszeichnet, ist, dass sie Mitgliedern ganz gezielt vermitteln, Angehörige einer exklusiven Gemeinschaft zu sein. Also die Kameradschaft, die für eine höhere Sache unterwegs ist, die ausgewählte Kameradschaft. Die anderen drum herum verstehen es nur nicht, worum es eigentlich geht. Und im Islamismus ist es ja dann diese Brotherhood oder Sisterhood." Strenge Regeln können attraktiv für Jugendliche sein Dabei können gerade die strengen Regeln einer salafistischen Bruderschaft für Jugendliche attraktiv sein. Ein Forscherkollege von Michaela Glaser hat die These aufgestellt, dass diese Szene einigen Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen geradezu als Ausweg erscheint, bei dem der Jugendliche nicht sein Gesicht verliert. "Dass das eben in so einer coolen Macho-Jugendszene soziales Kapital transportieren kann. Also ich bin ein delinquenter Kleinkrimineller, ich bin cooler Macho und wenn ich von einem Tag auf den anderen sage, "Leute, ich habe keinen Bock mehr mich zu prügeln und ich trinke keinen Alkohol mehr", bin ich ein Weichei – außer, ich geh zu den Salafis, dann bin ich nämlich ein cooler Krieger." Suche nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Halt Thomas Mücke versucht seit 28 Jahren nachzuvollziehen, wie sich junge Menschen radikalisieren, warum sie Teil einer extremistischen, vielleicht sogar gewaltbereiten Szene werden. Und er versucht sie dort wieder herauszuholen - zu "de-radikalisieren", wie es unter Sozialpädagogen heißt. Anfangs hat er ausschließlich mit Rechtsextremen gearbeitet. Seine Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network ist mittlerweile der größte Anbieter von De-Radikalisierungsprogrammen in Deutschland. Seit rund zehn Jahren arbeitet er auch mit Islamisten. Er hat beobachtet, dass junge Menschen in beiden Fällen nach ähnlichen Dingen suchen. "Nach Identitätssuche, nach Geborgenheit, nach Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit, nach Halt. Und auf der Basis dieser emotionalen Bedürfnisse versuchen sie dann, diese jungen Menschen, an der Szene zu halten, und erst dann beginnt der Ideologisierungsprozess." Gezielte Entfremdung von Gesellschaft, Familie, Freunden Von da an entwickelt sich eine Eigendynamik. Autoritäten innerhalb der Szene fangen an, die Gesellschaft zu hinterfragen - in einer Moschee oder online, zum Beispiel bei Youtube. Sogenannte Prediger sprechen Urteile darüber, was laut dem Islam erlaubt sei und was nicht. Ein Beispiel: Das Grundgesetz und die Demokratie seien eine Religion wie der Islam, behauptet ein deutschsprachiger Prediger, dessen Videos auch Sascha L. geteilt hat. Wer wählen gehe, zähle demnach nicht zu den Muslimen, sondern zu den Ungläubigen. Thomas Mücke kennt solche Argumentationen. Für ihn sind sie der erste von drei Schritten der Entfremdung – und der Anfang der völligen Vereinnahmung durch die Szene. "In der Form halt, dass sie erst mal sagt, als Muslim hast du in Deutschland nichts zu suchen. Islam und Demokratie gehören nicht zusammen. Das ist die Entfremdung von der Gesellschaft, in der ich geboren worden bin. Und dann passiert halt der Punkt, dass man versuchen soll, die Familie vom so genannten wahren Islam zu überzeugen. Wenn das nicht passiert, dann gehören die Eltern zu den Ungläubigen. Damit sind sie Feindbild. Und das ist die zweite Entfremdung von der Familie. Und die dritte ist es dann von allen sozialen Kontakten, Fußballverein, was auch immer, wo man war. Dass man das dann abbrechen muss." Viele Gemeinsamkeiten beider Extremismus-Phänomene Einmal isoliert sind sie umso schwerer zu erreichen, für Freunde und Familienmitglieder. Müssten dann nicht gerade auch andere Szenen zum Feindbild gehören? Trotzdem ist der Wechsel von der rechtsextremen in die islamistische Szene offenbar möglich. "Das ist auch nicht unbedingt verwunderlich, weil ja die Ideologien der beiden Extremismus-Phänomene sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Also sie haben die Gemeinsamkeit, dass sie die Gesellschaft ablehnen, dass sie Demokratie und Menschenrechte und Grundrechte ablehnen. Sie haben die Gemeinsamkeit, dass Menschen, die anders sind, die andersgläubig sind, die andere Lebensweisen wollen, dass die nicht dazugehören. Sie suchen die homogene Gesellschaft, die homogene Gemeinschaft, und wer nicht zu dieser homogenen Gemeinschaft gehört, hat keine Existenzberechtigung mehr." Die Notwendigkeit eines Feindbildes Was beide Szenen auszeichnet, ist die Ablehnung der Gesellschaft. Sie brauchen die Gesellschaft geradezu als Feindbild. Nicht nur auf individueller Ebene, zum Beispiel in der Verbindung zu den Eltern. Auch der Staat und die Mehrheitsgesellschaft, wie sie in Medien, auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Wohnungsmarkt wahrgenommen wird, spielen eine Rolle. Forscherin Michaela Glaser warnt davor, dass Diskriminierung junge Migranten in die Fänge extremistischer Szenen treiben könne. "Dass dann die Erfahrung als Migrant in dieser Gesellschaft benachteiligt worden zu sein, dass die dann islamistisch gerahmt wird. Also auch bei Menschen, bei denen das Muslimsein eigentlich als Bezugskategorie vorher gar keine Rolle gespielt hat, also so einen Fall haben wir auch in unserer Forschung, dass dann plötzlich dadurch gerahmt wird und das ist natürlich die Brille der Ideologie, die dann greift. Dass dann alles, was man vorher erfahren hat, dass das zunehmend umgedeutet wird als das Ergebnis der weltweiten Verfolgung der Muslime." Ost-West-Problematik als Diskriminierungserfahrung Von ähnlichen Erfahrungen können viele Rechtsextreme genauso berichten, sagt Bernd Wagner. Er ist Gründer von EXIT Deutschland, ein Programm, das seit den neunziger Jahren Rechtsextremen beim Ausstieg aus der Szene hilft. "Das können Sie schon an der Debatte der Ostdeutschen und an den Wahlergebnissen der AfD nachvollziehen oder an der Fragestellung, warum denn die Ostler stärker vertreten sind im Rechtsextremismus, was die Gewaltzahlen betrifft, aber auch die Affinitäten zu ideologischen Momenten oder auch sich zusammenzuschließen im Interesse einer rechtsextremen Vorstellung. Da ist schon was dran, also auch die Ost-West-Problematik als Diskriminierungserfahrung." Antimaterialistischer Ansatz bei Islamisten wie Neonazis So individuell jeder Radikalisierungsverlauf ist, sie lassen sich immer wieder auf ähnliche Erfahrungen zurückführen. Die Beziehung zum Elternhaus, Ausgrenzungserlebnisse und die Suche nach Identität. Doch auch die Inhalte der Ideologien zeigen bei genauerem Hinsehen eine Reihe von Schnittstellen: Antisemitismus zum Beispiel, oder auch die Suche nach einer bodenständigen, vermeintlich ehrlicheren, einfacheren Lebensweise. Bernd Wagner, der Gründer von EXIT Deutschland: "Rechtsradikale Ideologie, so wie sie jetzt bei einem großen Teil der nicht sehr üppig zahlenmäßig daherkommenden Neonazis, also der militanten Neonazis, vertreten wird, ist also auch eine Art von Antimaterialismus. Und der Islam ist eigentlich auch eine Weltvorstellung, die von einem antimaterialistischen Ansatz, philosophisch gesehen, vorankommt. Also das ist so eine Sache, wo man dann springen kann." Mit den Radikalisierten "ideologisch auseinandersetzen" Der Szenenwechsel ist möglich, nur was heißt das für den Umgang mit diesen radikalisierten Menschen? Können wir das, was wir seit Jahrzehnten schon mit Rechtsextremen machen, auf Islamisten anwenden? Oder müssen wir uns völlig neue Konzepte für Prävention, Deradikalisierung oder Aussteigerprogramme überlegen? Thomas Mücke vom Violence Prevention Network: "Nein, man muss keinen neuen Ansatz entwickeln. Weil das entscheidende ist, wir haben es hier mit jungen Menschen zu tun, die eine Reihe von Problembereichen angehäuft haben, die man sozialpädagogisch bearbeiten muss und man hat hier natürlich bei beiden die Aufgabe, dass man sich nicht nur das Verhalten des jungen Menschen anschaut, sondern zur Kenntnis nimmt, der ist in extremistischen Ideologien verhaftet, also muss ich mich auch ideologisch mit ihm auseinandersetzen und die Themen mit ihm bearbeiten, die für ihn wichtig sind, die er in der Szene auch erfährt." Im Islamismus kann ein solches Thema der Kampf für ein Kalifat sein, im Rechtsextremismus hingegen die vermeintliche Bewahrung einer Volksgemeinschaft. In beiden Fällen müssen Sozialarbeiter in der Lage sein, die Propaganda der Szene zu dekonstruieren und zum Hinterfragen anregen, sagt Thomas Mücke. Bei Islamisten müsse man dafür im Zweifel auch religiöse Autoritäten zurate ziehen, zum Beispiel einen Imam. IS-Propaganda "viel schwerer zu entzaubern" Doch bevor der zum Einsatz kommt, brauchen die Sozialarbeiter erst einmal Kontakt. Für ihre Arbeit müssen Sozialarbeiter nicht mehr nur in Jugendclubs gehen, in denen sich die rechte Szene trifft, sondern eben auch in die Moschee. Die Ausreisen militanter Islamisten in die Gebiete des sogenannten Islamischen Staats machen einen solchen Ansatz jedoch unmöglich. Michaela Glaser vom Deutschen Jugendinstitut: "Ein Grundgedanke der Sozialarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen ist ja dieses "always stay in touch", also nie den Kontakt aufgeben. Da zu sagen, "ich akzeptiere dann deine Ideologie nicht, aber wenn du irgendwann wieder zurückkommen willst, mit mir sprechen willst, bin ich da." Das kann ich natürlich mit jemandem, der in den IS ausgereist ist, nicht machen. Also wie erreiche ich Jugendliche, die dann tatsächlich diesen Schritt weiter gegangen sind? Also, das ist eine ganz große, neue Herausforderung." Es kommt noch schlimmer. Der Islamische Staat verfügte noch bis vor kurzem über eine professionelle Propaganda-Maschine. Gleichaltrige berichten in den sozialen Medien von den vermeintlichen Erfolgen der Organisation. Sie zeigen Bilder von heroischen Kämpfern und einem paradiesischen Land und fordern andere auf ihnen zu folgen. "Und Sie dann da als erheblich älterer Erwachsener dann sagen "es ist doch alles nicht so und wir wissen, dass es ganz schlimm da ist". Also sie haben einfach nicht dieselbe Glaubwürdigkeit wie die Jugendlichen und es ist halt viel schwerer zu entzaubern als im Rechtsextremismus, wo ja dann die Szene-Realität vor Ort erfahren werden kann und man dann hier sagen kann, "ach, ich habe da jetzt doch keine Lust mehr drauf." Geduld, um IS-Rückkehrer nach der Haft zu integrieren Eine Antwort darauf haben die Forscher noch nicht gefunden. Doch mit dem Niedergang des sogenannten Islamischen Staats in Syrien und im Irak verlagert sich der Schwerpunkt der Arbeit zurück nach Deutschland. Nämlich dann, wenn radikale Islamisten wieder zurückkehren. Viele von ihnen werden in Deutschland vor Gericht stehen, vielleicht zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Um diese Menschen wieder in unsere Gesellschaft zu integrieren, braucht es Geduld, sagt Thomas Mücke. "Je länger man sich diese Zeit auch nimmt, die der Betroffene auch braucht, desto geringer sind auch die Rückfall- oder auch die Wiederinhaftierungswahrscheinlichkeiten. Da gibt es mittlerweile auch Untersuchungen, die das aufzeigen. Das zeigt auch unsere Arbeit auf. Kurzzeitpädagogik ist hier der falsche Weg." Betreuung jedes einzelnen Extremisten kostet mehr Geld Mehr Zeit für die Betreuung jedes einzelnen Extremisten kostet mehr Geld. Der Staat hat schon einmal versucht, dem Problem mit einer Billiglösung zu begegnen. "Also wir haben damals in den neunziger Jahren im Bereich Rechtsextremismus gearbeitet sehr oft mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingestellt worden sind, die keine Qualifikation hatten, die wenig fachliche Beratung hatten und die wurden einfach auf die Szene losgeschickt." Zwar finanzieren seit einigen Jahren auch die Bundesländer De-Radikalisierungsprogramme wie die des Violence Prevention Networks. Doch so genannte Regelstrukturen, also dauerhaft gesicherte Verträge zwischen Staat und Nichtregierungsorganisationen gibt es kaum. "Das ist ein großes Problem, die fehlen noch. Und das hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt gehabt, dass das Know-how, das man sich sozusagen ansammelt in der Extremismusarbeit, dass es immer wieder auch verschwindet, weil die Finanzierung dieser Projekte verschwindet. Und wir haben jetzt viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die neu sind und die jung sind. Und ich habe die Hoffnung, dass man in der Extremismusbekämpfung nicht die alten Fehler wiederholt, nämlich ständig die Anbieter zu wechseln und eventuell auch die Finanzierung davon abhängig zu machen: Ist es gerade ein öffentliches Thema oder ist es gerade kein öffentliches Thema." "Beide Extremismusphänomene sind sehr aktiv" Für Thomas Mücke geht es bei der Frage, wie lange und mit wie viel Geld solche Projekte finanziert werden, auch um die Budgets seiner eigenen Organisation. Sein Wunsch scheint in der vergangenen Legislaturperiode jedenfalls erhört worden zu sein. Im Sommer dieses Jahres hat das Familienministerium einen millionenschweren Fonds aufgelegt, um Radikalisierung zu verhindern. Thomas Mücke warnt jedoch davor, sich aufgrund der islamistischen Terrorgefahr auf dieses Extremismus-Phänomen zu beschränken. "Da ist schon auffällig, dass im Bereich des religiös begründeten Extremismus mehr Aktivitäten gemacht werden als im Bereich des Rechtsextremismus. Ich halte es für gefährlich, deswegen weil beide Extremismusphänomene sehr aktiv sind." Ob Sascha L. mittlerweile an einem Aussteigerprogramm teilnimmt, ist nicht bekannt. Im Prozess vor dem Landgericht Braunschweig forderte der Generalstaatsanwalt in seinem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Die Verteidigung forderte einen Freispruch. Das Urteil soll am 18. Dezember 2017 gesprochen werden.
Von Timo Stukenberg
Im Hass vereint: Die Radikalisierung von Islamisten und Rechtsextremen scheint ähnlichen Mustern zu folgen. Ein Fall in Braunschweig lässt aufhorchen: Dort ist ein mutmaßlicher Islamist angeklagt, der vor drei Jahren noch zur rechtsextremen Szene gehört haben soll.
"2017-12-15T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T11:05:24.811000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radikalisierung-in-deutschland-wenn-aus-nazis-islamisten-100.html
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Wie Russland mit Energie weiter Milliarden einnimmt
Russlands Präsident Wladimir Putin kann weiter mit Milliarden-Einnahmen aus Europa rechnen (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev) Geschätzte 93 Milliarden Euro - so viel Geld haben Energieexporte in Russlands Kassen gespült, während der ersten 100 Tage des Ukraine-Krieges. Das ist fast eine Milliarde Euro pro Tag. Der Großteil der Öl-, Gas- und Kohlelieferungen ging offenbar nach Europa: knapp über 60 Prozent. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Diese Zahlen hat Lauri Myllyvirta zusammengetragen, Umweltökonom im Zentrum für Energie- und Luftforschung in Helsinki, einer nach eigenen Angaben unabhängigen Forschungsorganisation: “Europa hat in den ersten 100 Tagen der Invasion - trotz aller Ausstiegsdiskussionen - schätzungsweise 57 Milliarden Euro an Russland überwiesen.“ Wert der Energielieferungen aus Russland ging kaum zurück Laut Myllyvirta importieren die EU-Staaten noch immer genauso viel Rohöl und Kohle aus Russland wie zu Beginn des Krieges. Spürbar gesunken sei dagegen die Einfuhr von Erdgas, um rund 30 Prozent. Das liege an Ländern wie Polen, Litauen, Estland, Schweden und Finnland. Sie alle hätten russische Energieimporte inzwischen um die Hälfte oder mehr reduziert: “Deutschland hat den Import von Öl etwas verringert – den von Erdgas und Kohle leider nicht. Der Wert der Energielieferungen aus Russland ging deshalb kaum zurück – nur um rund sieben Prozent. Deutschland bleibt auch weiterhin der größte Importeur russischer fossiler Brennstoffe in Europa, und er ist der zweitgrößte weltweit, übertroffen nur von China.“ Energieversorgung in Europa Was ein Ölembargo gegen Russland für Deutschland bedeutet Energieversorgung in Europa Was ein Ölembargo gegen Russland für Deutschland bedeutet Nach Europa flossen lange Zeit täglich Hunderte Millionen Euro für Öl, Gas und Kohle aus Russland. Ein Kohleembargo ist inzwischen beschlossen, tritt aber erst im August in Kraft. Die EU-Staaten haben sich nun auch auf ein Teil-Embargo auf Öllieferungen aus Russland geeinigt. Unabhängigkeit von Russland Was kann LNG leisten? Deutschland soll mit flüssigem Erdgas (LNG) unabhängiger von russischem Gas werden. Dafür werden an den Küsten LNG-Terminals gebaut, einige sind schon fertig und liefern Gas. Umweltschützer warnen vor neuen Abhängigkeiten und Auswirkungen auf die Natur. Teilembargo gegen Russland Osteuropaexperte: "Sanktionen verstärken die wirtschaftliche Krise" Das EU-Teilembargo auf Ölimporte werde Russland treffen, sagte Janis Kluge, Osteuropaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Dlf. Russland werde die Auswirkungen dieser Maßnahme nicht sofort, sondern erst längerfristig spüren. Es gelte jetzt, Russlands Umgehungsmöglichkeiten des Teilembargos zu begrenzen. An die ganzen Zahlen zu kommen war gar nicht so leicht und mit Detektivarbeit verbunden. Die Erdgas-Flüsse werden zwar laufend im Pipeline-Netz protokolliert. Doch Erdöl und Kohle kommen überwiegend per Schiff, und es fehlen Stellen, die darüber genau Buch führen. In der kommerziellen Schifffahrt gibt es aber das „automatische Identifikationssystem“. Schiffe funken regelmäßig ihre Kennung und ihre Positionen. Diese Angaben fließen in eine riesige Datenbank. Lauri Myllyvirta durchforstete sie tagelang auf der Suche nach Öl-Tankern und Kohlefrachtern mit russischen Starthäfen. Sein Blick fiel dabei immer mehr auf Indien: “Wir haben entdeckt, dass seit Beginn der Invasion sechs Millionen Tonnen Rohöl von Russland nach Indien verschifft wurden. Das sind ungefähr 45 große Öltanker. Vor dem Krieg bezog Indien so gut wie gar kein Öl aus Russland. Im Mai dagegen war es knapp ein Fünftel der gesamten russischen Exporte. Und das ist definitiv auch jetzt noch so.“ Viele Länder scheuten sich momentan, russisches Rohöl zu kaufen, so Myllyvirta. Sein Preis auf dem Weltmarkt sei daher stark gefallen. Indien bewog das offenbar dazu zuzuschlagen - trotz des russischen Angriffs auf die Ukraine. Das Pikante an der Sache: “Es sind fast ausschließlich europäische Tanker, die das Rohöl von Russland nach Indien schaffen. Mehr als 60 Prozent werden von griechischen Schiffen transportiert und fast der ganze Rest von norwegischen und britischen. Die EU konnte sich bisher nicht darauf einigen, hier einzuschreiten. Würde sie das tun und würden europäische Tanker kein russisches Öl mehr in Drittländer liefern, gingen Russlands Einnahmen drastisch zurück.“ Die Folgen für den Klimaschutz Europa ist vor allem von russischem Erdgas abhängig. Aus Angst vor Engpässen soll die Versorgung jetzt anderweitig gesichert werden – etwa durch eine gesteigerte Produktion von Flüssigerdgas in Katar oder den USA. Künftig soll Erdgas auch aus Afrika kommen. Dafür müssen allerdings alte Förderfelder reaktiviert oder neue erschlossen werden. Auch Länder wie Kanada und Japan fahren fossile Energieträger wieder hoch. Das alles ist aber überhastet und schadet dem Klimaschutz. So jedenfalls eine Analyse, die jetzt auf der UN-Klimakonferenz in Bonn vorgestellt wurde. Dazu die Energiökonomin Mia Moisio aus dem New Climate Institute in Berlin: “Es gibt wirklich einen Goldrausch im Erdgassektor. Fast alle Länder haben Ausbaupläne. Diese Projekte nehmen aber Jahre in Anspruch und lösen überhaupt nicht das kurzfristige Versorgungsproblem, das wir haben. Stattdessen bescheren sie uns ein weiteres Jahrzehnt mit hohen CO2-Emissionen. Wenn alle diese Pläne umgesetzt werden, ist das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens nicht mehr zu erreichen.“ Viel sinnvoller seien Maßnahmen, durch die Energie eingespart oder effizienter genutzt wird. Das Thema müsse dringend auf die politische Agenda, sagt auch die Internationale Energieagentur. Sie hat ausgerechnet: Weltweit ließe sich so viel Energie einsparen, wie ganz China verbraucht.
Von Volker Mrasek
30 Prozent weniger Erdgas, aber kein Rückgang bei Öl und Kohle: Europa zahlt Russland weiter Milliardensummen für Energie. Und europäische Tanker verschiffen nun auch noch russisches Rohöl nach Indien. Zudem werden durch hastig angestoßene Gas-Projekte auch die Klimaschutzziele weiter gefährdet.
"2022-06-13T16:28:00+02:00"
"2022-06-13T16:28:50.685000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-energie-100.html
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"Ich trau‘ mir immer alles zu"
Andrea Milz kann sich Olympische Spiele in NRW vorstellen (dpa / Rolf Vennenbernd) Andrea Milz, die von der Sportbasis kommt, kennt die täglichen Herausforderungen der Ehrenamtler. Als ehemaliges Präsidiumsmitglied des Kreissportbundes Rhein-Sieg, wisse sie "wo der Schuh drückt". Ihre Berufung habe zu vielen Reaktionen aus den Vereinen geführt. So habe sie bereits vieles erfahren und dadurch erste Schwerpunkte im Haushalt umsetzen können. Finanziell sei man gut aufgestellt. "Der Landessportbund wird mit 34 Millionen plus 5 Millionen plus x nach Hause gehen", so Milz. "Wir werden zu einem Hallensanierungsprogramm kommen müssen", fordert Milz. Man müsse auch schauen, ob man auch private Partner mit ins Boot bekomme. Es gehe darum, "was geht wo": Man brauche erstens frisches Geld, zweitens die Unterstützung der NRW-Bank und drittens Hilfe durch private Partner: "Wir arbeiten da an Ideen". Das "frische Geld" müsse ab 2019 vom Landtag kommen. Andrea Milz (CDU) wird Staatssekretärin für Sport und Ehrenamt in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. (picture alliance/dpa - Federico Gambarini) "Wir können eine Olympiabewerbung nicht in Betracht ziehen, wenn wir die breite Bevölkerung nicht mitnehmen", meint Andrea Milz. Der Bevölkerung müssten die Vorteile einer Bewerbung bewusst gemacht werden. "Wir können Gastgeber" Ein Schub werde durch NRW gehen: "Die Hallen werden besser, die kaputten Dächer verschwinden und die kaputten Toiletten ebenfalls." Sie mache sich da keine Sorgen, dass die Geldgeber sich davor verschließen könnten. NRW habe tolle Sportstätten und sei schon immer gerne Gastgeber von großen Sportereignissen gewesen. "Wir müssen der Welt zeigen: Wir können Gastgeber." Man müsse das ganze Projekt "Olympia" bodenständig angehen und die Leute begeistern. Die breite Bevölkerung in NRW müsse profitieren: Der Breitensportler bekomme eine neue Halle und drängende Verkehrspojekte würden angegangen. "Frauen, ihr könnt Ehrenamt" Bis 2018 habe man Planungssicherheit bei der Finanzierung. Man müsse jetzt schauen, wie sich eine neue Bundesregierung sportpolitisch aufstelle. "Im Moment können wir mit Berlin nicht sprechen, wir wüssten nicht mit wem", so Milz. Sie hoffe, im Frühjahr dann so richtig loslegen zu können. Für die Zukunft des Ehrenamts im Sport sei es auch wichtig, mehr Frauen für solche Projekte zu gewinnen. Ihr Appell an alle Trainerinnen und Trainer: "Ihr kennt eure Frauen am Besten und wisst, was die können. Da müsst ihr stärken und sagen: 'Ihr könnt das'. Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andrea Milz im Gespräch mit Andrea Schültke
Andrea Milz ist die erste Staatssekretärin für Sport und Ehrenamt in NRW. "Wir werden zu einem Hallensanierungsplan kommen müssen", fordert sie im Dlf-Sportgespräch.
"2017-11-26T23:30:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:26.715000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dlf-sportgespraech-ich-trau-mir-immer-alles-zu-100.html
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Die Ruhe vor dem Sturm
Das Coronavirus verändert unseren Alltag und zwingt Menschen zum Handeln. Wir begleiten beides mit unserem Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie". (Deutschlandradio / Bildmaterial: CDC) Das Coronavirus verändert unser Leben, unsere Gesellschaft. Für Tage, Wochen, wahrscheinlich Monate. Wir wollen mit diesem Podcast begleiten, wie die Pandemie unser aller Alltag verändert und wir wollen die Geschichten von Menschen erzählen, die gegen die Ausbreitung des Virus handeln: Ärzte, Politikerinnen, Krisenstäbe, Forschende. Unser neuer Podcast "Coronavirus - Alltag einer Pandemie" erscheint immer montags bis freitags, gegen 16 Uhr. Abonnieren Sie den Deutschlandfunk Coronavirus-Newsletter! Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library) Dossier - Die wichtigsten Antworten zum CoronavirusWie kann man sich mit dem Coronavirus anstecken? Wie kann man sich schützen? Was tun, wenn man glaubt
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Krankenschwester Damaris Meyer wechselt mit mulmigem Gefühl auf eine Station mit Covid-19-Patienten. "Die ersten Todesfälle sind ein Einschnitt", sagt Landrätin Dorothea Störr-Ritter, "das wird bleiben." Alexander Blums Senioren schauen Sissy.
"2020-03-27T16:50:00+01:00"
"2020-04-03T10:13:25.129000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-ernst-nehmen-die-ruhe-vor-dem-sturm-100.html
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Militärexperte: Lieferung zeigt Schwäche des Westens
Streubomben produzieren viele Blindgänger und gelten als besonders gefährlich für die Zivilbevölkerung. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Alex Chan Tsz Yuk)
Wiegold, Thomas
Die Ankündigung der USA, Streubomben in die Ukraine zu liefern, offenbart nach Ansicht des Militärexperten Thomas Wiegold auch eine "gefährliche Schwäche des Westens". Sie zeige, dass man nicht genug normale Munition zur Verfügung stellen könne.
"2023-07-08T07:15:00+02:00"
"2023-07-08T07:50:40.368000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/us-streubomben-fuer-die-ukraine-interview-thomas-wiegold-militaerexperte-dlf-db060b72-100.html
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Diesel-Motor nicht empfehlenswert
Das Ranking des VCD soll eine Entscheidungshilfe beim Autokauf sein - und gleichzeitig als Druckmittel gegenüber Industrie und Politik dienen. (dpa) Es sind hauptsächlich zwei Kriterien, die Pkw erfüllen mussten, um in die Umweltliste des VCD aufgenommen zu werden: Schadstoffwerte, die auch in Zukunft die Einfahrt in Innenstädte erlauben, und Sparsamkeit. Im Energieverbrauch wohlgemerkt, nicht im Anschaffungs- oder gar Unterhalts-Preis. Gerd Lottsiepen vom Verkehrsclub Deutschland: "Wir haben natürlich nur solche Fahrzeuge aufgenommen, die auch einigermaßen energieeffizient sind, die nicht zu viel Treibhausgas CO2 ausblasen, da gibt es eine Grenze bei 150g CO2 - nicht im Labor, sondern im Realbetrieb!" Kein Dieselfahrzeug auf der Empfehlungsliste Am Ende haben es 34 Fahrzeuge auf die Liste geschafft. Darunter sechs Benzin-Elektro-Hybride, fünf Erdgasfahrzeuge, 13 Benziner und zehn Elektroautos. Die besten Fahrzeuge aus Sicht des VCD: "Das sind einmal Benzin-Elektro-Hybride, batterie-elektrische Autos, kleine Benziner, die keinen Partikelfilter brauchen, weil sie nicht Direkteinspritzer sind, und es sind Erdgasfahrzeuge." Diesel-Fahrzeuge finden sich in der Umweltliste überhaupt keine. "Wer reitet schon ein totes Pferd?", schreibt der VCD in seinem Begleittext dazu. Das einzig wirklich gute Auto mit nachgewiesen niedrigem Stickoxid-Ausstoß unter den Dieseln sei der Mercedes E220d, der verbrauche aber zu viel Sprit und sei auch wegen des Risikos von Fahrverboten nicht zu empfehlen, so der VCD. Was ist mit konventionellen Benzinern? Eine ambivalente Botschaft hat der Verkehrsclub an potenzielle Autokäufer in Sachen Benziner. Ja - wenn es leichte sparsame Stadtautos sind ohne Direkteinspritzung, wie zum Beispiel der Citroen C1 VTi 68 Stop & Start. Nein - wenn es ein Benziner mit Direkteinspritzung ist, denn die würden derzeit noch ohne Partikelfilter verkauft, obwohl sie gesundheitsschädliche ultrafeine Partikel ausstoßen. "Seit vielen Jahren verspricht die Autoindustrie eine Technik einzubauen, einen billigen Filter einzubauen, der reicht, aber sie haben es nicht getan. Wir vermuten inzwischen - seit das Kartell aufgedeckt wurde -, dass sich dort die Autohersteller tatsächlich abgesprochen haben." Kritik an der deutschen Automobilindustrie Transparenz, Umwelt- und Verbraucherfreundlichkeit scheint bei der Automobilindustrie noch immer nicht groß geschrieben zu werden. Denn der VCD hatte für die Erstellung der Umweltliste auch Daten aus Straßenmessungen und dem - im Vergleich zum bisherigen - realitätsnäheren Prüfstandverfahren WLTP abgefragt. Doch die Hersteller mauerten weitgehend. Gerd Lottsiepen vermutet: "Weil die Werte halt deutlich über den alten Werten liegen, und da will keiner vorpreschen. Am besten und am positivsten ist dort der PSA-Konzern, also Peugeot, Citroën und DS, die tatsächlich die Werte von Straßenmessungen herausgegeben haben, und die sind halt deutlich über den Laborwerten, die bisher kommuniziert wurden." Außen vor ließ der Verkehrsclub Deutschland auch Wasserstoff-Autos von Hyundai und Toyota. Begründung: Wasserstoff rechne sich ökologisch nicht und es gebe fast keine Tankmöglichkeiten. Alles in allem ist die Umweltliste für Verbraucher, die über einen Fahrzeugkauf nachdenken, eine sehr gute Orientierung: Was der Markt derzeit hergibt und warum es sich lohnen kann, noch etwas zu warten, bis sich in den Köpfen der Hersteller und im Laden neue Standards durchgesetzt haben. Feinpartikelfilter für Benziner beispielsweise werden ab 1. September 2018 Pflicht.
Von Daniela Siebert
Wer beim Autokauf auf positive Umweltwerte achten möchte, kann einen Blick auf die Auto-Umweltliste vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) werfen: Der Verein testet Neuwagen auf Schadstoffwerte und Sparsamkeit. Diesmal kam nur ein Diesel-Auto auf akzeptable Stickoxidwerte - eine Empfehlung sprang dabei trotzdem nicht raus.
"2017-09-07T11:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:49:48.686000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vcd-auto-umweltliste-diesel-motor-nicht-empfehlenswert-100.html
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Vier Nationen auf dem Weg zur Raumstation
Probesitzen in der Dragon-Kapsel: Konstantin Borisow aus Russland, Andreas Mogensen aus Dänemark, Jasmin Moghbeli aus den USA und Satoshi Furukawa aus Japan (v.l.n.r.) (NASA)
Lorenzen, Dirk
Wenn alles nach Plan läuft, dann wird im August eine wahrlich internationale Besatzung zur Internationalen Raumstation starten: Eine NASA-Astronautin, ein Däne, ein Japaner und ein Russe fliegen gemeinsam von Cape Canaveral aus ins All.
"2023-07-12T02:57:01+02:00"
"2023-07-12T02:57:01.008000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sternzeit-12-juli-2023-vier-nationen-auf-dem-weg-zur-raumstation-dlf-11b5da3f-100.html
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"Auf jeden Fall sind Nolde-Bilder zeigbar"
"Bilder von Emil Nolde sind großartig", sagte Historiker Michael Wolffsohn im Dlf. Viele bedeutende deutsche Künstler und Denker seien "gebrochen gewesen in dem, was für uns heute geltende Moral ist". (picture-alliance / dpa / Markus Schreiber) Soll man im Museum, im Kanzleramt und überhaupt Bilder eines Nazis zeigen oder nicht? Die Berliner Ausstellung im Hamburger Bahnhof trägt den Titel "Emil Nolde – eine deutsche Legende, der Künstler im Nationalsizialismus" - und sie legt schonungslos offen, was Kunsthistoriker schon früher bemerkt hatten: Nolde war Rassist, Antisemit, Nazi. Diese Demaskierung stoße auf unterschiedliche Reaktionen, sagte Historiker Michael Wolffsohn im Dlf: Es gebe immer Menschen, die ihren "Gott" als solchen oder als Götzen weiter verehren wollen. "Sie meinen, dass eine große Persönlichkeit eine vollkommen reine Weste haben müsste. Das ist vollkommen illusorisch gedacht, sehr sympathisch, aber unrealistisch. Dann gibt es diejenigen, die ganz bewusst leugnen, ignorieren, den Kopf in den Sand stecken. Wir kennen das auch in Bezug auf Günter Grass, der für viele immer noch moralisch auf dem Denkmalsockel steht." Wie soll man also mit dem künstlerischen Werk eines überzeugten Antisemiten und Nazi umgehen? "Hier zählt die Kunst. Zur Kunst zählt die Tatsache, dass die Kunst von Menschen gemacht wird. Kein Mensch entspricht dem Idealbild vom perfekten Menschen", so Wolffsohn. "Bilder von Emil Nolde sind großartig." "Gebrochen in dem, was heute geltende Moral ist" Dass die Kanzlerin die Nolde-Bilder im Kanzleramt habe abhängen lassen, sei ein bisschen viel Tugendhysterie. Für ausländische Besucher, die das Kanzleramt besuchen und auf Werke von Nazis und Antisemiten schauten, wäre es keine Zumutung, sondern ein Bekenntnis zur Gebrochenheit deutscher Geschichte. "Geschichte ist nicht nur eindimensional. Mich stört ganz schrecklich, dass wir so etwas wie eine korrekte Einheitsmeinung Deutschlands haben. Das ist so antiintellektuell, wie es nur sein kann." Ein Foto von Helmut Schmidt im Bonner Kanzleramt mit "seinem" Nolde "Meer III" und daneben der "Brecher" von 1936 aus dem Amtszimmer von Angela Merkel (Deutschlandradio / Stefan Koldehoff) Zur Tatsachenfindung gehöre, dass Emil Nolde ein ganz bedeutender deutscher Künstler gewesen sei, und dass viele bedeutende deutsche Künstler und Denker "gebrochen gewesen sind in dem, was für uns heute geltende Moral ist." Das gelte auch für andere wie zum Beispiel Luther. "Wir haben im Jahre 2017 das Luther-Jahr gefeiert. Luther war ein ganz schlimmer Antisemit, der bishin zur Verbrennung von Juden plädiert hat. Soweit ist Herr Nolde nicht gegangen." Man könne im Bundeskanzleramt zeigen: "Ein ganz großer Künstler, aber ein ganz schwacher Mensch. Zu der Gebrochenheit deutscher Geschichte sollte man sich bekennen und nicht zuletzt im Bundeskanzleramt." Auf jeden Fall seien Nolde-Bilder zeigbar. Den Menschen und die Nation in der Gebrochenheit zu zeigen sei eine Herausforderung, die der vielschichtigen, offenen, pluralen Gesellschaft entspräche.
Michael Wolffsohn im Gespräch mit Christoph Heinemann
Eine Ausstellung in Berlin demaskiert den deutschen Künstler Emil Nolde als überzeugten Nationalsozialisten, Bundeskanzlerin Angela Merkel hängt Nolde-Bilder im Büro ab. Das sei "Tugendhysterie", sagte der Historiker Michael Wolffsohn im Dlf. Große Persönlichkeiten hätten nicht immer eine weiße Weste.
"2019-04-12T08:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:46:58.555000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/historiker-zu-antisemitischem-kuenstler-auf-jeden-fall-sind-100.html
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Philae mit Energieproblemen
Bei der ESA wartet man gespannt auf die nächste Datenübertragung von der Kometenoberfläche. (picture alliance / ESA / J. Mai) Monika Seynsche: Herr Lorenzen, wie geht es Philae? Dirk Lorenzen: Frau Seynsche, heute Mittag ging es Philae noch gut, da hatte man zuletzt den Kontakt dorthin. Die Funkverbindung, wenn sie denn da ist, ist man auch immer gut, darüber sind die Wissenschaftler sehr glücklich. Das heißt, sie bekommen all die Daten, wissen wie es der Sonde geht, bekommen auch die wissenschaftlichen Daten. Es ist eben diese vertrackte Lage, dass man dort wirklich fast eingeparkt ist zwischen diesen kleinen Bergen, kleinen Hügeln. Man ist dort eben sehr schattig, und das wird jetzt eben doch zum ganz großen Problem. Zum einen bekommt an ihm viel zu wenig Sonne auf die Solarzellen, das heißt, die Batterien kann man nicht wirklich aufladen und auch die Temperatur wird allmählich immer schlimmer. Die gehen so weit herunter, dass die Batterien auch zuerst einmal vorgeheizt werden müssen. Also die Forscher sind da doch, fahren im Moment so ein bisschen auf den letzten Energiereserven. Seynsche: Wir haben ja das letzte Mal gestern Nachmittag gesprochen. Da war der Stand, dass Philae zumindest ein Bein nicht auf dem Boden hatte und eben nicht viel Sonne abbekam. Was ist denn jetzt seitdem passiert? Wissenschaftliches Programm soll durchgeführt werden Lorenzen: Anfangs war man dann ja wirklich bedacht, möglichst wenig zu tun, weil man ein bisschen Sorge hatte, sonst fällt dann doch die Sonde irgendwie anders herum. Man hat jetzt aber doch gesagt, man führt jetzt noch einmal das ganze wissenschaftliche Programm durch, soweit es irgendwie möglich ist. Man hat also tatsächlich den Bohrer ausgefahren, seitdem weiß man: Er ist mindestens 24 Zentimeter aus der Sonde herausgefahren. Leider weiß man aufgrund der vertrackten Lage dort eben nicht ganz genau, ob das wirklich schon reicht die Oberfläche zu erreichen. In jedem Fall sollte - im Moment, wie gesagt, hat man keinen Kontakt mehr - sollte jetzt bereits, wenn es denn vor Ort geklappt hat, sollten Proben, die dieser Bohrer vielleicht hat entnehmen können, dann auch in diesen kleinen Öfen, in diesen kleinen Laboren in der Sonne sein und analysiert werden. Man hat ein Thermometer auch ausgefahren, das die thermischen Eigenschaften des Bodens untersuchen soll. Dann macht man ein Tomographie-Experiment, Radiowellen laufen zwischen Rosetta, der Muttersonde, und der Tochtersonde Philae hin und her, und zwar dann, wenn die keinen direkten Sichtkontakt haben, weil die Radiowellen dann durch den Kometenkörper hindurchgehen. So lernt man etwas über den Aufbau. Und man hat auch die chemische Zusammensetzung sowohl des Kometenmaterials an der Oberfläche als auch der freiwerdenden Gase versucht. Also die Forscher ziehen jetzt doch schon eine relativ positive Zwischenbilanz und sagen: Gut 80 Prozent der wissenschaftlichen Ziele, die man sich für die ersten Tage vorgenommen hat, die meint man jetzt erreicht zu haben. Fraglich, wie viel Zeit Philae noch hat Seynsche: Sie hatten es eben erwähnt. So langsam geht Philae der Strom aus. Weiß man denn, wie viel Zeit den Forscher noch bleibt? Lorenzen: Nein, das ist die ganz, ganz große Frage. Und es wird eben wirklich spannend. Heute Abend so zwischen 23:00 Uhr und Mitternacht unserer Zeit, da sollte man wieder Kontakt haben. Das heißt, dann besteht im Weltraum wieder eine gute Sichtverbindung zwischen Rosetta und Philae, dann kann Philae zur Muttersonde funken und die wird das Signal sofort weiterreichen in Richtung Erde. Da ist aber eben die große Frage: Reicht die Batterie dafür noch. Und wenn die Batterie reicht, dann könnten eben diese spektakulären, vielleicht auch Daten aus dem Labor kommen. Aber die große Frage ist eben: Wie viel? Man kann das nur abschätzen, man weiß nicht ganz genau, wie stark ist sie noch. Das wird heute sehr, sehr spannend. Seynsche: Gibt es den vielleicht die Chance, den Lander irgendwie zu bewegen, so dass er wieder in die Sonne kommen könnte? Lorenzen: Das, in der Tat, hat sich komplett geändert. Gestern wollte man ihn praktisch möglichst schonen, nicht bewegen. Heute wäre praktisch jede Bewegung recht. Man hofft, dass bei diesem Bohren irgendwie Philae sich bewegt hat. Man hat natürlich immer die Gefahr, dass er dann so umkippt, dass keine Radioverbindung mehr besteht, dann wäre der Kontakt verloren. Man möchte auch, wenn denn heute Abend der Kontakt noch einmal zustandekommen, die Sonde so drehen, vielleicht die Solarzellenflächen, die sich gegenseitig abschatten, dass die ein bisschen besser beleuchtet werden. Und man denkt sogar ein bisschen darüber nach, mit so einem Schwungrad und einem Springmechanismus in den Beinen buchstäblich Philae so einen kleinen Satz machen zu lassen. Womöglich würden zwei Meter schon helfen, dass die Situation ganz anders wäre. Kometenkurs bringt vielleicht mehr Sonnenenergie Seynsche: Könnte denn auch etwas passieren, ohne dass man ihn bewegt? Also gibt es Jahreszeiten auf dem Kometen? Lorenzen: Das wäre möglich, dazu müsste man aber genau wissen, wo Philae auf dem Kometen ist. Das weiß aber noch nicht, diese Untersuchungen laufen. Dann könnte man eben auch sagen, ob an dieser Stelle dort jahreszeitliche Effekte eine Rolle spielen. Man denkt aber vor allem auch daran, das ja der Komet sich im Moment der Sonne nähert. Und im August des nächsten Jahres wird sich der Abstand des Kometen von der Sonne mehr als halbiert haben verglichen mit heute. Das heißt, die Sonne strahlt dann sechsmal heller als jetzt. Vielleicht reicht auch das schon, dass dann eben mehr Strahlung drauf kommt. Aber man muss sagen: Realistisch betrachtet hört die Mission morgen auf, aber vielleicht gibt es ein Comeback, vielleicht wacht dann, wenn der Komet der Sonne so nah ist, Philae aus dem Winterschlaf wieder auf.
