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"Ich bin Journalistin, keine Anwältin"
Die US-amerikanische Filmemacherin Laura Poitras (picture alliance / dpa / Britta Pedersen) Die Anschläge vom 11. September haben die amerikanische Dokumentarfilmerin Laura Poitras zu einer Filmtrilogie motiviert, in der sie untersucht, wie der von der Regierung gestartete "war on terror" ihr Land verändert. In "My Country my country" hat sie die Situation im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins beobachtet, in "The Oath" ging es um Guantanamo, und danach arbeitete sie gerade am dritten Teil über die Praxis der Massenüberwachung durch Geheimdienste, als sie eine E-Mail von "Citizenfour" alias Edward Snowden erreichte, so zumindest stellt sie es im gleichnamigen Film dar. Laura Poitras lebt seit zwei Jahren in Berlin. Wochenlang gab es in den Medien immer nur dieses eine Porträtfoto von Edward Snowden mit dem graublauen Hemdkragen zu sehen. In der Dokumentation "Citizenfour" von Laura Poitras wird dieses Foto lebendig. Sie hat ihn getroffen und gefilmt im Hotelzimmer in Hongkong letztes Jahr im Sommer, dahin war der Computerexperte und Whistleblower gerade aus den USA geflüchtet, nachdem er bei seiner Arbeit für die US-Nachrichtendienste Belege für die Massenüberwachungen durch die NSA und andere Geheimdienste downgeloadet hat, die er etwas später den Medien zuspielen sollte. Poitras war eine seiner ersten Kontaktpersonen. Inzwischen kennen wir Teile der Snowden-Dokumente und wissen, wie es mit ihm weiter ging, was also soll der Film dem also noch hinzufügen? Und kommt der nicht viel zu spät ins Kino? Gestern war uns Laura Poitras aus Berlin zugeschaltet, und ich habe sie zuerst gefragt, warum sie glaubt