Dirk Lorenzen im Gespräch mit Monika Seynsche
Planetologie. - Die Energieprobleme der Kometenlandesonde Philae wachsen. Vermutlich sitzt sie auf Tschurjumow-Gerasimenko in einem ziemlich dunklen Tal zwischen Gesteinsbrocken und kann deshalb nicht wie geplant ihre Batterien aufladen. Was das bedeutet, erklärt der Wissenschaftsjournalist Dirk Lorenzen im Gespräch.
"2014-11-14T16:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:13:41.554000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kometensonde-philae-mit-energieproblemen-100.html
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Wie eine Betroffene das Klimakterium erlebt
In den Wechseljahren treten Schwindelgefühle häufiger auf. (imago / Science Photo Library) Manche Frauen erleben die Lebensphase als große Belastung, andere haben weniger Probleme mit ihr. Eine Frau erzählt: "Ja, ich habe einfach gemerkt, dass sich mit meinem Körper was ändert, wobei es immer Phasen im Leben gibt, wo sich was ändert, man sagt ja, so alle sieben Jahre ändert sich was im Körper. Die waren, dass meine Menstruation etwas unregelmäßiger wurde, wobei am Anfang noch recht unmerklich. Was ich sehr unangenehm fand, waren zeitweise die Hitzewallungen, die sowohl nachts auftraten, dass man davon wach wurde, aber was ich auch in meinem beruflichen Zusammenhang auch besonders unangenehm fand, dass die völlig unvermittelt und ohne Zusammenhang in einer Situation, in der ich mich befand, auftreten konnten, und das fand ich nicht so prickelnd. Ja, das kam alles ziemlich zeitgleich. Da waren die Kinder noch nicht aus dem Haus, aber da war das absehbar, dass das nur noch ein paar Jahre sein wird, und da habe ich mich noch mal neuen beruflichen Herausforderungen gestellt, die mich dann auch einiges an Energie gekostet haben, was mir auch viel Spaß gemacht hat, und das fiel dann natürlich teilweise in die Anfänge der Wechseljahre, wo ich dann teilweise nicht wusste, kriegst Du jetzt aufgrund einer aufgeregten beruflichen Situation oder weil der Körper mal wieder verrücktspielt, eine Hitzewallung? Also, ich habe zumindest noch mal stärker zurückgeblickt und geguckt, was war richtig, was würde ich noch mal so machen in meinem Leben und wo habe ich Lust zu, und damit gab es auch wieder neue Möglichkeiten. Also, ich sag Ihnen jetzt mal was ganz blödes und banales, ich mache regelmäßig mehrtägige Radtouren, seit ich meine Tage nicht mehr hab, macht das mehr Spaß. Ich denke, einen richtigen Krankheitswert hatten die Wechseljahre für mich nicht, es war teilweise eine schwere körperliche Umstellung, wo ich mich auch nach richten musste, indem was und wie ich es gemacht habe, ich konnte das aber gut als eine Lebensphase akzeptieren, wo der Körper sich von verschiedenen Sachen verabschiedet, was teilweise auch mit einem Wechselbad der Gefühle verbunden war, aber es hat bei mir auch zu einer positiven Auseinandersetzung mit dieser Lebensphase geführt, und auch natürlich ein bisschen mit Abschied, Abschied nehmen von der fruchtbaren Phase des Lebens, so im Sinne von Schwangerschaft, Geburt, Mutterschaft, dafür habe ich aber auch erlebt, dass wieder Raum für andere Sachen da war."
Von Mirko Smiljanic
Die Wechseljahre bringen für Frauen häufig unangenehme Veränderungen. Ein sinkender Östrogenspiegel lässt den Menstruationszyklus schwanken, die Blutungen werden stärker oder schwächer, die Abstände kürzer oder länger.
"2015-08-11T10:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:46.958000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wechseljahre-wie-eine-betroffene-das-klimakterium-erlebt-100.html
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Gastgeber: Saudi-Arabien?
Mohammed bin Salman, Kronprinz von Saudi-Arabien (imago images / Russian Look) Der Boxsport ist in Saudi-Arabien bereits angekommen. In diesen Tagen wird der Aufschrei immer kleiner, wenn große Weltmeisterschaftskämpfe im Königreich ausgetragen werden. Etwa die Promoter des britischen Schwergewichtsstar Anthony Joshua scheinen gute Verbindungen zum Herrscherhaus um Kronprinz Mohammed bin Salman zu haben. Boxkämpfe sind Teil einer großangelegten Strategie. Guido Steinberg, Nahostexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, erklärt: "Saudi-Arabien versucht seit mittlerweile mehreren Jahren, vor allem seit dem Jahr 2017, Interesse am Land zu wecken. Und das versucht es über soziale und auch kulturelle Reformen. Ein Teil dieser Strategie ist es, Sportgroßereignisse nach Saudi-Arabien zu holen." Die Machthaber in Riad haben ihre Augen dabei aber nicht nur auf die modernen Faustkämpfer gerichtet, sondern wollen auch bei der globalsten aller Sportarten, dem Fußball, mitmischen. Erste kleine Erfolge waren bereits zu verbuchen: So wurde etwa die Supercopa de España zwischen Atlético und Real Madrid 2019 in der saudischen Hafenstadt Jeddah ausgetragen. Vorbereitungen für die Bewerbung auf die WM 2030 sind im Gange Nun soll der große Wurf erfolgen: die Ausrichtung einer Fußball-Weltmeisterschaft der Männer. Konkret geht es um eine Bewerbung um die WM 2030. Bislang haben einige Ausrichtergruppen ihre Intentionen bekannt gemacht – Portugal und Spanien haben ihre gemeinsame Bewerbung sogar schon vergangenen Oktober eingereicht. Einen wirklichen Favoriten gibt es jedoch noch nicht. Vielleicht die Chance für Saudi-Arabien? "Was wir bislang wissen, ist, dass Saudi-Arabien bei der US-amerikanischen Unternehmensberatung Boston Consulting Group eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben hat. Darin geht es um die Umsetzbarkeit und die Erfolgsaussichten einer Bewerbung", sagt Martyn Ziegler, der für die britische Tageszeitung "The Times" seit vielen Jahren über die internationalen Fußballverbände berichtet. Vorbild Katar Die Idee einer Weltmeisterschaftsbewerbung ist indes nicht neu. Angespornt wurde das Königreich durch die erfolgreiche Bewerbung des Nachbarlands Katar, gegenüber dem Saudi-Arabien bis Anfang dieses Jahres eine Blockade verhängt hatte. In Riad wird genau beobachtet, wie Katar vorgeht. Steinberg dazu: "Saudi-Arabien folgt ganz klar dem katarischen Vorbild. Das katarische Vorbild besteht darin, zunächst einmal Großveranstaltungen ins Land zu holen. Aber ein Teil einer solchen Strategie ist es natürlich auch, durch Sponsoring oder sogar die Übernahme von Clubs hier in Europa dieses Vorhaben zu unterfüttern. Es ist leichter zu argumentieren, wir sind eine Sportnation, wenn es da schon Sponsoring oder vielleicht sogar massiven Einfluss auf große Clubs in Europa gibt." Nach der erfolgreichen Bewerbung um die WM 2022 intensivierte Katar die eigenen Aktivitäten und übernahm etwa 2011 den französischen Top-Club Paris Saint-Germain. Auch die Verbindungen zum FC Barcelona und Bayern München sind gut. Saudi-Arabien versuchte im vergangenen Jahr erfolglos die Übernahme des englischen Traditionsvereins Newcastle United. Saudi-Arabien und der Fußball - Brisanter Deal um Newcastle UnitedParis St. Germain gibt viel Geld aus Katar aus. Jetzt drängt Saudi-Arabien auf die Fußballbühne: Kronprinz Mohammed bin Salman plant den Kauf von Newcastle United. Als offizieller Grund wurden damals die Beteiligung der Saudis an illegalem Streaming der Premier League angeführt. Aber gerade seit der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 bestehen grundsätzliche Berührungsängste. Pikanterweise sehen die aktuellen Überlegungen der saudischen Machthaber rund um eine mögliche WM-Bewerbung vor, einen europäischen Partner als Co-Ausrichter ins Boot zu holen. Damit würden die Saudis versuchen, einigen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber wie schon im Fall von Katar blieben viele Bedenken. Ziegler fasst es so zusammen: "Ich glaube, die WM in Katar macht es unrealistisch, dass Saudi-Arabien die WM schon so bald darauf ausrichten kann. Denn zum einen gibt es die Tatsache, dass die WM im November und Dezember stattfinden müsste. Und zum anderen gibt es so viele Kontroversen rund um die Menschenrechtslage. In Katar ging es vor allem um die Gastarbeiter, weniger um Frauenrechte und politische Rechte. Das wird aber ein noch viel größeres Problem für Saudi-Arabien sein. Es würde Schwierigkeiten bezüglich der Gastarbeiter, aber eben hinsichtlich der Frauenrechte geben. Viele Frauenrechtler sitzen immer noch in Gefängnissen." Zusatzoption: Mehr FIFA-Weltmeisterschaften? Übrigens hat Saudi-Arabien auch schon einen Plan B in der Schublade, sollte es mit der Bewerbung um eine reguläre Weltmeisterschaft nicht klappen. Man möchte von der FIFA prüfen lassen, ob nicht Weltmeisterschaften auch alle zwei Jahre ausgetragen werden könnten. FIFA-Präsident Gianni Infantino, dem enge Verbindungen zu den Saudis nachgesagt werden, hat eine Studie in Auftrag gegeben, die diesen Vorschlag untersuchen soll. Einen Befürworter für die Idee gibt es bereits: Trainerlegende Arsène Wenger, der mittlerweile für die FIFA als Leiter für die globale Entwicklung des Fußballs tätig ist. Klar ist: Je mehr Weltmeisterschaften ausgerichtet werden, desto größer sind Chancen, dass Saudi-Arabien das prestigeträchtige Turnier ins eigene Land holen wird.
Von Constantin Eckner
Nach einem Sommer voller internationaler Fußballturniere startet in knapp 16 Monaten bereits die Fußball-WM der Männer in Katar. Auch das Nachbarland Saudi-Arabien lotet nun eine Bewerbung für die WM 2030 aus.
"2021-07-17T19:15:00+02:00"
"2021-07-18T13:34:10.193000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-wm-2030-gastgeber-saudi-arabien-100.html
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Billige Polemik oder schmerzhafte Spurensuche?
Über die Linke, ihr Verhältnis zu den Juden, ihre latente oder offene Ablehnung gegenüber Israel und ob man dabei wirklich von Antisemitismus sprechen kann, darüber diskutieren:- Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" und ehemalige Nahostkorrespondentin- Wolfgang Benz, früherer Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung- Wolfgang Kraushaar, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung
Moderation: Norbert Seitz
Neue Veröffentlichungen über die mögliche Beteiligung deutscher Stadtguerillas an palästinensischen Terroranschlägen in den frühen 70er-Jahren haben erneut eine Debatte über die Wurzeln eines linken Antisemitismus ausgelöst. Um dieses brisante Thema geht es auch in unserem heutigen Kulturgespräch.
"2013-03-29T00:00:00+01:00"
"2020-02-01T16:12:54.123000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/billige-polemik-oder-schmerzhafte-spurensuche-100.html
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"Putin will russisches Reich wieder errichten"
Der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP) (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch) Dirk Müller: Was tun gegen oder was tun mit Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt? Das ist jetzt unser Thema mit dem FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen! Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Müller! Müller: Graf Lambsdorff, ist es besser, in diesem Konflikt niemandem zu vertrauen? Graf Lambsdorff: Ich glaube, die Europäer müssen einander vertrauen. Ich habe die Äußerungen von Präsident Komorowski gerade bei Ihnen auf dem Sender gehört. Die sind ja sehr deutlich. Aber es ist hier nicht der alte polnische Reflex, dass man gegenüber Russland skeptisch ist, sondern er wird ja von Berlin inzwischen gespiegelt. Wenn die Bundesregierung offiziell von einer militärischen Intervention Russlands in einem souveränen Nachbarstaat redet, dann haben wir tatsächlich ein Eingeständnis auch in Berlin, dass es sich hier um eine schwere Verletzung der europäischen Friedensordnung handelt. Das heißt, die Europäer können einander vertrauen, müssen einander vertrauen. Das brauchen wir auch, damit wir eine gemeinsame Antwort finden. Aber eines ist klar: Wladimir Putin, der russischen Regierung zu vertrauen, das wäre ganz sicher ein Fehler, denn dieses Vertrauen ist mehrfach schwer enttäuscht worden. Und insofern ist das, was heute hier in Brüssel besprochen wird, nämlich weitere Sanktionen, leider der einzige Weg. "Putin hat ganz offenkundig in dieser Angelegenheit gelogen" Müller: Also für Sie steht das auch außer Zweifel - Wladimir Putin spielt mit falschen Karten, mit gezinkten Karten und lässt seine Streitkräfte dort vor Ort operieren? Graf Lambsdorff: Nun, er bestreitet ja seit Wochen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen russischem Regierungshandeln auf der einen Seite und dem, was die sogenannten Separatisten in der Ostukraine tun, auf der anderen Seite. Das war ja immer im Grunde ein Widerspruch zu allem, was wir dort sahen. Das war ein Widerspruch zu den Satellitenbildern, die jetzt auch von der NATO veröffentlicht worden sind, ein Widerspruch zu dem, was Journalistenkollegen von Ihnen ja aus der Region berichtet haben. Mit anderen Worten: Er hat jetzt seit vielen Wochen und Monaten ganz offenkundig in dieser Angelegenheit gelogen. Hier noch blauäugig weiter zu vertrauen, wäre in meinen Augen ein ganz klarer Fehler. Müller: Rebellen werden ja manchmal auch zu Freiheitskämpfern. Nehmen wir die russische Perspektive, die Kreml-Perspektive einmal ein. Ist es da in irgendeiner Form politisch nachvollziehbar, dass die Russen, dass der Kreml sagt, wir müssen die russischen Separatisten unterstützen, weil das ukrainische Militär mit aller Macht, mit allen Mitteln, äußerst brutal vorgeht? Graf Lambsdorff: Es ist das Recht jedes souveränen Staates, die Unversehrtheit des eigenen Gebietes zu gewährleisten. Die ukrainische Armee handelt hier im Rahmen dessen, was eine normale Streitkraft tut, wenn ihr Territorium verletzt wird. Insofern ist das, glaube ich, hier völlig unstrittig. Was Russland hier getan hat ist zweierlei: Es hat zum einen die Regierung in Kiew nach den Demonstrationen des Maidan diskreditiert als eine faschistische Regierung. Das ist offenkundig unwahr. Die Menschen in Russland glauben das allerdings. Die Menschen in Russland sind durch die Propaganda der Medien der festen Überzeugung, es handele sich also bei Kiew um ein faschistisches Regime. Und das Zweite, was Moskau getan hat, es hat eine sogenannte russische Minderheit erfunden, die unterdrückt wird durch diese Kiewer Regierung. Diese sogenannte russische Minderheit, die es faktisch nicht gibt in der Ukraine, die muss nun gerettet werden, das ist die Lesart des Kreml. Auch das ist offenkundig unwahr. Ich war nun öfter in Kiew. Wenn Sie mit Ukrainerinnen und Ukrainern reden, das ist vollkommen klar - ob sie russisch oder ukrainisch reden, macht überhaupt keinen Unterschied, weder für den Zugang zu Staatsämtern noch für den Zugang zu irgendetwas anderem in der Ukraine. Also, mit anderen Worten, es gibt weder eine unterdrückte russische Minderheit noch ein sogenanntes faschistisches Regime in Kiew. Beides sind Erfindungen Moskaus. Russlands Präsident Wladimir Putin wolle das russische Reich wiederbeleben, sagte Graf Lambsdorff. (KIRILL KUDRYAVTSEV / AFP) "Was es hier an angeblicher russischer Minderheit gibt, ist eine Chimäre" Müller: Aber da haben wir ja von unseren Reportern beispielsweise ja von der Krim oder auch aus dem Osten des Landes etwas anderes gehört. Dass sich viele Russen, jedenfalls im direkten Gespräch mit unseren Korrespondenten, schon auch unterdrückt fühlen, sich diskriminiert fühlen und sagen, dass es für uns keine Zugänge gibt in die normalen Jobs, in die Politik, in die Verwaltung. Ist das so eindeutig, wie Sie es jetzt gerade beschreiben? Also es gibt im Grunde keine russische Minderheit, die darunter zu leiden hat? Graf Lambsdorff: Nein, ich glaube, das kann man so klar sagen. Diejenigen, die das behaupten, sind jedenfalls nicht diejenigen, die versuchen, in Kiew etwas zu erreichen. Der Zugang zu russischen Staatsämtern war nie ein Problem. Nehmen Sie mal den Bürgermeister von Kiew, Herrn Klitschko. Der spricht besser russisch als ukrainisch. Der ist im Grunde genau wie viele andere Ukrainer jemand, der sich in der russischen Sprache viel besser zurechtfindet als im Ukrainischen, genauso wie viele andere. Das heißt, was es hier an angeblicher russischer Minderheit gibt, ist eine Chimäre. Das eigentlich Beunruhigende daran ist aber, dass es natürlich Länder gibt, in denen es tatsächlich russische Minderheiten gibt. Ich denke an Estland, ich denke an Lettland, die natürlich mit großer Beunruhigung auf diese Moskauer Argumentation schauen, denn wenn diese Argumentation ihnen gegenüber angewandt wird, dann haben wir den Druck auf NATO-Staaten, auf EU-Mitgliedsstaaten. Das ist das Nächste, was wir dann zu bewältigen hätten. Und insofern ist größte Vorsicht angezeigt. Müller: Das größte Problem ist ja, glaube ich, auch, beziehungsweise das Beunruhigende, dass es sehr, sehr schwer ist aus der westlichen Perspektive heraus, zu begreifen, was Wladimir Putin vorhat, was er will, wie er operiert. Sie haben nach wie vor auch sehr gute Kontakte nach Russland, sind häufig in Moskau gewesen. Kann es denn wirklich sein, das als Frage, vielleicht als naive Frage formuliert, dass Wladimir Putin im Stillen, ganz heimlich darüber nachdenkt, diesen östlichen Teil, ähnlich wie die Krim, herauszulösen, daraus eine autonome Republik, also militärisch den Konflikt lösen zu können? Graf Lambsdorff: Man darf eines nicht vergessen: Für Wladimir Putin, und er hat das ja einmal öffentlich gesagt, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion das, ich zitiere, "größte geopolitische Unglück des 20. Jahrhunderts". Diese Einstellung, die deckt sich voll und ganz mit dem, was er als junger Mann geschworen hat, nämlich, die Größe der Sowjetunion zu verteidigen. Für Wladimir Putin ist – und da hat Komorowski, der Präsident Polens, den wir gerade gehört haben hier bei Ihnen völlig recht –, die russische Reichsidee nach wie vor sehr lebendig. Das mag unseren Hörerinnen und Hörer jetzt sehr altmodisch oder gestrig erscheinen, aber die Reichsidee Russlands, also mit anderen Worten, dass alle russischsprachigen Gebiete, die ostslawischen Gebiete unter Moskauer Herrschaft sein sollten, ist eine Idee, die dem jungen Wladimir Putin als KGB-Offizier eingeimpft worden ist, darauf hat er seinen Eid geschworen. Und ich glaube, er ist dabei, das wieder zu errichten. Es gibt ein russisches Sprichwort, das sagen die Russen selber: Es gibt keinen ehemaligen KBG-Offizier. Mit anderen Worten, auch der Präsident Putin wird noch motiviert von den Idealen des damaligen KGB. Die Wiedererrichtung des russischen Reiches, die ist, glaube ich, sein tatsächliches Motiv. Und das heißt, auf Ihre Frage zu antworten, ja, das ist durchaus denkbar. "Zwei Prozesse, die ineinandergreifen" Müller: Also das Imperium lebt? Graf Lambsdorff: Das Imperium lebt jedenfalls ganz sicher im Hirn und im Herz von Wladimir Putin und den Menschen, den Männern und Frauen, mit denen er zusammenarbeitet in Moskau - das ist ja ein sehr kleiner Kreis, die diese Entscheidungen treffen. Hier geht es um die Wiedererrichtung eines russischen Imperiums. Parallel zur Ukrainekrise, das vergessen wir gerne, läuft ja die sogenannte "Eurasische Union", die Errichtung der Eurasischen Union. Das ist die Vorstellung tatsächlich, dass man der Europäischen Union, der liberalen, freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Europäischen Union, ein spezifisch osteuropäisches, eurasisches Konzept, Konstrukt entgegensetzt. Und hier sehen wir also zwei Prozesse, die ineinandergreifen. "Das ist kein Staatsstreich gewesen" Müller: Graf Lambsdorff, ich muss ein bisschen auf die Uhr schauen. Mir ist eben ein Gedanke gekommen, als sie gesagt haben, also für Sie ist die Sache auch in diesen Facetten – gut, wir können jetzt nicht 40 Minuten darüber reden, aber grundsätzlich doch eindeutig. Wir haben vor ein paar Wochen, erinnere ich mich, ein Gespräch, ein Interview mit Günter Verheugen geführt, SPD-Erweiterungskommissar, Industriekommissar früher bei der Europäischen Kommission, der bei der Genese des Konflikts hier im Deutschlandfunk noch einmal ganz, ganz klar gesagt hat, das war ein Staatsstreich, was da passiert ist in Kiew. Ist das für Sie, mit ein paar Wochen, Monaten Abstand, was auf dem Maidan passiert ist, jetzt auch unter einem anderen Licht zu sehen, oder auch ganz klar demokratische Revolution, alles in Ordnung? Graf Lambsdorff: Nein, also das ist kein Staatsstreich gewesen. Es war eine in meinen Augen falsche Lesart, das so zu sehen. Das Ganze lag ja daran, dass der Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterschreiben wollte – wohlgemerkt, Janukowitsch wollte unterschreiben –, und dann von Moskau derartig massiv unter Druck gesetzt worden ist, dass er seine Unterschrift verweigert hat. Daraufhin sind die Demonstrationen auf dem Maidan losgegangen, weil hier ein elementares Element der europäischen Friedensordnung verletzt worden ist seitens Russlands, nämlich die freie Bündniswahl: Ich kann Verträge schließen, mit wem ich möchte. Müller: Aber der Präsident war frei gewählt, der kann frei entscheiden. Graf Lambsdorff: Natürlich. Aber er muss dann die politischen Konsequenzen tragen. Und es ist genauso wie in Deutschland, die Ukraine ist in der Hinsicht ja besser als Russland. Wenn ein Präsident eine Entscheidung trifft, die in der Bevölkerung keine Mehrheit findet, dann gibt es Demonstrationen. Die gab es auf dem Maidan, und Petro Poroschenko ist ja auch demokratisch gewählt. Das Ende der alten ukrainischen Regierung ist vom Parlament beschlossen worden. Also von einem Staatsstreich hier zu reden, das halte ich für verfehlt. Müller: Bei uns heute Morgen, live im Deutschlandfunk, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Vielen Dank für das Gespräch. Ihnen noch ein schönes Wochenende! Graf Lambsdorff: Danke, Ihnen auch. Tschüs! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Dirk Müller
Für Wladimir Putin sei die russische Reichsidee nach wie vor sehr lebendig, sagte der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), im DLF. Mit seinem Vorgehen in der Ukraine und der Eurasischen Union wolle Putin das russische Imperium wieder errichten.
"2014-08-30T07:15:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:19.575000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-in-bruessel-putin-will-russisches-reich-wieder-100.html
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Strom vom Balkon
Der erste Schritt ist getan: Künftig könnte es auch Privathaushalten erlaubt sein, Strom auf dem Balkon zu erzeugen. (dpa / picture alliance) Die gute Neuigkeit ist: Strom für den eigenen Haushalt aus Solarmodulen am Balkon zu beziehen ist technisch ganz einfach. In vielen Ländern funktioniert das ganz problemlos sagen die Befürworter, etwa in der Schweiz, in Österreich und in Portugal. Nur in Deutschland ist das alles sehr viel komplizierter, weil viel mehr Akteure im Spiel sind, rechtliche und technische Hürden bestehen oder herbei geredet werden. Hier bewegt sich Vieles noch in Grauzonen. Aber ein bisschen ist es jetzt einfacher geworden so etwas zu installieren, weil es eine neue elektrotechnische Norm gibt, die solche Anwendungen betrifft. Marcus Vietzke von der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie beschreibt das so: "Wir haben das jetzt erreicht, dass diese Anlagen in jedem Stromkreis angeschlossen werden können und mit einer Steckverbindung, die von einem Laien bedienbar ist. Das ist ein Paradigmenwechsel, das ist absolut neu und erschließt haufenweise Anwendungsfelder für dezentrale regenerative Energieeinbindung."Leider ist das nicht die einzige deutsche Norm, die für eine einfachere Anwendung geändert werden muss. Vor allem eine Produktnorm, die die Hersteller anwenden und die überprüfbar ist, steht noch aus. Die wird erst in ein bis zwei Jahren erwartet. Daher ordnet Alexander Nollau vom elektrotechnischen Fachverband VDE den aktuellen Fortschritt so ein: "Es ist ein wahnsinnig großer Durchbruch, den wir jetzt erreicht haben, wir wissen jetzt, wie wir es anzuschließen haben und wo, sodass die elektrische Sicherheit gewährleistet ist. Die Produktnorm regelt dann noch die Testung der Module und spezifiziert diese Module an sich." Viele Baustellen bestehen weiterhin Viele andere Baustellen bestehen für Mieter, die selbst am Balkon Strom erzeugen wollen, aber auch weiterhin. Das sind vor allem die Stromnetzbetreiber, die das allzu oft nicht wollen. Marcus Vietzke: "Es sind halt über 700 Netzbetreiber in Deutschland, die einen sagen "Danke für die Anmeldung", die andern sagen "Das ist verboten" und die Dritten drohen damit den Netzanschluss zu kappen. Das wird noch eine Weile so weitergehen, denke ich mal." Da der Strom vom Balkon aber eigentlich direkt im Haushalt verbraucht werden soll und allenfalls kleckerweise im allgemeinen Stromnetz landet ist es aber juristisch umstritten, inwiefern die Netzbetreiber da überhaupt mitreden dürfen.Sicher ist: Wer selbst mit Steckmodulen Strom am Balkon erzeugen will -oder auf dem Garagendach oder im Kleingarten, der darf keine Angst vor Wortungetümen haben und vor Bürokratie. Denn die Marktstammdatenverordnung sieht vor, dass man eine solche Anlage der Bundesnetzagentur angeben muss. Und die Netzanschlussverordnung verlangt eine Anmeldung beim Stromnetzbetreiber. Vor Inbetriebnahme mit Vermieter und Gebäudeeigentümer sprechen Außerdem sollten sich Mieter mit dem Gebäudeeigentümer und ihrem Versicherer über Genehmigungen bzw. Haftungsfragen verständigen. Dazu kommt eventuell der Einbau eines anderen Stromzählers, denn die Rechtslage verlangt, dass der bei solch einer Anwendung eine Rücklaufsperre haben muss. "Standardmäßig haben die Zähler, die wir haben keine Rücklaufsperre, das heißt, die würden sich zurückdrehen und damit landet man dann plötzlich in einer ungeregelten rechtlichen Grauzone mit seinem System. Also entweder man sorgt dafür, dass das System das nicht macht, indem man so viel verbraucht, dass es nie passiert oder in dem das System so klein ist, dass es nie passiert oder man muss sich mit dem Thema auseinandersetzen, da gibt es dann verschiedene Möglichkeiten für, beispielsweise der rücklaufgebremste Zähler." Über 20.000 Solar-Steckmodule sind in Deutschland schon verbaut hat die DSG im letzten Jahr erhoben. Sie liefern bei guter Ausrichtung etwa 300 Kilowattstunden pro Jahr. Michael Friedrich von Greenpeace Energy feiert die aktuelle Entwicklung daher auch als Durchbruch zu einer partiellen Selbstversorgung der Bürger."Jetzt können normale Laien die einstecken, wir hoffen ja dass nun wirklich Tausende diese Module nutzen, damit wären die auch an der Energiewende beteiligt in den Städten, nun kann jeder selbst Sonnenstrom erzeugen und im eigenen Haushalt nutzen." Im Moment würden die Module aber vermutlich nur für ein LED-Lämpchen reichen, denn der Himmel in Berlin ist grau und es nieselt. Damit zurück nach Köln.
Von Daniela Siebert
Solarmodul kaufen, am Balkon installieren, einstecken: Bisher war diese Art der Stromgewinnung für Privathaushalte mit großen rechtlichen und technischen Unsicherheiten verbunden. Doch jetzt könnte der Durchbruch für das Minikraftwerk auf dem Balkon bevorstehen. Möglich macht dies eine neue elektrotechnische Norm.
"2017-10-27T11:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:58:22.386000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/solarmodule-fuer-den-privathaushalt-strom-vom-balkon-100.html
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Praxiserfahrung im Elfenbeinturm?
Unis in Niedersachsen bieten für Schulabgänger Schnupperstudien an, die ein Betriebspraktikum im Wissenschaftsbereich darstellen sollen. (dpa / picture alliance / Thomas Frey) Nils Leichnitz vom Hermann-Billung-Gymnasium in Celle sitzt an diesem Morgen mit anderen Zehnt- und Elftklässlern in einem Kursraum der Leibniz Universität Hannover. Er plant die verbleibenden Tage seines Hochschulpraktikums. Wirtschaftsingenieur ist ein Beruf, der ihm gefallen könnte, vermutet der Schnupperstudent. In diesem Jahr hat sich Leichnitz für die Uni entschieden, aber auch ein Praktikum beim Autobauer Volkswagen hat er schon absolviert. "Ich habe auch oft mit meinem Vater schon drüber geredet – und er meinte auch, das wäre ganz gut - und man kann auch viel erreichen, in dem Fachgebiet!" "Mit Vielfalt Zukunft gestalten": Unter diesem Motto will die Universität den interessierten Nachwuchs vom Mehrwert eines Studiums überzeugen, sagt Projektleiterin Andrea Schmidt. "Wir wollen alle mitnehmen, da wo sie sind! Viele Schülerinnen und Schüler aus nicht akademischen Elternhäusern zum Beispiel, die haben nicht die Chance, von zuhause mitzukriegen, "Studier doch mal!", sondern die können jetzt einfach mal in die Universität kommen - und gucken: "Ist das etwas für mich?"Die Alma Mater buhlt schon um die Kleinsten: Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, soll erst gar nicht aufkommen. Die frühe praktische Erfahrung soll jungen Menschen helfen, den eigenen Bildungsweg zu planen: Uni wirbt in der Schule mit Praktikaplätzen Andrea Schmidt:"Deswegen gehen wir auch ganz proaktiv auf die Schulen zu und in die Schulklassen rein – mit ganz unterschiedlichen Veranstaltungen – und sprechen die Schüler ganz direkt an. Dann gibt es das Leibniz JuniorLab für die vierte Klasse, da fahren wir mit einem Experimente-Bus in Grundschulen der Hannover und begeistern sie für unterschiedliche Fachrichtungen wie Physik, Maschinenbau oder Meteorologie, um einfach zu zeigen, was macht ein Wissenschaftler eigentlich?" Die Leibniz Universität lockt mit Gastvorlesungen für Kinder, mit den üblichen Workshops und Orientierungstagen, mit Juniorstudium und Hochschulpraktikum. Volker Schmidt:"Eine rechtzeitige Information über mögliche künftige Studieninhalte ist immer dazu angetan, die Studienabbrecherquote später zu senken. Insoweit ist das grundsätzlich immer begrüßenswert, Hochschulpraktika zu machen!" Betriebspraktikum gegen Hochschulpraktikum? Sagt Volker Schmidt diplomatisch – doch dann macht der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes NiedersachsenMetall einer gewissen Verstimmung Luft: "Was ein bisschen unglücklich ist, ist sicherlich der Umstand, dass hier offensichtlich versucht wird, das Betriebspraktikum gegen das Hochschulpraktikum auszuspielen - und das kann es am Ende nicht sein! In der vernetzten Fabrik der Zukunft werden Lagersysteme, Maschinen und einzelne Werkstücke zunehmend eigenständig miteinander Informationen austauschen. Die Regeln, nach denen das geschieht, sind aber noch Menschenwerk – und Fachkräfte werden schon heute händeringend gesucht: Volker Schmidt:"Tatsache ist, dass wir einen erheblichen Bedarf an jugendlichem Nachwuchs haben in der dualen Ausbildung. In den klassischen MINT-Berufen fehlen uns heute in Niedersachsen allein über 22.000 Jugendliche, die sich auf Ausbildungsstellen in unserer Industrie und anderen Industriezweigen bewerben. Das sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen, die hier große Nachwuchssorgen haben. Gerade die immense Herausforderung von Industrie 4.0 zwingt uns dazu, viel innovativer zu werden. Wir brauchen sowohl den Praktiker, den Techniker als auch den Akademiker!" Schmidt lobt indes die Öffnung der Hochschulen für das klassische duale Studium. Die berufsbegleitende Qualifizierung sei ein "Wachstumsfeld", das hierzulande noch viel zu wenig beackert werde. Mitnichten sei die Landesregierung gewillt, junge Leute in den Elfenbeinturm der Universitäten zu treiben, beschwichtigt Susanne Schrammer. Sie ist Sprecherin der niedersächsischen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt von der SPD: "Gerade jetzt im Zuge des modernen neuen Abiturs nach 13 Schuljahren wird es so sein, dass am Gymnasium erstmals auch ein stärkerer Aspekt auf Berufsorientierung gelegt wird. Es wird zum Beispiel im elften Jahrgang ein zusätzliches Betriebspraktikum geben, um eben auch Abiturienten eine duale Berufsausbildung schmackhaft zu machen. Es geht vor allen Dingen darum, auch Kompetenzen und Stärken festzustellen - und es ist natürlich sehr begrüßenswert, wenn die Universitäten auch den Schülerinnen und Schülern zeigen: Wie sieht so ein Universitätsalltag eigentlich aus?" Martin Albrecht ist noch unentschieden. Der Vater Psychologe, die Mutter Ergotherapeutin kann sich der Sohn die praktische Ausbildung bei der Polizei gerade genauso gut vorstellen wie ein Hochschulstudium. Für beides, schmunzelt er, empfiehlt sich der geregelte Überblick: "Meine Mappenführung ist jetzt nicht so perfekt. Und da merke ich jetzt halt hier schon, dass teilweise manche Blätter fehlen. Aber, ich kriege die alle wieder an Land, keine Sorge. Und das wird halt später noch extremer werden hier im Unileben, weil wenn Du da einmal Deine Sachen nicht dabei hast – Du kannst nicht mitmachen!"
Von Alexander Budde
In Niedersachsen öffnen sich die Universitäten für Schülerpraktika. Das Schnupperstudium ist genau auf die Schulabgänger des Gymnasiums abgestimmt. Arbeitgeberverbände schauen skeptisch auf das Angebot - denn auch ihnen fehlen die Fachkräfte von morgen.
"2015-11-11T14:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:08:34.914000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/betriebspraktikum-in-der-uni-praxiserfahrung-im-100.html
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Frontex soll EU-Außengrenzen besser sichern
Fabrice Leggeri, Vorstand der Europäischen Grenzschutzbehörde FRONTEX, stellt die Neuerungen in einem Exklusivinterview vor. (AFP / WOJTEK RADWANSKI) Nach außen dichter, nach innen sicherer. Das scheint derzeit das Motto der Europäischen Union zu sein. Dafür sorgen soll die neue EU-Agentur für Grenzschutz und Küstenwache, die auf Frontex aufbaut. Sie wird rund 1.000 feste Mitarbeiter haben, sowie eine Reserve von 1.500 Grenzbeamten, die die einzelnen EU-Länder schicken. Aus Deutschland kommen 225 Polizisten, sagt Frontex-Direktor Fabrice Leggeri dem ARD-Hörfunkstudio Brüssel in einem Exklusivinterview am Telefon. "Die werden von der deutschen Bundespolizei kommen, aber ich weiß auch, dass Polizisten auch aus den deutschen Bundesländern kommen." Die neue EU-Agentur für Grenzschutz und Küstenwache bekommt nicht nur mehr Personal, sondern auch mehr Befugnisse. Die Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Zoll in den betroffenen Mitgliedsländern an der EU-Außengrenze soll enger werden, aber auch mit der europäischen Polizeibehörde Europol, sagt Leggeri. "Das heißt, dass die Agentur von nun an nicht nur für Migration zuständig ist, sondern auch für die Sicherheit an den EU-Außengrenzen." Bereits jetzt schiebt Frontex illegale Migranten ab. Die Grenzbeamten transportieren abgelehnte Flüchtlinge zum Beispiel mit Booten von Griechenland zurück in die Türkei. Künftig wird die neue Außengrenzschutz-Agentur auch inhaltlich an Abschiebungen beteiligt sein. Sie soll Behörden in den betroffenen Mitgliedsländern dabei unterstützen, Migranten ohne Papiere zu identifizieren, Reisedokumente aus Drittstaaten anzufordern und Unterlagen für die Abschiebung vorzubereiten. Frontex-Mitarbeiter nehmen einen Flüchtling fest. (Deutschlandradio - Panajotis Gavrilis) Bulgarische Grenze zur Türkei stärker sichern Bislang hat Frontex seine Schwerpunkte in Griechenland und Italien, also dort, wo die meisten Flüchtlinge und Migranten in der EU ankommen. In Griechenland sind derzeit rund 700 Grenzbeamte eingesetzt, um die Grenze zur Türkei zu sichern und bei der Anhörung von Migranten mithelfen. In Italien sind es etwa 500. Aufgestockt werden sollen die Frontex-Grenzoffiziere an der bulgarischen Grenze zur Türkei, sagt Fabrice Leggeri. "Das haben wir schon im August angefangen, und jetzt warte ich immer noch auf Beiträge von der Mitgliedsstaaten. Es fehlen noch 100 Grenzbeamte, um sie in Bulgarien einzusetzen." Die bulgarische Grenze müsse deshalb zusätzlich gesichert werden, weil es kein Abkommen zwischen Bulgarien und der Türkei gebe, sagt Leggeri. "Diese EU-Türkei-Erklärung gilt nicht an der bulgarischen Grenze. Und deshalb ist es notwendig, den Einsatz von Frontex in Bulgarien an der türkischen Landgrenze aufzustocken." Darüber hinaus habe die griechische Regierung Unterstützung von Frontex angefordert, um die griechische Landgrenze zu Albanien zu sicher. Die Balkanroute ist bereits seit Monaten dicht. Nun sollen mit Bulgarien und Albanien offenbar die letzten Lücken geschlossen werden. Menschenrechtler kritisieren scharf, dass damit Europa zu einer Festung gemacht wird. "Wir wollen keinen Zaun, keine Festung aufbauen. Das Ziel ist, dass wir diese interne Schengen-Freizügigkeit wieder aufbauen können", sagt Frontex-Chef Leggeri. In vielen EU-Ländern, auch in Deutschland, gibt es seit gut einem Jahr temporäre Grenzkontrollen, die auf maximal zwei Jahre verlängert werden können. Wichtig ist, dass die Europäische Union in Flüchtlingsfragen in Zukunft einheitlicher wird, fordert Frontex-Direktor Leggeri. Denn eine einheitliche Asylpolitik erleichtert den Schutz der Außengrenzen.
Von Karin Bensch-Nadebusch
In dieser Woche startet der neue europäische Grenz- und Küstenschutz, ausgestattet mit mehr Befugnissen. Aufbauend auf der Grenzschutzagentur Frontex soll die neue Behörde die EU-Außengrenzen stärker sichern, etwa die bulgarische Grenze zur Türkei. Auch deutsche Polizisten machen mit.
"2016-10-04T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:57:12.387000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-eu-agentur-frontex-soll-eu-aussengrenzen-besser-sichern-100.html
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Enormer Energieverbrauch muss gedrosselt werden
Der Bericht unterstreicht, wie groß das Potenzial bei der Einsparung von Energie ist. (imago / imagebroker) Im Jahr 2040 wird der globale Energieverbrauch 30 Prozent höher sein als heute. Das prognostiziert die IEA in ihrem neuen Ausblick für die nächsten zweieinhalb Jahrzehnte. Klimaschädliche Kohle werde dabei als Energieträger immer mehr an Bedeutung verlieren. Bei Erdöl dagegen rechnet die IEA mit einer auch weiterhin steigenden Nachfrage. Warum, erläutert der Brite Tim Gould, einer der Hauptautoren des neuen Reports: "Bei Treibstoffen für Schiffe, Lastkraftwagen und Flugzeugen sowie bei Plastik und anderen petrochemischen Produkten sind kaum Alternativen zum Erdöl verfügbar." Nach Einschätzung der IEA ist die Ära der fossilen Energieträger mit ihren hohen CO2-Emissionen jedenfalls noch lange nicht vorbei. Zumal auch Erdgas weiter zulegt, und das sogar kräftig. Viele Länder bauen ihre Förderung aus. Die Energieagentur geht deshalb davon aus, dass der Verbrauch von Erdgas bis 2040 weltweit um 50 Prozent steigt. Bei Versorgung mit Heizwärme hinkt der Ausbau mit Erneuerbaren Energieträgern hinterher Trotz alledem halten es die Experten für möglich, die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Dafür müssten klimafreundliche erneuerbare Energieträger aber neue Felder erobern. Die italienische Umweltingenieurin Laura Cozzi - auch sie zählt zum Kreis der Hauptautoren: "Beim Ausbau erneuerbarer Energieträger konzentriert sich heute alles auf Elektrizität, also auf die Stromerzeugung. Wir vergessen dabei aber, dass für die Versorgung mit Heizwärme sogar noch mehr Energie benötigt wird als im Strom- oder auch im Verkehrssektor." Hier müsse die Politik aktiv werden. Dazu gehört für die IEA auch eine Umschichtung der Investitionen im Energiesektor. In ihrem Zwei-Grad-Szenario fließt im Jahr 2040 nur noch ein Drittel des Kapitals in fossile Energieträger und das meiste in Erneuerbare, deren Ausbau so weiter vorangetrieben wird - auch im Bereich der Gebäudeheizung. Flachkollektoren einer thermischen Solaranlage mit Heizungsunterstützung. In den letzten Jahren flossen weniger als ein Prozent der Investitionen im Bereich der Erneuerbaren Energien in den Heizungssektor, obwohl dieser noch mehr Energie verbraucht als Strom- oder Verkehrssektor (Imago / stock & people) "Nach unseren Berechnungen wurden im letzten Jahr weltweit 150 Milliarden Dollar in erneuerbare Energieträger investiert. Mehr als 80 Prozent der Mittel gingen dabei in die Stromerzeugung. Und nicht einmal ein Prozent in den Heizungssektor." Solare Heizwärme-Systeme sind damit in erster Linie gemeint. Sie müssten der nächste, konsequente Schritt beim Ausbau regenerativer Energieträger sein. Elektroautos sollen laut IEA umfassender staatlich gefördert werden Wichtig aus Sicht der IEA auch: den steigenden Verbrauch von Erdöl dort zu drosseln, wo es möglich ist, zum Beispiel bei Pkw. Hier hat bereits ein neuer Trend eingesetzt: der zum Auto mit Elektromotor. Tim Gould und seine Mitautoren schreiben diese Entwicklung in ihren Szenarien fort: "Wir erwarten, dass die Flotte von Elektro-Autos um den Faktor 100 zunimmt. Dann hätten wir 150 Millionen E-Mobile im Jahr 2040. Jedes zehnte Auto wäre ein elektrisches. So könnten wir 1,3 Millionen Barrel Öl pro Tag einsparen." Das wäre aber noch viel zu wenig, um das Zwei-Grad-Ziel zu schaffen. Nach den Szenarien der Energieagentur müsste es bis 2040 über 700 Millionen Elektroautos geben, die Pkw mit Benzin- oder Dieselmotor ersetzen - also fast fünfmal so viele. Gelingen könne das nur mit viel umfangreicheren Förderprogrammen und Kaufanreizen für E-Mobile. In ihrem neuen Bericht macht die IEA schließlich auch noch auf enorme Potenziale bei der Einsparung von Energie aufmerksam. Kompressoren, Pumpen, Lüfter, Kühlschränke, Autos - sie alle könnten noch viel verbrauchsärmer werden als heute. Und sie müssen es auch. Denn das stellt die IEA unmissverständlich klar: Den Energie-Mix zu ändern, genügt nicht, um das Zwei-Grad-Ziel einzuhalten. Wir müssen auch von unserem enormen Energieverbrauch runter und Strom zum Beispiel effizienter nutzen. Auch hier sieht Laura Cozzi die Regierungen in der Verantwortung: "Wie der Film abläuft, den wir in den nächsten 25 Jahren zu sehen bekommen, hängt entscheidend vom Regisseur und vom Skript ab - also von den Regierungen und der Politik, die sie beschließen werden."
Von Volker Mrasek
Während im marokkanischen Marrakesch die Weltklimakonferenz in die zweite Woche geht, meldet sich die Internationale Energieagentur IEA mit ihrem alljährlich erscheinenden "Welt-Energieausblick" zu Wort. Deutlich werden soll, welche Justierungen am globalen Energiesystem nötig sind, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen.
"2016-11-16T16:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:04:28.573000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/world-energy-outlook-enormer-energieverbrauch-muss-100.html
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Hier Biergarten-Idylle, dort Obdachlosenhilfe
In der Benediktinerabtei Ottobeuren (Deutschlandradio / Rudi und Rita Schneider) Mittwoch, 18 Uhr: Die Benediktinerinnen der Abtei Venio in München haben sich in ihrer schlichten Kapelle zur Vesper versammelt, dem klassischen Stundengebet der Orden. Sie tragen lange, schwarze Chormäntel und Schleier. Nichts deutet darauf hin, dass die Frauen tagsüber als Lehrerinnen oder in der Verwaltung, im Krankenhaus tätig sind. Oder wie Schwester Mirjam als Sozialarbeiterin in einem ambulanten Pflegedienst. Dann sind sie ganz normal gekleidet. "Die Herausforderung ist schon, dass man so ein bisschen das Gefühl hat, das sind zwei Welten. Gerade in der sozialen Arbeit, in meinem Schwerpunkt, was ja Case Management, also Krisenbewältigungsarbeit ist, da weiß man oft morgens nicht, wie der Tag genau ausschaut. Und im Kloster ist das durch die klare Einteilung der Gebetszeiten, der Mahlzeiten von vornherein sehr deutlich strukturiert." Eigentlich sind die Benediktiner ein kontemplativer Orden, geprägt durch Ruhe, Rückzug und eine gewisse Innerlichkeit. Aber Benedikt von Nursia hat keine Vorgaben gemacht, wie dieses Leben genau auszusehen hat. Denn eigentlich wollte er gar keinen Orden gründen, sondern lediglich Regeln aufstellen für das von ihm gegründete Kloster im italienischen Montecassino. Und so gibt es heute einerseits sehr zurückgezogene Benediktiner – andererseits recht weltzugewandte Ordensleute in der Mission, in Pfarreien und in Internaten. Die Benediktinerinnen der Münchner Abtei Venio arbeiten überwiegend in völlig weltlichen Kontexten. Weniger ist mehr Mirjam Ullmann sieht ihren Auftrag darin, möglichst nah an den Menschen dran zu sein, die in München leben. Durch ihren Arbeitsalltag ist sie unmittelbar mit jenen Problemen konfrontiert, die die Großstadt mit sich bringt: mit hohen Mieten, Leistungsdruck, dem Zwang, etwas darstellen zu müssen. "Gerade Menschen, die jetzt nicht in der Weise mit diesem ständigen Wettbewerb mit rennen können – ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge in unserer Stadt – für die ist es ja auch schlimm, dass sie in diesem Wettbewerb nie die Gewinner sein können." Die Benediktiner versprechen Gehorsam, sie binden sich fest an eine Gemeinschaft – das ist die sogenannte Stabilitas – und sie geloben einen klösterlichen Lebenswandel. Wer in den Orden eintritt, verzichtet auf persönlichen Besitz. Dieses Thema – "Weniger ist mehr" – stehe weit oben auf der gesellschaftlichen Agenda, sagt Religionssoziologe Gert Pickel. Er ist Professor in Leipzig. "Vor Kurzem gab es gerade eine Debatte, ob man sich nicht trennen sollte von zu viel Besitz, das belastet ja auch. Das ist für den einen oder anderen attraktiv, für die Meisten aber nicht. Das hängt damit zusammen, dass Besitz, den man erworben hat, auch so etwas wie eine Darstellung ist dessen, was man erreicht hat. Und das ist für das Selbstbewusstsein vieler Menschen extrem wichtig." Mut zur Langsamkeit Schwester Mirjam versucht, die Blickrichtung der Menschen zu verändern. Luxusurlaub, ein PS-starkes Auto in der Garage – alles verzichtbar, meint die Benediktinerin, denn nichts davon sei beständig: "Wenn man heute krank wird, wenn man heute alt wird, kann man ganz schnell seine Arbeit verlieren und damit diese ganzen Statussymbole. Dass ich mir für Vergänglichkeit so dermaßen einen Stress mache, das muss man infrage stellen. Da sehe ich schon die Aufgabe zu sagen: Mut zum Ausatmen, Mut zu einer gewissen Langsamkeit. Mit ein bisschen weniger lässt sich auch gut leben." Ortswechsel: Die Benediktiner-Mönche der Münchner Abtei Sankt Bonifaz sind vor allem durch das dazugehörige Kloster Andechs bekannt. Der Heilige Berg, hoch über dem Ostufer des Ammersees, ist der älteste Wallfahrtsort Bayerns. Vor allem aber ist Andechs ein blühender Wirtschaftsbetrieb der Benediktiner – mit Brauerei, großem Biergarten und eigener Metzgerei. Die Abtei bekommt keine Kirchensteuermittel, erklärt Abt Johannes Eckert. "Ich glaube, das Wirtschaftlich-Tätig-Sein, Arbeitgeber sein für über 200 Personen, ein sicherer Arbeitgeber, ist eine hohe ethische Verantwortung, die wir als Kloster tragen. Das erdet aber auch unsere Spiritualität. Manchmal ist es ja auch gefährlich, wenn man auf einer Insel der Seligen lebt. Und wir müssen uns genau denselben Herausforderungen stellen wie andere Unternehmen auch. Trotzdem ist dann die Frage: Wie können wir da glaubwürdig Christsein?" Die Benediktiner und das Bier Vor einiger Zeit geriet Abt Johannes genau darüber in Streit mit dem früheren wirtschaftlichen Leiter von Andechs, Anselm Bilgri. Kritiker hatten diesem vorgeworfen, zu sehr auf den Gewinn zu schauen und dabei die Spiritualität zu vergessen. Bilgri verließ daraufhin den Orden. Bis heute aber verkaufen die Benediktiner ihr Bier bis in die USA. Und sie stritten jahrelang vor Gericht um Markenrechte am Namen Andechs. Einen Prozess, den sie schlussendlich verloren haben. Die Benediktiner und das Geschäft - eine Gratwanderung, sagt Religionssoziologe Pickel. "Wenn ich Bier verkaufe, muss ich mich natürlich am Markt orientieren. Man hat ein Produkt entwickelt, das würden Sie in jeder anderen Brauerei auch so haben. Das ist ein Bezug zur Ökonomisierung, der eine gewisse Offenheit erzwingt, und der natürlich manchmal in Schwierigkeiten mit dem spirituellen Element kommt. Wo gesagt wird: Das ist eigentlich kein Orden mehr, das ist ja schon fast ein Wirtschaftsunternehmen geworden." Der frühere Papst Benedikt XVI. forderte, die Kirche müsse sich entweltlichen, um glaubwürdig zu sein. Dieser Begriff und die richtige Interpretation wurden viel diskutiert. Die Benediktiner hätten sich dafür entschieden, die Moderne als positive Herausforderung zu betrachten, sagt der Religionssoziologe. "Man ist offen, man hinterlässt eben nicht das Bild: Die ziehen sich zurück, die schotten sich von uns ab und denken, sie sind was Besseres. Wenn man das Spirituelle nicht verliert, kann man sich nach außen auch öffnen. Wir haben einen Kontakt von Orden mit der Welt, wenn sie im sozialen Bereich, in der Erziehung, in der Mission tätig sind, kommen sie auch mit der Welt in Berührung. Das funktioniert nur, wenn ich mit dem sozialen Wandel, der mich umgibt, aktiv umgehe." Sankt Bonifaz sei ein Kloster mit Brauerei – und keine Brauerei, die sich aus PR-Gründen ein Kloster hält, betont der Benediktiner Johannes Eckert. Das zeige sich auch an der Lage: Direkt gegenüber der Abtei am Rande der Münchner Innenstadt erhebt sich ein mächtiger Komplex mit Luxuswohnungen. Aber auch der Hauptbahnhof ist nicht weit, hier sind Arme, Illegale und Obdachlose unterwegs. Für sie hat das Kloster jeden Vormittag geöffnet. "München ist eine reiche Stadt. Und da freut's mich, dass wir ein Anlaufpunkt sind für Obdachlose. Es kommen täglich 200 bis 250 Personen in unser Haus zum Essen, Arztpraxis, Kleiderausgabe, Duschen." Bonifaz und Andechs vereinen Spannungsfelder: Obdachlosenhilfe und Biergarten-Idylle, Kloster und Wirtschaftsgut, Gottesdienst und Genuss. Das Mönchtum habe eben auch einen kulturellen Wert, so der Abt. "Ich glaube es braucht auch das Spiel, das äußerst sinnvoll ist aber zweckfrei. Wir leben ja in einer Gesellschaft, wo alles verzweckt wird, alles wird unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Und das Spiel ist nicht sinnlos, weil es freisetzt für was anderes. Dass das spürbar ist in unseren Klöstern oder Ordensgemeinschaften: Dass es noch einen ganz anderen Zielpunkt gibt in unserem Leben, das finde ich ganz wichtig."
Von Burkhard Schäfers
"Ora et labora- bete und arbeite". Dieser Grundsatz stammt von dem Gründer des Benediktinerordens, Benedikt von Nursia. Auslegen kann man diesen Satz auf unterschiedliche Art und Weise. In München versuchen sich die Benediktiner in Langsamkeit.
"2015-08-11T09:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:52:56.802000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-benediktiner-hier-biergarten-idylle-dort-100.html
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Das abgebrannte Holz sich selbst überlassen
Waldbrand in Kalifornien: Letztes Jahr gingen mehr als 1.200 Quadratkilometer in Flammen auf. (picture-alliance / dpa / US Forest Service) Es gibt diesen bösen Spruch, das Kalifornien trotz seines ewigen Sonnenscheins doch vier Jahreszeiten habe: Erdbeben, Feuer, Überschwemmung und Dürre. Das ist natürlich polemisch formuliert, aber tatsächlich gibt es hier in den Sommer- und Herbstmonaten mehr Wald- und Buschfeuer als im gesamten Rest der USA. Im vorigen Jahr hat die staatliche Behörde Cal Fire 6.337 Feuer gezählt, die eine Gesamtfläche von mehr als 1.200 Quadratkilometern niedergebrannt hatten. Das ist etwa ein Drittel der Fläche Mallorcas. Nicht immer sind die Brände so spektakulär wie das Bel Air Fire von 1961, als die Villen zahlreicher Hollywoodstars in Flamen standen: "The half-million-dollar mansion of film star Burt Lancaster and the home of Zsa Zsa Gabor are destroyed.” Schon beim Eindämmen der Flammen riskieren die Feuerwehrleute oft ihr Leben. Doch die eigentliche Arbeit fängt erst an, wenn die Santa-Ana-Winde die Rauchschwaden vertrieben haben. Dann muss die Forstverwaltung die richtigen Entscheidungen treffen: Werden alle toten Stämme gefällt und abtransportiert? Müssen neue Samen gesät werden, in unwegsamen Gegenden womöglich aus der Luft? Oder überlässt man die Natur sich selbst? Der studierte Ökologe Trent Seager hat sich auf das Wiederaufforsten von Wäldern spezialisiert. Er rät dazu, die Natur möglichst sich selbst zu überlassen. "Auf dem Gebiet eines Waldbrands wird erst nach 80 Jahren wieder ein richtiger Wald entstehen. Deshalb müssen die Baumstümpfe und -stämme das ersetzen, was sich sonst im Lauf der Zeit angesammelt hätte." Wirtschaftliche Interessen spielen eine Rolle Gleichzeitig gibt es natürlich auch wirtschaftliche Interessen. In Kalifornien wird die überwiegende Mehrzahl der Häuser aus Holz gebaut. Damit sind die Baumstämme wertvolles Rohmaterial. Und tatsächlich gibt es in vielen ehemaligen Waldbrandgebieten das sogenannte Salvage Logging, dass also Stämme abtransportiert werden, um den Wald zu retten. Inzwischen aber drängen Regierungseinrichtungen wie der United States Geological Survey darauf, dass bei der Brandnachsorge nicht nur wirtschaftliche Interessen berücksichtigt werden. Der Biologe Dallas Mount berät örtliche Forstbesitzer nach einem Brand, wie sie den Wald schnell und ökologisch verträglich wieder aufleben lassen können. In diesem Lehrfilm zeigt er eine ehemalige Brandstätte und erklärt, dass der Besitzer sich dazu entschlossen habe, die vom Feuer getöteten Bäume liegen zu lassen. Und zwar entlang der natürlichen Hügel in der Landschaft. Damit verhindern sie einerseits Erosion, dienen aber auch neuen Pflanzen als Nahrung. Und weil die toten Bäume gefällt sind, bekommen die nachwachsenden Pflanzen mehr Sonne ab. Allerdings kommt es bei manchen Bäumen schon darauf an, dass die zunehmenden Waldbrände sie gar nicht erst erreichen. Als vor drei Jahren das massive Rim Fire den Yosemite Park bedrohte, installierten die Ranger rund um die Jahrtausende alten Sequoias eine Berieselungsanlage. Den Flammen hätten die Mammutbäume wohl noch standhalten können, nicht aber der Hitze. Die Mühe hat sich gelohnt: Alle Sequoias haben den Brand überlebt.
Von Wolfgang Stuflesser
Der Sonnenscheinstaat Kalifornien ist gleichzeitig auch der Waldbrandstaat der USA. Kalifornien hat aber nicht nur viel Erfahrung beim Eindämmen und Löschen großer Feuer, sondern auch damit, wie auf verbrannter Erde möglichst schnell wieder neue Bäume wachsen können.
"2016-07-29T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:44:06.678000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/waldbrandnachsorge-in-kalifornien-das-abgebrannte-holz-sich-100.html
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Gemäßigte Islamisten siegen in Marokko
Die Wahl sei ein "Tag der Freude", sagte Abdelilah Benkirane angesichts des Ergebnisses für seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (afd/ Fadel Senna) Es war schon tiefe Nacht, als Abdelilah Benkirane vor der Parteizentrale einen kurzen Auftritt absolvierte. Das Ergebnis für seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die PJD, sei exzellent, sagte Benkirane, die Wahl ein "Tag der Freude für die Marokkaner". Für den Wahlsieger Benkirane selbst dürfte die Freude dennoch begrenzt sein. Mit 125 Mandaten wurde seine PJD zwar zum zweiten Mal nach 2011 stärkste Fraktion im Parlament, das ist sogar ein besseres Ergebnis als vor fünf Jahren. Aber die schärfste politische Konkurrenz von der Partei für Authentizität und Modernität, die PAM, errang 102 Sitze. Damit bildet sie einen großen oppositionellen Block. Denn ihr Parteisprecher machte unmittelbar nach Bekanntwerden des vorläufigen Wahlergebnisses klar: Die PAM wolle sich auf gar keinen Fall an einer Regierung unter Ministerpräsident Benkirane beteiligen, machte ihr Parteisprecher klar. Damit steht der Wahlsieger vor einer schwierigen Aufgabe: Wie schon in der vergangenen Legislaturperiode wird er eine Mehrparteien-Koalition bilden müssen. Welche Partner dafür in Frage kommen, ist momentan noch völlig offen. Benkirane stehen komplizierte Verhandlungen bevor. Die Erwartungen sind groß Klar ist auch: Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung hat zwar gewonnen. Aber sie hatte in der vergangenen Legislaturperiode kein wirklich klares Profil entwickeln können. Ihr vollmundiges Versprechen, der grassierenden Korruption im Königreich zu Leibe zu rücken zu wollen – das wurde in langwierigen und gewundenen Verhandlungsprozessen im Parlament zerrieben. Die Ankündigung, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde zwar teilweise erfüllt. Aber die neuen Jobs reichen bei weitem nicht aus, um die Arbeitslosenquote unten den vielen jungen Marokkanern zu drücken. Hinzu kommen die altbekannten Probleme im Bildungs- und im Gesundheitsbereich. Die Erwartungen, dass eine neue Regierung diese Probleme wirklich angeht, ist groß. Eine 22-jährige Wählerin brachte das beispielhaft klar zum Ausdruck, als sie gestern ihre Stimme abgab: "Ich möchte, dass sie das Bildungssystem verändern", sagt die junge Frau, "und sich um die Armen kümmern und um die Mittelklasse." Die Parlamentswahl jetzt hat aber erneut eines gezeigt: Das Vertrauen der Wahlberechtigten in die politischen Parteien ist nicht groß. Die Wahlbeteiligung lag nach vorläufigen Angaben des marokkanischen Innenministeriums bei gerade mal 43 Prozent derjenigen, die sich für das Votum eingeschrieben hatten. Das bedeutet: Deutlich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme abzugeben. Marokkos König Mohammed VI. (AFP/ Fadel Senna) Zurückhaltende Wahlberechtigte Das dürfte vor allem daran liegen, dass König Mohammed VI. laut Verfassung nach wie vor der alles entscheidende Machtfaktor in dem nordafrikanischen Land ist. Große Projekte, wie die strategische Wende hin zu erneuerbaren Energien, der Hochgeschwindigkeitszug TGV oder wichtige Industrieansiedlungen werden vom Monarchen selbst vorangetrieben. Ministerpräsident Benkirane und seiner Regierung bleiben da nur die eher undankbaren und schwierigen Reformprojekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Staatsfinanzen. Vorausgesetzt es gelingt ihm nun zum zweiten Mal nach 2011, eine Koalitionsregierung zusammenzubringen. Gesellschaftliche Minderheiten dürfen nach dem neuerlichen Wahlsieg der religiös orientierten PJD nicht auf positive Veränderungen hoffen. Und auch Marokkos Frauen-Organisationen müssen damit rechnen, dass es unter einer PJD-geführten Regierung auch weiterhin keine großen Anstrengungen in Richtung Gleichberechtigung geben wird.
Von Jens Borchers
Bei der Parlamentswahl in Marokko sind die gemäßigten Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung erneut stärkste Fraktion geworden. Allerdings werden sie mehrere Koalitionspartner brauchen, um eine Regierung zu bilden. Das wird nicht einfach.
"2016-10-08T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:58:11.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwieriger-wahlsieg-gemaessigte-islamisten-siegen-in-100.html
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Kindersterblichkeit im Gazastreifen gestiegen
Die Hamas warnt vor einem kompletten Kollaps der Krankenhäuser in Gaza. (MAHMUD HAMS / AFP) Die Ambulanz der El-Nasser-Kinderklinik in Gaza-Stadt. Die Behandlungsräume sind hellgrün gekachelt, von den Krankenbetten platzt der weiße Lack zum Teil ab. Auf einem der Betten liegt der kleine Hamad. Ein Arzt untersucht ihn, die Mutter steht daneben. "Er hat Fieber und Durchfall. Er ist vier Monate alt." Von den kleinen Patienten, die gerade im El-Nasser-Krankenhaus behandelt werden, leiden viele unter Durchfall. Auch die sieben Monate alte Noor. Ihre Mutter schildert die Rahmenbedingungen unter denen sie versucht, die kleine Noor gesund zu halten. "Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist schlecht und die Hygiene ist es auch, viel schlechter als in anderen Ländern." Hamas warnt vor einem kompletten Kollaps Schlecht sind nicht nur die Rahmenbedingungen außerhalb des Krankenhauses. Gut ausgebildetes Personal, moderne Technik, ausreichend Medizin - es fehlt an allem, sagt Oberarzt Jamal Tayib. Er leitet die Aufnahme im El-Nasser Kinderkrankenhaus. "Zum einen fehlen uns häufig die Medikamente, weil wir nicht genügend Nachschub bekommen. Außerdem können medizinische Geräte nicht repariert werden, wenn sie ausfallen. Wir bekommen keine Ersatzteile und müssen deshalb auf die Geräte verzichten." Die Hamas-Regierung warnte vor Kurzem vor einem kompletten Kollaps in den Krankenhäusern des Gazastreifens. Der schlechte medizinische Standard in den Kliniken wird auch als ein möglicher Grund für eine traurige Statistik gesehen: Die Kindersterblichkeit ist angestiegen. Das geht aus Berechnungen des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Palästinenser hervor. 2008 kamen auf 1.000 Geburten rechnerisch 20 Todesfälle. Bei der nächsten und bisher letzten Erhebung 2013 waren es 22. Kein starker Anstieg, aber trotzdem alarmierend, sagt Ghada El-Jadba. Die Ärztin leitet den Gesundheitsdienst der UN im Gazastreifen. Sie beunruhigt vor allem der überproportionale Anstieg der Kindersterblichkeit in den ersten vier Wochen nach der Geburt von zwölf Todesfällen auf 20. "Es gibt einen deutlichen Anstieg bei der Sterblichkeit von Neugeborenen, und zwar hauptsächlich nach Frühgeburten oder durch angeborene Fehlbildungen. Der dritte, etwas weniger wichtige Grund, sind Infektionen." Zunahme von angeborenen Herzfehlern Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser ist im Gazastreifen für die Gesundheitsversorgung von 1,2 Millionen der insgesamt rund 1,8 Millionen Einwohner zuständig. Die Kindersterblichkeit ist ein wichtiger Indikator für die Gesundheit der gesamten Bevölkerung. Die Ursachen sind nicht nur rein medizinisch. UN-Expertin Ghada el-Jadba unterstreicht die Bedeutung der Einflussfaktoren in dem seit 2006 abgeriegelten Küstenstreifen. Sie spricht von einem Desaster: "Es gibt drei zentrale Gesundheitskomponenten: physisch, psychisch und sozial. Sie werden in Gaza niemand ohne Trauma finden. Wenn die Situation so bleibt - ohne Wiederaufbau, mit der andauernden Blockade und keinerlei Erholung für die Wirtschaft - wird die Lage in Gaza sehr schlimm." Alarmiert durch die Zahlen zur Kindersterblichkeit aus dem Jahr 2013 werden die Vereinten Nationen nun eine neue Studie durchführen. Unabhängig davon schildert Oberarzt Jamal Tayib eine Beobachtung, die seine Kollegen und er im El-Nasser-Krankenhaus in der Zeit seit dem Krieg im vergangenen Sommer gemacht haben: "Im letzten Jahr, nach dem Krieg, ist uns eine Zunahme von angeborenen Herzfehlern aufgefallen. Es gibt eindeutig viel mehr davon als früher und sie sind eine häufige Todesursache unter den Neugeborenen." Von denen es weiterhin sehr, sehr viele gibt. Die Geburtenrate im Gazastreifen bei 4,3. Sie ist damit eine der höchsten weltweit.
Von Tim Aßmann
Die Kindersterblichkeit im Gazastreifen ist laut Berechnungen der UNO angestiegen. Grund dafür ist nicht nur die schlechte medizinische Versorgung: Auch Faktoren wie Ernährung, Hygiene und nicht zuletzt psychische Traumata durch den Krieg beeinflussen die Gesundheit der Menschen.
"2015-09-01T05:05:00+02:00"
"2020-01-30T12:57:02.158000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/naher-osten-kindersterblichkeit-im-gazastreifen-gestiegen-100.html
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Das Geld des Staats, der keines hat
Der Tourismus ist für Griechenland extrem wichtig. 2014 erwirtschaftete dies Branche 13,5 Milliarden Euro. (Jan-Martin Altgeld ) Im Werbevideo des griechischen Tourismusverbandes tanzen schöne Menschen am Strand. Sie streifen durch die historischen Stätten, halten die Hand vom Segelboot aus in blaues Wasser. Wer mal da war, weiß: Vieles ist so. Aber die Begleitmusik der Ratingagentur Standard & Poor's zum aktuellen Griechenlanddrama lautet: Herabstufung der Kreditwürdigkeit auf "ungenügend". Der Ausblick: negativ, auf "zahlungsunfähig" also. Dies verband die Agentur gestern Abend mit der Prognose, in Griechenland werde dieses Jahr die gesamtwirtschaftliche Leistung um drei Prozent schrumpfen. Für eine Branche, den Tourismus, ist es geradezu katastrophal, dass die politischen Querelen mitten in der Saison kulminieren. Denn die Branche ist bedeutend für die griechische Volkswirtschaft. Stefan Schneider, Europa-Volkswirt der Deutschen Bank: "Die Griechen können im Moment keine Überweisungen ins Ausland tätigen. Aber natürlich können die Ausländer gerne ihr Geld in Griechenland ausgeben. Und der Tourismus ist extrem wichtig. Man muss natürlich auch sehen, wie er aufgebaut ist: Ein erheblicher Teil sind ja internationale Veranstalter. Also, wie viel von den Ausgaben, den ein deutscher Tourist für seinen Griechenlandurlaub tätigt, dann tatsächlich in Griechenland verbucht werden, ist natürlich noch mal eine Frage. Generell ist das natürlich ein Punkt, wo Griechenland reüssieren kann." 2014 war ein Rekordjahr für den griechischen Tourismus. Es kamen 23 Prozent mehr Besucher, insgesamt 22 Millionen. Griechenland nahm dabei rund 13,5 Milliarden Euro ein. Das waren fast acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Oder anders gesagt: Mit diesen Einnahmen konnte Griechenland seine Importe von Arzneimitteln, Kunststoffen, Stahl, Maschinen und Autos bezahlen. Arbeitsabwanderung in vollem Gange Eine weitere Einnahmequelle ist die Lohnarbeit. Die deutsche Außenhandelsorganisation Germany Trade and Invest berichtet, immer mehr multinationale Konzerne aus den Bereichen Pharma und Kosmetik nutzten günstige Lohnkosten und gutes Know-how griechischer Unternehmen, um im Rahmen von Auftragskooperationen in Griechenland fertigen zu lassen. Das erscheint wohl auch sicherer, als selbst in eigene Fabriken zu investieren. Die Hürden scheinen zu hoch. Klaus Engel, der Chef des Spezialchemiekonzerns Evonik, hat sie so beschrieben: "Wenn man da erst mal beginnt in Griechenland und muss feststellen, wem gehört da welches Grundstück und wie sind die Rechtsverhältnisse geregelt, dann fängt man natürlich bei Adam und Eva erst mal an. Da fehlt es an Fundamentalem." Daran hat auch die jetzige Regierung bislang nichts geändert. Sie hat eher Investoren verschreckt, auch solche, die eine weitere Geldquelle Griechenlands speisen wollten: die Privatisierungen. Fraport etwa, der Betreiber unter anderem des Frankfurter Flughafens, wollte 1,3 Milliarden Euro zahlen, um gemeinsam mit einem griechischen Minderheitsaktionär 14 griechische Regional- und Ferienflughäfen zu übernehmen. Man spricht noch miteinander. Aber zuletzt war zu hören, Fraport denke darüber nach, das Angebot zurückzuziehen. Weggehen, das tun auch viele Griechen, für eine gute Zukunft des Landes die falschen. Deutsche-Bank-Volkswirt Schneider: "Wir sehen natürlich im Moment das Phänomen, was wir praktisch in allen südeuropäischen Krisenstaaten haben, dass die, die die sprachliche Kompetenz haben und auch auf dem europäischen, speziell auf dem deutschen Arbeitsmarkt attraktiv sind, ihrem Land den Rücken kehren. Und von daher wird das natürlich noch schwieriger." Und wenn sie aus dem Ausland Geld an die Familie in Griechenland überweisen sollten – schön. Aber für finanzielle Stabilität in Griechenland reichen wird es nicht.
Von Michael Braun
Von Mittwoch bis Freitag werden in Griechenland die meisten Banken wohl doch wieder öffnen. Geld für Rentenauszahlungen oder ähnliches ist zum Glück noch vorhanden. Doch woher kommen derzeit eigentlich die Einnahmen des griechischen Staates, um zumindest diese Zahlungen zu gewährleisten?
"2015-06-30T13:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:45:02.097000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/griechenland-das-geld-des-staats-der-keines-hat-100.html
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Die Ideen des Gartens
Rudolf Borchardt: "Der leidenschaftliche Gärtner" und "Der Deutsche in der Landschaft" (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Foto: Gerda Bergs) Der Garten ist ein geschützter Ort, ein hortus conclusus, ein Exil, das von den Routinen des Alltags erlöst. Der Garten wächst nicht auf Befehl - und bildet so den absoluten Gegensatz zur technischen Zivilisation, in der alles auf Befehl und Knopfdruck geschieht und handelt. Der Garten ist aber daneben auch das Andere der Natur - der gewachsenen wie der industrialisierten, der Plantage. Und zuletzt ist der Garten ein Ideal. Exil und Ideal ist der Garten jedenfalls für den deutschen, einer jüdischen Kaufmannsfamilie entstammenden Dichter Rudolf Borchardt gewesen - Ideal und Exil, das in Gestalt verschiedener Villen und dazugehöriger Gärten in Italien lag, zunächst war es selbstgewählt, später von den Nazis erzwungen. In Italien lebt Borchardt als Untermieter toskanischer Landsitze, deren Gärten und Gartenanlagen er bewirtschaftet. Und dort entdeckt der Dichter, der auf das altsprachliche Gymnasium große Stücke hält und vom Studium der Altertumskunde geprägt ist, die Villa als Lebensform - und eben die Leidenschaft des Gärtners, welche er 1938 in dem fast gleichnamiges Buch Der leidenschaftliche Gärtner verewigt. Der Mensch, so stellt er darin programmatisch fest, entstammt einem Garten, er entstammt keineswegs, wie die moderne Biologie sagt, der rauen und rohen Natur. "Wir sind über den Heimatgarten der Menschheit genügend unterrichtet, um eine Vorstellung von seiner technischen Struktur zu haben. Er war, wie alles urälteste Menschliche, eine ganz symmetrische Anlage, genauer gesagt eine geometrische. Alles Menschliche beginnt darum weil der menschliche Geist eingeatmeter göttlicher Geist ist, als eine Ordnung, und muss auf dem Weg der von Gott verhängten Unordnung wieder eine Ordnung werden. Der Garten Eden war eine quadratische Anlage, durch ein Kreuz von vier aus seiner Mitte entspringenden Flüssen symmetrisch aufgeteilt und bewässert." Am Anfang ist der Garten - und als solcher ist er Antidot zu dem, wozu wir Natur sagen, denn diese ist Natur nach dem Sündenfall, nach der Vertreibung aus dem Garten Eden, ist also gefallene und verderbte Natur. Der Mythos von der Naturwüchsigkeit aller Dinge setzt Borchardt folglich einen schöpferischen Mythos entgegen, nämlich den, das alles einem Garten entsprungen ist – einem Gebilde, dem eine geometrische Ordnung zugrunde liegt, die der Natur verloren gegangen ist. Deshalb besteht die Aufgabe des Gärtners darin, die geordnete Form des Gartens in die Natur zurückzutragen, mit anderen Worten: aus roher Natur einen Garten zu bilden - ganz so, wie das altsprachliche Gymnasium aus jungen und rohen Heranwachsenden Seelen bildet. Denn der Garten, eine Ordnung der menschlichen Seele, und allen anderen ihrer Ordnungen verwandt, ist eine Ordnung der ganzen Seele und nicht der halben, der tätigen und nicht der schlaffen, und kennt keinen ästhetischen Frömmler, es sei denn als den Spazierer, dem er nichts verargt: der Garten will den Gärtner. Ästhetisches Programm Der Garten ist ein Kunstwerk, insofern der Garten Borchardts ästhetisches Programm sinnlich veranschaulicht. Darum gehört das Gartenbuch das lange als bloßes Beiwerk betrachtet wurde, in das Zentrum von Borchardts Schaffen, hier haben wir gebündelt sein ganzes Programm – ein Programm, wonach wir im Kunstwerk die Wiederholung eines archaischen Zustandes finden oder sogar dessen restaurative Neuschöpfung: Der leidenschaftliche Gärtner wiederholt in seinem Garten den Garten Eden und restauriert ihn schöpferisch. Es ist ein platonisches Programm. Borchardt entwickelt in Der leidenschaftliche Gärtner die humanistische Idee eines Weltgartens, die er Goethes Idee einer Weltliteratur nachbildet. Der Garten ist ihm anschaulich gewordenes Abbild einer geistigen Ordnung, die aller Schöpfung zugrunde liegt – nämlich schon dem Anfang aller Anfänge, dem Paradies und Garten Eden. Wenn also dies Buch, wie einige seiner Leser wissen, für seinen Verfasser eine Abschweifung von den Zielen ist, denen die Tätigkeiten seines Lebens gehören, so ist es darum doch keineswegs als ein Beiwerk entstanden, denn solche Beiwerke gibt s nicht. Es ist in der entschiedenen Absicht geschrieben worden, zwischen dem menschlichen Garten und dem menschlichen Geiste eine Verbindung zu schaffen. Im Sinne Borchardts ist der Gärtner die höchste Form, zu der sich der Mensch aufschwingen kann - der Gärtner ist gerade nicht etwas, was im Menschen vorausgesetzt werden kann, bloß weil es den Handel mit gärtnerischem Bedarf und die Pflanze als Ware gibt. Dies Buch geht nicht von der ärmsten Möglichkeit aus, sondern ganz absichtlich von der reichen. Es mutet dem Leser und dem Gärtner etwas mehr zu als er listen kann, weil es weiß, dass nicht den Menschen so fördert und darum auf die Dauer praktischer ist, als ihm etwas zuzutrauen. Im Garten offenbart sich der Kultur- und Gestaltungswille des Menschen – und deshalb ist für den Goethe-Liebhaber Borchardt auch der Weimarer Musenhof eine Art Garten - Chiffre für ein vergeistigtes Gefühl des Daseins, wie es die späthöfische Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat – und im Werk des Schriftstellers zugleich Chiffre ist für die große kulturelle Vergangenheit: Weimar als Ausdruck des deutschen Geistes - und das 18. Jahrhundert als Zeuge der Geburt der schöpferischen Seele. Poesie und Wissenschaft gehen in diesem Weimar noch keine getrennten Wege, und die sinnliche Welt ist noch weit davon entfernt, als unzuverlässig und "unwissenschaftlich" entwertet zu werden. Diese für das 20. Jahrhundert radikale Unzeitgemäßheit macht aus ihm, den Zeitgenossen Borchardt, den natürlichen Gegner, dem es obliegt, an der Moderne harsche Kritik zu üben. Auf den Punkt kommt seine spezifisch anti-moderne Haltung im ersten Satz des legendären "Villa"-Aufsatzes aus dem Jahr 1907: "Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr verschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden." Borchardt schreibt das, so muss man wissen, ein Jahr, nachdem er mit seiner ersten Frau, der Malerin Karoline Ehrmann, nach Italien übergesiedelt ist. Hinter jedem Gedanken, so kann man ganz materialistisch sagen, versteckt sich stets das biographische Detail. Rudolf Borchardt war freilich ganz und gar kein Materialist. Für ihn besitzt der Geist unbedingten Vorrang vor der Natur. Das ästhetische Programm, welches er vertritt, lässt sich vielleicht am besten so zusammenfassen: Es geht in ihm um die Restauration von Urzuständen - das heißt darum, einen Zustand wiederherzustellen, der nur: "... in der geistigen, poetisch nachvollzogenen, nicht aber in der realen Geschichte je vorhanden war." Der deutsche Idealismus In gewisser Weise lässt sich das auch von der Reihe Naturkunden sagen, die seit 2013 im Matthes & Seitz Verlag Berlin erscheint und von der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky begründet worden ist und herausgegeben wird. Auch hier, in den Naturkunden, wird von einer geistig nachvollzogenen Welt berichtet, die es real so nie gegeben haben dürfte. Neben Titeln wie Wilde Wälder, Kröten, Nelken, Brennnesseln oder Schafe, neben Die Heilkraft der Natur, Der lebende Berg, Nashörner und Haustiere sind nun auch zwei Bücher von Borchardt in die Reihe aufgenommen worden - einmal eben Der leidenschaftliche Gärtner, postum 1951 aus Fragmenten im Nachlass veröffentlicht-, und zum anderen Der Deutsche in der Landschaft aus dem Jahr 1927, eine Anthologie, die Reiseschilderungen deutscher Schriftsteller versammelt und von Borchardt lediglich besorgt, also zusammengestellt worden ist. Anders, als letzterer Titel erwarten lässt, geht es Borchardt hier allerdings nicht um deutsche Landschaften, es geht ihm um deutsch angesehene Landschaften - also um das spezifische Verhältnis der Deutschen zur Landschaft. Dieses Verhältnis ist geschichtlich bestimmt, die Geschichte unterwirft sich die Natur - und insofern lässt sich eben von "deutscher", englischer" oder "italienischer" Landschaft sprechen. Es geht in dem Kompendium sonach weniger um das Aufzeigen nationale Spezifika und Charaktereigenschaften als um eine Form der Selbstbegegnung: In der fremden Landschaft begegnet der als solcher heimatlose Deutsche sich selbst. Oder, anders gesagt: Was die Geometrie für den Garten ist, ist die Geschichte für die Landschaft – eine geistige Ordnung, von der diese geprägt ist. Unter den Autoren das versammelte deutsche Pantheon des 19. Jahrhunderts: Goethe, Herder, Wilhelm Heinse, Johanna Schopenhauer, Georg Forster, Wilhelm von Humboldt, Alexander von Humboldt, Karl Immermann, Karl Friedrich Schinkel, die Droste-Hülshoff, Bettina Brentano, Novalis, Ludwig Tieck, Kleist, Stifter, Jacob Grimm und etliche andere, mit deren Namen heute niemand mehr etwas verbinden kann. Schon durch die Auswahl zeigt sich Borchardt in starker Opposition zur eigenen Gegenwart. Hugo von Hofmannsthal, sein Bruder im Geiste und seine Leitfigur, eröffnete mit dem Deutschen Lesebuch jene am Telos der geistigen Nation orientierte Reihe von Anthologien, die Borchardt mit dem Ewigen Vorrat deutscher Poesie und eben Der Deutsche in der Landschaft provokant fortführt. Schon 1927, bei Erscheinen der Anthologie ein Jahrzehnt nach Ende des Ersten Weltkriegs war das Wort deutsch prominent im Titel problematisch. Der Literaturwissenschaftler Franck Hofmann schreibt im Nachwort: "In seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit ist Rudolf Borchardt ein interessanter Fall, ein Gelehrter, der ein Werk hinterlassen hat, dem die Pathologien der Moderne wie kaum einem anderen abgelesen werden können." Gleich das zweite Stück, mit dem Borchardt seine Anthologie der nur deutsch gesehenen Landschaftsbilder anfangen lässt, gilt dem Blick auf eine Gartenlandschaft. Es stammt von Karl Philipp Moritz, Autor des psychologischen Romans Anton Reiser, und behandelt die Villa Borghese: "Könnt‘ ich doch von diesem reizenden Garten eine würdige Beschreibung machen, den sein großmütiger Besitzer ganz dem Vergnügen des Volks einräumt und dieses schönen Aufenthalts selber am vollkommensten genießt, indem er von Tausenden genossen wird. Man geht aus der Porta del Popolo rechts an der alten Stadtmauer hin, von der ein Stück schon seit Jahrhunderten der Einsturz droht und immer noch unerschüttert steht, ob es gleich den Anschein hat, als ob es in jedem Augenblick zusammenstürzen wollte." Eine Erfahrung des geliebten Daseins Pflanzenkleid und Landschaft stehen in einem engen physiognomischen Zusammenhang, wo das eine durch das andere erklärt wird, Stoff durch Form, Natur durch Geist. Nicht nur im Garten, auch in jeder Landschaft steckt die Erinnerung an den Garten Eden. Borchardts Landschaftsdenken folgt den Spuren des Mystikers Jakob Böhme, der Landschaft nicht als etwas Unberührbares und Naturgegebenes betrachtete, sondern als ein ästhetisches Gebilde - als etwas, in dessen Reflexion sich Geschichte spiegelt. In der Landschaft entziffert sich das Subjekt in seiner Zeitlichkeit. "Bei keinem anderen Dichter des 20. Jahrhunderts hat sich die Begrifflichkeit und Bildlichkeit von Landschaft und Natur so tief in Sprache und Denken eingesenkt wie bei Rudolf Borchardt", schreibt wiederum der Paderborner Literaturwissenschaftler Friedmar Apel in seiner Topographie Deutscher Geist und Deutsche Landschaft aus dem Jahr 1998. Die Praxis des Gärtnerns ist im Denken von Landschaft, wie es der Schriftsteller Borchardt versteht, ebenso mitinbegriffen wie Literatur und Poetik. Im Gespräch über Formen aus dem Jahr 1905 wird deutlich, dass die Formerfahrung der Landschaft oder Blume nach Borchardt als Erfahrung eines geliebten Daseins empfunden werden muss. Insofern ist die Anthologie der Landschaftsbilder auch eine Theorie der Form und eine Apologie des Geistes. Ich sage es Ihnen wieder, Harry, was ich Ihnen so oft gesagt habe, Leben heißt das große Wort, Leben, nur Leben, nicht Buch, und ich wollte, ich könnte es für Sie mit einem Atem von Schauer und Geheimnis, mit einer Wucht von wundervollem Irrsal so überfüllen, dass Ihnen der Ton nicht mehr vergessbar wird, mit dem es hier so oft ausgesprochen worden ist. Wem zehn Worte, die als das, was sie sind, so und nicht anders im Verse beieinander stehen, wem die so im Raume stehenden Linien, der so und nur einmal so von Farbe, Licht und Wind schütternde Baum, wem diese Unwiderruflichkeit der Formen nicht sinnliches, geliebtes Dasein schlechtweg sind, der glaube nicht zu leben. Unsere Sinne sind da und sind das einzige, was wir als vollste Gegenwart spüren, als geheimnisvoll rauschendes Blut, als Atem und rätselhaften Durst, als den ungeheuren dumpfen Drang, das unersättigte Aug und Ohr, als tiefste heiligste Sicherheit. Das Gartenreich als gewaltige Demokratie Der leidenschaftliche Gärtner kann nur vor dem Hintergrund des Borchardtschen Landschaftsdenken richtig verstanden werden. In Landschaft wie Garten findet nämlich das Unterschiedene und Besondere zur Einheit. Und in Garten wie Landschaft verbinden sich Sinnlichkeit mit Geistigkeit zur gestaltenden Praxis. Sie allein garantiert Selbst- und Weltgestaltung, garantiert die Einheit von Poesie und Wissenschaft. Formal verbinden sich in der Anthologie Reise und Zeitung, die beide nach Borchardt Kinder des Jahrhunderts sind. Der Deutsche in der Landschaft versteht der Schriftsteller und Redner nämlich als Feuilleton, wie er in seinem eigens verfassten Nachwort schreibt: "Reise und Zeitung, die beiden Kinder des Jahrhunderts, stehen von Anfang an und stehen bis auf den heutigen Tag in einer besonderen Verschwisterung, an der keine Auswahl vorbeigehen dürfte, umso weniger, wenn diese Verzweigung, wie es hier der Fall ist, aus einer örtlich fest eingewachsenen Wurzel entspringt. Das höhere deutsche Zeitungswesen literarischer und schöngeformter Richtung, das "Feuilleton", wie man es nennt, ist eine österreichische Schöpfung, an die besonderen Stufen der Gesellschaft und Geselligkeit der Bildung und des Gespräches gebunden, die Österreich von den dreißiger Jahren an erreicht und am Ende des Jahrhunderts klassisch krönt." Der Deutsche in der Landschaft ist ein Reader, dessen unverhohlenes Telos die eurozentrische Ordnung und ein mythisches Abendland darstellt. Im Gärtnerbuch dagegen wird am Beispiel globaler Migrationsbewegungen in der Pflanzenwelt das Gartenreich als gewaltige Demokratie gekennzeichnet – um gegen die völkische Landschaftsplanung Stimmung zu machen, gegen die Blödigkeit, die propagierte, dass man eine vermeintlich autochthone Pflanzenwelt gegen Eingeschlepptes schützen müsse. Pflanzenwelt und Landschaft stehen im Verhältnis von Tableau und Detail, wobei Borchardt im Gartenbuch, das gut zehn Jahre nach "Der Deutsche in der Landschaft" während des Dritten Reiches entsteht, dazu einlädt, sich auf Das Detail zu besinnen, auf die Blume – und sich vom großen Gemälde abzuwenden. "Wenn der Leser diese fünfhundert Seiten als eine Einheit im Sinne der Geschichte des deutschen Geistes empfindet – und wir hoffen das -, wenn er – und wir sind dessen sicher - durch die Empfindung und das innere Erlebnis dieser Einheit sich einen Teil jenes größeren Ganzen erarbeitet, das mit Recht das Jahrhundert des deutschen Geistes genannt worden ist, so tritt er in eine schwebende Geistergemeinschaft, eine organische mit denjenigen, aus deren zu Tage liegender und aus deren sich bescheiden verbergender Arbeit entstanden ist, was an diesem Buche eine Restitution verlorener deutscher Geistesgröße ist." Der Zeitgeist In beiden Werken, dem Gartenbuch wie dem Landschaftsreader, folgt Borchardt letztlich der Idee, dass der Geist unteilbar ist, dass alles Geist ist. Garten und Landschaft sind dabei zwei Phänomene, die eine Gegnerschaft zur sinnlich entwerteten Welt legitimieren, zu der die Moderne sie verarmen lässt. Blumen in der Landschaft ist ein Beitrag betitelt, den Borchardt in die Anthologie Der Deutsche in der Landschaft aufgenommen hat. In ihm ist Borchardt Anliegen auf den Punkt gebracht. Der Beitrag stammt von dem deutschen Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts als ein Fürsprecher des Landschaftsgartens empfindsam-romantischer Prägung galt. In dem Aufsatz heißt es: "Da, wo der Mensch ruht, wo er sich dem Genuss seiner Gedanken und Phantasien übergibt, wo er lieber fühlt als betrachtet, da sollen die wohlreichenden Blumengeschlechter den Kelch ihrer süßen, gewürzhaften, erquickenden Düfte eröffnen und seine Empfindung von der Wollust der Schöpfung durch die Befriedigung eines neuen Sinns erhöhen. Um Ruheplätze und Schlafgemächer, um Studierkabinette, um Speisesäle, um Bäder verbreite sich der Wohlgeruch der Märzviole, der Matronalviole, der Nachtviole, der gelben Viole oder Goldlack, der Levkoyen, der Monarden, der weißen Narzisse, der weißen Lilie, der Hyazinthe, der Nelke, der Migonette oder ägyptischen Resede, der Tuberose, der Tazette, der Jonquille usw. Der Genuss dieser Wohlgerüche breitet auf eine unbeschreibliche Art eine gewisse Erquickung und Milde über das ganze Inwendige des Menschen aus, Ruhe der Seele und sanftem, wärmenden Behagen." Borchardt stand in bewusster Opposition zu seiner Zeit, zu ihrem industriell verfertigten Utilitarismus. Er stand aber auch in bewusster Opposition zur Avantgarde von damals, der es gefiel, die Formen der Künste zu zerstören, während er sie ein letztes Mal durchspielte, auf die Kraft der Sprache vertraute und auf die der Tradition. Heute dagegen darf Borchardt, jedenfalls mit den beiden in den Naturkunden publizierten Werken, eher als Genosse des gegenwärtigen Zeitgeists betrachtet werden, wo, wie Christian Welzbacher im Nachwort schreibt, im Urban Gardening das Gärtnern wiederentdeckt worden ist. Die Beschäftigung mit Garten und Natur entsprang dem Geist der Lebensreform - der sich heute in der veganen Ernährung ebenso wiederfindet wie in der Renaissance des Wanderns oder dem Bestreben, mit der Natur eins zu werden – uva. mehr. Borchardt passt mit seinen beiden sprachlich und gedanklich avancierten Texten in die anspruchsvolle Reihe der Naturkunden, zumal, wenn man deren fortschrittsskeptischen Habitus in Rechnung stellt. Und doch ist er auch ein Autor, der jede Reihe, in die er gestellt wird, sprengt. Rudolf Borchardt ist in einem uneinholbaren Sinn originär – und lesenswert entgegen jeder Ideologie, die ihn für sich reklamiert, seien es rechte oder grüne oder sonst welche. Ralf Borchardt: "Der leidenschaftliche Gärtner"Hrsg.: Judith Schalansky, Rudolf BorchardtBerlin 2016: Matthes & Seitz Berlin, 333 Seiten, 25 Euro Ralf Borchardt: "Der Deutsche in der Landschaft"Hrsg.: Judith Schalansky, Christian WelzbacherReihe NaturkundenBerlin 2018: Matthes & Seitz Berlin, 552 Seiten, 25 Euro
Von Thomas Palzer
In Rudolf Borchardts Reflexion über den Garten, wie in der von ihm herausgegebenen Sammlung deutscher Reisebeschreibungen, drückt sich vor allem eines aus: Borchardts Glaube daran, dass der Landschaft und somit auch Gärten die Ordnung des menschlichen Geistes auferlegt ist.
"2018-06-10T16:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:56:21.701000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rudolf-borchardt-die-ideen-des-gartens-100.html
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"Ein Schritt in Richtung eines einheitlichen EU-Steuersystems"
Daniel Gros, Direktor des Center for European Policy Studies (imago / Italy Photo Press) Denn beim Thema Steuergerechtigkeit zeigt sich laut Gros ein systemimmanentes Paradoxon der EU: Einerseits seien Steuern eine nationale Angelegenheit, gleichzeitig sage aber die EU: "Wenn ihr einzelnen Unternehmen gewisse Steuervorteile gebt, verstößt das gegen die Konkurrenz innerhalb des internen Marktes und deswegen können wir das nicht erlauben." Und eigentlich wollten die Mitgliedsländer auch mehr Steuergerechtigkeit, sagte Gros. Andererseits wollten sie ihre nationale Hoheit über das Steuerrecht nicht aufgeben. Auf Dauer müssten die europäischen Regierungen aber einen Kompromiss in der Frage finden, der nicht nur nationale Interesse im Blick habe, so Gros. Ein "größeres politisches Signal" sei erforderlich. Der Wirtschaftswissenschaftler geht davon aus, dass im Fall Apple noch nicht das letzte Wort gefallen ist. "Es wird sich so lange hinziehen, bis alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft sind." Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Apple soll 15 Jahre lang unerlaubte Steuervorteile in Irland genossen haben. Und dieses Geld, das soll der Konzern jetzt zurückzahlen, und zwar an die irischen Steuerbehörden. Am Telefon ist jetzt Daniel Gros vom Centre for European Policy Research. Das ist ein Think Tank in Brüssel, der sich genau mit solchen Fragen sehr viel beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Gros. Daniel Gros: Guten Morgen aus Brüssel. Armbrüster: Herr Gros, 13 Milliarden Euro Steuern nachzahlen, für wen ist das jetzt die größere Ohrfeige, für Apple oder für die Regierung in Irland? Gros: Eigentlich sollte es keine Ohrfeige für Irland sein, sondern ein Geschenk. Denn wenn man das mal auf Deutschland umrechnet, wäre das so viel, als wenn der deutsche Staat plötzlich 260 Milliarden Mehreinnahmen hätte. Eigentlich sollte sich die irische Regierung doch freuen. Armbrüster: Was schätzen Sie denn, warum freut sie sich nicht? Gros: Sie freut sich natürlich nicht, weil sie sich sagt, vielleicht bekommen wir das Geld ja auch, aber dann werden wir in der Zukunft kein Geld mehr bekommen, denn viele Firmen werden nicht mehr hier formal in Dublin registriert sein, und deswegen letztendlich auf längere Zeit verlieren wir doch etwas und wir verlieren vor allen Dingen unseren guten Ruf als Steuerparadies. Und das ist es, worauf es der irischen Regierung eigentlich ankommt. Hoheitliche Aufgabe im gemeinschaftlichen Korsett Armbrüster: Und ist genau das auch das Signal, was Margrethe Vestager mit dieser Entscheidung aussenden will? Gros: Genau. Das ist der Knackpunkt dabei, dass einerseits Steuern noch rein eine nationale Angelegenheit bleiben, dass aber de facto die EU sagt, wenn ihr einzelnen Unternehmen gewisse Steuervorteile gebt, verstößt das gegen die Konkurrenz innerhalb des internen Marktes, und deswegen können wir das nicht erlauben. Die Kommission versucht also, faktisch eine hoheitliche Aufgabe doch irgendwie in ein gemeinschaftliches Korsett zu zwingen, damit solche Sachen nicht weiter passieren. Armbrüster: Das heißt, eigentlich sollten dann auch bei einigen Leuten in der Bundesregierung die Alarmglocken schrillen, denn eigentlich ist das, was Brüssel da jetzt fordert, ein einheitliches europäisches Steuersystem. Gros: Es läuft in diese Richtung. Es läuft aber auch in die Richtung, die man eigentlich wollte, nämlich mehr Steuergerechtigkeit, weniger Steuervorteile für große multinationale Unternehmen, die es einfacher haben, verschiedene Steuerschlupflöcher auszunutzen. Deswegen ist die Regierung auch in Deutschland wie in vielen anderen Ländern dabei gespalten. Einerseits wollen sie mehr Gerechtigkeit, aber andererseits wollen sie gleichzeitig ihre Souveränität auch nicht aufgeben und beides geht halt nicht gleichzeitig. Armbrüster: Denn auch Deutschland - das sollte man hier mal anmerken - gewährt auch einigen Unternehmen Vorteile bei der Besteuerung. Kommen wir zurück auf diesen Fall. Jetzt haben sowohl der Apple-Konzern als auch Irland schon angekündigt, gegen diese Entscheidung aus Brüssel vorzugehen. Könnte sich diese ganze Geschichte jetzt noch länger hinziehen? Gros: Sie wird sich sicher noch sehr lange hinziehen, denn bei solchen Summen werden natürlich alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft werden und es wird insbesondere auch wieder der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sich damit beschäftigen müssen, und bei so einem komplizierten Fall, der auch so viele Jahre betrifft, wird es sicher noch sehr lange dauern, bis das letzte Wort dabei gefallen ist. Nationale Steuergesetzgebung versus Steuergerechtigkeit Armbrüster: Und wird das auch ein Thema sein im Europäischen Rat - denn letztendlich trifft es ja auch die Regierungen der Mitgliedsländer? Gros: Natürlich kann sich der Europäische Rat nicht direkt damit beschäftigen, denn das war formal eine Entscheidung der Kommission. Es werden jetzt die rechtlichen Instanzen beschritten und da kann sich der Europäische Rat natürlich nicht einmischen. Worauf es natürlich ankommt ist, dass die Regierungschefs sich auch einmal überlegen, was wollen sie eigentlich. Wollen sie die vollkommene Freiheit bei der nationalen Steuergesetzgebung auf jeden Fall beibehalten, oder wollen sie auch wirklich dem nachgehen, was sie eigentlich gesagt haben, nämlich mehr Steuergerechtigkeit. Und da sollten sie sich einfach mal fragen, wo liegen ihre Prioritäten. Armbrüster: Zeigt sich denn dann nicht hier eigentlich die ganze Verlogenheit, die wir immer wieder erleben, wenn es um Steuern in Europa geht? Einerseits die einzelnen Mitgliedsländer, die sich immer auch gegenseitig versuchen, Unternehmen abzuluchsen, die Unternehmen gezielt ansprechen, sich in bestimmten Regionen niederzulassen, und andererseits in Brüssel dann immer die große Forderung nach Steuergerechtigkeit - was für ein Wort. Gros: Ja, das ist leider aber so, wie man so schön sagt, systemimmanent angelegt. Das heißt, wenn man weiter darauf beharrt, dass man die Steuerangelegenheiten national erledigen möchte, ohne darauf zu schauen, was denn die eigenen Entscheidungen für einen Einfluss haben auf die anderen, dann kommt man aus dieser Nummer nicht heraus. Ich glaube, es muss dabei wieder ein europäischer Kompromiss gefunden werden, indem man zugibt, dass man bei den Steuerentscheidungen, die große multinationale Unternehmen betreffen, mehr zusammenarbeiten muss und dabei nicht nur auf das eigene nationale Interesse schauen kann. Da wird es noch viel Kleinarbeit bedürfen, aber erst mal brauchen wir ein größeres politisches Signal, dass man auch wirklich willens ist, in diese Richtung überhaupt zu gehen. Armbrüster: Könnte es denn sein, dass man mit solchen Entscheidungen, wie sie da heute in Brüssel zurzeit verkündet werden, auch multinationale Konzerne vergrault, sich überhaupt in Europa niederzulassen? Gros: Man könnte natürlich deren Steueranwälte vergraulen, aber ich glaube nicht, dass man den wirklichen Investitionen dabei irgendeinen Schaden zufügt. Denn diese Unternehmen kommen ja nach Europa, weil es hier einfach einen großen Markt gibt, weil es viele gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Und ob sie nun in Irland, Luxemburg, Holland oder Deutschland irgendwie ein kleines Steuersparmodell noch ausnutzen können, ist dabei zweitrangig für die Frage, wo machen sie wirklich ihre Geschäfte, wo schaffen sie Arbeitsplätze. Da handelt es sich mehr um Finanztransaktionen, die keine Arbeitsplätze schaffen. US-Unternehmen nehmen besonders gern Steueroasen in Anspruch Armbrüster: Jetzt hat sich auch das amerikanische Finanzministerium vor wenigen Tagen schon eingeschaltet in diesen Streit. Der Finanzminister in Washington hat sich darüber beschwert, dass die EU-Kommission immer wieder gezielt amerikanische Unternehmen abstraft, zuletzt ja auch schon die Kaffeehaus-Kette Starbucks. Was ist dran an diesem Vorwurf, gezielt amerikanische Unternehmen ins Visier zu nehmen? Gros: Es stimmt nicht, dass die Kommission gezielt amerikanische Unternehmen ins Visier nimmt. Es stimmt aber leider auch, dass große amerikanische Unternehmen besonders aktiv auf diesem Gebiet sind, und das hat seinen ganz einfachen Grund: Weil es nämlich in der amerikanischen Steuergesetzgebung eine Besonderheit gibt, nämlich die, dass Gewinne, die man im Ausland behält, in Amerika überhaupt besteuert nicht werden. So etwas gibt es in Europa nicht oder nicht in einem so vollen Umfang. Deswegen ist es für europäische Unternehmen weniger attraktiv, Steueroasen in Europa in Anspruch zu nehmen. Für die amerikanischen Unternehmen ist es aber sehr viel interessanter und deswegen werden natürlich verhältnismäßig viele amerikanische Unternehmen bei diesen Steuerschlupflöchern auch gefunden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Gros im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Apple soll 13 Milliarden Euro Steuern an Irland nachzahlen. Mit der Entscheidung wolle die EU-Kommission nicht nur für mehr Steuergerechtigkeit sorgen, sagte Daniel Gros vom Thinktank Centre for European Policy Studies im DLF. Auch versuche sie damit, eine nationale Angelegenheit der EU-Mitgliedsstaaten "in ein gemeinschaftliches Korsett zu zwingen".
"2016-08-30T12:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:50:26.223000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/apple-entscheidung-der-eu-kommission-ein-schritt-in-100.html
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Bio-Welle im Fast-Food-Land
Frisch geerntete Cocktailtomaten und junge Möhren als Bio-Erzeugnis (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg) Wochenmarkt in Burlington im US-Bundesstaat Vermont. Pflaumen, Maiskolben, Tomaten und Zucchini türmen sich auf Tischen, in Holzkisten und Körben. Vor den Ständen herrscht Gedränge. Studenten mit Fahrrädern und Hausfrauen mit Einkaufskörben prüfen die Ware. In dem kleinen Städtchen am Lake Champlain unweit der kanadischen Grenze scheint die Zeit stillzustehen. Bauern aus der Gegend plaudern mit ihren Kunden und Delikatess-Händler präsentieren stolz ihre selbst gemachten Köstlichkeiten: handgeschöpfte Bio-Schokolade, eingelegte Essiggurken und hausgemachtes Kichererbsenpüree. "Wir verkaufen hier Humus. Selbst gemacht. Original Humus, Knoblauch-, Basilikum-, Paprika- und Peperoni-Humus. 100 Prozent natürliche Inhaltsstoffe, keine Zusatz- oder Konservierungsstoffe. Wir machen alles frisch." Sagt Händler Paul und strahlt über das ganze bärtige Gesicht. An seinem Stand ist es voll – alle wollen die Spezialität aus dem Mittleren Osten probieren. Aber die Leute kämen nicht nur zum Markt, um sich an den Essenständen zu amüsieren, sondern vor allem, um frisches Obst und Gemüse aus der Region zu kaufen, erzählt eine junge Kundin. "Dies ist wahrscheinlich der beste Wochenmarkt in ganz Vermont. Ich bin hier, weil ich die lokalen Bauern unterstützen möchte. Die haben es nicht leicht, sie müssen mit jedem Wetter zurechtkommen. Ich finde es auch gut, die Leute kennenzulernen, die meine Lebensmittel anbauen." Ungewohnte Töne in einem Land, das für Fast Food wie Hamburger und French Fries sowie für viele stark übergewichtigen Bewohner bekannt ist. Doch langsam entwickelt sich in den USA ein Bewusstsein für gesunde Ernährung. Dass sich noch immer große Teile der Bevölkerung vorwiegend von Pizza, Donuts und Eiscreme ernähren, hängt auch damit zusammen, dass sehr viele Amerikaner in sogenannten "Food Deserts" – auf deutsch "Lebensmittelwüsten" - leben: ärmliche und sehr ländliche Gegenden, in denen es kaum Frisches zu kaufen gibt. Fast-Food-Ketten wie McDonalds und Dunkin Donuts dominieren dort die Shoppingcenter. Supermarktregale sind vollgestopft mit Fertiggerichten und fett- und salzhaltigen Snacks. Hamburger: In Amerika sehr beliebt als Nahrungsmittel (picture alliance / dpa /dpaweb / Gero Breloer) Doch das alles beginnt sich gerade zu ändern. Naturkost-Supermärkte mit einem gigantischen Angebot an Bio-Lebensmitteln sprießen wie Pilze aus dem Boden. Die Öko-Supermarktkette Whole Foods zum Beispiel verzeichnet zweistellige Umsatzsteigerungen. Innerhalb weniger Jahre eröffnete sie in den USA 340 Filialen. Immer mehr Amerikaner kaufen Bio-Ware Viele Amerikaner sind nicht nur bereit, mehr Geld für frische Ware, Bio-Milch und -Fleisch auszugeben, sondern finden auch zum altmodischen Selbstkochen und Selbstbacken zurück – oder machen sogar ein kleines Geschäft daraus. Wie die Deutsch-Amerikanerin Heike Meyer. Nach Jahren in der Mega-Metropole New York lebt sie nun mitten auf dem Land, in Fairfax ganz in der Nähe von Burlington in Vermont. Sie und ihr Mann hatten genug von der Großstadthektik. Sie wollten im Einklang mit der Natur leben. Unweit der Green Mountains haben die Meyers Land gekauft. Sie bauen Gemüse an, halten Hühner und züchten Bienen, machen Ahorn-Sirup und haben in ihrem Häuschen eine Backstube eingerichtet. Dort backt Heike deutsches Brot, das sie auf dem Markt verkauft. Also, ich mache Brezeln, deutsche Brezeln, Scones, und ich mache Croissants, die auch sehr gut ankommen als Frühstückspastry." Wichtig ist der 45-Jährigen, dass alle Zutaten, die sie verwendet, biologisch sind und aus der Region stammen. Dafür, sagt sie, seien ihre Kunden auch bereit, ein paar Dollar mehr auszugeben. Nach zwei bis drei Stunden ist ihr Stand auf dem Markt regelmäßig ausverkauft. "Meine Kunden lieben den Aspekt, dass alles organic, also biologisch, ist. Dass alles handgemacht ist und dass ich lokales Mehl verwende. Dass ich also so viele Zutaten wie möglich lokal suche. Mehl von einer Farm, die hier in Vermont ist. Das ist ein sehr spezialisiertes Feld, aber ich habe eine Kundschaft, die das sehr liebt. Und die Nachfrage ist immens." Heike Meyers Lebensgefühl ist typisch für Neuengland. Die Bevölkerung im Nordosten der Vereinigten Staaten ist sehr liberal. Umweltschutz wird ernst genommen. Anders, als beispielsweise im Mittleren Westen, wo landwirtschaftliche Großbetriebe mit industrieller Massenproduktion dominieren, gibt es in den nordöstlichen Bundesstaaten unzählige kleine Bauernhöfe. Von den rund 28.000 Höfen sind die meisten Familienbetriebe. Und nicht wenige Kleinbauern haben sich entschieden, biologische Landwirtschaft zu betreiben. Das heißt: Ihre Erzeugnisse sind garantiert nicht genmanipuliert - und ohne chemisch-synthetische Pestizide oder Düngemittel. Garantiert öko sind auch die Cocktailtomaten, die Babykarotten und all das andere Gemüse, das auf der Halfpint-Farm in Vermont wächst. Bei Wind und Wetter bestellt das junge Ehepaar Welton sein Feld. Während Spencer Welton versucht, sich unter einer Plastikplane vor dem heftigen Regenguss zu schützen, erklärt er, warum sie sich auf ungewöhnliche Gemüsesorten spezialisiert haben. "Wir bauen alles an, was unsere Lieblingschefköche benutzen würden und was sie woanders nicht bekommen. Zum Beispiel Sommer-Kürbisse, ganz junge, also so groß wie ein Finger. Dann haben wir die französischen, grünen Bohnen und hier die alten Tomatensorten, grüne, gelbe, rote. Babykarotten und farbige Karotten: lila, gelb oder weiß." Sie seien zwar nicht als Bio-Bauernhof zertifiziert, fügt Spencer Weltons Frau Mara hinzu, das lohne sich nicht für kleine Betriebe. Das Geschäft brumme aber dennoch. Chef- und Hobbyköche würden ihnen ihre bunten Erzeugnisse aus den Händen reißen. "Die Nachfrage ist riesig. Bei den Leuten wächst wirklich das Bewusstsein für regionale und biologische Landwirtschaft. Das ist ein unendlich großer Markt für uns. Weil wir einen Stand auf dem Markt haben, können wir mit unseren Kunden direkten Kontakt pflegen. Und jedes Jahr wird die Nachfrage größer und größer und größer." Auch in den Großstädten an der amerikanischen Ostküste rollt die Öko-Welle. In der Millionenmetropole New York treibt der Bio-Hype mitunter merkwürdige Blüten. "All organic" – alles bio - heißt es mittlerweile nicht mehr nur in den Gemüseabteilungen der Supermärkte, sondern auch in Drogerien und in vielen Szene-Restaurants und Cafés. Das Label "organic" steht für gesund, vital und zeitgemäß. Wohl auch deswegen gibt es schon Bio-Hundefutter, Bio-Zahnpasta und Bio-Reinigungen. In den zahlreichen New Yorker Naturkostläden bilden sich regelmäßig lange Schlangen an den Kassen. In einem von ihnen, der Food-Coop in Brooklyn, muss man Mitglied werden und sogar mitarbeiten, um dort günstig und gesund einkaufen zu dürfen. Rebecca, eine junge Mutter mit Kleinkind, hat ihre Gründe, warum sie nur hier shoppen geht. "Die Ware hier ist wirklich frisch und aus der Gegend. Es gibt alles entsprechend der Jahreszeit. Und deshalb schmeckt es auch besser. Wichtiger, als Bio-Ware, sind für mich regionale Produkte. Wir versuchen, von kleinen und lokalen Produzenten zu kaufen." Urban Gardening - ein Trend auch in New York (picture alliance / dpa / Christina Horsten) Das neue Bewusstsein für gesunde Ernährung geht einher mit einer Begeisterung fürs Kochen. Quasi als Gegentrend zur gigantischen Restaurantvielfalt in New York entdecken derzeit vor allem junge Leute die Freude am Selbstkochen. Im US-Fernsehen boomen Kochshows seit Langem. Aber Kochkurse – je exotischer desto besser – sind im Big Apple noch ein relativ neuer Trend. Und so üben sich junge Wall-Street-Banker in Marmelade kochen, Gemüse einwecken und ayurvedischer Küche. Essen und gesunde Ernährung hätten einen hohen Stellenwert für die jüngere Generation, erklärt Carolyn Dimitri, Ernährungswissenschaftlerin an der New York University. "Für die jungen Leute geht es nicht nur darum, in den Laden zu gehen und einzukaufen. Sie entwickeln eine Koch-Leidenschaft und wollen besondere Dinge machen, zum Beispiel Einwecken oder Bierbrauen. Vielleicht, weil diese Generation die Erfahrung in der Kindheit nicht gemacht hat. Deshalb haben sie Sehnsucht danach." Urban Farming ist ein Trend in New York Vom Einwecken zum Selberanbauen ist es nicht weit. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass sich in New York der Trend zum "Urban Farming" durchsetzt. Auf den städtische Dächern von Wolkenkratzern, Hotels und Lagerhäusern wachsen Tomaten und Kräuter oder scharren Hühner im Dreck. Das Waldorf-Astoria unterhält auf seinem Dach einen Bienenstock. Mit dem Honig verfeinert der Koch des Hauses Süßspeisen, Soßen und Cocktails – und die Gäste lieben es. Wildkräuter und essbare Blumen im selbst gepflückten Blattsalat sind gleichzeitig Früchte des sogenannten "Foodie-Movements", einer Gourmet-Bewegung, die sich in den USA immer weiter verbreitet und viele Junkfood gewöhnte Amerikaner in kultivierte Feinschmecker verwandelt hat. Union Square, Manhattan. Der Farmers Market gehört zu den schönsten Märkten New Yorks. Rund 140 Wochenmärkte gibt es mittlerweile in den fünf Bezirken der Stadt, Tendenz steigend. Gourmets, Hobbyköche und ganz normale New Yorker kommen hierher und schwelgen in Bio-Weinen aus Long Island, zuckerfreiem Müsli und handverlesenem, knackig frischem Gemüse. "Diese Woche kaufe ich Baby-Fenchel, Pak Choi, Tomaten, grüne Erbsen, Frühlingszwiebeln. Und diese japanische Steckrüben sind wunderbar. Und dann natürlich hiesiger Fisch. Fisch ist wirklich ein Schnäppchen hier." Sagt dieser aus Großbritannien zugezogene New Yorker. Noch vor zehn Jahren seien hochwertiges Obst und Gemüse Mangelware gewesen, erzählt er, alles sei in Plastik eingeschweißt und äußerst geschmacklos gewesen. Auch er beobachte ein Umdenken bei den Amerikanern, was ihre Ernährung angehe. "Auf jeden Fall wächst das Bewusstsein für Bio – vielleicht ist es nicht so groß wie in Europa, aber es entwickelt sich." Nebenan hat der Öko-Bauer Robert Giles seinen Gemüsestand. Er besitzt einen kleinen Bio-Bauernhof in Hamden, Upstate New York, und kommt zweimal in der Woche in die Großstadt, um seine Ware zu verkaufen. Es regnet in Strömen. Unter einer Plane liegen grüner Spargel, Grünkohl, Gurken, Rucola und Salatköpfe. Auch Robert Giles hat festgestellt, dass immer mehr Menschen beim Einkaufen Wert legen auf gute Qualität. Immer mehr Zulauf auf Wochenmärkten "Vor allem lokale Erzeugnisse boomen. Bio auch, aber nicht so sehr. Was mich mehr überrascht, ist, dass die Bio-Bewegung in den USA seit Jahren stetig zunimmt. Wahrscheinlich langsamer als in Europa, aber sie wird immer wichtiger in der Landwirtschaft." In den USA mache die biologische Landwirtschaft weniger als vier Prozent des Handelsvolumens aus, sagt die Wissenschaftlerin Carolyn Dimitri. "Die Bio-Bewegung wird wohl nie die Hälfte des Agrarmarktes erreichen, aber ich würde sagen, sie ist gereift. Eine Zeit lang wuchs sie 18 Prozent pro Jahr. Und jetzt hat sie sich bei sieben bis zehn Prozent pro Jahr eingependelt. Sie ist vielleicht noch nicht ganz erwachsen, aber so im besten Alter." Bei Robert Giles auf dem Wochenmarkt mitten in Manhattan sind die grünen Salatköpfe makellos. Aber die gesunde Frischkost hat auch ihren Preis. 3,50 Dollar für den Bund Rucola, 2,50 Dollar pro Salatkopf. "Geld ist natürlich ein Thema, aber ich habe das starke Gefühl, dass wir unsere Nahrungsmittel neu bewerten müssen. Wir haben sie durch Massenproduktion unglaublich billig gemacht, auch, indem wir Chemikalien verwenden und Produkte anbauen, die wir in Fertigprodukten weiterverarbeiten - Weizen, Mais, Soja oder genmanipulierte Ware." Der oft hohe Preis für hochwertige Lebensmittel ist gerade für die unteren Gesellschaftsschichten ein Grund, eher zum Burger als zu Bio-Möhren zu greifen. Deshalb sind ernährungsbedingte Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Bluthochdruck vor allem in der ärmeren Bevölkerung – in den USA sind es oft Hispanics und Afroamerikaner – weit verbreitet. Die New Yorker Gesundheitsbehörde hat deswegen das sogenannte "Health Bucks"- Programm eingeführt: billigeres Einkaufen mit Lebensmittelmarken auf den Märkten. "Das Ziel ist, neue Kunden für die Märkte zu gewinnen und gleichzeitig den Profit der Bauern zu erhöhen. Das funktioniert so: Für jeden 5-Dollar-Lebensmittelgutschein bekommt man noch einen Zwei-Dollar-Coupon, den man dann für Obst und Gemüse ausgeben kann. Wir hoffen, dass es langfristig einen Anreiz für die Menschen gibt, auf den Märkten einzukaufen. Im Moment ist es viel einfacher, einfach irgendwo Chips zu kaufen." Projekt für ärmere Bevölkerungsschichten Sagt Alexis Stevens, Projektmanagerin bei Greenmarket, dem Zusammenschluss aller Wochenmärkte in New York. Auch sie steht jeden Samstag auf dem Farmers Market am Union Square, um Menschen über das Health Bucks- Programm zu informieren. Denn ökologisches Bewusstsein und gesunde Ernährung hätten auch etwas mit Bildung zu tun, erklärt sie. "Es scheint so zu sein, dass besser ausgebildete und besser verdienende Menschen sich besser ernähren. Das ist nicht immer so, aber es gibt eine Korrelation zwischen Armut und Übergewicht. Die andere Sache ist, dass es in Gegenden wie der South Bronx einfach keine vernünftigen Supermärkte gibt." Die Bemühungen der Behörden sowie Aufklärungskampagnen an Schulen zeigen erste Wirkung. Selbst in Gegenden, die bislang als Lebensmittelwüsten galten, wird der Zugang zu frischer Ware allmählich leichter. Nach einer neuen Studie geht extremes Übergewicht bei amerikanischen Kindern erstmals langsam zurück. Im Green Mountain State Vermont, der grünen Keimzelle der USA, haben nur wenige Menschen Übergewicht. Kentucky Fried Chicken sucht man hier vergeblich. Und selbst die typischen amerikanischen Malls mit den gigantischen Supermärkten gibt es kaum. Es müsse nicht unbedingt Bio sein, sagt diese Kundin auf dem Markt in Burlington und spricht damit ganz vielen US-Bürgern aus der Seele. Aber wichtig sei, dass die Lebensmittel aus der Region und nicht von irgendwoher stammten. Herbstlicher Blick über den Lake Rescue bei Ludlow im US-Bundesstaat Vermont. (picture alliance / dpa / Kurt Scholz) "Ich weiß, dass jeder Bauer hier so wenig Dünger und Pestizide wie möglich einsetzt. Selbst, wenn sie ihre Erzeugnisse nicht Bio nennen, kann ich sicher sein, dass sie ohne Chemie sind. Und diese Sicherheit habe ich im Supermarkt nicht." Heike Meyer und ihr Mann haben sich nicht umsonst Vermont als Platz zum Leben ausgesucht. Hier fühlen sie sich zu Hause – und womöglich fast ein bisschen wie zu Hause in Deutschland. "Vermont ist ein Flecken der Erde, der sich sehr unterscheidet vom Rest von Amerika. Also, die Amerikaner nennen es ja gerne so einen Hippie State, wo viel passiert mit Farming und Lebensmittel anbauen, ökologisch anbauen. Die Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln ist hier wesentlich höher als im Rest von Amerika. Und deshalb ist es eigentlich ein wunderschöner Platz zum Leben, denn wenn man einen eigenen Garten haben möchte und auf Märkten verkaufen, dann kann man das hier leben." In Sachen biologisch-ökologisches Ernährungsbewusstsein hat Deutschland den USA ausnahmsweise einmal etwas voraus. Aber auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist zumindest der Samen für neues Denken – und Essen – gesät. Die nächsten Jahre werden zeigen, welche Früchte er trägt.
Von Claudia Sarre
Immer häufig kaufen Amerikaner auf Wochenmärkten regionale oder Bio-Ware. Kochkurse boomen. Erstmalig ist so die Fettleibigkeit unter amerikanischen Kindern rückläufig.
"2014-01-05T18:40:00+01:00"
"2020-01-31T13:20:28.981000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-bio-welle-im-fast-food-land-100.html
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"Die Türkei steht vor den Scherben ihrer Außenpolitik"
Ein Panzer fährt an der türkisch-syrischen Grenze nahe Reyhanli in der Provinz Hatay. (dpa-Bildfunk / EPA / TOLGA BOZOGLU) Ann-Kathrin Büüsker: Über die türkisch-syrische Grenze gehen derzeit die Geschosse hin und her, aus Syrien in die Türkei und vor allem zurück. Den ganzen Morgen gingen entsprechende Meldungen hier bei uns ein. Seit gestern Abend geht das so. Die Türkei greift seit gestern Ziele im türkischen Grenzgebiet an, kurdische Ziele, aber auch Stellungen von Daesh, dem selbst ernannten Islamischen Staat. Über die türkische Außenpolitik mit Blick auf Syrien möchte ich nun mit Kristian Brakel sprechen, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Guten Tag, Herr Brakel. Kristian Brakel: Guten Tag. Büüsker: Herr Brakel, wer ist aus Sicht der Türkei das größere Problem im Norden Syriens, die Kurden oder Daesh? Brakel: Ganz lange war die Rhetorik in Ankara ganz eindeutig. Da hat man gesagt, die PKK ist das größere Problem. Das ist sicherlich ein Reflex, auf den man zurückfällt. Darauf hat sich das Sicherheits-Establishment in der Türkei seit vielen Jahrzehnten eingeschossen. Und jetzt langsam hat man realisiert, dass man beider Gefahren Herr werden wird, denn die Terroranschläge in der Türkei gehen ja von beiden Gruppierungen aus. "Es wäre möglich, auf die PKK zuzugehen" Büüsker: Aber die Kurden, die kämpfen ja im Norden Syriens auch gegen Daesh. Da ist es doch irgendwie kontraproduktiv, wenn die Türkei jetzt weiterhin auf die schießt. Brakel: Ja. Die Türkei hat das Problem, dass sie sehr unterschiedliche Interessen hat. Sie hat wie gesagt ein Terrorproblem in der Türkei, das von PKK-Gruppierungen ausgeht, der türkischen PKK, und dann aber auch von Daesh selber, und man kann das sehr schwierig zusammenbringen. Öffentlich sagen sie immer, dass sie gegen jede Form von Terrorismus sind. Das ist natürlich eine Überdeckung der Tatsachen, dass natürlich diese beiden Gruppierungen sehr viel unterscheidet und dass es zum Beispiel auch möglich wäre für die türkische Regierung, auf die PKK zuzugehen in der Türkei und dadurch eine Befriedung herbeizurufen. Etwas, was mit Daesh so natürlich nicht möglich ist. Büüsker: Das heißt, es gibt gar keine klar erkennbare Strategie? Brakel: Es gibt eine Strategie, aber es ist ein Herummanövrieren, und Sie wissen natürlich auch jetzt nach dem Putschversuch in der Türkei, in der das Militär stark umstrukturiert wird, steht die Türkei selber vor den Scherben ihrer Außenpolitik der letzten Jahre, und sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch hat man eine sehr instabile Situation und man hat sich selber auch in verschiedene Sackgassen manövriert. Denn zum Beispiel dieses Vorgehen gegen die PKK - um die wirklich zu ächten, um die wirklich auch auszuschließen vom weiteren Vordringen in Syrien, müsste man ja die Amerikaner auf seine Seite ziehen, und das ist bisher noch nicht gelungen. "Ein Vier-Fronten-Krieg wird der Türkei langfristig nicht gelingen" Büüsker: Das heißt, es wäre jetzt vielleicht ein viel besserer Schritt, auf die Kurden zuzugehen und gemeinsam mit denen zu arbeiten? Brakel: Ja. Es gab kurz nach dem Putschversuch die Hoffnung, dass das vielleicht geschehen könnte. Es hat auch vorsichtige Signale gegeben, zumindest vom Premierminister, nicht so sehr vom Präsidenten, der sich sehr stark festgelegt hat, dass er das nicht möchte. Allerdings hat die PKK auch wieder Fakten geschaffen, die es der türkischen Regierung nicht besonders leicht machen. Es hat in den letzten Wochen sehr schwere Anschläge gegeben, unter anderem im Südosten der Türkei vor allen Dingen, bei denen mehrere Zivilpersonen verletzt worden sind. Die PKK betont zwar, dass sie zu einem Waffenstillstand bereit wäre mit Vorleistungen der Türkei, aber das ist auf jeden Fall etwas, was nicht so einfach ist. Aber ja, möglich wäre es wahrscheinlich. Büüsker: Die Türkei betont ja immer wieder, dass all die Maßnahmen auch jetzt nach dem Putsch gemacht werden, um Terrorismus zu bekämpfen. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, destabilisiert sich das Land dadurch eigentlich im Grunde immer mehr. Und wird es dadurch auch anfälliger für Terrorismus? Brakel: Sicherlich ist es so, dass das ja auch eine Strategie ist, auf die der Islamische Staat setzt. Viele dieser Anschläge und auch der letzte Anschlag, den wir jetzt in Gaziantep gesehen haben, die richten sich ja vor allen Dingen gegen Oppositionelle und vor allen Dingen viel gegen kurdische Oppositionelle. Wir haben ja auch gehört, dass zum Beispiel diese Hochzeit wohl maßgeblich von Mitgliedern der HDP getragen wurde, der prokurdischen Partei hier. Das ist schon eine Strategie, wo man versucht, schon vorhandene ethnische und politische Spannungen auszunutzen und die weiter voranzutreiben. Das bedeutet, wenn die Türkei eine Strategie fahren würde, die stärker auf Versöhnung setzen würde, auch wenn diese wie gesagt nicht leicht ist und auch wenn die PKK einen maßgeblichen Anteil an diesem jetzigen Konflikt hat, dann würde das sicherlich zur Befriedung des Landes beitragen. Die Situation, die wir im Moment haben, einen Vier-Fronten-Krieg, das ist sicherlich nichts, was der Türkei langfristig gelingen wird. Abstriche bei der Haltung zu Assad Büüsker: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es im Norden Syriens für die Türkei jetzt vor allem auch darum, innere Interessen durchzusetzen. Wie positioniert sich die Türkei derzeit zum syrischen Machthaber Assad? Brakel: Grundsätzlich ist die Haltung zum Assad-Regime immer noch die gleiche. Man ist der Ansicht, dass Assad abtreten muss. Man ist der Ansicht, dass dieser Krieg beendet werden muss und dass das Assad-Regime der Hauptgrund ist, dass dieser Krieg immer noch andauert. Ich denke, damit liegt man auch nicht falsch. Man hat aber in der türkischen Außenpolitik jetzt in den letzten zwei Monaten schon ein starkes Zurückrudern gesehen. Man besinnt sich wieder darauf, dass man außenpolitisch in erster Linie die Sicherheit der eigenen Grenzen schützen will, dass die Türkei, die ja dieses massive Flüchtlingsproblem hat hier im Land, dass man da vor einer Zerreißprobe steht. Und aus diesem Grund ist man auch bereit, Abstriche zu machen. Man hat jetzt zum ersten Mal gesagt seit fünf Jahren, dass es möglich wäre, dass Präsident Assad zumindest für eine Übergangszeit im Amt bleibt. Das ist ja etwas, worauf sich auch viele westliche Kräfte inzwischen eingelassen haben. Man ist nur noch nicht soweit zu akzeptieren, dass Assad wirklich an der Macht bleiben kann, was ja zumindest immer noch der Kurs ist, den Russland und der Iran vertreten. Man geht ganz intensiv sowohl auf die Russen zu als auch auf die Iraner. Präsident Erdogan wird diese Woche wahrscheinlich in Teheran erwartet. Aber trotzdem: Die Interessengegensätze sind immer noch sehr, sehr stark und ich bin nicht sicher, was den Türken da gelingen wird, denn die Türken sind natürlich auch abhängig von anderen, unter anderem von Saudi-Arabien. Man kann sicherlich nicht zu sehr auf den Iran zugehen, ohne die Saudis damit zu verprellen. Büüsker: Sagt Kristian Brakel, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Brakel. Brakel: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kristian Brakel im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker    
In der Türkei wird an vielen Fronten gekämpft: im Inneren gegen PKK und Gülen-Bewegung, im Äußeren gegen IS. In diese Situation habe sich das Land auch selbst manövriert, sagte Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, im DLF. Ein Problem seien die unterschiedlichen Interessen des Landes.
"2016-08-23T13:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:49:02.768000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/terrorismus-fluechtlinge-syrien-krieg-die-tuerkei-steht-vor-100.html
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Hoffnung auf Zuflucht in Deutschland
Taliban-Kämpfer an einem Checkpoint in Kabul (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Khwaja Tawfiq Sediqi) Kabul, die Hauptstadt von Afghanistan in diesen Tagen. An einem Verkehrskreisel winkt ein Taliban-Kämpfer Autos an die Seite. Zu seinem Turban trägt er einen Kampfanzug in Tarnfleck, in einer Hand hält er ein amerikanisches Sturmgewehr. In den Kofferraum müsse er mal reinschauen, sagt er. Wer nichts im Schilde führe, brauche sich nicht zu sorgen. Er sei nur für die Sicherheit zuständig, fahnde nach Dieben und Terroristen des „IS“. „Als wir in Kabul ankamen, waren die Leute etwas ängstlich. Sie hielten uns für unzivilisiert. Aber jeden Tag mehr begreifen sie, dass wir ganz anders sind. Wir mögen die Menschen hier – und sie sind auch glücklich, dass wir jetzt da sind.“ Fast ein halbes Jahr auf der Flucht im eigenen Land Die Frau, die unweit vom Checkpoint auf uns wartet, ist keine Diebin und gehört auch nicht zur Terrororganisation „IS“. Und doch: Nichts fürchtet sie so sehr wie eine derartige Kontrolle. Taliban-Kämpfer durchsuchen Autos von Zivilisten (picture alliance / dpa / ASSOCIATED PRESS | Felipe Dana) „Früher haben die Taliban noch offizielle Drohbriefe geschickt, mit Briefkopf und Siegel des Emirats. Aber inzwischen rufen sie an, sie geben uns die Wahl, entweder, uns zu stellen oder von ihnen getötet zu werden. Sie melden sich direkt von ihren Telefonen, mit unterschiedlichen Nummern. Dabei stellen sie sich sogar namentlich vor: „Wir kennen euch und ihr kennt uns. Wir wissen auch, wo ihr euch aufhaltet. Bald kommen wir euch holen!“  Sie tun so, als ob sie wissen, wo wir uns gerade aufhalten. Das ist der Grund, weshalb wir alle in der Familie ständig die Wohnung wechseln.“ Golzom Rezaee ist Anfang 40. Sie trägt eine Brille und hat sich ein schwarzgelbes Tuch locker um die Haare gebunden. In einer Trabantenstadt Kabuls, in einer von vielen gleichförmigen Wohnungen, kauert auf sie einem Teppich. Neben sich eine Thermoskanne mit Tee, hinter sich die Reisetasche, aus der sie lebt. Alle paar Tage müsse sie die Unterkunft wechseln, erzählt sie, aus Sicherheitsgründen. Die Sim-Karte ihres Handys müsse sie ständig erneuern. Es dauere nie lange, bis die Taliban sie wieder aufspürten und sich meldeten. Vor fünf Monaten war Rezaee noch Abgeordnete im Provinzparlament von Ghor, Zentralafghanistan. „Ich war für die Rechte von Frauen und Kindern zuständig, in einer Provinz die ziemlich unterentwickelt ist. Dort gibt es viele Minderjährige, die zur Heirat gezwungen werden. Ich habe mich immer gegen solche Zwangsehen engagiert. In einem Fall zum Beispiel wurden wir tätig, als ein Mädchen gezwungen wurde, einen Taliban-Kämpfer zu heiraten. Wir versuchten, sie von diesem Talib wegzuholen und sie wieder zu ihrer Familie zu bringen.“ Viele afghanische Frauen sind seit der Machtübernahme auf der Flucht vor den Taliban (picture alliance / abaca | Samiloglu Selcuk/Demiroren Visual Media/ABACA) Seit August 2021, seit der Machtübernahme der Taliban, ist Golzom Rezaee nun schon auf der Flucht im eigenen Land. Und so wie ihr, sagt sie, gehe es auch anderen Frauen aus den Provinzparlamenten. Über ihren Laptop setzt sie uns mit einer Kollegin in Verbindung, mit Nufisa Huran, Abgeordnete des Lokalrats von Logar, einer Provinz im äußersten Osten. Bereits 2020 wurde sie dort von Taliban angeschossen und schwer verletzt. Noch immer erhole sie sich von den Folgen, erzählt Huran. Die Verletzung mache es ihr schwer, ständig auf der Flucht zu sein. „Seit die Taliban Kabul erobert haben, bin ich bis jetzt in sechs verschiedenen Unterkünften gewesen, nur um mein Leben zu retten. 2020 bin ich von den Taliban angeschossen worden und habe acht Monate im Krankenhaus in Kabul gelegen. Um aus Afghanistan rauszukommen, habe ich die Internationale Organisation für Migration schon längst per Mail um Hilfe gebeten. Aber bisher ohne Antwort. Mein Name ist bisher auf keiner Evakuierungsliste.“ Das „Ministerium zur Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ dominiert die Politik Golzom Rezaee und Nafisa Huran sind zwei Abgeordnete aus der Provinz. Sie wirken erst einmal unscheinbar, zu unwichtig, könnte man meinen – die beiden Frauen widersprechen. Ihr Gesellschaftsmodell, also das, wofür sie sich engagierten, unterscheide sich ganz grundsätzlich vom Modell der Taliban. Tatsächlich zeichnet sich immer klarer ab, was unter diesem neuen „Islamischen Emirat Afghanistan“ zu verstehen ist. Repräsentiert wird es vor allem durch eine Institution: Das „Ministerium zur Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“. Untergebracht ist es in den Räumen des Frauenministeriums, das abgeschafft wurde. Der Sprecher des Ministeriums ist der Religionsgelehrte Maulana Sadiq Akif. Er behauptet: „Ich bin überzeugt: Die Regierung, die wir jetzt aufbauen, wird sich zum Musterbeispiel für die ganze Welt entwickeln. Denn im Islam steht jedes Recht bereits geschrieben. Alles ist dort schon festgelegt: Was die Rechte der Menschen sind, und was die Aufgaben des Staates.“ Mehr zum Thema: Welche Strategie verfolgen die Taliban? Die Taliban waren nie ganz weg Taliban, IS und Co.Die Rivalität der Islamisten in Afghanistan Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern – im neuen „Islamischen Emirat Afghanistan“ soll es nicht auf einem Gesellschaftsvertrag aufbauen, den Menschen miteinander abgeschlossen haben, mit einklagbaren Rechten vor Institutionen, die ebenfalls von Menschen geschaffen wurden. Nein, Gott ist der Souverän. Und wer sich gegen Gott stellt, begeht, so jedenfalls die Logik des Tugendministeriums, keinen Gesetzesverstoß, sondern eine Sünde. Wie aber zu verstehen ist, was Gott sagt und wie eine Sünde auf Erden dann gesühnt werden kann, genau das festzustellen, sei die Aufgabe des Tugendministeriums, so sein Sprecher. Viel Macht also in den Händen von wenigen. „Wenn Bürger unislamisch handeln, dann besteht unser erster Schritt darin, die Betreffenden zu islamischem Verhalten zu ermutigen. Sollten sie nicht Folge leisten, erfolgt der zweite Schritt, die Warnung: Ändere dein Verhalten! Das wiederholen wir dann auch im dritten Schritt. Im vierten Schritt schicken wir einen Brief, in dem geschrieben steht: Wir haben Sie bereits gewarnt und dennoch fahren Sie mit Ihrem Verhalten fort! Wenn der Betreffende auch darauf nicht reagiert, lasse ich ihn verhaften und behalte ihn für 24 Stunden ein. Anschließend überstelle ich ihn den Sicherheitsbehörden, damit sie den Fall weiter untersuchen.“ Dissidenten in Lebensgefahr Sich in die angebliche Obhut der Taliban begeben. Sich dort offenbaren, ein mögliches Fehlverhalten eingestehen. Auf Barmherzigkeit hoffen und Besserung geloben – diesem Muster folgend laden unterschiedliche Repräsentanten des neuen Taliban-Regimes Angehörige der Zivilgesellschaft gezielt vor: Aus der Politik, dem Bildungssektor, den Medien. Menschenrechtler und Aktivistinnen. Wir treffen in Kabul einen Journalisten, der untergetaucht ist. Er zeigt uns ein Originalschriftstück. Es wurde von seinem Vater unterzeichnet und richtet sich an den Taliban-Gouverneur seiner Heimatprovinz. „Euer Exzellenz! Ich, Piepton, Einwohner der Provinz Parwan und zurzeit wohnhaft in Baghlan gebe im Beisein von Zeugen und im Namen Allahs Folgendes zu Protokoll: 'Wann immer ich Informationen über den Aufenthalt meines Sohnes, Piepton, Journalist und Menschenrechtsaktivist in Afghanistan, erhalte, werde ich die Gotteskrieger des Islamischen Emirats Afghanistan in Baghlan oder allen anderen Orten Afghanistans darüber informieren.'“ Neben der Unterschrift des Vaters steht auch die des Taliban-Gouverneurs der Provinz, die eines prominenten Stammesführers und die eines namhaften Geistlichen. Der Unterzeichnende und alle Zeugen bürgen außerdem mit ihren Fingerabdrücken. Was dem Papier nicht zu entnehmen ist, so die Angaben des Untergetauchten: Der Vater war verhaftet worden, musste in der Haft eine angeblich „freiwillige“ Erklärung abgeben, den eigenen Sohn zu denunzieren. Der Vorgang macht deutlich, dass sich hinter der vorgeblichen Attitüde eines Dialogs anderes verbirgt – dass nämlich diejenigen dingfest gemacht werden sollen, die das „Islamische Emirat Afghanistan“ als Bedrohung seiner Ideologie wahrnimmt. Bismillah Rahimi ist ebenfalls Journalist, versteckt sich derzeit in einem geheimen „Safe-House“ für verfolgte Medienvertreter. Auch er wird immer wieder aufgefordert, sich an seinen Heimatort nach Baghlan zu begeben – zur Klärung eines Sachverhaltes, wie es heißt. „Sie sagen: ‚Kommen Sie nach Baghlan. Wir haben einige Fragen an Sie‘. Aber wenn ich zurückgehe, dann bringen sie mich um.“ Neben ihm sitzt der Schriftsteller und Journalist Mohammed Jan. Wegen seiner Satiren, in denen er die Islamauffassung der Taliban und ihre mittelalterlichen Körperstrafen aufs Korn nimmt, bezeichneten ihn Geistliche per Rechtsgutachten als „Abtrünnigen“ – was für Hardliner einem Tötungsaufruf gleichkommt. „Ich muss hier weg. Solange die derzeitige Situation anhält, habe ich keine Chance. Mein Gesicht ist bekannt. Im Augenblick kann ich mich nur verstecken. Sobald die Taliban erfahren, wo ich mich aufhalte, werden sie kommen und mich hier rausholen. Und wenn die Taliban-Regierung länger andauert, dann wird auch unser Safe-House irgendwann geschlossen werden müssen. Und was dann? Dann ist es ohnehin aus.“ Zuflucht in Deutschland? Viele Vertreterinnen und Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft hoffen, den Zuständen entfliehen und ausreisen zu können. Viele von ihnen hoffen vor allem auf ein Land: Die Bundesrepublik Deutschland. Doch sind ihre Hoffnungen berechtigt? Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. „Natürlich ist es die erste Priorität einer jeden Regierung den eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern und zu helfen, denen bei der Ausreise zu helfen, ihren Familien zu helfen“, sagte Niels Annen. Er war während der Umbruchphase im Sommer 2021 als Staatsminister im Auswärtigen Amt für Afghanistan zuständig. „Aber Deutschland hat auch aus seiner eigenen Verantwortung heraus gesagt: Es gibt Personen, die sind keine deutschen Staatsbürger, die haben vielleicht auch nicht für deutsche Organisationen gearbeitet, aber die waren in Afghanistan so sichtbar in ihrer Arbeit für ein demokratisches Afghanistan. Wir konnten jetzt viele dieser Menschen auch mit ihrer Kernfamilie nach Deutschland bringen.“ Seit den Friedensgesprächen mit den Taliban in Doha, spätestens aber seit der von Präsident Biden gesetzten Deadline für den Rückzug des US-Militärs bis zum September 2021 zeichnete sich Zweierlei immer deutlicher ab: Dass auch alle anderen NATO-Partner ihre Truppen abziehen würden. Und dass dann die afghanische Zivilgesellschaft bedroht sein würde. War die inzwischen abgewählte schwarz-rote Bundesregierung tatsächlich so wenig vorbereitet? Längst nicht alle Menschen hatten das Glück, im Chaos der Machtübernahme ein Flugzeug besteigen zu können (imago / Xinhua) Ruben Neugebauer von der Nichtregierungsorganisation „Kabul Luftbrücke“: „Ja, das war schon eine Überraschung. Dass dieser Zusammenbruch so schnell stattfindet, das habe ich auch nicht erwartet. Wo die Anzahl, die sich bei uns in unsere Listen eingetragen haben, innerhalb von Stunden quasi explodiert ist – und das deutet doch alles ein bisschen darauf hin, dass sehr, sehr viele Menschen auch in Afghanistan die Lage anders eingeschätzt haben und dass sich dadurch eine Krise ergeben hat, die in der Zuspitzung dann auch für uns, mit der wir versucht haben, so gut wie möglich umzugehen.“ „Kabul Luftbrücke“ hat sich zum Ziel gesetzt, bedrohten Afghanen bei der Ausreise zu helfen. Die angebliche Überraschung nimmt Neugebauer Politikern wie Niels Annen nicht ab. Er wirft dem Stab im Auswärtigen Amt – zu dem Zeitpunkt noch unter der Leitung von Außenminister Heiko Maas – Versagen vor. Im Vorfeld der Machtübernahme durch die Taliban sei die Gefährdungslage in Afghanistan bewusst heruntergespielt worden: „Ich würde sagen: Das Auswärtige Amt hat da mitgemacht. Da wurden Lageberichte im Auswärtigen Amt geschönt. Allerdings ist klar, wo der Druck herkam: aus dem Innenministerium. Ich glaube, man wollte weiter abschieben, man wollte diesen rechten Diskurs im Wahlkampf noch befeuern. Und wenn man gleichzeitig gefährdete Personen evakuiert hätte, dann hätte man ja nicht argumentieren können, dass man weiter abschiebt.“ Für Neugebauer ist es unverständlich, dass die Risiken des Abzugs samt dem Szenario von Evakuierungen nicht mindestens durchgespielt und mit eingeplant wurden. „Ich glaube, dass viel von dem Chaos vermeidbar gewesen wäre, wenn man sich zumindest mit dieser Option ernsthaft auseinandergesetzt hätte vorher. Und das hat eben gefehlt. Was dann zu diesem extremen Chaos dann am Flughafen geführt hat, was dann wirklich auch tödlich war.“ Evakuierungen im Chaos der Machtübernahme Das Chaos am Flughafen. Wie kaum etwas Anderes wurden die Bilder davon – nicht nur für Deutschland, sondern für den Westen insgesamt – zum Inbegriff des Scheiterns. „Vier Tage lang haben wir versucht, bis zum Eingangstor zu kommen. Am ersten und am zweiten Tag, als wir uns zum Flughafen aufmachten, sahen wir Tausende von Menschen, die zu fliehen versuchten. Die Tore waren zu. Die Taliban kontrollierten den ersten Sperrgürtel. Sie schossen in die Luft, um die Menschenmenge aufzulösen. Aber trotzdem, die Leute versuchten, immer noch raus zu kommen.“ Amir Akbari, ARD-Mitarbeiter in Kabul, war einer der ersten, die gleich im August 2021 auf die Evakuierungslisten kamen. Was ihm zunächst nur wenig half. Denn die Frage war, wie er zu den deutschen Repräsentanten im Inneren des Flughafens überhaupt vordringen sollte. „Mein Kind bekam es mit der Angst, weil die Taliban in die Luft feuerten, damit die Leute nicht noch näherkamen. Zehntausende drückten von außen auf die Eingangstore. Am Ende teilte ich der deutschen Botschaft mit: Ich gehe nicht! Denn wenn ich auf diese Weise versucht hätte, an eins der Tore zu gelangen, hätte ich vielleicht mein Kind verloren. Die Taliban schossen überall in die Luft, und es gab Tote.“ Die USA haben den Flughaben von Kabul in der chaotischen Zeit kontrolliert (Wali Sabawoon/AP/dpa) Doch dann, Tage später, begann die von Berlin aus geplante Evakuierung zu greifen. „Ich erhielt einen Anruf von den Mitarbeitern der Botschaft. Und ich konnte es nicht glauben: wir kamen raus, innerhalb von zwei Tagen. Ohne Pässe zu haben, ohne Visa. Wir wurden alle zum Flughafen gefahren, von einer privaten Firma, einer Sicherheitsfirma im Auftrag der Deutschen Botschaft. Sie brachte uns bis dicht vor die Tore, wo wir Tausende von Menschen warten sahen. Die Taliban waren am ersten Tor und wollten niemanden durchlassen. Aber als der Typ von der Sicherheitsfirma mit ihnen sprach, sagten sie: OK, lasst sie durch. Sobald wir im Innenbereich des Flughafens waren, war alles klar. Wir hatten es geschafft.“ Im Rückblick betrachtet Akbari seine Evakuierung als Erfolgsgeschichte. Er hat mittlerweile Asyl bekommen, lebt zusammen mit seiner Familie in einer Übergangsunterkunft in Niedersachsen. Das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben bis zum Jahreswechsel rund 10.000 Personen aus Afghanistan evakuiert, zum größten Teil eigene, also deutsche Staatsangehörige, dann militärische oder zivile Ortskräfte deutscher Institutionen. Wie aber steht es um die anderen? Um Menschen, die SPD-Außenpolitiker Niels Annen der sogenannten „dritten Kategorie“ zugeordnet hat, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft also. Bis zum Ende der militärischen Evakuierung am 26. August 2021 ordnete das Auswärtige Amt 2600 Menschen dieser Kategorie zu. Evakuieren konnte die Bundeswehr nur einen Teil von ihnen. Ruben Neugebauer, Sprecher der Nichtregierungsorganisation „Kabul Luftbrücke“, weist auf einen weiteren Umstand hin: „Man hat dann die Listen geschlossen, und es gibt halt sehr viele, extrem gefährdete Menschen, die es in diesem kurzen Zeitfenster, wo Listen geführt worden sind, dann nicht mehr drauf geschafft haben.“ Hilferufe über Whatsapp Menschen aus der Zivilgesellschaft, die nach dem 26. August 2021 –  also dem Ende der militärischen Evakuierung durch die deutsche Luftwaffe – um Schutz in Deutschland baten, erteilte das Auswärtige Amt Bescheide wie diese, Zitat: „Wir sind uns bewusst, dass das menschliche Leid in Afghanistan groß ist und zahlreiche Menschen sich durch die neuen Machthaber in Leib und Leben gefährdet sehen. Dennoch mussten wir die Auswahl für die Liste der humanitär Schutzbedürftigen abschließen, um zunächst eine sichere Ausreise dieser Schutzbedürftigen zu ermöglichen.“ Seitdem gehen täglich Hilferufe ein: Bei Menschenrechtsorganisationen, bei Vertreterinnen und Vertretern der Medien und der Politik in Deutschland – bei vielen, die sich in den letzten 20 Jahren für Afghanistan und seine Menschen engagiert haben – oft über WhatsApp. Denn in Afghanistan selbst gibt es für Hilfesuchende keine deutsche Adresse mehr, an die sie sich wenden könnten. Die neue Regierung hat angekündigt, eine neue Liste aufzumachen. Annalena Baerbock, die neue deutsche Außenministerin, erklärt das jüngst zum Jahreswechsel: „Die gezielte Ausreise für besonders schutzbedürftige Personen, dass wir daran intensiv weiterarbeiten und diese beschleunigen. Und darüber hinaus, das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass es analog zu dem, was es in Syrien ja auch gegeben hat, ein Bundesaufnahmeprogramm gibt. Und das erarbeiten wir jetzt gemeinsam in der Bundesregierung.“ Im Versteck der Provinzratsabgeordneten Golzam Rezaee ist eine weitere Kollegin eingetroffen: Shahla Abobakr, aus dem Lokalparlament der Provinz Farah, Westafghanistan. „Als weibliche Provinzratsabgeordnete habe ich nur eine Bitte: Ein Land wie Deutschland sollte bei den Evakuierungen klare Prioritäten setzen. Wir wissen, dass Deutschland ein Land ist, das für die Rechte von Frauen und Mädchen eintritt und deshalb bitten wir Sie dringend, eine Möglichkeit zu finden, uns aus dieser Lage zu befreien und uns in Deutschland aufzunehmen. Wir sorgen uns nicht bloß um unsere Sicherheit. Wir wollen auch unseren Kampf für Frauenrechte fortführen. Von Deutschland aus und mithilfe der deutschen Regierung könnten wir das vielleicht tun.“
Von Marc Thörner
Deutschland hat bis zum Jahreswechsel rund 10.000 Menschen aus Afghanistan evakuiert. Doch Tausende sind noch in ihrem eigenen Land auf der Flucht vor den Taliban. Viele von ihnen hoffen auf Hilfe aus Deutschland. Außenministerin Annalena Baerbock zeigt sich dazu bereit.
"2022-01-16T18:40:00+01:00"
"2022-01-16T09:24:00.008000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/angst-vor-den-taliban-afghanische-fluechtlinge-ersuchen-zuflucht-in-deutschland-100.html
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Merkel-Rede gegen Trump
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrer Rede an der Harvard Universität (dpa / Omar Rawlings) Es war der Slogan der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise, der ihr diese Ehrendoktorwürde der US-Eliteuniversität Harvard eingebracht hat. Es war Merkels "Wir schaffen das", was den Präsidenten der Universität, Larry Bacow, zu der Würdigung veranlasste, hier habe die Kanzlerin für das eingestanden, was sie für richtig gehalten habe. Und diese Haltung nahm auch Margret Wang, die Präsidentin der Harvard Alumni Association zum Anlass, Angela Merkel eine der respektiertesten globalen Führungspersönlichkeiten zu nennen. Persönlichen Anmerkungen Angela Merkel hat in den USA den Ruf, eine derjenigen Politikerinnen auf der internationalen Bühne zu sein, die für die multilaterale Weltordnung der Institutionen, Verträge und Konferenzen einstehen und für die westlichen Werte der Humanität. Damit gilt sie vielen liberalen Amerikanern als das Gegenbild und geradezu als Antithese zu US-Präsident Donald Trump. Auch deshalb war ihre Rede an die Absolventen dieses Studienjahres in Harvard mit großer Spannung erwartet worden. Die Kanzlerin begann sie mit sehr persönlichen Anmerkungen zu ihrer Vergangenheit in der DDR im Angesicht der Mauer in Ostberlin, die ihr unüberwindlich schien: "Jeden Tag musste ich kurz vor der Freiheit abbiegen." Aus der Geschichte des Mauerfalls, aus dem Zusammenwachsen Europas nach dem Krieg an der Seite der Vereinigten Staaten habe sie diese Lehre gezogen: "Was fest gefügt und unveränderlich scheint, dass kann sich ändern." Indirekter Angriff auf Trump In ihrer Rede an die junge Elite der USA wies Merkel auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hin – und irgendwie wirkte alles so, als sei es auf den US-Präsidenten zugeschnitten, dessen Namen Merkel kein einziges Mal erwähnte. "Protektionismus und Handelskonflike gefährden den freien Welthandel und damit die Grundlagen unseres Wohlstandes." Da gab stehende Ovationen für die Kanzlerin. "Der Klimawandel bedrohlt die natürlichen Lebensgrundlagen." Deshalb, sagte die Kanzlerin, müssten die Politiker, die heute in der Verantwortung sind, und die Politiker, die morgen die Verantwortung tragen, alles Menschenmögliche tun, um diese Menschheitsherausforderungen zu bestehen. "Ich werde mich deshalb mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland, mein Land, im Jahr 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen wird." Appell gegen Protektionismus Angela Merkel umriss in ihrer Rede ihr politisches Credo – und gab ihr damit den Charakter eines eindringlichen Appells: "Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln. Global statt national. Weltoffen statt isolationistisch. Kurzum: gemeinsam statt allein." Angela Merkel appellierte an Toleranz, Empathie und Respekt vor Religion, Geschichte, Tradition und Identitäten, wie sie sagte. Sie appellierte, zu den unveräußerlichen Werten zu stehen und sie als Leitbild für politisches Handeln zu nehmen. Dann werde vieles gelingen, sagte sie. "Und wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unserern ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen moment innehalten, schweigen, innehalten, Pause machen." Und Angela Merkel mahnte Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit in der Politik an: "Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen." Mit dieser direkten Anspielung hatte die Kanzlerin endgültig den Ton getroffen - in einer Zeit, in der sich die Vereinigten Staaten in einer tiefen politischen Krise befinden, ausgelöst von einem Präsidenten, der auch mit der Wahrheit so seine Probleme hat.
Von Thilo Kößler
Ein Appell für Multilateralismus, Wahrhaftigkeit, wertorientierte und besonnene Politik: Angela Merkels Auftritt an der US-Eliteuniversität Harvard wirkte wie ein direkter Angriff auf Präsident Donald Trump - ohne dass die Kanzlerin diesen namentlich erwähnte. Dafür erntete sie stehende Ovationen.
"2019-05-31T05:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:54:48.950000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/harvard-merkel-rede-gegen-trump-100.html
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"Stehplätze dürften nicht zur Disposition stehen"
Christoph Heinemann: Gewalttäter sorgen im deutschen Fußball weiter für Probleme. Die Debatte über neue Sicherheitskonzepte aber stecken in der Sackgasse. Die Polizei will die Konsequenzen und Gefahren nicht allein tragen und fordert die Politik und die Klubs zu größerer Unterstützung auf. Die Fans wehren sich gegen das neue Strategiepapier "Sicheres Stadionerlebnis", das der Deutsche Fußballbund und die Fußball-Liga schnell zur Abstimmung stellen wollten. So lässt sich das Ergebnis des gestrigen Fangipfels zusammenfassen. – Meine Kollegin Petra Ensminger hat darüber mit dem Sportsoziologen und Fanforscher Gunter Pilz gesprochen, er ist der Leiter der Kompetenzgruppe Fankulturen am Institut für Sportwissenschaft der Leibnitz Universität in Hannover. Und sie wollte von ihm wissen, ob er es auch so sieht wie der Sicherheitsbeauftragte des FC St. Pauli, Sven Brux, der über das Papier der Deutschen Fußball-Liga gesagt hat, es sollte in die Tonne gekloppt werden, man sollte bei null anfangen.Gunter A. Pilz: Nein, ich würde so weit nicht gehen, weil ich kann den Sven Brux zwar verstehen, weil die Art und Weise, wie dieses Papier entstanden ist, natürlich genau ein Affront war gegen alle die, die von Dialog und Kommunikation reden und sagen, wie wichtig es ist, dass Fans einbezogen werden in Entscheidungen. Aber wenn man mal den Inhalt des Papiers anschaut, dann sind nach meiner festen Überzeugung über 90 Prozent dessen, was da drinsteht, Dinge, die auch jeder Fan, wenn er nicht nur auf Randale aus ist, ohne Zögern mit unterschreiben würde.Petra Ensminger: Wenn das so ist – die Fanvertreter haben ja auch jetzt vorgeschlagen, dass gemeinsam an einem Konzept gearbeitet wird, warum hat das die DFL nicht von vornherein gemacht? Was glauben Sie?Pilz: Man kann ja nur Vermutungen anstellen. Aber es gibt natürlich einen zentralen Punkt: Die DFL steht massiv unter Druck seitens der Innenminister, die da massiven Druck machen, den ich übrigens überhaupt nicht nachvollziehen kann, und nun etwas präsentieren müssen, möglichst zeitnah, denn es wurde ihnen eine Frist gesetzt noch in diesem Jahr, und da am 12. 12. die Jahreshauptversammlung der DFL ist und sie dort nur beschlussfähig sind, musste bis dahin ein Papier entwickelt werden. Und da hat man schnell einen Arbeitskreis gebildet, der ein Grundsatzpapier gemacht hat, das als Arbeitspapier – und so wurde es aber nicht deklariert – erst mal an die Vereine ging mit der Bitte, sie mögen Stellungnahmen dazu abgeben, und die Stellungnahmen möglichst natürlich auch in Zusammenarbeit mit ihren Fans. Genau das ist so nicht kommuniziert worden und dieses Papier ging an die Öffentlichkeit, und von daher kann man nachvollziehen, dass aufgrund dieser Kommunikationslücke oder dieses taktisch völlig unklugen Verhaltens der DFL die Fans und alle die, die skeptisch gegenüber reinen repressiven Maßnahmen sind, natürlich hinter diesem Papier wieder einen zusätzlichen Affront sahen, so nach dem Motto der Hardliner, das überhaupt nicht notwendig gewesen wäre.Ensminger: Also glauben Sie, dass die DFL sich jetzt auf den Vorschlag einlassen wird, dass man gemeinsam an einem Konzept arbeiten soll?Pilz: Ich weiß zumindest, dass in den nächsten Tagen die AG Fandialog beim Deutschen Fußballbund, die ja da eingerichtet ist, tagen wird - da sind alle Vertreter der relevanten großen Fangruppierungen zusammen – und dass zu diesem Treffen auch der Peter Peters, der Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe der DFL, kommen wird, sodass dort ein Gespräch stattfinden wird, und ich denke, man wird klug und gut beraten sein, jetzt wirklich ganz intensiv die Gespräche mit den Fans zu suchen. Es gibt ein paar neuralgische Punkte, die man mit gutem Willen positiv und mit schlechtem Willen negativ bewerten oder beurteilen kann, worüber sicherlich noch diskutiert werden muss, aber im Großen und Ganzen, glaube ich, ist der Zündstoff, der momentan so in der Öffentlichkeit da ist, überhaupt nicht so groß.Ensminger: Aber schauen wir mal auf die neuralgischen Punkte. Sie sagen, der Großteil dieser Vorschläge, der würde auch von den Fans akzeptiert. Aber die beklagen ja neben dem fehlenden Dialog auch die angedrohten Sanktionen, die die Probleme in und um die Stadien nicht lösen können würden. Tatsächlich nicht?Pilz: Da gebe ich Ihnen recht und da muss man natürlich nachbessern und da muss man vor allen Dingen mit den Fans nach gemeinsamen Lösungen suchen. Nur es gibt ja einen neuralgischen Punkt, der eigentlich gar nicht neuralgisch sein kann. Da steht drin, das Thema Gewalt, Pyrotechnik und Rassismus ist im Stadion nicht verhandelbar. Das geht nicht und ich denke, darüber kann man auch nicht mehr lange diskutieren. Das ist einfach aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Es gibt andere Dinge, worüber man nachsprechen kann, wenn es darum geht, zum Beispiel Fanprivilegien zu kürzen, oder wenn es darum geht, Abschaffen von Stehplätzen und und und. Ich glaube, darüber muss man sehr intensiv und kann man auch sehr konstruktiv sich Gedanken machen. Stehplätze dürften meines Erachtens überhaupt nicht zur Disposition stehen, weil die ein ganz wichtiger Teil der Fan- und Jugendkultur sind, und wer die abschafft – das habe ich vor zwei Wochen schon mal sehr deutlich gesagt -, der 'provoziert' aber wirklich einen Fankrieg. Da wird es einen Aufstand geben, über den man noch sehr lange reden wird.Heinemann: Gunter Pilz, Leiter der Kompetenzgruppe Fankulturen am Institut für Sportwissenschaft der Leibnitz Universität in Hannover. Die Fragen stellte meine Kollegin Petra Ensminger.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gunter A. Pilz im Gespräch mit Petra Ensminger
Das Sicherheitskonzept der Deutschen Fußball-Liga stößt bei den Fans auf Ablehnung. Moniert werden der fehlende Dialog und die schärferen Sanktionen. Die Verantwortlichen wären gut beraten, die Gespräche mit den Fans zu suchen, sagt der Fanforscher Gunter A. Pilz.
"2012-11-02T05:40:00+01:00"
"2020-02-02T14:31:30.004000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stehplaetze-duerften-nicht-zur-disposition-stehen-100.html
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"Es gibt keinen religösen Rabatt aufs Grundgesetz"
Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner spricht beim Bundesparteitag der CDU am 10.12.2014 in Köln . (Michael Kappeler, dpa picture-alliance) Sandra Schulz: Frau Klöckner, wenn wir zurückschauen auf den Parteitag, auf die Rede von Angela Merkel - Demütigung des Koalitionspartners, ist das der Politikstil der CDU? Julia Klöckner: Ich glaube, man muss mal richtig reinhören, was sie und wie sie was gesagt hat. Wenn das als Demütigung empfunden wird, dann ist man auf dem falschen Parkett. Sie hat deutlich gemacht, dass sie mehr als erstaunt ist und es für einen Fehler hält, dass die SPD in Thüringen (übrigens ja gegen den Willen von Sigmar Gabriel) dort die SED-Nachfolgepartei Die Linke stützt. Dass das jetzt die Generalsekretärin von Herrn Gabriel gut findet, das ist wahrscheinlich der sozialdemokratische Dreisprung. Aber zu einem Parteitag gehört es, dass eine Partei auch klar Stellung bezieht, und das hat Angela Merkel als Bundesvorsitzende getan. Schulz: Sie hat gefragt, wie klein sich die Sozialdemokraten denn noch machen wollen. - Wenn sich die Sozialdemokraten so klein machen, warum macht die Große Koalition dann vor allem sozialdemokratische Politik? Klöckner: Na ja. Erst mal mit dem Blick, wenn sich Sozialdemokraten so klein machen wollen: Wenn eine SPD mit zwölf Prozent einen linken Ministerpräsidenten stützt, dann kommt sie bestimmt nicht mit 20 aus so einer Koalition raus. Und wenn wir Richtung Berlin schauen: Sozialdemokratische Politik machen wir nicht. Wir machen schwarz-rote Politik. Dass es zum Beispiel einen ausgeglichenen Haushalt gibt, das ist die Handschrift der Union. Dass es keine Steuererhöhungen gibt, ist die Handschrift der Union. Und dass die Pflegeversicherung, die Reform, auf neue Beine gestellt worden ist, das ist auch die Handschrift der Union. Schulz: Mindestlohn, Frauenquote, Rente mit 63, das sind auch alles Leib- und Magenthemen der CDU? Klöckner: Zum Beispiel bei der Mütterrente haben wir klar gesagt: Wenn Banken systemrelevant sind, sind es Mütter auch. Bei der Rente ab 63 haben wir zumindest dafür gesorgt, dass die Flexirente kommt, eben auch mit einer Flexibilisierung, was den Rechtsschutz beziehungsweise die Möglichkeit des längeren Arbeitens anbelangt. Wir haben beim Mindestlohn die Ausnahmen, die pragmatisch und auch notwendig sind, um Arbeitsplätze zu sichern, mit eingebracht. Wir haben keine absolute Mehrheit und in Koalitionen versuchen wir, unseren Sachverstand und den normalen Menschenverstand mit einfließen zu lassen. "Fakten sind schlagkräftiger, als irgendwelche Wünsche" Schulz: Wenn Sie sich von der SPD jetzt abwenden, zumindest verbal dürfte man Angela Merkel gestern so verstanden haben - wir wissen und Sie wissen ja auch nicht, ob die FDP noch mal zu der Stärke zurückkommt, wieder als Koalitionspartner in Frage zu kommen -, ist das nicht automatisch die Hinwendung hin zur rechtspopulistischen AfD? Klöckner: Die Abwendung von der SPD - wer das so definiert, oder wenn die SPD das so definiert, dann ist sie zwar gut selbst im Austeilen, aber im Einstecken nicht. Im Bund ist eine Große Koalition, die wird auch weitergeführt, und ich glaube, beide Seiten sind da professionell genug und jeder kämpft natürlich für sich. Aber dann sagt der Wähler, welche Stimmengewichte wo verteilt sind, und dann muss man da professionell zusammenarbeiten. Dass zum Beispiel in Hessen Schwarz-Grün möglich geworden ist, hätte keiner vor der Wahl in Hessen gedacht, und manchmal sind Fakten schlagkräftiger als irgendwelche Wünsche zuvor. Schulz: Ich würde gerne noch mal bei der AfD bleiben und jetzt wiederum deren Sympathie für die sogenannte "Pegida"-Bewegung. "Pegida" noch mal ganz kurz: Das steht für "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes". Sind Sie da inhaltlich mit Ihrer Forderung nach einem Burkaverbot nicht relativ nah dran? Klöckner: Erst mal zu "Pegida". Ich glaube, wir sollten den Frauen, die aufgeklärt sind und gegen eine Vollverschleierung sind, nicht in den Rücken fallen, indem wir "Pegida" und das in einen Topf werfen. "Pegida", diese Demonstration, die in Dresden stattfindet zum Beispiel, die macht mir Sorge, wenn man sieht, wer hier Seit an Seit miteinander marschiert: Rechtsextreme mit auch zum Teil einem ganz dumpfen Populismus gegen Zuwanderer. Wir brauchen Zuwanderer, und selbst wenn man bei mir in Bad Kreuznach bei uns ins Krankenhaus schaut, ohne Migranten, oder auch in Handwerksbetrieben, würde unser Land auch gar nicht laufen. Insofern differenzierte Herangehensweise.Jetzt zum Thema Vollverschleierung von Frauen. Da bin ich froh, dass aufgeklärte Muslima, dass vor allen Dingen Frauenverbände, dass wir ganz, ganz viel Zuspruch haben von Frauen, die deutlich machen, das Thema anzusprechen und sich eben nicht in diese Schublade reinschieben zu lassen, das sei jetzt irgendwie fremdenfeindlich. Wer nämlich die Vollverschleierung von Frauen als kulturelle Vielfalt abtut, der fällt diesen Frauen in den Rücken. Frauen sind genauso viel wert wie Männer und sie geben keinen Anlass aufgrund ihres Haares oder des Gesichtes, dass sie sich in der Öffentlichkeit verschleiern müssen. Die Männer kämen ja auch nicht auf die Idee. Und wir sind eine offene Gesellschaft, offenes Gesicht und ein freies Land, und man will sich auch offen begegnen können. "Fundamentalismus der Islamisierung greift nicht um sich" Schulz: Sind die Ängste vor einer Islamisierung berechtigt? Klöckner: Ich habe keine Ängste vor einer Islamisierung, denn wenn man sich umschaut, in unserer Gesellschaft sehe ich jetzt nicht, dass der Fundamentalismus der Islamisierung um sich greift. Wir sind eine bunte Gesellschaft, aber unsere Wurzeln liegen natürlich im Christentum und auch im Judentum. Das müssen wir weder verstecken, noch irgendwie besonders vor uns hertragen. Aber dort, wo Intoleranz sich breitmacht, muss es eine klare Antwort geben. Es gibt keinen Rabatt aufs Grundgesetz, auch keinen religiösen, auch nicht vom Islam oder von sonst jemandem. Schulz: Dann verstehe ich Sie aber richtig - und es scheint ja viele Bürger hier in diesem Land zu geben, die eine Sorge haben vor einer wachsenden Islamisierung -, dass diese Ängste unberechtigt sind? Klöckner: Ängste sind ja etwas Subjektives und eine subjektive Realität ist auch eine Realität. Ich glaube, dann, wenn man das einfach nur abtut, dann treibt man Menschen, die Ängste haben, egal wo sie herkommen, in die Arme von Populisten. Insofern müssen gute Politiker Ängste immer ernst nehmen und auch hinhören, wo sie herkommen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julia Klöckner im Gespräch mit Sandra Schulz
Frauen seien genauso viel wert wie Männer und es gebe keinen Grund, dass sie sich in der Öffentlichkeit verschleiern müssen, sagte die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner im Deutschlandfunk. Wer die Vollverschleierung als kulturelle Vielfalt abtue, falle den betroffenen Frauen in den Rücken, so Klöckner.
"2014-12-11T05:15:00+01:00"
"2020-01-31T14:18:17.246000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-burka-verbot-es-gibt-keinen-religoesen-rabatt-100.html
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Rettungsversuch für die Spitzenforschung
Luftbild der Universität Konstanz. (dpa / Felix Kästle) Die sogenannte Exzellenzinitiative war 2006 gestartet, im nächsten Jahr läuft sie aus. Das Förderprogramm soll "den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhaltig stärken, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und die universitäre Spitzenforschung sichtbarer machen". Dazu sollten Hochschulen mit viel Geld zu Elite-Hochschulen aufgewertet werden. Dabei geht es um drei Förderlinien: In Graduiertenschulen sollen Doktoranden ausgebildet werden, deren Forschung in den Vordergrund gestellt wird, während die der beteiligten Professoren in den Hintergrund rückt. In Exzellenzclustern soll interdisziplinär zu einem Oberthema geforscht werden. In Münster etwa wurde das Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne" gegründet, in dem etwa 200 Wissenschaftler aus mehr als 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zusammen forschen. Schließlich soll in sogenannten Zukunftskonzepten die langfristige Entwicklung von Hochschulen in der Forschung projiziert werden. Die elf ausgezeichneten Hochschulen werden Eliteuniversitäten genannt. Bisher wurden 4,6 Milliarden Euro in das Projekt gesteckt – drei Viertel davon vom Bund, jeweils ein Viertel von dem Land, in dem die Hochschule sitzt. Widerstand aus Hamburg Im April hatten sich die Wissenschaftsminister von Bund und Ländern darauf geeinigt, das Projekt fortzusetzen. Dann jedoch äußerte das rot-grün regierte Hamburg massive Bedenken und wollte nicht zustimmen. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) erscheint zweifelhaft, dass im Wettbewerb um neue Fördergelder jede Hochschule gleiche Chancen hat. Seine Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) glaubt nicht daran, dass aufstrebende Hochschulen den Titel Exzellenz-Universität wirklich bekommen können, denn die Platzhirsche müssten ihre Leistungen nicht wirklich überprüfen lassen. Fegebank fordert, dass auch "die bereits in der Förderung befindlichen Exzellenzuniversitäten im Wettbewerb mit möglichen Neuanträgen regelmäßig nach sieben Jahren evaluiert werden". Disqualifizieren könne sich eine Universität nur, wenn sie keine zwei Exzellenzcluster mehr vorzuweisen habe. "Das heißt also: Nur wer trotz intensiver Förderung nach sieben Jahren schlechter ist als heute, verliert den Status", sagte Fegebank dem Berliner Tagesspiegel. Die Einigung könnte an Hamburg scheitern, denn das Abkommen kann es nur bei Einstimmigkeit geben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat die anderen Länder aufgefordert, dem Plan zuzustimmen. Noch am Dienstag sagte er: "Wir werden uns dafür einsetzen, dass das zustande kommt, und erwarten das auch von den anderen Ländern." 2019 sollen neue Top-Universitäten feststehen In das Nachfolgeprojekt sollen 533 Millionen Euro pro Jahr gesteckt werden – das ist im Schnitt etwas mehr als in der Exzellenzinitiative. Für die sogenannten Exzellenzcluster sind davon pro Jahr etwa 385 Millionen Euro vorgesehen. 45 bis 50 Exzellenzcluster an einzelnen Hochschulen oder Uni-Verbünden sollen für sieben Jahre gefördert werden. Danach gibt es eine Neuevaluation und eventuell weitere Förderung für sieben Jahre. Für die Exzellenzuniversitäten oder auch "Elite-Unis" sind pro Jahr 148 Millionen Euro geplant. Noch in diesem Sommer sollen die Ausschreibungen für das Nachfolgeprojekt beginnen. Bis zu 50 Projekte können dann als Exzellenzcluster starten. Mitte 2019 könnten die acht bis elf neuen Top-Universitäten feststehen.
null
Die Ministerpräsidenten verhandeln über die neue Exzellenzstrategie für die Spitzenforschung. Mit ihr soll ein kleiner Kreis an Hochschulen mit gut 530 Millionen Euro pro Jahr gefördert werden. Bund und Länder hatten sich im April auf eine Neuauflage des Elite-Projekts geeinigt, nur Hamburg sperrt sich noch.
"2016-06-16T11:50:00+02:00"
"2020-01-29T18:35:36.502000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/exzellenzinitiative-rettungsversuch-fuer-die-100.html
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"Ein ganzes Leben"
Im Tal - so könnte das schmale Buch auch heißen. Denn in die Abgeschiedenheit einer nicht genauer zu lokalisierenden Alpenwelt führt der neue Roman des in Wien geborenen Schriftstellers Robert Seethaler. Es ist die Geschichte eines Mannes, Andreas Egger, der als Kleinkind zu Beginn des vorigen Jahrhunderts aus der Stadt in ein kleines, inmitten einer Bergschlucht gelegenes Dorf kommt und dort mit über 70 Jahren stirbt. Sein Leben durchmisst das Buch, auf ruhige, äußerst knappe und unspektakuläre Weise. "Ein ganzes Leben" hat Seethaler das Buch genannt. Dieser Titel entspricht besser dem, was der Autor beim Schreiben im Sinn hatte: "Also ein Leben ist ein Leben. Und jedes Leben reduziert sich auf das pure Dasein. Das ist das, was mich interessiert. Der Kern des Daseins, wenn es den gäbe. Für mich war es wichtig, all diesen Zierrat wegzustreichen und nicht näher darauf einzugehen, wie Moden oder Zeitgeschehnisse, die einen nicht wirklich in der Seele berühren. Davon befreit bleibt nichts als das pure Leben. Da geht es immer nur um dasselbe: um Überleben, um Liebe, um Kraft, um Tod." Es ist ein hartes, karges Leben, von dem erzählt wird: Andreas ist Waise. Der Großbauer Kranzstocker nimmt das Kind der Schwägerin zu sich, aber nur, weil er zugleich einen Beutel Geld bekommt. Der Junge erlebt eine Kindheit ohne Liebe, geprägt stattdessen von Schlägen. Als der Bauer einmal zu kräftig zuhaut, geht etwas kaputt. Man schickt nach dem Knochenrichter, der die verletzten Glieder, so gut er kann, wieder zusammenfügt. Doch der Mann ist kein Arzt. Sein Patient behält ein Hinken zurück, denn das eine Bein ist kürzer. Kein Klagen, keine Verbitterung des Protagonisten Man kann es sinnbildlich verstehen: Andreas steht ein wenig anders in der Welt. Doch ein Egger klagt nicht. Er nimmt das, was kommt, mit einem stoischen Gleichmut hin. Diese Haltung ist es, die Andreas Egger Zeit seines Lebens so unverwüstlich wirken lässt. Das Dorf betrachtet ihn fortan zwar als Krüppel, aber weil er stark ist und gern arbeitet, findet er immer wieder eine Beschäftigung. Von dem wenigen verdienten Geld pachtet er ein kleines Grundstück. Dann kommt ein Unternehmen ins Dorf, das Seilbahnen baut. Egger wird trotz seines Handicaps angestellt. Denn er ist am Berg der Einzige, der gerade geht. Die härtesten Schläge aber erwarten ihn erst noch: Er verliebt sich in eine Frau, Marie, und verliert sie nur wenig später bei einem Lawinenunglück. Er zieht in den Krieg, weil man zuletzt auch die Versehrten nimmt, und verbringt acht Jahre in russischen Lagern. Doch Andreas Egger verbittert nicht, sondern macht einfach immer weiter. Als er endlich aus der Gefangenschaft heimkehrt ins Tal, hat sich vieles verändert: Es gibt jetzt Fernsehen und immer mehr Besucher im Dorf. Wieder sucht er klaglos sein Auskommen und führt nun Touristen auf die Gipfel. Diese bestaunen eine Landschaft, die dem Autor selbst sehr vertraut ist: "Es war die Stille der Berge, die mich schon als Kind im Tiefsten berührt hat. Diese hat etwas so Absolutes. Das ist so beruhigend und gleichzeitig aufwühlend. Das habe ich schon als Kind so empfunden. Vielleicht ist das Buch aus dieser Bergesstille heraus geboren." Seethaler schildert eine Existenz vor dem Panorama der Natur und dieser zugehörig. Durchmessen wird ein Großteil des vergangenen Jahrhunderts, Egger und mit ihm der Leser dabei in immer neue Situationen hineingezogen. Aber das geschieht ohne jegliche Aufgeregtheit, völlig unspektakulär - auch dann noch, wenn es wie im Krieg um Leben und Tod geht. Die betont zurückgenommene Art des Erzählens ist es, die der Geschichte von Andreas Egger etwas Zeit- und Ortloses gibt. Und eben das entspricht der Intention von Robert Seethaler: "Meine Prämisse ist, ja, die Menschen kommen damit klar. Es gibt so viele Menschen, die Verluste erfahren, schreckliche Ereignisse erfahren müssen. Fast alle Menschen werden einmal mit Tod, Krankheit konfrontiert. Ich glaube daran, dass man durchgehen kann, muss und unter Umständen sogar gestärkt aus solchen Ereignissen hervorgehen kann. Das ist nicht romantisierend, das ist die Vorstellung, die ich habe." Jegliche Tröstungen der Kirche, des Glaubens liegen fern. "Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst", heißt es einmal gegen Ende des Buches. Das Leben erscheint nicht als Prüfung Gottes. Es ist schlicht pures Sein. Das ist die Gewissheit und Übereinkunft innerhalb der Dorfgemeinschaft, zu der Andreas gehört, aber von der er sich auch unterscheidet. Nie kommt es ihm in den Sinn, Bauer zu werden, den der ist an sein Land gefesselt, muss den Blick immer nach unten richten, in der Erde wühlen. Egger aber will einer sein, der den Kopf hebt und möglichst weit schaut. Einmal sieht er zusammen mit Marie vom Tal hinauf zu den Bergspitzen, wo in Feuerschrift mit großen, flackernden Buchstaben "Für dich, Marie" aufleuchtet. Andreas hat Männer engagiert, die mit Petroleum getränkte Säcke ausgelegt und angezündet haben. Es ist Liebeserklärung und Heiratsantrag zugleich. Und Marie sagt ja. Wie stets in diesem Buch, so wird auch davon ohne Pathos, beinah nebenher erzählt. Denn viele Worte braucht es nicht. Am Ende dieses kleinen und doch so lebensvollen Romans steht das Resümee eines Lebens: Umreißen einer Seelenlandschaft "Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen." Es ist ein Staunen, das Robert Seethaler mit seiner Hauptfigur teilt: "Er hat die Gabe, das Leben zu nehmen, wie es ist. Das ist eine Gabe, die wenigen gegeben ist, zum Beispiel mir schon gar nicht. Die Grundwut, die früher in mir gewühlt hat, die hat sich geglättet und ist ein bisschen ausgekühlt. Das ist so eine Wechselwirkung: Meine eigene Versöhnlichkeit wirkt sich aufs Schreiben aus und das Schreiben der Geschichten hat wieder Wirkung auf mich, hoffentlich." Tatsächlich geht eine große, beruhigende Kraft von diesem Buch aus. Klein wirken gegenüber dem fernen, archaischen Universum der Berge die Strapazen und Anstrengungen unserer behüteten Existenzen. Und doch wird von dieser Welt so erzählt, dass sie nicht fremd erscheint. Es ist vielmehr so, als wäre es kein abgelegenes, geografisches Gebiet, das Seethaler umreißt, sondern eine Seelenlandschaft, die uns allen vertraut ist, weil wir selbst sie in uns tragen. Robert Seethaler ist spät zum Schriftsteller geworden. Im Alter von 38, vor zehn Jahren, begann er mit der Arbeit an seinem ersten Buch. "Ein ganzes Leben" ist sein fünfter Roman. Zuvor hat er sich als Schauspieler versucht. Aber der großgewachsene Mann fühlte sich immer fremd auf der Bühne. Schreibend hingegen ist er ganz bei sich, wie er sagt. Dennoch blickt er noch immer verwundert auf seine berufliche Existenz: "Ich komme aus einer ganz einfachen Arbeiterfamilie. Für mich ist auch jetzt der Beruf des Schriftstellers geradezu etwas Absurdes. Ich kann es selbst noch gar nicht glauben. Wenn mich jemand fragt: ‚Was machen Sie denn beruflich'' Und ich sage: ‚Ich bin Schriftsteller.' Die Worte stehen seltsam fremd leuchtend vor meinem eigenen Geist. Ich betrachte sie als etwas völlig Außergewöhnliches, nicht zu mir Gehörendes. Ich hatte nie diese Eloquenz, nie diese Selbstüberhöhung, der Welt viel mitteilen zu können. Dementsprechend schreibe ich meine Bücher. Ich muss die Sätze eher zusammenzimmern. Da fließt nichts raus." Die Anstrengung des Schreibens aber merkt man dem neuen Buch nicht an. Vielmehr ist es so, dass hier alles passt. Man könnte auch sagen: Es ist ein makellos gezimmerter Roman. Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Hanser Berlin Verlag, 156 Seiten, 19,90 Euro
Von Holger Heimann
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"2014-09-01T16:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:40.488000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/robert-seethaler-ein-ganzes-leben-100.html
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Brexit und kein Ende
Die britische Premierministerin Theresa May (AP / Geert Vanden Wijngaert) 202 zu 432 Stimmen - die Ablehnung für den Vertrag mit der EU hätte im Januar im Unterhaus kaum größer sein können. Aber Premierministerin Theresa May sieht trotz der deutlichen Abfuhr von damals noch eine Chance, in einem weiteren Anlauf die Mehrheit drehen zu können. Sie wird den Abgeordneten heute im Parlament aber wohl mitteilen, dass sie für die Nachverhandlungen mit der EU noch Zeit braucht. "Wir wollen von der EU eine juristisch bindende Zusage, dass der Brexit-Vertrag in einer Hinsicht geändert wird, nämlich beim Backstop. Dann können wir eine stabile Mehrheit für den Vertrag in unserem Parlament gewinnen. Ich will den Brexit umsetzen und zwar pünktlich." Die Abgeordneten erwarten von May einen Zeitplan: bis wann wird sie ihnen denn ein Ergebnis präsentieren? Labour, die größte Oppositionspartei, will übermorgen darüber abstimmen lassen, May eine Frist bis Ende Februar zu setzen. Die britische Premierministerin Theresa May beim Empfang durch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel (AFP / Aris Oikonomou) "Wären sonst in einem Gefängnis eingeschlossen" Dass die Premierministerin dann einen Teil der Brexiteers in den eigenen Reihen umstimmen kann, scheint nicht ausgeschlossen. Der frühere Außenminister Boris Johnson beharrte gestern nicht auf der Forderung, auf den Backstop komplett zu verzichten. Der Backstop sieht notfalls einen Verbleib Großbritanniens in der Zollunion vor, um eine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern. "Es geht jetzt darum, wie wir den Backstop auch wieder verlassen können", meinte Johnson. "Wir wären sonst wie in einem Gefängnis eingeschlossen. Einige Vorschläge der Premierministerin sind vernünftig. Wir brauchen eine Befristung und das Recht, einseitig den Backstop zu beenden." Chance auf ein zweites Referendum schwindet Mays Kalkül lautet daher: sie will mit einem Kompromiss mit der EU wenigstens einen Teil der Brexiteers auf ihre Seite ziehen. Die restlichen Stimmen sollen dann von Labour-Abgeordneten kommen. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat Theresa May denn auch seine Hilfe angeboten - zum Entsetzen der EU-Befürworter bei Labour. Labour-Chef Jeremy Corbyn (imago / ZUMA Press) Sie sehen nun die Chance auf ein zweites Referendum dahinschwinden, das laut Parteitagsbeschluss von Labour doch immerhin eine Option sein soll. Passend wurde eine Rede von Corbyn aus dem Jahr 2010 bekannt, in der er sich als Brexiteer outete - als linker Brexiteer. "Weltbank, IWF und EU sind sich völlig darin einig, das Wirtschaftswachstum zu unterdrücken und Arbeitslosigkeit zu kreieren. Wir werden sie besiegen, damit die Welt anständig wird." Noch bleibt den Befürwortern eines zweiten Referendums nichts anderes übrig als abzuwarten - z.B. darauf dass der Brexit verschoben wird. Zuletzt war ein entsprechender Antrag knapp abgelehnt worden - mit Hilfe von 25 Labour-Abgeordneten, die für den Brexit sind.
Von Friedbert Meurer
Noch immer ist unklar, wie der britische EU-Austritt ablaufen soll. Premierministerin Theresa May will einen Aufschub, um bei der EU neue Zugeständnisse zum Brexit erreichen zu können. Kritiker fürchten, sie spiele auf Zeit - die Hoffnung auf ein zweites Referendum schwindet.
"2019-02-12T08:05:00+01:00"
"2020-01-26T22:37:27.456000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/grossbritannien-brexit-und-kein-ende-100.html
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Der unfertige Frieden
Eine Mehrheit der nordirischen Gesellschaft will keine gemeinsame Vergangenheit, keine geteilte Gegenwart und womöglich keine einvernehmliche Zukunft. Fahnen und Symbole der britischen Unionisten und der irischen Nationalisten, protestantische und katholische Paraden und auch die Erinnerungsfeiern beider Seiten spalten anstatt zu einen. Warum hält eine traumatisierte Gesellschaft so inbrünstig an dem fest, was sie entzweit? Obwohl Nordirland mittlerweile aus den Schlagzeilen der Weltpresse verschwunden ist und obwohl die Regierungen in London und Dublin sich nicht mehr ernsthaft für die Nachwirkungen des Konflikts zu interessieren scheinen. Eine Spurensuche vor Ort. Der unfertige Frieden: Warum Versöhnung in Nordirland ein unerreichtes Ziel bleibt (PDF) Der unfertige Frieden: Warum Versöhnung in Nordirland ein unerreichtes Ziel bleibt (Text)
Von Martin Alioth
Schon seit fast 16 Jahren stehen die Zeichen in Nordirland auf Frieden, seitdem existiert die institutionelle Architektur. Im siebten Jahr regiert eine Koalition, die aus einstigen Todfeinden besteht. Doch bis an die Basis ist der Geist des Ausgleichs und der Versöhnung immer noch nicht durchgedrungen.
"2014-03-01T11:05:00+01:00"
"2020-01-31T13:25:46.759000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nordirland-der-unfertige-frieden-100.html
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Rechtsanspruch auf Kita-Plätze wird "nicht erfüllt werden"
Friedbert Meurer: In Deutschland ist in den letzten Jahren um kaum ein anderes Thema so heftig gestritten worden wie um den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Gesellschaftsanschauungen prallten hier aufeinander: Die Mütter wollten sich nur im Job selbst verwirklichen, kleine Kinder sollten doch besser zuhause betreut werden. Die ideologische Schlacht aber ist überwiegend geschlagen. Die allermeisten Eltern wollen einfach einen Kita-Platz, um Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Ab dem 1. August haben sie jetzt auch einen Rechtsanspruch. Aber lange hat es so ausgesehen, als würde der eher nur auf dem Papier stehen. Zu groß und zu teuer schien die Aufgabe für die Kommunen zu sein, neue Kitas, neue Plätze aus dem Boden zu stampfen. Das scheint genau jetzt aber doch gelungen zu sein, zumindest von den nackten Zahlen her gesehen. Katja Dörner ist die Obfrau der Grünen im Familienausschuss des Deutschen Bundestages, ich bin jetzt mit ihr verbunden. Guten Tag, Frau Dörner!Katja Dörner: Hallo, Herr Meurer.Meurer: Alles in allem ist das ein Tag für die Familien, um ein Glas Sekt aufzumachen?Dörner: Es ist auf alle Fälle ein guter Tag. Wir können sehen, dass es tatsächlich noch mal einen Sprung beim Ausbau gegeben hat im letzten Jahr, in den letzten Monaten, und deshalb können tatsächlich die Eltern insbesondere sich auch freuen.Meurer: Jetzt haben wir ja noch eine zweite Zahl genannt bekommen. 800.000 sagt die Familienministerin, das Statistische Bundesamt hat gezählt: Im März waren es 600.000. Misstrauen Sie der Zahl 800.000, 820.000?Dörner: Das sind meines Wissens die Zahlen, die die Länder Ende Juni ans Bundesministerium gemeldet haben. Insofern gehe ich zunächst mal davon aus, dass das korrekte Zahlen sind. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes stammen ja von Ende März und ich weiß auch aus vielen Kommunen, dass gerade in den letzten Monaten noch mal deutlich investiert worden ist, dass gerade jetzt auch zum neuen Kindergartenjahr, zum 1.8. konkret neue Gruppen auch aufgemacht werden, ganze Tageseinrichtungen neu aufgemacht werden. Deshalb kann ich mir durchaus auch eine deutliche Steigerung zwischen März und August noch mal vorstellen.Meurer: Wie oft ist da, ich will mal sagen, mit ein paar Tricks gearbeitet worden, dass die Gruppen zum Beispiel vergrößert worden sind und jetzt eben nicht 20, sondern 22 Kinder oder noch mehr in einer Gruppe sind?Dörner: Das gibt es in einzelnen Bundesländern auch im Sinne von Übergangslösungen. Da kommen wir zu einem ganz wichtigen Punkt, wie ich finde: die Frage der Qualität der Kita-Plätze, der U3-Plätze, aber natürlich der Plätze in den Kindertagesstätten insgesamt. Das ist, wenn der Platzausbau jetzt erfolgreich abgeschlossen ist, eine der ganz zentralen Herausforderungen, der wir uns auch aus Bundessicht stellen müssen. Ich finde es sehr wichtig, dass klar ist, der Bund ist jetzt nicht sozusagen raus aus der Pflicht, was den Kita-Ausbau angeht. Wir haben eben gehört, in den Ballungszentren insbesondere wird der Rechtsanspruch zum 1.8. absehbar nicht erfüllt werden. Da plädieren wir Grüne dafür, ein Sofortprogramm aufzulegen, um insbesondere diese Kommunen gezielt zu unterstützen. Aber daran anschließen muss sich wirklich eine Qualitätsoffensive, damit wir einen besseren Personalschlüssel in den Kitas bekommen, und da muss sich ganz klar der Bund auch an der Finanzierung beteiligen.Meurer: Frau Dörner, gerade in Ländern, die von SPD und oder Grünen mitregiert werden, gehen die Landesregierungen dazu über, die Kita-Plätze beitragsfrei zu stellen. Sollte man nicht sagen, erst mal genügend Kita-Plätze schaffen, erst mal für Qualität sorgen, um dann in einer zweiten Stufe die Beiträge zu senken und abzuschaffen?Dörner: Wir Grüne finden es als Zielperspektive sehr richtig zu sagen, in den Kitas sollen keine Beiträge bezahlt werden. Bildung sollte grundsätzlich kostenfrei sein, nicht durch Gebühren finanziert werden. Aber in der Schrittigkeit sehe ich es schon so, dass man zunächst auf Qualitätsverbesserung setzen sollte, um zu kleineren Gruppen zu kommen, um beispielsweise auch Ganztagsplätze weiter auszubauen. Auch dafür braucht man zusätzliches Personal. Deshalb bin ich in der Schrittigkeit dafür zu sagen, erst Qualitätsverbesserung und im nächsten Schritt die Gebührenfreiheit.Meurer: Die Eltern verdienen ja mehr Geld, wenn sie beide arbeiten können. Kann man dann nicht sagen, 200 Euro im Monat, das ist doch absolut zumutbar für einen Kita-Platz?Dörner: Die Kita ist eine Bildungseinrichtung. Sie sollte allen Kindern offenstehen und es sollte da keinerlei Hürden geben. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, dass die Bildung in der Schule gebührenfrei ist und in der Kita nicht. Deshalb ist die Zielperspektive Gebührenfreiheit richtig. Aber wie schon gesagt: Wir haben noch so große Herausforderungen, was die Qualität angeht, dass da jetzt die Priorität sein muss.Meurer: Wir haben, Frau Dörner, jetzt ab 1. August den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Was empfehlen Sie Eltern zum Beispiel in einer Großstadt, die keinen Platz angeboten bekommen?Dörner: Sich natürlich zunächst vom Jugendamt - oder beispielsweise in Bonn haben wir eigens ein Familienbüro - beraten lassen, welche Möglichkeiten es gibt, natürlich sich auch frühzeitig melden. Das haben die meisten Eltern auch getan. Und im Zweifelsfall: Es ist ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch. Im Zweifelsfall muss man auch diesen Weg gehen.Meurer: Wie oft wird das vorkommen, die Klagen? Was denken Sie?Dörner: Das ist schwer abzusehen. Die Kommunen haben ja zunächst mit einer größeren Klagewelle gerechnet. In den letzten Stellungnahmen der Kommunen wird das deutlich eingeschränkt. Deshalb gehe ich selber nicht von einer riesengroßen Klagewelle aus und mein Eindruck ist auch, dass die Kommunen sehr bemüht sind, wenn die Eltern sich frühzeitig gemeldet haben, auch den Platz zur Verfügung zu stellen.Meurer: Haben eigentlich die Eltern auch einen Anspruch auf einen wohnortnahen Kita-Platz, oder können die Städte die abspeisen, indem sie sagen, fahr bitte zehn Kilometer weiter, dann hast Du einen Platz?Dörner: Man hat keinen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer bestimmten Kita oder im eigenen Stadtteil, sondern es ist ein Rechtsanspruch, der sich an die Kommune, also relativ allgemein, was die Örtlichkeit angeht, richtet. Aber auch da ist mein Eindruck, da muss man wirklich das den Kommunen auch zugestehen, dass die Kommunen sehr darauf bedacht sind, es so zu organisieren, dass es auch wohnortnah erfolgt.Meurer: Die grundsätzliche Diskussion um die Kitas ist ja noch nicht so ganz abgeklungen. Gerade im Westen gibt es da noch Vorbehalte. Ist ein einjähriges Kind wirklich gut aufgehoben in einer Gruppe mit 15, 20 anderen Kindern?Dörner: Das kommt tatsächlich sehr stark darauf an, dass die Qualität in den Einrichtungen gut ist, dass der Schlüssel Personal zum Kind möglichst gering ist. Da haben wir noch deutliche Defizite. Erst letzte Woche hat die Bertelsmann-Studie in ihrem Länderbericht Zahlen noch mal präsentiert, die deutlich machen, dass insbesondere übrigens in den östlichen Bundesländern die Betreuungsrelation relativ schlecht ist, aber eben auch im Westen noch Ausbaubedarf besteht. Da sind wir auch der Meinung, dass die zukünftige Bundesregierung, dass wir im Bundesgesetz festschreiben sollten einen bestimmten Fachkraft-Kind-Schlüssel, um ein gutes Niveau auch bundesweit festzuschreiben, und daran müsste sich der Bund dann auch über 2013 hinaus an der Finanzierung beteiligen.Meurer: Katja Dörner, die Obfrau der Bündnis 90/Grünen im Familienausschuss des Deutschen Bundestages. Heute sind neue Zahlen bekannt gegeben worden: Mehr als 800.000 Kita-Plätze soll es jetzt geben. Frau Dörner, danke und auf Wiederhören.Dörner: Ich bedanke mich - schönen Tag Ihnen.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katja Dörner im Gespräch mit Friedbert Meurer
Wenn Eltern trotz Rechtsanspruch keinen Kita-Platz für ihr Kind erhalten, müssten sie im Zweifelsfall klagen, rät die Obfrau der Grünen im Familienausschuss des Bundestages, Katja Dörner. Denn obwohl die Zahl der Plätze stark ausgebaut wurde, reiche sie nicht aus in Ballungszentren.
"2013-07-11T12:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:25:56.984000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsanspruch-auf-kita-plaetze-wird-nicht-erfuellt-werden-100.html
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Der Unionsstreit schlägt auf die Stimmung
Horst Seehofer, CSU, bleibt Bundesinnenminister (dpa-Bildfunk / Bernd von Jutrczenka) Nach Prosit und Gemütlichkeit ist den Mitgliedern des CSU-Ortsvereins Vaterstetten bei München derzeit nicht zumute. Die letzte Umfrage ergibt 38,5 Prozent für die CSU, die AfD steigt auf 15 Prozent und die Berliner Koalition droht jede Minute auseinander zu brechen: " Ja, alles durcheinander. Chaos pur." An diesem Abend in der Box Nummer 3 auf dem alljährlichen Volksfest wirkt die Stimmung gedämpft. Die Anspannung, ob und wie gerade im preußischen Berlin die Gespräche zwischen CSU und CDU laufen, versucht man in Bayerns größtem CSU-Ortsverband bei einer Maß Bier zu verdrängen: "Letztendlich hat die CSU für Bayern das Bestmögliche herausgeholt. Was wäre Deutschland ohne Bayern." "Wir müssen am Ende des Tages jegliche Bewegung, die die Partei macht, direkt bei den Leuten vertreten und das macht es natürlich nicht ganz einfach." Nicht mit Journalisten sprechen Die acht reservierten Bierbänke für den CSU-Stammtisch füllen sich langsam. Die einen kommen in Lederhosen, andere in Jeans und Hemd, ein junges Mädchen in Dirndl. Das Wort Kasperletheater fällt des Öfteren: "Ja, großes Hickhack, hin und her. Man müsste vielleicht mal seine Linie durchziehen und nicht immer hin und zurück, hin und zurück. Das ist eigentlich das größte Problem. " Kreishandwerksmeister Johann Schwaiger, CSU-Listenkandidat für die bayerischen Landtagswahlen im Oktober, ist mächtig verärgert, will es sich aber nicht anmerken lassen. Die Gaudi, die sie da in Berlin veranstalten sei, "schon recht blöd": "Ja, da gibt es dann wieder den Spruch mit Seehofer, Drehhofer. Für die Basis ist es sehr blöd und speziell für einen Listenkandidaten ist es blöd, damit umzugehen." Vorn auf der Bühne beginnt eine Band zu spielen. Man wolle eigentlich überhaupt nicht mit Journalisten sprechen, gerade jetzt nicht, unterbricht Christl Mitterer abrupt das Interview, stellvertretende CSU-Fraktionsvorsitzende im örtlichen Gemeinderat und vor sieben Jahren noch SPD-Mitglied. Man hätte bereits dem Bayerischen Rundfunk, RTL, ARTE und anderen Medien abgesagt. Ihre Nerven liegen offensichtlich blank: "Wir sitzen heute hier gemütlich beieinander, wir diskutieren gern miteinander, wir rennen uns vielleicht auch die Köpfe ein, wie auch sonst bei anderen Themen in der Kommunalpolitik, in der Landespolitik und Europapolitik, aber ansonsten würden wir heute gern unter uns sein." "Atmosphärische Störungen" Das sehen nicht alle CSU-Mitglieder so. An diesem Abend, wenn jede Minute die Koalition platzen oder ihr CSU-Parteichef Horst Seehofer zurücktreten könne, sei er in Gedanken natürlich in Berlin, sagt Michael Niebler, CSU-Fraktionsvorsitzender in Vaterstetten. "Also der Wähler schätzt das nicht, das wissen wir ja, wenn es Streit innerhalb einer Partei gibt oder zwischen zwei Schwesterparteien, deshalb ist es wichtig, deshalb ist das jetzt wichtig, dass das jetzt schnell beendet wird." Niebler wirkt erstaunlich überzeugt von einer schnellen Lösung zwischen Kanzlerin Merkel und CSU-Bundesinnenminister Seehofer. Reiner Zweckoptimismus? "Also da hat es jetzt eine Zuspitzung in den letzten Tagen gegeben. Ich glaube, dass es nicht nur einen Schuldigen gab, nicht nur Seehofer, sondern da hat es auch atmosphärische Störungen gegeben. Ich finde es bedauerlich, dass es so weit gekommen ist, umso wichtiger ist, dass man es wieder entschärft." Die Landtagswahl sei erst in drei Monaten und zwei Wochen, winkt Niebler ab. Dazwischen liegt die Sommerpause, bis dahin sei der Streit zwischen den Schwesterparteien CSU/CDU vergessen: "Wir hatten in den letzten drei Wochen einen Austritt gehabt wegen dieser Zuspitzung, aber wir haben in den vergangenen Wochen auch fünf Eintritte gehabt." "Ich glaube, inhaltlich kann man sagen, es geht in die richtige Richtung. Die Art und Weise, wie es abgelaufen ist, ist das was man hinterfragen müsste, weil wir uns da selber ein hausgemachtes Problem geschaffen haben. Und ob das der richtige Weg ist, stelle ich jetzt mal in Frage." Ersatz für Seehofer? Die Partei bräuchte eine neue Führung. Der junge CSU-ler, ein Mittzwanziger der Jungen Union, spricht Klartext: "Ich glaube, momentan führt da kein Weg dran vorbei. Das ist wahrscheinlich die letzte Konsequenz, die es in dem ganzen Streit, wie er gerade läuft, geben wird und was danach kommt, ist sicherlich auch nicht uninteressant." Ein Handwerksmeister aus dem Nachbarort sieht darin ebenfalls die einzige Lösung. Eine Zukunft für die CSU gebe es nur ohne Seehofer - natürlich nur innerhalb der Koalition. Diese stellt an diesem Abend niemand in Frage, aber das Taktieren des Bundesinnenministers in den letzten Tagen mache die CSU unglaubwürdig. Sein Vorschlag: Ein personeller Neuanfang der CSU-Spitze, ein Bundesinnenminister Joachim Herrmann oder auch Stephan Mayer, Seehofers parlamentarischer Staatssekretär als dessen Nachfolger. Gegen 22 Uhr steht dann fest: Der Durchbruch im Koalitionsstreit ist geschafft. Seehofer bleibt. Für die CSU-Basis bleibt es kompliziert.
Von Susanne Lettenbauer
Bundesinnenminister Horst Seehofer ist nicht zurückgetreten, alle anderen CSU-Minister bleiben ebenfalls. Doch sein Taktieren ist für die CSU-Basis eine Belastung. Beim Treffen des größten Ortsverbands Vaterstetten bei München werden die Stimmen junger CSU-Mitglieder nach einer neuen Führung immer lauter.
"2018-07-03T14:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:00:06.497000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/diskussionen-an-der-csu-basis-der-unionsstreit-schlaegt-auf-100.html
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Das freundliche Gesicht der tschechischen Schuldeneintreiber
"Man vergisst oft die Gläubiger", sagt Jana Tatyrkova vom Verband der tschechischen Inkasso-Unternehmen (Deutschlandradio/Kilian Kirchgeßner) Für das Treffen hat sie ein Café vorgeschlagen, gleich um die Ecke bei ihrem Büro ein paar Schritte vom Prager Wenzelsplatz entfernt. Jana Tatyrkova macht es sich in einem Sessel bequem. Sie ist Geschäftsführerin des Verbandes der tschechischen Inkasso-Agenturen; das freundliche Gesicht der Branche der Schuldeneintreiber, die im Misskredit steht. Am Anfang, erzählt sie, habe sie kritische Blicke geerntet, als sie von ihrem neuen Arbeitgeber erzählte: "Viele Freunde haben gesagt: Inkasso-Agenturen – sind das die Gerichtsvollzieher? Nein, das ist etwas ganz anderes. Und hast du keine Angst? Wovor soll ich Angst haben? Ich finde, Schulden sollen auch bezahlt werden. Wenn ich etwas verspreche, dann muss ich es auch halten. Damit habe ich kein moralisches Problem." "Auch die EU ist pro-schuldnerisch" Jana Tatyrkova ist in ihren Vierzigern, die blonden Haare sind schulterlang. Es gehe bei der Frage nach dem Umgang mit Schuldnern vor allem um die Frage nach der Zahlungsmoral, argumentiert sie – und findet, die Debatte in Tschechien sei in Schieflage geraten: "Man vergisst oft die Gläubiger. Immer ist die Frage: Wie kann man den Schuldnern helfen, wie kann man sie entschulden, selbst wenn sie gar nichts bezahlen? Ich finde das nicht richtig. Man sollte ihnen auf jeden Fall helfen, ganz klar – aber dabei helfen, zu bezahlen. Ihnen muss klar werden, dass sie etwas angerichtet haben. Sie haben sich verpflichtet, etwas zu bezahlen, und das tun sie nicht; daraus ist das Problem entstanden. Man sollte auch in den politischen Debatten die Gläubiger nicht vergessen. Das Pendel ist in ein Extrem ausgeschlagen, und die Bemühungen auch der EU sind sehr pro-schuldnerisch." Eigenwillige Methoden mancher Inkasso-Firmen Jana Tatyrkova holt ein Blatt Papier aus ihrer Aktentasche, darauf eine blaue Pyramide, die auf der Spitze balanciert. Sie soll illustrieren, was in der Debatte zur Unwucht führe: "Diese Pyramide hat mein Kollege gezeichnet. Schauen Sie, hier unten in der Spitze der Pyramide: Das sind die 20.000 Tschechen, die jährlich die Privatinsolvenz beantragen. Darüber das Feld zeigt die 500.000 Posten, die jährlich in die Zwangsvollstreckung kommen. Das ist die Spitze, um die man sich kümmert – aber um den breiten Teil der Pyramide hier oben kümmert man sich nicht." Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Tschechen in der Schuldenfalle. Sie zeigt auf das obere Ende der Grafik. 2.000 Milliarden Kronen Schulden von Privathaushalten, steht dort, darüber eine noch größere Zahl: 10.000 Milliarden Kronen Schulden in der tschechischen Wirtschaft. In den meisten Fällen sei das Verhältnis zwischen Gläubigern und Schuldnern gut, es gebe keine Probleme – das gerate leicht in Vergessenheit. Stattdessen werde sie immer wieder mit den schwarzen Schafen ihrer Branche konfrontiert, und deren Methoden seien tatsächlich eigenartig: "Da kommt es vor, dass der ganze Arbeitsplatz mit Zetteln zugeklebt wird, auf denen steht, dass diese und jene Frau Schulden hat und nicht bezahlen will. Oder in der ganzen Straße, wo ein Schuldner wohnt, werden Flugblätter hinter die Scheibenwischer geklemmt. Oder Lautsprecherwagen rufen den Namen des Schuldners überall aus. Das sind seltene Fälle, aber sie sind es, die in den Medien sichtbar sind." "Es geht heute nicht mehr um Baseballschläger" Der Kellner bringt ihr einen Latte Macchiato. 80 Prozent der tschechischen Inkasso-Unternehmen sind Mitglied in Jana Tatyrkovas Verband, im zurückliegenden Jahr kümmerten sie sich um annähernd anderthalb Millionen neue Forderungen in einem Umfang von umgerechnet fast einer Milliarde Euro. Die Inkasso-Agenturen sind ein Glied in der Kette, mit der es die Schuldner zu tun bekommen: Profis, die für Firmen die Ausstände eintreiben. Erst, wenn auch die Inkasso-Agenturen keinen Erfolg haben, kommt es üblicherweise zum Gerichtsverfahren und dann zur Zwangsvollstreckung. "Der Unterschied zu den 1990er-Jahren ist deutlich. Heute legen die Inkasso-Agenturen großen Wert auf die Ethik des Geldeintreibens; es geht nicht mehr um extreme Aggressivität. Die Firmen haben sehr ausgefeilte Systeme, um die Schritte gut aufeinander abzustimmen: SMS-Nachrichten, Anrufe, Vertreter vor Ort. Es geht heute nicht mehr um Baseballschläger, wie das in den 90er-Jahren manchmal der Fall war." Die Branche ist weitgehend unreguliert Genau an dieser Stelle liege aber das Problem, das räumt Jana Tatyrkova ein – und das sei eine tschechische Besonderheit: Die Branche ist weitgehend unreguliert; viele Unternehmen greifen zu dubiosen Mitteln oder schlagen abenteuerliche Gebühren auf die ursprünglichen Forderungen auf. Die Mitgliedsunternehmen ihres Verbands, betont Jana Tatyrkova, verpflichteten sich auf einen Ethik-Kodex. Die anderen Inkasso-Firmen, die immerhin ein Fünftel des Marktes ausmachten, allerdings nicht – und die rückten die ganze Branche in ein schlechtes Licht. Seit Jahren schon werben Tatyrkova und ihre Kollegen für ein Gesetz, das dem Inkasso-Geschäft Fesseln anlegt. Tatyrkova schüttelt den Kopf. "Damit putzen wir immer noch die Klinken, wir gehen von einem Minister zum nächsten, weil die so häufig wechseln. Aber leider: Eine legislative Verankerung des außergerichtlichen Inkassos ist noch nicht zustande gekommen." Und so kämpft Jana Tatyrkova gleichzeitig gegen den schlechten Ruf ihrer Branche und gegen eine Politik, die sie für zu Schuldner-freundlich hält. Eins immerhin gebe Anlass zur Hoffnung, sagt sie: Die Zahlungsmoral in Tschechien sei deutlich besser geworden in jüngster Zeit – eine Folge der boomenden Wirtschaft.
Von Kilian Kirchgeßner
Wer Schulden hat, soll sie auch bezahlen, findet Jana Tatyrkova, Verbandschefin der tschechischen Inkasso-Agenturen. Die Politik hält sie inzwischen für zu schuldnerfreundlich. Gleichzeitig weiß sie um die Methoden der schwarzen Schafe ihrer Branche und fordert mehr Regulierung.
"2020-04-22T09:10:00+02:00"
"2020-01-26T23:07:30.457000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/inkasso-branche-das-freundliche-gesicht-der-tschechischen-100.html
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Hungriges Windows 10
Die Oberfläche des Betriebssystems Windows 10 (picture alliance / dpa / Microsoft) "Insgesamt kann man sagen: Der Verbraucher wird bei der Nutzung komplett überwacht, ausgeforscht - das hat technische Hintergründe. Das hat aber auch Gründe für Marketingzwecke", ... Manfred Kloiber: ... sagt Christian Gollner von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Er hat sich genauer angesehen, welche Daten Windows 10 bei den Anwendern einsammelt und an die Microsoft-Server übermittelt. Doch genau diese Datensammelei könnte sich als böser Bumerang erweisen - und zwar für Microsoft. Warum Peter Welchering? Peter Welchering: Weil die Bürger und Anwender diese umfassende Datensammelei und Profilbildung nicht mehr so mitmachen wollen. Der Widerstand dagegen wächst. Und genau das kann sich Microsoft nicht leisten. Microsoft tritt mit Windows 10 letztlich auch gegen Android an. Deshalb haben die Entwickler sehr stark auf eine sehr komfortable Bedienung, auf mehr Sicherheit als bisher Wert gelegt. Dass die vielen Daten, die Windows 10 erhebt, dabei zum Problem werden können, haben sie einfach nicht einkalkuliert. Aber Microsoft muss darauf reagieren. Nicht sofort, sie haben noch Zeit dafür. Die Stimmung ist noch nicht gekippt, aber das Unbehagen, dass ein Betriebssystem alle relevanten Nutzungsdaten an den Systemhersteller schickt, das wächst. Das ist in Europa natürlich viel ausgeprägter als in den USA. Und auf diesen Unbehagen muss Microsoft reagieren. Da schwitzen die Strategen in Redmond schon über ihren Hausarbeiten. Kloiber: Da ist es natürlich interessant zu wissen, welche Daten Windows 10 denn so sammelt, wohin sie übermittelt werden und wie sie ausgewertet werden. Mit anderen Worten: Wie gefährlich ist die Datensammelei von Windows 10 für den Anwender? Und die zweite Frage lautet: Wie gefährlich ist diese Datensammelei von Windows 10 für Microsoft? Windows 10 und Verbraucherschützer In der Schweiz hat der eidgenössische Datenschutzbeauftragte erste Ermittlungen aufgenommen. Dort will man wissen, ob der Datenhunger von Windows 10 das Recht der Schweizer Bürger auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. In Russland prüft der Generalstaatsanwalt, ob Windows 10 gegen Datenschutzbestimmungen verstößt. Auch in Deutschland hat die Diskussion über Nutzerdaten, die Windows 10 nach Hause telefoniert, bereits begonnen. Und es geht um viele Daten, die da erhoben werden. Christian Gollner von der Verbraucherzentrale Rheinlad-Pfalz in Mainz: "Das geht sehr ins Detail. Welche Dienste werden genutzt? Wie lange werden diese genutzt? Es werden Kontakte gesammelt zu Personen, Es wird gesammelt, wie häufig ich mit Personen in Kontakt stehe. Es wird der Standort gesammelt. Es wird zum Beispiel auch für Zusatzdienste wie den Assistenten Cortana die Aussprache gesammelt, es wird der Schreibstil analysiert. Es wird geschaut, wie man auf Windows-Geräte tippt. Auch der neue Browser Edge in Windows 10 sendet wie andere Versionen des Internet Explorer den Browserverlauf an Microsoft für eine bestimmte Zusatzfunktion." Microsoft argumentiert, dass diese Daten zum einen notwendig seien, um größtmögliche Sicherheit vor Schadsoftware und Hackerangriffen bieten zu können. Zum anderen wolle man dem Anwender den Umgang mit einem so leistungsstarken und deshalb komplexen Betriebssystem so einfach wie möglich machen. Auch die Datenschützer räumen ein, dass verschiedene betriebliche Daten ausgewertet werden müssen, um Sicherheit und Komfort bieten zu können. Aber sie kritisieren die Vorgehensweise von Microsoft. "Das Problem, das wir hier sehen, ist, dass Windows 10 in der Standardeinstellung alle Datenübertragungen vornimmt. Ich muss, wenn ich das nicht wünsche, nachträglich die Datenschutzeinstellungen so wählen, wie sie mir sicher und sinnvoll erscheinen." Die Datenübertragung im Nachhinein wieder abzuschalten, das ist aufwändig, äußerst kompliziert und nicht immer erfolgreich. Deshalb fordern Datenschützer, dass bei der Installation von Windows 10 keine pauschale Zustimmung des Anwenders, die Daten abgreifen zu dürfen, eingeholt wird. Sondern der Anwender sollte für jede Datenart seine gesonderte Zustimmung geben. Und sie fordern, dass Microsoft transparent macht, wer alles Zugriff auf diese Daten hat und wie lange sie gespeichert werden. Denn eines beunruhigt die Anwender zunehmend. "Welche Nachteile kann ich aus einer bestimmten Verwendung haben, wenn Daten fünf Jahre gespeichert werden, zum Beispiel? Das sind Fragen, die sich in ähnlicher Weise stellen bei Auskunfteien, bei der Schufa, bei Infoscore, Unternehmen, die Bonitätswerte ermitteln, Scoringwerte über Verbraucher, die Unternehmen über die Bonität informieren, die aber in ähnlicher Weise auch über die Kaufkraft und Zahlungsbereitschaft informieren können." Deshalb wollen auch einige Wirtschaftsauskunfteien in den USA gern mit Microsoft zusammenarbeiten. Das beunruhigt sogar die ansonsten sehr auskunftsfreudigen US-Bürger. Darauf muss Microsoft reagieren. Denn ernsthafte Bedenken der Anwender, Windows 10 zu installieren, kann sich das Unternehmen nicht leisten. Nachdem Microsoft vor Jahren bereits die mobilen Entwicklungen weitgehend verschlafen hat, gilt Windows 10 als der letzte Schuss, der Microsoft noch verbleibt, um weiter bei den ganz Großen im Markt mitspielen zu können. Der unabhängige IT-Analyst Carmi Levy aus London bringt das mit britischem Understatement so auf den Punkt. "Die Industrie entfernt sich vom traditionellen PC. Und nur 16 Prozent der Windows-Computer laufen unter Windows 8. Deshalb braucht Microsoft Windows 10, um es wieder nach vorn zu schaffen und um die Grundlage für künftiges Wachstum wieder zu sichern." Kloiber: Peter Welchering, da könnte man fast annehmen, dass sich Microsoft mit dem Datenkonzept von Windows 10 selbst ein Bein gestellt hat, oder? Welchering: Zumindest haben sie nicht weit genug gedacht. Die Überlegungen gingen eher in die Richtung, einen attraktiven Assistenten, eine komfortable Benutzeroberfläche und eine Menge Sicherheitsfeatures einzubringen. Windows 10 soll ja die stationären mit den mobilen Geräten zusammenbringen. Um hier sowohl viel Sicherheit als auch hohen Benutzerkomfort bieten zu können, sind viele prädiktive Analysen notwendig. Das System muss wissen, was will der Anwender als Nächstes und was ist die nächste Gefahr von außen. Für solche prädiktiven Analysen braucht man so viele Nutzerdaten wie möglich. Und ganz klar haben sich die Strategen bei Microsoft dann gedacht. Wenn wir diese Daten schon alle haben, dann müssen wir die auch in Richtung Marketing und Werbung einsetzen und richtig Geld machen damit. Und das müssen sie jetzt zurückfahren. Unmut bei Anwendern Kloiber: Hat sich denn außer bei den professionellen Datenschützern schon Widerstand gegen diese Datensammelei geregt? Welchering: Widerstand würde ich das nicht nennen. Unmut ist bei immer mehr Anwendern aufgekommen. Und dieser Unmut ist für Microsoft gefährlich. Denn Microsoft muss es unbedingt schaffen, dass möglichst viele Windows 7 und Windows 8 Nutzer jetzt auf Windows 10 umsteigen. Sonst haben sie den Anschluss an Android endgültig verloren. Und das bisherige PC-Geschäft bringt da nicht mehr die Margen. Aber Nutzer, die Unmut über den Umgang mit den Nutzerdaten durch den Betriebssystemhersteller empfinden, überlegen sich das sehr gut, ob sie umsteigen. Das zögert die Quote der Umsteiger raus und auch das kann Microsoft nicht brauchen. Die brauchen den schnellen Umstieg ganz vieler Anwender auf Windows 10 möglichst bis zum Jahresende. Kloiber: Hat man denn bei Microsoft schon Konsequenzen aus dieser Situation gezogen? Welchering: Offiziell noch nicht. Da verbreitet man natürlich die typisch amerikanische Aufbruchstimmung, schwelgt in Superlativen. Was eben solche Softwarehersteller so machen. Aber man hört aus Entwicklerkreisen, dass über unterschiedliche Redesign-Möglichkeiten von Microsoft 10 schon nachgedacht wird. Natürlich wollen die weiterhin an die Nutzerdaten kommen. Die brauchen die für ihre Geschäfte. Aber das geht nur mit den Anwendern. Also muss man denen das möglichst schmackhaft machen. Und das zielt dann in die Richtung: Wir geben Dir zusätzliche Cloud Services gegen Deine Daten. Und da der Anwender solchen zusätzlichen Cloud Services samt Gegengeschäft ja zustimmen muss, gibt er auch einzeln die Einwilligung, dass Microsoft diese Daten erhebt. Damit ist den Datenschutzgesetzen dann auch genüge getan. Und der Anwender ist zufrieden, weil er hat ja eine Gegenleistung bekommen. Kloiber: Besonders umstritten ist ja die mögliche Weitergabe der Nutzerdaten an Dritte. Wie wird sich das entwickeln? Welchering: Auf zwei Weisen. Microsoft wird die Daten weitgehend im Hause behalten, also keine Rohdaten abgeben. Schon die etwaige Zusammenarbeit mit Wirtschaftsauskunfteien wird zur geheimen Kommandosache erklärt. Die Zusammenarbeit mit amerikanischen Sicherheitsbehörden ist ohnehin geheim. Und dann kann das Microsoft-Management vor die Anwender treten und sagen: Wir behalten Deine Daten bei uns. Und wir berechnen Profile für unsere Auftrageber etwa für personalisierte Werbung nur im Hause, geben auch das nicht raus. Ob das reicht, um die Anwender dann in trügerischer Sicherheit zu wiegen, muss man abwarten.
Von Peter Welchering
Das Software-Unternehmen Microsoft hat dieses Jahr das Betriebssystem Windows 10 veröffentlicht. Seitdem hagelt es Kritik. Bei Verbraucherschützern und Anwendern wächst das Unbehagen gegenüber der Sammelwut der Nutzungsdaten durch den Hersteller.
"2015-08-29T16:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:56:37.237000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nutzungsdaten-hungriges-windows-100.html
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Schule für Roma und Aschkali
Im Loyola-Gymnasium in Prizren werden junge Roma und Aschkali unterrichtet (picture alliance / Le Pictori / MAXPPP/ dpa / Jan Schmidt-Whitley) Axel Bödefeld wird an diesem Morgen mit einer Hymne begrüßt. Eine Kinderschar hat sich um den deutschen Jesuitenpater geschart und singt lauthals "Djelem, djelem", die Roma-Hymne. Bödefeld steht auf Socken im Eingangsbereich eines schmucken zweistöckigen Gebäudes, davor ein großer Spielplatz, von dem aus der große Schriftzug auf dem gelb-blauen Bau zu sehen ist: Loyola-Tranzit steht dort in bunten Lettern. Tranzit heißt das Viertel im Süden von Prizren – weil die Verbindungsstraße zur Autobahn den Stadtteil durchschneidet. Hier leben vor allen Dingen Roma und Aschkali – aber auch albanische Familien. Neu gebaute Häuser stehen neben halb fertigen Gebäuden, dazwischen Baracken. Tranzit – der Name passt zu diesem Ort, der sich irgendwie im Übergang befindet, halb fertig, und ein bisschen chaotisch. Bildungsort für Kinder des Viertels Axel Bödefeld ist in den vergangenen Monaten oft in seinen kleinen Geländewagen gestiegen, um hierher zu kommen. Weit muss er nicht fahren, das Viertel liegt nur fünf Autominuten vom Loyola-Gymnasium in Prizren entfernt. Bödefeld war bis Mitte April Direktor des Gymnasiums, das vor 14 Jahren von einem seiner Ordensbrüder gegründet wurde. Bei Loyola-Tranzit gehe es darum, einen "Bildungsort" für die Kinder des Viertels zu schaffen, denn Schule und Bildung spielten in Roma-Familien traditionell eher eine kleine Rolle: "Häufig müssen die Kinder sich mit um das Einkommen der Familie mühen, müssen arbeiten in Autowaschanlagen oder betteln gehen. Dadurch wird die Schule vernachlässigt. Und leider müssen wir sagen, ist die Regierung des Landes und auch die Stadtverwaltung, die für Bildung zuständig wäre, nicht aktiv und auch nicht gewillt sich dafür einzusetzen, dass die Schulpflicht, die im Land besteht, für alle Kinder und Jugendlichen durchgesetzt wird. Und dass sie besonders wenig dafür tut, dass die Schulpflicht für Kinder und Jugendliche aus Minoritäten, also Roma, Aschkali, Ägypter, durchgesetzt wird." Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Bildung im Kosovo - Versagen eines jungen Staates". Von Anfang an war Ramadan Mustafa mit dabei. Angefangen habe alles auf einem Stück Wiese, erinnert sich der 19-Jährige: Improvisierter Nachmittagsunterricht, ältere Schüler des Loyola-Gymnasiums zeigen Kindern aus dem Viertel, wie man einen Stift richtig hält, erklären Zahlen und Buchstaben. 2017 dann wird ein Raum angemietet, 2018 mit Spendengeldern schließlich das Loyola-Tranzit-Haus gebaut, nur 50 Meter entfernt rauscht die Autobahn von Pristina in Richtung albanischer Grenze vorbei. Ramadan ist hier einer von vielen "Bashkëpuntorë", jungen Mitarbeitern, die alle im Viertel wohnen und auch dort aufgewachsen sind. Ramadan Mustafa stammt aus dem Tranzit-Viertel und war von Beginn beim Loyola-Tranzit-Projekt dabei. (Deutschlandradio / Christoph Kerstin) "Als wir angefangen haben, mussten wir noch jeden Morgen von Haus zu Haus gehen, um die Kinder abzuholen. Es gab auch Vorbehalte von Eltern. Die dachten, die Kinder werden hier religiös umgepolt, weil Loyola ja von Christen geleitet wird. Das hat sich aber alles schnell gelegt. Heute kommen die meisten Kinder von alleine. Und auch für die Älteren im Viertel wie mich ist das wichtig. Erst vor Kurzem haben wir einen neuen Mitarbeiter bekommen. Der hatte vorher in einer Waschanlage gearbeitet. Es war nicht einfach, die Familie zu überzeugen, dass er den Job aufgibt und zu uns kommt. Das ist schwierig, wenn die Eltern selbst wenig mit Bildung zu tun hatten. Meine Mutter zum Beispiel ist auch nur ein Jahr zur Schule gegangen." Schüler übernehmen Verantwortung 150 bis 200 Kinder besuchen täglich das Loyola-Tranzit-Haus: Es gibt einen Kindergarten, Hausaufgabenbetreuung, Musik- und Tanzunterricht. Dabei übernehmen auch Schüler des Loyola-Gymnasiums Verantwortung – und lernen dabei die soziale Realität vor ihrer Haustür kennen, eine wichtige Erfahrung, sagt Axel Bödefeld. Die Bildungssituation im Kosovo, das schlechte Abschneiden bei Pisa und die Vernachlässigung vor allem der ethnischen Minderheiten – am fehlenden Geld liege all das nicht: "Weil die internationalen Zuwendungen, zum Teil auch zweckgebunden für den Bildungsbereich, sind immens. Wenn die alle annähernd zweckgebunden eingesetzt würden, dann hätten wir eine völlig andere Bildungssituation. Wir haben es leider mit Verantwortlichen zu tun in fast allen politischen Ämtern, die wenig politischen Gestaltungswillen haben und doch sehr stark damit beschäftigt sind sich und ihre Clans gut zu versorgen. Wir haben eine Vermischung aus Korruption, Fantasielosigkeit, Unwille und einem anderen Verständnis von Staat: Die eigentliche verlässliche Größenordnung war und ist die Großfamilie. Bis dahin, dass die Symbole des Staates nicht wirklich eine Bedeutung haben: Die Flagge und die Hymne werden immer gedoppelt mit der albanischen Hymne und der albanischen Flagge." Eine kosovarische Flagge jedenfalls ist weit und breit nicht zu sehen im Tranzit-Viertel, und wenn die Kinder singen, dann ist es "Djelem, djelem" – die Hymne der Roma.
Von Christoph Kersting
Kinder von ethnische Minderheiten haben es im Kosovo schwer. Statt zur Schule zu gehen, arbeiten viele oder gehen betteln. Ein Projekt in Prizren im Süden des Landes will das ändern und bietet jungen Roma und Aschkali eine Chance auf Bildung.
"2019-04-27T11:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:47:57.686000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ethnische-minderheiten-im-kosovo-schule-fuer-roma-und-100.html
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Linke-Kandidat Kalle Gerigk: "Die Lage ist objektiv schlimmer als die Stimmung"
Das linke Spitzenduo für die NRW-Landtagswahl: Jules El-Khatib (l-r) und Carolin Butterwegge (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
Boeselager, Felicitas
Seit 2012 sind die Linken nicht mehr im Landtag in NRW vertreten, derzeit liegt die Partei laut Umfragen bei drei Prozent. Aufgeben wollen die Genossinnen und Genossen nicht, sondern werben unablässig um Stimmen - mit einem klaren Nein zu Waffenlieferungen in die Ukraine und ihrem Kernthema - soziale Gerechtigkeit.
"2022-04-27T07:50:00+02:00"
"2022-04-27T07:58:27.951000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wahlkampf-der-nrw-linken-die-lage-ist-objektiv-schlimmer-als-die-stimmung-dlf-8f94e064-100.html
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"Wir brauchen eine Möglichkeit der Akademisierung"
Über die künftige Ausbildung von Pflegekräften wird derzeit heftig gestritten. (dpa / Christian Charisius) Kate Maleike: Mehr Fachkräfte gewinnen für die Pflege, für das Gesundheitswesen in Deutschland, das ist also, wie wir gerade gehört haben, gar nicht so leicht. Eine Reform der Pflegeausbildung könnte da einen wichtigen Baustein setzen, denn wenn Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege nicht mehr, so wie bisher, separat ausgebildet werden, sondern die Ausbildungen zu einer verschmelzen, würde dies die Einsatzmöglichkeiten erhöhen und die Berufe attraktiver machen, sagen die Befürworter. Kritiker dagegen befürchten eine Schmalspurausbildung durch diese Zusammenlegung und halten sie für falsch. Und obwohl ein Kabinettsbeschluss vorliegt, blockiert der Streit gerade die gesamte Ausbildungsreform. Wie nun weiter? Dazu gibt es hier in "Campus & Karriere" mal ausführlich Klartext. Ich habe mich mit den Streitparteien für eine Viertelstunde verabredet, und zwar mit Andreas Westerfellhaus, dem Präsidenten des Deutschen Pflegerates, und mit Peter Clever. Er ist Mitglied in der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, und ich habe ihn gefragt, kommt ihm als Kritiker denn der aktuelle Reformstau nicht entgegen? Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. (imago/Metodi Popow) Peter Clever: Nein, uns kommt Aussitzen und Verschieben und Tricksen überhaupt nicht entgegen. Wir wollen ganz offen klären – es geht um die Frage, ob man drei Berufe, Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkrankenpflege zu einer Einheitsausbildung zusammenschmelzen kann, dreimal drei Jahre zu einmal drei Jahre für alle drei Berufe zusammenfassen. Und bis heute hat niemand vorgelegt, was eigentlich in den drei Jahren von einer Einheitspflegekraft gelernt werden soll. Es ist ein gesetzlicher Rahmen geschaffen worden, aber die Inhalte, die entscheidend sind, sind bis heute nicht auf den Tisch gelegt worden. Und das Interessante ist ja, die werden in der Ministerialbürokratie ausgedacht, nicht von den Praktikern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die die duale Berufsausbildung ansonsten in Deutschland zu Recht gut selbst organisieren, und deshalb ist es gut, dass nicht die Katze im Sack gekauft wird. Aber das hat nichts mit Vertagen zu tun. Maleike: Aber wie kann es denn sein, dass Sie gegen irgendwas sind, was Sie gar nicht kennen? "Dann muss aber die Spezialisierung sein" Clever: Wir sind dagegen, eine Einheitsausbildung zu machen, weil uns niemand bisher plausibel darstellen konnte, dass die so unterschiedlichen Anforderungen, wie sie in der Kinderkrankenpflege, wo ich mit einem Frühchen im Brutkasten zu tun habe, der Altenpflege mit einem demenzkranken Menschen in einer Pflegeeinrichtung und einem Akutkrankenhaus mit Operationsassistenz, dass das alles in einem einzigen Beruf gemacht werden kann. Wir halten das für falsch. Natürlich kann man gemeinsame Teile – die müssen Hygiene können und viele andere Dinge, die gleich sind in den Einrichtungen, auch gemeinsam machen, zwischen ein und zwei Jahren gemeinsame Ausbildung, dann lernt man sich kennen, man lernt auch andere Einrichtungen kennen. Dann muss aber die Spezialisierung sein, weil jeder Beruf auch voll einsatzfähig sein muss in der entsprechenden Einrichtung, wenn die Ausbildung abgeschlossen ist. Das sehen wir bei der Einheitsausbildung nicht gewährleistet. Maleike: Herr Westerfellhaus, vielleicht können Sie uns mal ein bisschen einen Einblick geben in das, was Herr Clever ja bemängelt, dass es im Grunde kein Curriculum gibt, so gesehen. Andreas Westerfellhaus, Präsident Deutscher Pflegerat. (picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka) Andreas Westerfellhaus: Na ja, an einer Stelle muss ich Herrn Clever recht geben, aber wirklich nur an einer Stelle, das ist, dass hier allein auf der gesetzgeberischen Seite ein neues Berufsgesetz entwickelt wird mit Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, allerdings ohne die Profession Pflege zu beteiligen. Und das ist die einzige Einschränkung dazu. Es ist keine duale Berufsausbildung im herkömmlichen Sinne. Ich muss dazu aufklären, es gibt ein eigenes Krankenpflegegesetz, es gibt ein eigenes Altenpflegegesetz, das bundeseinheitlich die Ausbildung regelt. Da sind die Zuständigkeiten der Arbeitgeberverbände und anderer Institutionen überhaupt gar nicht gefragt. Das heißt, die Institution und die Pflegeprofession selbst weiß ja an allererster Stelle, was sich genau in dieser Ausbildung ändern muss und was zukunftsfähig sein muss. Und vielleicht ist es der Fehler, dass wir in der Vergangenheit immer von einer Zusammenlegung von drei Ausbildungen gesprochen haben. Wir brauchen eine neue Ausbildung in der Pflege, um die sich verändernden Anforderungen in allen Sektoren der Versorgung alter Menschen wie auch Kinder und in allen Disziplinen, die dann anzugehen. Das können wir mit den herkömmlichen Mitteln nicht beantworten. Und niemand hat gesagt und sagt es auch nicht, dass wir jetzt drei ehemals getrennte Ausbildungen in einer wollen. "Die selbstständige Ausübung der Heilkunde, das wollen die Menschen" Wissen Sie, Sie müssen doch sehen, es gibt keine einzige Berufsausbildung im Gesundheitswesen, die nicht generalistisch angelegt wird. Wenn ich hier damit die Befürchtung äußere, dass es zu einer Schmalspurausbildung kommt, zu einem Abbau von Qualität, dann muss ich gleichzeitig allen anderen, zum Beispiel den Medizinern unterstellen oder den Physiotherapeuten, dass ihre Ausbildung eine nicht qualifizierte Ausbildung ist. Das heißt, ich brauche ein solides Paket, in dem ich die Möglichkeit habe, mich weiter zu qualifizieren für die unterschiedlichen Sektoren. Und dann sieht der Gesetzgeber ja sehr wohl vor, dass schon innerhalb der Ausbildung, zumindest in den Eckpunkten, eine sogenannte Schwerpunktbildung vorgenommen werden kann. Das heißt, wenn ich während der Ausbildung feststelle, dass ein bestimmtes Fachgebiet wie die Pädiatrie oder die Geriatrie mich interessiert, dann kann ich genau diesen Weg gehen. Und lassen Sie mich eins noch sagen: Wir brauchen nicht nur eine dreijährige Ausbildung in einer neuen Pflegeberufereform. Wir brauchen ein gesamtes Bildungskonzept, das heißt, wir brauchen eine bundeseinheitliche Assistentenqualifikation, wir brauchen eine dreijährige generalistische Ausbildung mit Schwerpunktbildung, und wir brauchen die Möglichkeit, für die, die können und die wollen, dann auch eine Möglichkeit der Akademisierung. Das geht in ganz Europa, warum bitte nicht in Deutschland? Warum ist das alles in Deutschland wieder nicht möglich, warum überlassen wir diese Diskussion denen, die hier fremd sind, die von der Profession wirklich nur sehr wenige Grundlagen im Inhalt kennen? Das leuchtet mir nicht ein. Wenn man einen Pflegeberuf attraktiv machen will, und warum reden wir nur von dem Namen, warum reden wir nicht von den Inhalten, die drin stehen? Erstmalig könnte ein solches Gesetz feststellen, dass vorbehaltene Tätigkeiten vorgenommen wird, damit endlich mal drin steht, nicht nur eine geschützte Berufsbezeichnung, sondern auch drin steht, was darf ich mit der Qualifikation – steht bislang nirgendwo. Die selbstständige Ausübung der Heilkunde, das wollen die Menschen, das wollen die Patientinnen und Patienten. Und dann wird ein Schuh draus. Ein durchlässiges Bildungskonzept für morgen ist die Grundlage letztendlich für die Versorgungssicherheit der Menschen. Das ist wichtig. Und das muss das erste Ziel sein. Maleike: Herr Westerfellhaus, ich hab jetzt ganz aufmerksam zugehört. Ich hab aber immer noch nicht so wirklich gehört, was Sie denn genau in diese neue Ausbildung eigentlich stecken wollen. Was sind die Dinge, von denen Sie sagen, das macht wirklich die Ausbildung zukunftsfähig und moderner, und wir werden dann auch die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern können. "Erstmalig sind Pflegende aller Bereiche autonom im Handeln" Westerfellhaus: Die Inhalte werden sicherlich, und das ist ja das Gesetzgebungsverfahren, Sie brauchen erst das Berufs-, das fertige Berufsreformgesetz, das ist das Gesetz, und die Verordnungen und die Ausführung zur Prüfungsverordnungsinhalte müssen gemeinsam mit uns in der Profession erarbeitet werden, Punkt. Der zweite Punkt ist aber, der wirkliche Fortschritt ist, dass erstmalig Pflegende aller Bereiche autonom im Handeln sind. Das heißt, sie sind nicht mehr abhängig von Delegationen. Sie können selbstständig, eigenverantwortlich über zum Beispiel die Versorgung chronischer Wunden entscheiden. Sie können diese diagnostizieren, sie können therapeutische Entscheidungen treffen. Das ist in der ambulanten Versorgung, in der Versorgung alter Menschen existenziell wichtig. Wir streiten uns in vielen Bereichen über die Delegation und die Substitution, wer darf in diesem System etwas. Wenn mir junge Auszubildende hinterher sagen nach einer dreijährigen Ausbildung – gefällt Ihnen der Beruf, würden Sie den noch mal – dann sagen die meisten ja. Und was stört Sie am meisten? Am meisten stört sie, sagt sie, wir haben so viel gelernt, wir sind nicht autonom im Handeln. Warum können und dürfen wir das, was wir gelernt haben, nicht einsetzen. Und das ist der existenzielle Fortschritt. Und ich plädiere dafür, dass wir uns jetzt auf den Weg machen. Und dann können wir gerne gemeinsam mit allen Akteuren, und das ist ja auch unser Wunsch, diese Entwicklung weiterhin aufmerksam und kritisch begleiten und dann Veränderungen herbeiziehen. Aber was wir jetzt tun – wir reden jetzt alles kaputt, und es kennt keiner vernünftige Alternativen in Aussicht, zumal die Europäische Union uns Vorgaben zur Veränderung eines Krankenpflegegesetzes ja auferlegt hat. Das heißt, es gibt ja Handlungsdruck, mal abgesehen von den inhaltlichen Veränderungen im Gesundheitswesen. Maleike: Herr Clever, das klingt eigentlich doch alles sehr zukunftsgewandt. "Wir sind nicht in den Akademisierungswahn gegangen" Clever: Nein, das klingt überhaupt nicht zukunftsgewandt. Das klingt egoistisch, und Herr Westerfellhaus hat die Katze aus dem Sack gelassen in einer Deutlichkeit, wie ich es noch nicht erlebt habe, mit dem Stichwort der Akademisierung. Wissen Sie, Deutschland wird gerade wegen der Nichtakademisierung, der exzellenten dualen Berufsausbildung überall in der Welt bewundert für die Leistung, die dahinter steckt. Westerfellhaus: Ist keine duale Ausbildung, sorry. Clever: Ja, formal ist es keine duale Berufsausbildung, aber Ihr Hinweis, in ganz Europa funktioniert die Akademisierung – in Deutschland haben wir die geringste Arbeitslosenquote unter Jugendlichen, weil wir nicht in den Akademisierungswahn gegangen sind. Wir haben in der Altenpflege im Moment eine Rekordausbildungszahl. 68.000 mit – Westerfellhaus: Und eine Rekordabbrecherquote. Clever: Eine Rekordausbildungszahl mit 68.000, und vielen, vielen Hauptschülern darunter. Und ich sage Ihnen, wir brauchen auch diesen Ausbildungsberuf, um das, was die Menschen am meisten nämlich besorgt, dass sie im Alter gut gepflegt werden können, brauchen wir die Altenpflege. Und wenn Sie mit der Akademisierung, wie Sie es ja schon mal probiert haben, uns über die europäische Hintertür quasi eine Falle zu stellen, indem Sie sagen, zwölfjähriger Schulbesuch ist die Voraussetzung für die Pflegeausbildung. Das wollten Sie schon mal betreiben. Sie hätten die Hauptschüler rausgeworfen aus dem Potenzial für die Altenpflege. Gute, qualifizierte, ordentliche Menschen, und das ist Ihr zentrales Ziel, Sie haben es gerade klar gesagt. "Wir brauchen eine zweijährige bundeseinheitliche Pflegeassistentenqualifikation" Westerfellhaus: Das ist Unsinn. Die Basis liegt in der Fähigkeit des Zuhörenkönnens. Ich habe gesagt, wir brauchen ein Bildungskonzept. Wir brauchen eine zweijährige bundeseinheitliche Pflegeassistentenqualifikation. Und da haben selbstverständlich alle einen Zugang zu dieser Ausbildung. Das heißt also, wenn ich eine zweijährige Assistentenqualifikation durchlaufen habe – viele Länder haben eine einjährige, einige haben eine zweijährige, mittlerweile haben einige gar keine Assistentenqualifikation – die ermöglicht allen diesen, die Sie gerade angesprochen haben, genau den Zugang zum Beruf. Und dann brauchen wir dieses System durchlässig gestaltet. Das heißt, wer nach zwei Jahren diese Qualifikation erfolgreich beschritten hat, dem öffnet sich der Weg in den gesamten weiteren Bereich der Qualifikation. Was kann denn für junge Menschen attraktiver sein, wenn ich weiß, ich setze mich in etwas hinein, es bietet mir berufliche Chancen, und es bietet mir Karrieremöglichkeiten, wenn ich kann und wenn ich will. Und ich habe gesagt, keine Vollakademisierung, sondern ich habe gesagt, denen, die wollen, und die, die können, die brauchen wir in Steuerungsprozessen in diesem Gesundheitswesen genauso wie die Assistenten, die in einem anderen Bereich, in einer anderen Situation, mit einer anderen Qualifikation arbeiten, dann erst wird ein Schuh draus. Wir brauchen dieses Bildungskonzept. Und da lasse ich mir auch nichts einreden. Clever: Ja, den Altenpfleger wollen Sie abschaffen. Westerfellhaus: Ist ja Unsinn. Clever: Und indem Sie ihn abschaffen, wollen Sie ihn aufwerten … Westerfellhaus: Es wird nicht besser, wenn Sie alte Lügen wiederholen. Clever: Nein, Sie haben es ja gerade selber gesagt. Westerfellhaus: Nein, wir wollen keinen Altenpfleger abschaffen, wir wollen eine Pflegeberufereform. "Sie wollen den Pfleger neben den Arzt stellen" Clever: Ja, richtig. Und das zu einer Einheitspflegeausbildung machen. Und Sie haben es gerade gesagt, der Hauptschüler soll in die Helfertätigkeit abgeschoben werden, in die Assistententätigkeit abgeschoben werden. Da, wo der Hauptschüler heute einen hochattraktiven zukunftsträchtigen Weg vor sich hätte mit einer voll anerkannten Ausbildung, wollen Sie quasi das Stoppschild setzen, weil Sie in eine Akademisierung hinein wollen. Und hier zeigt sich das wahre Interesse: Es geht Ihnen nicht um den Patienten in erster Linie, sondern um Ihre berufsspezifischen Interessen. Sie wollen in die akademische Welt hinein, Sie wollen den Pfleger neben den Arzt stellen. Und damit verschließen Sie für weite Bereiche, schließen Sie die Möglichkeiten für Hauptschüler. Westerfellhaus: An dieser Diskussion muss man erkennen, warum diese Diskussion durch die Profession Pflege geführt werden muss, und sie nicht Fremden wie dem BDA überlässt. Stellen Sie sich eine solche Diskussion bei der Veränderung einer medizinischen Studienordnung vor. Würden Sie die mit dem BDA oder mit anderen Organisationen führen? Nein. Würde auch keiner auf die Idee kommen, weil die Profession weiß am allerbesten, was das, was sie tagtäglich in allen Sektoren, in der ambulanten Versorgung, in der Altenpflegeversorgung, in der Krankenpflegeversorgung tagtäglich in den Institutionen erlebt, dass das einer dringenden Reform bedarf. Und warum man nicht dieser Profession genau das auch zugesteht, das ist ihre ureigene Tätigkeit und ihre ureigene Kompetenz. Und das macht sie im Sinne und im beruflichen Ethos gegenüber der Versorgung der Menschen. Und da lasse ich mir nicht unterstellen, das sind egoistische Methoden, oder wir haben nicht das Wohl des Patienten – dann kennen Sie diese Berufsgruppe nicht, Herr Clever. Maleike: Herr Westerfellhaus, Herr Clever, mit Blick auf die Uhr, wie geht jetzt eigentlich die Sache weiter? Hat die Reform der Pflegeausbildung in Deutschland noch eine Chance, Herr Clever? "Wenn man Reformen will, dann muss man sie auch mutig angehen" Clever: Eine Einheitsausbildung wird von uns entschieden abgelehnt. Wir wollen eine Modernisierung, bei der ein bis zwei Jahre gemeinsames Lernen möglich werden soll. Das wird die Berufe in sich durchlässiger machen. Aber anschließend muss ein Jahr mindestens Spezialisierung für Kinderkrankenpflege, für Krankenpflege, für Altenpflege folgen. Und die Altenpflege ist uns wichtig, weil sie das Reservoir ist auch für die Menschen, die nicht den höchsten theoretischen Ansprüchen genügen können, aber den Bedürfnissen der zu Pflegenden in der Altenpflege sehr wohl gerecht werden. Dafür steht für mich das Synonym des Hauptschülers oder dessen, der einen mittleren Schulabschluss nicht mit den besten Noten gemacht hat. Und für die brauchen wir auch sinnvolle anerkannte Beschäftigungen, und deshalb glauben wir, dass der Weg gemeinsam eine gewisse Zeit Ausbildung betreiben, aber dann die Spezialisierung in Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege. Auf diesem Weg sind wir jederzeit bereit, auch dann über die Inhalte zu sprechen, die gemeinsam gelernt werden müssen. Maleike: Herr Westerfellhaus, Ihr Blick in die Zukunft? Wie sieht der aus? Westerfellhaus: Wir halten natürlich an der Vorgabe fest. Wir sehen auch überhaupt gar keine Alternativen. Wenn man Reformen will, dann muss man sie jetzt auch mutig angehen, begleitet mit der Profession. Ich möchte nur mal eins sagen: Wir haben in über zehn Jahren über 40 Modelle in Deutschland erprobt, die in Auftrag gegeben waren im Rahmen einer generalistischen Ausbildung. Und alle haben gezeigt – und wir haben Schulen, die bereits nach solchem System in Deutschland funktionieren –, alle haben gezeigt, dass das sehr wohl den Interessen der Berufsausübenden, der Patienten, der Bewohner und der Institutionen nachkommt, dass damit ein richtiger Paradigmenwechsel in der Attraktivität des Berufsfeldes möglich ist. Und wenn man das über zehn Jahre lang erprobt, evaluiert hat, dann frage ich mich, worauf wartet man eigentlich noch. Und jetzt hoffe ich, dass die restliche Zeit der Bundesregierung dazu auch genutzt wird, zu Beginn des Jahres das Gesetzgebungsverfahren zu verabschieden. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Clever und Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Kate Maleike
In der Debatte über die Reform der Pflegeausbildung hat der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, ein Bildungskonzept gefordert, das jungen Menschen Karrieremöglichkeiten und akademische Abschlüsse eröffnet. Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände befürchtet, dass dadurch Hauptschüler in die Helfertätigkeit abgeschoben werden.
"2016-12-27T14:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:10:16.259000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streitgespraech-ueber-reform-der-pflegeausbildung-wir-100.html
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Merkel räumt Mitverantwortung ein
Angela Merkel beim G20 Gipfel (dpa/picture alliance/Bernd von Jutrczenka) "Ich bin Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin, das kann man nicht trennen, ich bin verantwortlich," sagte Merkel am Rande des G20-Gipfels im chinesischen Hangzhou. Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres sagte sie jedoch: "Wir haben entsprechend unser Verantwortung gehandelt." Auch das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei halte sie für richtig. Nun müssten aber "alle darüber nachdenken, wie wir Vertrauen zurückgewinnen können, an erster Stelle ich." Dabei werde auch das Thema Integration eine Rolle spielen und die Rückführung von Flüchtlingen ohne Aufenthaltsrecht. "Wir müssen einerseits humanitäre Verantwortung leben, aber gleichzeitig deutlich machen, dass diejenigen, die kein Bleiberecht haben, das Land wieder verlassen müssen." Gemeinsam mit der Parteispitze sei verabredet, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, so Merkel. Auch ein Land wie Deutschland könne nicht jedes Jahr so viele Flüchtlinge aufnehmen wie im vergangenen Jahr. CSU fordert Kurswechsel Nach dem schlechten Abschneiden der CDU und des Erfolges der AfD in Mecklenburg-Vorpommern hatte die CSU einen Kurswechsel der Bundesregierung gefordert. Bayerns Finanzminister Markus Söder sprach in der "Bild"-Zeitung von einem Weckruf für die Union. Die Stimmung der Bürger lasse sich nicht mehr ignorieren. Auch der innenpolitische Sprecher der Unions-Fraktion im Bundestag, Stephan Mayer (CSU), sagte der "Huffington Post", Hauptursache für die Niederlage der CDU sei die Unzufriedenheit vieler Wähler mit der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. AfD zweitstärkste Kraft Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis holte die CDU in Mecklenburg-Vorpommern 19 Prozent. Stärkste Kraft wurden die Sozialdemokraten mit 30,6 Prozent. Die AfD erreicht auf Anhieb 20,8 Prozent und ist damit zweitstärkste Kraft. Zugleich sichert sie sich drei Direktmandate. Die Linke kommt auf 13,2 Prozent, das sind minus 5,2 Punkte. Die Grünen geben 3,9 Punkte nach und müssen den Schweriner Landtag mit 4,8 Prozent verlassen - ebenso wie die NPD, die sich auf drei Prozent halbierte. Die FDP legt um 0,2 Punkte leicht zu, scheitert aber mit drei Prozent erneut an der Sperrklausel. Die Wahlbeteiligung lag mit 61,6 Prozent rund zehn Punkte höher als vor fünf Jahren. (cvo/fwa)
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"Das hat natürlich auch mit der Flüchtlingspolitik zu tun": Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht sich für das schlechte Abschneiden ihrer Partei bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern mitverantwortlich. Dennoch verteidigte sie ihre Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik der vergangenen Monate.
"2016-09-05T12:55:00+02:00"
"2020-01-29T18:51:30.794000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verluste-der-cdu-in-mecklenburg-vorpommern-merkel-raeumt-100.html
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Mit Nasenhaaren auf Ahnenforschung
Im Fachmagazin "Current Biology" haben die Wissenschaftler der Uni Bonn und des Nationalen Naturkundemuseums in Washington ihre neusten Erkenntnisse zur Urzeit-Biene vorgestellt. (picture alliance / dpa / Wolfgang Moucha) Wenn Torsten Wappler auf Pollensuche geht, benutzt er einen äußerst feinen Pinsel. "Da ist vorne nur ein Nasenhaar dran, also man muss sich das Nasenhaar dann rausziehen, das vorne an den Pinsel dann an der Spitze befestigen, vielleicht habe ich die kurz hier, das wäre dann ein Nasenhaar, und das Nasenhaar ist besonders gut, um einzelne Pollen rauszustreichen." Der Pollen, mit dem der Paläontologe vom Steinmann-Institut für Geologie, Mineralogie und Paläontologie der Universität Bonn hantiert, ist fast 50 Millionen Jahre alt. Er klebt auf einer ebenso alten Biene, die Urzeitforscher im Eckfelder Maar ausgegraben haben, einem ausgetrockneten Vulkansee in der Süd-Eifel. Der Biene aufs Bein geschaut Auch Insekten aus der Grube Messel bei Darmstadt haben die Forscher analysiert, insgesamt elf Bienen aus sechs Arten. Die Gattungen dieser Bienen sind längst ausgestorben, und doch können die Forscher untersuchen, wie sich die Insekten ernährt haben. Sie haben sich angeschaut, wo auf dem Körper der Insekten sich welcher Pollen befindet. "Hier ist das Bein unterm Fluoreszenzmikroskop, und man sieht diese gelben Pünktchen dazwischen, das sind die Pollen, und dann kann man genau sagen: Okay, die Pollen, die kommen nicht im Sediment vor, sondern die sind wirklich an Ort und Stelle auf dem Insekt, und das ist also ein wichtiger Hinweis. Aufgrund der Strukturen, die wir da haben, mit diesem Körbchen, wo das gesammelt wird, dass das aktiv dorthin transportiert wurde. Diese Strukturen an den Beinen, die sind besonders wichtig. Und die sind schon so entwickelt, wie wir das von heutigen Bienen kennen."Was in den Pollenhöschen steckt, haben die Bienen für ihren Nachwuchs in der Kolonie gesammelt. In den Höschen fanden die Wissenschaftler ausschließlich Pollen von immergrünen Sträuchern oder Bäumen mit kleinen bis mittleren Blüten. Wie die ausgesehen haben, wissen die Forscher, weil in Eckfeld und Messel auch Hunderte Blüten erhalten sind. Ein Glücksfall: "Um dann noch mehr Informationen über Nahrungsnetze innerhalb eines Ökosystems zu bekommen. Weil normalerweise hat man ja nur die isolierte Biene, das ist eine tolle Information, jetzt haben wir die Pollen noch auf den Bienen drauf, und jetzt haben wir dazu noch die Blüten, und da auch noch die Pollen. Und das dann zusammenzubringen, das ist natürlich ein ganzer Zyklus, den wir dann da haben und was wir dann da untersuchen können." So wählerisch die Bienen beim Pollen für ihre Larven waren, beim Nektar griffen sie offenbar gerne auch anderswo zu. Denn auf dem Kopf, dem Brustsegment und dem Hinterleib ihrer Bienen fanden die Forscher Pollen von ganz anderen Pflanzenarten, sagt Conrad Labandeira vom Nationalen Naturkundemuseum in der US-Hauptstadt Washington, der an der Studie mitgearbeitet hat. Die Suche nach der Ur-Biene Damit werfe die Studie allerdings mehr Fragen auf als sie beantwortet. "Eine der wirklich interessanten Kontroversen über die Evolution der Bienen geht darum: Wie haben die ursprünglichsten Bienen Nahrung gesammelt? Waren sie Generalisten? Oder haben sie sich auf einzelne Pflanzenarten spezialisiert? Oder etwas dazwischen? Wir zeigen hier, dass nach der Hälfte der 100 Millionen Jahre, die die Bienenevolution schon dauert, schon eine duale Strategie vorhanden war." Noch offene Fragen Bei heutigen Bienenarten kennen Biologen ganz unterschiedliche Sammelstrategien. Honigbienen zum Beispiel sammeln Pollen und Nektar auf sehr vielen verschiedenen Blüten. Andere, allein lebende Bienenarten haben sich auf den Pollen einer einzigen Gattung spezialisiert. Welche Strategie älter ist, das werden die Forscher erst sagen können, wenn sie weitere Fossilien gefunden haben. "Wir haben viele Bienen aus den letzten 50 Millionen Jahren. Ältere Fossilien haben wir kaum gefunden, sie fehlen besonders aus der Kreidezeit, da reißt der Fossilbericht ab. Wir müssen also warten, bis wir neues Material finden, sei es in Bernstein oder Versteinerungen."
Von Joachim Budde
Honigbienen sammeln Pollen und Nektar von verschiedenen Pflanzenarten, andere Bienen sind hingegen auf bestimmte Pflanzen spezialisiert. Doch welche Sammeltechnik ist die ältere? Um darüber Hinweise zu erhalten, haben sich Forscher der Universität Bonn fossile Bienen angesehen - und dabei auch auf ungewöhnliche Hilfsmittel zurückgegriffen.
"2015-11-13T16:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:09:00.665000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bienen-evolution-mit-nasenhaaren-auf-ahnenforschung-100.html
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Briefwechsel polnischer und deutscher katholischer Bischöfe
Der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder löste ein regelrechtes Beben aus. (picture alliance / ZB / Patrick Pleul) Nur 20 Jahre nach Kriegsende und dem unermesslichen Leid, das Polen durch Deutsche erfahren haben, löst der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder ein regelrechtes Beben aus. Mit dem entscheidenden Satz: "Wir vergeben und bitten um Vergebung" streckt ausgerechnet die polnische Seite der deutschen die Hand zur Versöhnung aus. Der mehrseitige Brief betont dabei, in den 1000 Jahren deutsch-polnischer Nachbarschaftsgeschichte habe es auch positive Phasen gegeben. Polen habe schließlich einen entscheidenden Impuls aus dem Westen erhalten: nämlich die Christianisierung. Der Versöhnungsbrief spricht auch das Leid der deutschen Vertriebenen an. Mit ihrer Versöhnungsgeste gehen die polnischen Bischöfe unter Federführung Erzbischofs Boleslaw Kominek ausgesprochen weit. Für viele Gläubige in Polen zu weit. Die Deutschen um Vergebung bitten? Das schien zu viel verlangt. Für die kommunistische Führung, die den Schulterschluss mit der Sowjetunion suchte und vor dem deutschen Revanchismus warnte, war es ein offener Affront, so der Journalist Thomas Kycia, der sich in seiner Arbeit intensiv mit den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigt: "Der Brief der polnischen Bischöfe von 1965 war für damalige Zeit eine Bombe, ein Draufhauen auf den Tisch: Wir wollen uns versöhnen mit unseren deutschen Amtsbrüdern und mit dem deutschen Volke! Die polnischen Bischöfe haben mit einer Weitsicht für damalige Verhältnisse vorausgeahnt, dass das gute Verhältnis zwischen Deutschen und Polen mit der Grund oder das Fundament dafür sei, dass Europa vereinigt und eins sein kann und dass Polen wieder im Westen angebracht ist, da wo es immer war, in der westlichen Zivilisation." Im Vorfeld dieses bahnbrechenden Briefes gab es erste Schritte der Annäherung. So hatten 1963 während des Zweiten Vatikanischen Konzils deutsche und polnische Bischöfe gemeinsam Papst Paul VI. darum gebeten, den in Auschwitz ermordeten Franziskaner-Pater Maximilian Kolbe selig zu sprechen. Wenige Monate vor dem Brief startete zudem die Aktion Sühnezeichen Ost ihre erste Fahrradwallfahrt nach Auschwitz. Für die polnischen Bischöfe waren das Signale der Hoffnung, eine Ermutigung, trotz der politisch angespannten Großwetterlage ihren Vorstoß zu wagen. Jörg Lüer, stellvertretender Vorsitzender der Maximilian Kolbe Stiftung: "Der polnische Brief war ein atemberaubendes Geschenk an die deutsche Seite. Ist ein Hinauswachsen über die historische Situation und auch über einen Großteil der mentalen Disposition der polnischen Katholiken und auch der polnischen Bischöfe." Ein Dokument, das enorme politische Brisanz in sich barg. Mit ihm verband sich der Wunsch nach einer Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, für die polnischen Bischöfe ein entscheidender Punkt für eine wirkliche Aussöhnung. Zugleich richteten sie ihren Blick nach Westen: Polen müsse in den Schoß eines freien Europas zurückkehren. Der kommunistischen Führung unter Wladislaw Gomulka musste das ein Dorn im Auge sein. Sie reagierte mit einer massiven antikirchlichen Kampagne. "Die polnischen Machthaber hat eigentlich die ganze Erzählweise des Briefes gestört. Die polnischen Bischöfe haben gewagt, zum ersten Mal zu erwähnen, dass auch die Polen Deutschen Leid angetan haben. Sie haben erwähnt, dass die Kirche und die Christenheit an sich eine große zivilisatorische Rolle gespielt hat in der Geschichte Polens. Und sie haben das Monopol der Kommunisten durchbrochen und gesagt, wir müssen uns mit dem deutschen Volke versöhnen. Sehr interessant ist, dass in dem Brief in keinem Moment das Wort DDR fällt. Die polnischen Bischöfe haben sozusagen allgemeindeutsch gedacht. Denn Versöhnung geht nur mit dem ganzen Volke." Am 5. Dezember 1965 antworteten die deutschen Bischöfe auf das polnische Schreiben. Doch diese Antwort fiel äußerst nüchtern und distanziert aus. Vor allem aber zur Frage, ob die Grenze anerkannt werden soll, schwiegen die deutschen Bischöfe. Das wäre, fürchtete die Bischofskonferenz, ihren Gläubigen nur schwer zu vermitteln. Die polnischen Bischöfe waren vom deutschen Antwortbrief bitter enttäuscht. Und die vielen Kritiker in Polen fühlten sich bestätigt. "Bis heute überrascht mich die kühle und kühne Antwort der deutschen Bischöfe. Die polnischen Bischöfe haben in einem kommunistischen System, in dem sie dauerhaft unterdrückt wurden, sich gewagt, metapolitisch zu denken. Außerhalb des kommunistischen Systems etwas zu erwähnen, was für damalige Verhältnisse absoluter Tabubruch war: dass Polen und Deutsche tatsächlich versöhnt sein können." Als Reaktion auf die deutsche Antwort, aus Enttäuschung und unter dem Eindruck der antikirchlichen Kampagne des Regimes nahmen die polnischen Bischöfe in einem Hirtenbrief vom 10. Februar 1966 wichtige Formulierungen ihres ursprünglichen Briefes wieder zurück. Doch trotz dieser massiven Enttäuschung: Im Rückblick, so Jörg Lüer, der die Ausstellung gemeinsam mit polnischen Kollegen kuratiert hat, war dieser Briefwechsel dennoch wichtig. So starteten katholische Laien in Deutschland private Versöhnungsinitiativen – nicht zuletzt aus Scham über die Haltung der eigenen Bischöfe. Kleine Schritte, die allmählich ein Klima der Veränderung schufen. "Es zeigt uns den dialektischen Charakter von Versöhnungsprozessen. Der entscheidende Punkt der deutschen Antwort ist meines Erachtens, man hat den Gesprächsfaden aufgenommen und ist nie aus dieser Beziehung mehr rausgegangen. Wenn wir dann die folgenden Begegnungen sehen von Kardinal Döpfner und Kardinal Wyschinski, sehen wir auch, dass sie sich über diese Enttäuschung austauschen. Und das ist, glaube ich, der eigentliche Beziehungswert. Auch die Frustration, der gegenseitige Ärger, dieses Ungenügen wird thematisiert und daraus wächst dann perspektivisch noch viel mehr." Die gemeinsame deutsch-polnische Ausstellung rückt dieses Schlüsseldokument des Versöhnungsprozesses in den Mittelpunkt. Anhand einer Vielzahl von Fotos, Dokumenten, Geschichten von Menschen und Initiativen erzählt sie dabei auch von den Mühen und Widersprüchen des Versöhnungsweges. Sie versteht sich zugleich auch als ein Teil jenes Versöhnungsprozesses, über den sie berichtet. Jörg Lüer: "Dahinter steht das strikte Bemühen zu vermeiden, diese Geschichte einfach nur als eine abgeschlossene Erfolgsgeschichte zu erzählen, die vorbei wäre. Denn unserer Erfahrung nach ist noch viel zu tun. Wenngleich die heroische Phase der Versöhnung sicherlich 89/90/91 vorbeigegangen ist, wir haben Grundlagen geklärt, auf denen wir jetzt bauen können, so bleibt doch in einem breiteren kulturellen Sinne der Heilung des Gedächtnisses, der Dekontaminierung des historischen Geländes noch vieles vor uns. Wir würden uns allen keinen Gefallen tun, wenn wir diese Herausforderungen unterschätzen. Es ist nicht mehr die direkte persönliche Wunde, mit der wir zutun haben, aber gewisse Verletzungen tradieren sich. Gewisse Denkweisen, Muster, Prägungen sind nach wie vor da. Und da geht es gar nicht in erster Linie um die Frage von Schuld, sondern um die Frage eines verantwortlichen Umgangs mit den historisch-kulturellen Bedingungen, unter denen wir, ob wir das nun wollen oder nicht, erst einmal leben. Und das zielt am Ende des Tages auf die Schaffung einer Kultur des Zuhörens, einer Kultur des Dialogs."
Von Carsten Dippel
Als vor 50 Jahren, am 18. November 1965, polnische Bischöfe ihren Brief an die deutsche Bischofskonferenz adressierten, schlug das ein wie eine Bombe. Die Polen baten 20 Jahre nach Kriegsende die deutsche Seite um Vergebung. Die Antwort der deutschen Bischöfe fiel äußerst zurückhaltend aus. Dennoch war dieser Briefwechsel ein Markstein im Aussöhnungsprozess zwischen Deutschen und Polen, wie eine Ausstellung in Breslau und Berlin nun zeigt.
"2015-11-18T09:35:00+01:00"
"2020-01-30T13:09:37.291000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-50-jahren-bitte-um-vergebung-briefwechsel-polnischer-100.html
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"Dann wird natürlich der Neubau eingeschränkt werden"
Die Elbphilharmonie und die Hamburger Hafencity (imago/Pemax) Dirk-Oliver Heckmann: Ob Sie Mieter sind oder in einer eigenen Immobilie leben - jeder zahlt sie: die sogenannte Grundsteuer. Für Städte und Kommunen ist sie unverzichtbar. Denn die 14 Milliarden, die jährlich fließen, sind notwendig, um die Infrastruktur aufrecht zu erhalten, ohne die nichts geht. Die Frage ist nur: Wie genau soll die Reform aussehen? Über das Thema Grundsteuer haben wir schon verschiedentlich mit Politikern aller Parteien, mit Vertretern der Kommunen und etwa mit dem Mieterbund und der Vereinigung der Haus- und Wohnungsbesitzer gesprochen. Heute sprechen wir darüber mit einem Vertreter der Immobilienwirtschaft, nämlich mit Andreas Mattner. Er ist Präsident des Zentralen Immobilienausschusses. Das ist ein Lobby-Verband, zu dem sich zahlreiche Unternehmen und Verbände zusammengeschlossen haben, die im Immobilienbereich tätig sind. Schönen guten Morgen, Herr Mattner! Andreas Mattner: Schönen guten Morgen! Heckmann: Herr Mattner, Olaf Scholz will ein wertabhängiges Modell. Wer teuer wohnt, der soll auch eine höhere Grundsteuer zahlen. Das ist aus dem Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit doch eine gute Idee, oder? Mattner: Hört sich auf den ersten Blick so an, auf den zweiten Blick aber nicht, und am Ende werden letztlich sogar die Bürger draufzahlen. Ich werde erst mal, glaube ich, anführen müssen, dass tatsächlich der Bürokratieaufwand einer ist, den man kaum stemmen kann. In diesem Wertmodell von Olaf Scholz sind gleich erst mal zwei verschiedene Ermittlungsverfahren drin, je nach Gebäudeart, Gewerbeimmobilie oder Wohnimmobilie. Dann gibt es eine Vielzahl von Einzelpunkten, die zu ermitteln wären: die tatsächliche Miete, die fiktive Miete, das Baujahr, die Restnutzdauer, abgezinster Bodenwert und manches mehr. Das schaffen unsere Verwaltungen gar nicht. Wir haben 35 Millionen Liegenschaften in Deutschland. Das Bundesfinanzministerium hat selbst mal gesagt, dass man dafür mit 2000 weiteren Beamten plant. Jetzt sagen die Bayern, wir bräuchten allein nur für Bayern 3400 weitere Finanzbeamte, um das zu stemmen. Andreas Mattner, Präsident des Zentralen Immobilienausschusses (ZIA) (dpa) "Etwas Bürokratie ist es nicht" Heckmann: Vielleicht muss das ja sein, Herr Mattner. Olaf Scholz sagt ja, diese Reform, die dürfe nicht zu einer Belastung von Menschen mit wenig Geld und zu einer Gefährdung billiger Mieten in guten Wohngegenden führen. Ist es da nicht auch angezeigt, da etwas Bürokratie in Kauf zu nehmen, um die soziale Gerechtigkeit im Blick zu behalten? Mattner: Etwas Bürokratie ist es nicht. Wenn man allein nur dafür schätzt, dass eine einzelne Bewertung ungefähr 500 Euro wert sein würde, müsste man bei 35 Millionen schon mal 17 Milliarden auf den Tisch legen, bevor irgendetwas passiert. Nein, ich glaube aber auch, dass Flächenmodelle als Gegensatz dazu zu wirklich gerechten, ausgeglichenen Ergebnissen führen würden. Sie müssen auch sehen, dass Wertermittlungsmodelle immer streitanfällig sind. Das heißt, es soll um einen Wert gehen. Die meisten werden damit nicht einverstanden sein, mit der Festsetzung. Das wird dann danach sämtlichst unsere Verwaltung wieder lahmlegen und auch die Gerichte. Es wird nicht funktionieren. Dann ist ja auch darin, wenn man auf den Wert abstellt, eine Art immanente steigende Kostenkomponente. Das heißt, wenn etwas mehr wert wird, dann wird es noch mal wieder teurer werden. Und dann ist es auch ungerecht. Sie sagen ja, es soll gerecht sein. Ist es denn gerecht, wenn in identischen Wohngegenden unterschiedliche Werte verlangt werden? Es wäre ja dann derjenige besser dran, der eine bessere Miete ausgehandelt hat als derjenige, der eine schlechtere Miete ausgehandelt hat. Da gibt es dann unterschiedliche Grundsteuern. Das funktioniert nicht. "Der Wettbewerb der Grunderwerbssteuer in Deutschland ist schon massiv" Heckmann: Pardon, Herr Mattner. Das will ja Olaf Scholz verhindern, dass Leute, die eine günstige Miete haben, aber in der Stadt leben, in einer guten Lage, dass die dort bleiben können und sich nicht auf eine hohe Mehrbelastung einstellen müssen oder sogar wegziehen müssen. Sie sprechen sich für das Flächenmodell aus und nehmen dafür in Kauf einen massiven Verdrängungsprozess? Mattner: Das nehmen wir nicht in Kauf, weil das Flächenmodell knüpft an an ganz normale objektive Werte wie die Größe des Grundstücks, die Größe der Wohnfläche oder auch der Nutzfläche. Das führt nicht zu höheren Belastungen, sondern im Gegenteil: die bleiben konstant. Das Bundesfinanzministerium hat ja selbst auch Werterrechnungen gemacht und hat seinem Modell Tabellen beigelegt. Dann sieht man schon mal bei Gewerbeimmobilien, dass dort bis zu elf Prozent mehr Grunderwerbssteuer in Deutschland genommen wird, was schon mal schlecht ist für all diejenigen, die Handel betreiben. Die können keine höheren Belastungen vertragen. Dann kommt dieses Modell auch noch zu unterschiedlichen Ergebnissen in den Ländern. Es weist zum Beispiel einen Wert von 63 Prozent mehr Steuereinnahmen im Land Berlin auf, und dann sagt Berlin, dann werden wir den Hebesatz verändern und auf diese Steuern verzichten. Glauben Sie das? Heckmann: Das könnte man alles ausgleichen. Mattner: Ja, das kann man Ausgleich. Nur sehen Sie, der Wettbewerb der Grunderwerbssteuer in Deutschland ist doch schon massiv, und alle Länder, die schwach in ihren Einnahmen sind, haben das immer wieder behauptet, sie würden die Grunderwerbssteuer zurückfahren, haben es aber nie getan. Im Gegenteil! Glauben Sie daran, dass die Grunderwerbssteuer in Deutschland noch mal sinken wird? Wenn Sie das glauben, dann glauben Sie auch das Scholz-Modell. Heckmann: Auf meine Meinung kommt es an der Stelle nicht an, sondern wir wollen ja Ihre Position herausarbeiten. Mattner: Die haben Sie gehört. Ich glaube nicht daran. Für Steuerrechtler Paul Kirchhof verstößt das Wertmodell von Olaf Scholz gegen das Grundgesetz (dpa / picture alliance / Frank Leonhardt) "14 Milliarden Euro Steuern sind dann auf einmal weg" Heckmann: Welche Folgen hätte es denn aus Ihrer Sicht, wenn Scholz sich durchsetzen würde? Mattner: Na ja. Wir haben seit einigen Tagen eine verfassungsrechtliche Stellungnahme von Professor Kirchhof, einem ganz anerkannten Steuerrechtler aus Deutschland. Der sagt klipp und klar, das Wertmodell von Olaf Scholz verstößt gegen mehrere Mechanismen im Grundgesetz. Er hält es klar für verfassungswidrig. Und nicht nur das: Er sagt auch, dass die dazugekommene Diskussion, die etwa unsere Bundesjustizministerin angestoßen hat, dass die Umlegung einer solchen Steuer nicht mehr zulässig sein soll, ebenfalls solchen verfassungsrechtlichen Bedenken entgegensteht, und dann haben wir ein Riesenproblem. Das Bundesverfassungsgericht hat klipp und klar gesagt, der Staat darf nicht schon wieder ein verfassungswidriges Modell vorlegen. Wenn er das tut, sind alle Steuern - Sie haben vorhin erwähnt, 14 Milliarden Euro - auf einmal weg. Die Sorge muss jetzt groß sein, wenn ein solches verfassungswidriges Wertmodell vorgelegt wird, dass diese Steuer verfassungswidrig ist und die Einnahmen alle wegbrechen. Heckmann: Das würde sich dann noch zeigen, ob es wirklich verfassungswidrig ist, denn das ist erst mal nur ein Gutachten und Gutachten gibt es sicherlich immer in alle Richtungen. Wie ist denn die Folge eines solchen Modells, wenn Scholz sich durchsetzen würde? Würde denn auch aus Ihrer Sicht weniger gebaut in den Ballungszentren? Mattner: Na ja. Überall dort, wo mehr Steuern anfallen, dann wird weniger gebaut, und das dann im doppelten Sinne. Wenn die Bemessung höher sein wird, und damit ist zu rechnen, dann wird natürlich der Neubau eingeschränkt werden. Und wenn man dann zudem noch auf die Idee käme, es nicht mehr umlegen zu lassen, was bei einer solchen Grundsteuer eigentlich immer immanent ist, dann wird man noch weniger auf die Idee kommen, den Neubau damit anzukurbeln. Wir brauchen im Gegenteil eigentlich eine Entlastung für all diejenigen, die neu bauen, um Wohnungen zur Verfügung zu stellen für die Menschen, denn nur wenn wir viel bauen, werden wir niedrige Mieten haben. Eine Reform der Grundsteuer könnte den Neubau abwürgen (picture alliance / SvenSimon) Heckmann: Die Justizministerin Katarina Barley von der SPD, die hatte ja gesagt, es sei eine gute Idee, dass man die Grundsteuer nicht mehr auf die Miete umlegen kann, denn - auch ein Argument dafür - die Grundsteuer sei eine Eigentumssteuer und die hätte immerhin die Eigentümer zu bezahlen und nicht die Mieter. Mattner: Da, glaube ich, hat man nun wirklich das Steuerrecht nicht verstanden. Das Steuerrecht knüpft eben nicht an die Leistungsfähigkeit an. Das Steuerrecht knüpft an an das Objekt und was das Objekt für die Gemeinde zu bedeuten hat. Deswegen kann man die Umsetzbarkeit nicht auslassen. Im Gegenteil: Die rechtlichen Bedenken, die dagegen eingewandt werden, die gehen ja gerade dahin, dass die Grundsteuer dem Objekt anhaftet und umgelegt werden können muss. Wenn man auf die Leistungsfähigkeit abstellen würde, dafür gibt es doch die Einkommenssteuer und andere Mechanismen. Man darf im Grunde das Einkommen nicht doppelt besteuern, und das wäre der Fall, und damit kommt man wieder in die verfassungsrechtliche Problematik rein. Heckmann: Über den Streit zur Reform der Grundsteuer haben wir gesprochen mit Andreas Mattner. Er ist Präsident des Zentralen Immobilienausschusses. Schönen Dank, Herr Mattner, für das Gespräch und für Ihre Zeit an diesem Montagfrüh. Mattner: Sehr gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas Mattner im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Der Präsident des Lobbyverbands Zentraler Immobilien Ausschuss, Andreas Mattner, hat die geplante Reform der Grundsteuer kritisiert. Der zu erwartende Bürokratieaufwand sei extrem hoch, sagte Mattner im Dlf. Außerdem bestehe die Gefahr, dass der Wohnungsneubau unattraktiv werden könnte.
"2019-01-14T06:50:00+01:00"
"2020-01-26T22:33:14.995000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/immobilienbranche-zur-reform-der-grundsteuer-dann-wird-100.html
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Bundesfinanzminister Schäuble will gegen Steueroasen vorgehen
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will mit einem Zehn-Punkte-Plan Steueroasen austrocknen. (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld) Würden solche Register international vernetzt, könnten alle gefunden werden, die sich hinter Briefkastenfirmen versteckten, sagte Schäuble in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin". In der Europäischen Union (EU) sind solche Register bereits in der vierten Geldwäsche-Richtlinie vereinbart, die bis 2017 national umgesetzt werden muss. Automatischer Informationsaustausch Schäuble wies auf das von ihm mit angestoßene Abkommen zum automatischen Informationsaustausch von Steuerbehörden hin, dem sich mittlerweile fast 100 Staaten angeschlossen haben. Es soll ebenfalls 2017 in Kraft treten. Die Veröffentlichung der sogenannten Panama Papers verstärke den Druck auf all jene Staaten, die noch nicht mitmachten, dem Abkommen beizutreten, sagte der Minister. Als Beispiel für diese Länder nannte er auch die USA. Schäubles Plan sieht außerdem vor, dass die Verjährungsfrist bei Steuerstraftaten künftig erst beginnen soll, wenn ein Steuerpflichtiger seinen Informationspflichten nachgekommen sei. Länder wie Panama und andere Steueroasen will er zudem auf eine "schwarze Liste" setzen. In der Folge wären bestimmte Finanzgeschäfte mit diesen Ländern nicht mehr erlaubt. Banken in Erklärungsnot Durch die Panama Papers sind auch etliche Banken in Erklärungsnot geraten, die Kunden an die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca in Panama vermittelt hatten. Schäuble sagte, die deutschen Geldinstitute hätten "zum größten Teil die Dinge schon in Ordnung gebracht". Er betonte: "Wir haben in den letzen Jahren große Fortschritte gemacht." (tzi/fe)
null
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will die Steueroasen weltweit mit einem Zehn-Punkte Plan gegen Briefkastenfirmen austrocknen. Zentrales Element seines Vorhabens sind Firmenregister, in denen die tatsächlichen Eigentümer von Unternehmen aufgelistet werden sollen.
"2016-04-10T19:56:00+02:00"
"2020-01-29T18:23:16.804000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zehn-punkte-plan-bundesfinanzminister-schaeuble-will-gegen-100.html
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Folteropfer im Visier der Justiz
Auch die Opposition in Kiew nimmt ihr Gegenüber ins Visier. (AFP/SERGEI SUPINSKY) Sein Bild ging am Freitagabend um die Welt und sorgte international für Empörung: Der nach eigenen Angaben verschleppte und gefolterte Oppositionsaktivist Dmitri Bulatow war in einem Dorf außerhalb Kiews aufgetaucht, nachdem er mehr als eine Woche als vermisst gegolten hatte. Im ukrainischen Fernsehen schilderte er seine Entführung durch Unbekannte. Seine Entführer hätten ihm ein Ohr abgeschnitten, sagte Bulatow. Nach eigenen Angaben wurde Bulatow während seines Martyriums mit verbundenen Augen grausam gefoltert. Dabei seien ihm auch Nägel durch die Hände geschlagen worden. Nun habe die ukrainische Justiz gegen Bulatow ein Verfahren wegen der Organisation von Massenunruhen eingeleitet, teilte das Innenministerium in Kiew mit. Ermittler beantragten Hausarrest für den 35-Jährigen. Polizisten bewachten Bulatow in der Klinik - angeblich zu dessen eigener Sicherheit, wie ukrainische Medien am Samstag berichteten. Ermittlungen gegen Timoschenko-Partei Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hatte sich "entsetzt" über die Misshandlungen Bulatows geäußert und bezeichnete das Vorgehen gegen den Regierungsgegner als "inakzeptabel". Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte die ukrainische Regierung auf, Bulatow eine medizinische Behandlung in Deutschland zu erlauben. Die USA verlangten Aufklärung der Foltervorwürfe , berichtet ARD-Korrespondent Ralph Sina aus Washington. Unterdessen wurde bekannt, dass auch der Geheimdienst SBU egen die Opposition wegen versuchten Staatsstreichs ermittelt. Bei einer Razzia in den Räumen der Partei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko seien entsprechende Beweise gefunden worden, sagte ein SBU-Sprecher in einer Fernsehsendung. Jazenjuk warnt vor Militäreinsatz Der ukrainische Oppositionsführer Arseni Jazenjuk, in der Vaterlandspartei Stellvertreter von Parteichefin Timoschenko, rechnet mit einem Militäreinsatz gegen die proeuropäischen Proteste. Nach Jazenjuks Ansicht sei es "sehr wahrscheinlich", dass die Behörden zu einem "Szenario der Gewaltanwendung mit dem Einsatz der ukrainischen Armee" greifen werden, erklärte ein Parteisprecher am Samstag. Darüber habe der Oppositionsführer am Freitag auch am Rande der Sicherheitskonferenz in München bei einem Treffen mit Bundesaußenminister Steinmeier, Bundespräsident Joachim Gauck und der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton gesprochen. Wie sich das Militär im ukrainischen Machtkampf positioniert, bleibt indes unklar. Am Freitag hatten sich erstmals Militärs in den Konflikt zwischen Opposition und Regierung eingeschaltet. Soldaten und Angestellte des Verteidigungsministeriums forderten Präsident Viktor Janukowitsch in einer Erklärung auf, "im Rahmen der aktuellen Gesetze dringende Schritte" zu ergreifen, um die Lage zu stabilisieren. Sie warnten, die Proteste drohten das Land zu spalten. Über den Hintersinn dieser Erklärung werde in der Ukraine jedoch gerätselt, berichtet DLF-Korrespondentin Sabine Adler . Die Ukraine verfügt über eine Wehrpflicht-Armee, ihr Einsatz im Inneren gilt daher als sehr unwahrscheinlich. Der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Kyril Savin, sprach im Deutschlandfunk von einer "Ruhe vor dem Sturm". Er erwartet für Sonntag den jüngsten Repressionen der Regierung zum Trotz erneute Massendemonstrationen. Kerry: USA und EU stehen auf der Seite des ukrainischen Volkes In einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat US-Außenminister Kerry derweil der ukrainischen Opposition Unterstützung zugesagt. Die Mehrheit der Ukrainer strebe nach Freiheit und Sicherheit, so Kerry. Sie wollten mit Partnern zusammenarbeiten, die ihnen helfen könnten, diese Erwartungen zu erfüllen. Kerry betonte, die USA und die EU stünden dem ukrainischen Volk in diesem Kampf zur Seite. Nirgendwo sonst sei das Streben nach einer demokratischen und europäischen Zukunft derzeit wichtiger als in der Ukraine. Dagegen warf der russische Außenminister Lawrow dem Westen vor, in dem Konflikt einseitig Partei zu ergreifen. Er fragte in München, wieso es keine Verurteilung der ukrainischen Demonstranten gebe, die Regierungsgebäude besetzten, Polizisten attackierten oder rassistische, antisemitische Slogans verwendeten. Ein solches Vorgehen werde von der Europäischen Union noch ermutigt, obwohl es in den Mitgliedstaaten sofort geahndet würde. Lawrow forderte die EU auf, enger mit Russland zusammenzuarbeiten.
null
Die ukrainische Justiz verschärft ihren Kurs gegen Regierungsgegner. Der offenbar gefolterte Aktivist Bulatow wurde unter Hausarrest gestellt. Sein Fall sorgt weiterhin international für Empörung. Oppositionsführer Jazenjuk rechnet mit einem Einsatz der Armee in Kiew.
"2014-02-01T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:24:18.315000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-folteropfer-im-visier-der-justiz-100.html
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Die Verzwergung der Großkirchen
Nach der Verzwergung der Großkirchen: Was passiert, wenn die Volkskirchen immer kleiner werden? (picture alliance / dpa / Lino Marcel Mirgeler) "In den letzten Jahrzehnten haben wir häufig die Tendenz gehabt: Als Volkskirche wollte man für alle da sein und das bedeutet, es wird so ein bisschen gräulich, das Wischiwaschi halt. Man versucht nichts Gefährliches anzusprechen. Und das ist manchmal auch überflüssig." Sagt Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der evangelischen Theologischen Fakultät der Uni Leipzig. Der stetige Mitgliederschwund ist für ihn auch Zeichen des stetigen Bedeutungsverlustes der ehemals großen Volkskirchen. Das müsse aber für den christlichen Glauben nicht abträglich sein. "Christentum ist nicht die organisierte Kirche" Pickel: "Man könnte es hier mit einem frühen Religionspsychologen, mit William James sagen, der hat mal die Kirche als verderbten Partner der Religiosität bezeichnet. Dass die Kirche eher hemmend ist für die wahre Religiosität als stärkend." Sibylle Lewitscharoff: "Predigt-Sprache ist verkommen"Autorin Sibylle Lewitscharoff wirft den Kirchen vor, "lendenlahm" zu predigen. "Als würde die Predigt in Lenor gewaschen", sagte Lewitscharoff im Dlf. Denn der christliche Glaube muss sich nicht zwingend in Bistümern und Landeskirchen organisieren. Im Grunde stehe nicht die Institution im Vordergrund, sondern das menschliche Für- und Miteinander, sagt Religionssoziologe Pickel. "Das Soziale an Religion, diese soziale Komponente. Es ist ja dem Christentum gegeben, für andere da zu sein. Das ist eine soziale Komponente. Aber das macht man ja nicht allein. Also das Frühchristentum war ja auch nicht jeweils eine Person, die nur für sich gedacht hat, sondern das waren kleine Gruppen, die unter Verfolgungsdruck besonders viel Vertrauen ineinander entwickeln mussten. Vielleicht müssen die Kirchen lernen: Das, was Christentum ist, ist nicht die organisierte Kirche in organisierten Gemeinden, wo viele nicht da sind, sondern es sind die Personen, die sich irgendwie treffen können." Die elastische Volkskirche Schon Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte der evangelische Theologe Ernst Troeltsch die Idee der "elastischen Volkskirche". Das Christliche zeige sich in drei grundlegenden Sozialgestalten: erstens in der verfassten Kirche, zweitens in ausgelagerten Vereinen, Initiativen, Gebetskreisen und Splittergruppen, die Troeltsch Sekten nannte, und drittens in einer individuellen Frömmigkeit und Mystik. "Eine der Pointen seiner Behauptung dieser Trias ist ja, dass diese drei Gestalten wechselseitig voneinander abhängig sind. Sowohl die Sekte-Freikirche als auch die religiösen Individualisten sind in einer bestimmten Weise von der Großkirche abhängig, nämlich als derjenigen Größe, in der wesentlich die Überlieferung des Christentums stattfindet und eine Vermittlung des Christlichen in der ganzen Breite. Sie ist Kirche für das Volk, bietet auch so was wie die religiöse Grundversorgung an, Beerdigungen, Taufen, Trauungen auch für diejenigen, die nicht intensiv am Gemeindeleben teilnehmen." Sagt Martin Fritz, theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Was aber, wenn die Kirche ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt? Vielfältig sind die Klagen, die Predigten würden immer schlechter. Im Konfirmanden-Unterricht werde kaum noch biblisch-theologisches Wissen vermittelt. Wer einen nahen Verwandten beerdigen lassen möchte, erreiche den Ortspfarrer nicht und bestelle lieber gleich einen freien Trauerredner. Wo aber Kirche ihren Grundaufgaben nicht mehr nachkommt, hat sie auch ihre Existenzberechtigung verloren. Evangelisch gesprochen: "Kirche ist da, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert und verwaltet werden. Da braucht es sonst gar keinen Überbau, keinen kirchlichen. Das ist erst mal eine Funktion und keine Institution, welche die Kirche ausmacht", sagt Martin Fritz. Gefahr der Abschottung Wird es christliche Existenz künftig also vor allem in Vereinen und Splittergruppen geben? Eine individuelle Frömmigkeit ohne großkirchliche Anbindung? Ja, sagt Religionssoziologe Gert Pickel, das gebe es schon lange in den USA. Aber dort eben mit Risiken und Nebenwirkungen. Gert Pickel, Professor für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. (imago / CommonLens) Pickel: "Da habe ich eine bunte Pluralität sehr unterschiedlichen Glaubens. Hat nur das Problem, dass Gruppen, wenn sie nur nach innen gerichtet sind und mit anderen nicht kommunizieren, sehr schnell, was wir negativ betrachten, als Sekten daherkommen. Also Gruppen, die sehr überzeugt sind nach innen. Die haben allerdings auch einen Stacheldrahtzaun außen rum und sind gut bewaffnet. Eine Entwicklung nicht zum Liberalen, sondern eher zum Dogmatisch-Religiösen hin. Wenn ich so eine kleine religiöse Gemeinschaft dann habe - die überlebt dadurch, dass sie sich abgrenzt. Ich würde nicht sagen, dass das eine schwache Theologie ist. Es wird wahrscheinlich sogar eine sehr starke sein. Aber vielleicht eine doch stark vereinfachte." Wer künftig keine amerikanischen Verhältnisse in Deutschland haben wolle, müsse vor allem auf Bildung und Aufklärung setzen. Und dafür seien schon heute nicht mehr Kirchenräume entscheidend. "Der Schlüssel ist guter Religionsunterricht" Pickel: "Die Berührung zur Religion findet an zwei Stellen statt. Das ist in der Familie und das zweite ist im Religionsunterricht. Es lernt ja keiner in der Kirche Religion, um das mal ganz ehrlich zu sagen, sondern man lernt es an diesen beiden Stellen. Wenn die Eltern nicht religiös sind, dann werde ich keine Kirche von innen sehen. Und wenn ich nicht im Religionsunterricht die Basis des Wissens erfahre, dann weiß ich auch gar nicht, was dort getan wird." Der Schlüssel liegt für Pickel vor allem in einem guten Religionsunterricht. Wenn es künftig keine Großkirchen mehr geben sollte, werde es auch keine akademische Pfarrerausbildung mehr geben, sprich: Die Theologische Fakultät wäre ein Auslaufmodell. Was es aber weiterhin brauche: religionswissenschaftliche Institute zumindest für die Lehramtsausbildung. Auch wenn er die Gefahr sieht, dass künftig theologisches Wissen verloren geht, Pickel ist zuversichtlich, dass historisch-kritische Wissenschaft nicht zwangsläufig verloren gehen müsse. "Theologische Fakultäten würden sich auflösen" Pickel: "Die theologischen Fakultäten würden sich auflösen. Aber es wird so sein, dass Theologen und die Theologie als Wissenschaft in bestimmten Bereichen innerhalb der Geisteswissenschaften überleben würde, dass es Zuordnungen zu philosophischen Fakultäten oder so etwas gibt. Ob das dann aber für alle die Vorgabe ist, das ist ja eine andere Frage." Evanglischer Kirchentag: Die VertrauensfrageDas Motto des 37. Evangelischen Kirchentags beschwört Gottvertrauen. Doch wer will sich darauf schon verlassen? Die Veranstaltung in Dortmund geht in einem Programmschwerpunkt auf die Ängste der Deutschen ein: vor der Digitalisierung, dem Klimawandel – und dem Tod. Eine Verzwergung der Großkirchen müsse also nicht zum Ende der Theologie führen. Sie werde aber zu anderen Organisationsstrukturen führen: vor allem zu kleineren Vereinen. Und Ironie der religionssoziologischen Geschichte: Nicht die Großkirchen wären dann weiterhin Vorbild für andere Religionen, sondern umgekehrt würden sich Christen an den Vereinsstrukturen anderer orientieren müssen, meint Gert Pickel. "Schauen wir uns zum Beispiel die Muslime in Deutschland an. Deren Organisationsform ist ja gemeinschaftsorientiert. Die haben verschiedenste Gemeinschaften um die Moscheen herum, aber die sind ja relativ singulär. Dort haben wir nicht die Kirche, die alles zusammenhält, sondern es sind viele Gemeinschaften", so Pickel. Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote In Zukunft könnte es also vielfältige Formen von Gemeinschaft und Gemeinde geben. Von der christlichen Motorradgruppe bis zum Strickkreis, vom Singe-Club bis zum Kochkurs, Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote, die auch von Nicht-Gläubigen akzeptiert werden können. Pickel: "Man könnte sagen, das könnte auch im Bürgerhaus sein. Aber man hat dort nicht das Flair der sozialen Vergemeinschaftung. Wir haben in Ost-Deutschland mehr Personen, die in Gruppen um Kirchen herum sind, als Mitglieder. Und das ist urchristlich, finde ich, dass man Sozialformen ermöglicht." Klar ist auf jeden Fall, dass die Kirchen an Macht und Einfluss verlieren werden. Die kleineren christlichen Vereine werden kaum die bisherigen Strukturen aufrechterhalten können. "Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang" Pickel: "Jede dieser einzelnen Gemeinschaften würde gegenüber dem Staat kaum Durchsetzungskraft haben. Da gibt’s ein Grüppchen und da gibt’s ein Grüppchen. Da ist dann die obere Organisationsform doch ganz hilfreich." Pickel selbst kann sich daher so etwas wie einen EKD-Dachverband als politische Repräsentanz weiterhin vorstellen. Die Landeskirchen aber hält er für überholt. Und Theologe Martin Fritz glaubt schon an so etwas wie die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes oder eben des Heiligen Geistes. Auch in Zukunft werden die Deutschen Bibel lesen, beten oder christliche Lieder singen. Ob aber das theologische Niveau ohne Landeskirchen und akademisch ausgebildete Pfarrer zu halten sein wird, weiß er noch nicht. Fritz: "Ich bin nicht besonders pessimistisch, was das Christentum angeht. Da rechne ich mit einer gewissen Selbstwirksamkeit des Wortes, mit einer gewissen grundlegenden Religiosität des Menschen, die im Christentum dann eine besonders schöne und wahre Form findet. Um das Christentum ist es mir nicht bang. Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang."
Von Thomas Klatt
Die jüngsten Kirchenaustrittszahlen sind noch dramatischer ausgefallen als zuvor. Studien prognostizieren den Volkskirchen in den nächsten Jahrzehnten eine Halbierung der Mitgliederzahlen. Bistümer und Landeskirchen verzwergen. Droht das Ende des Christentums in Deutschland?
"2020-08-03T09:35:00+02:00"
"2020-08-03T21:50:52.244000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zur-zukunft-des-christentums-in-deutschland-die-verzwergung-100.html
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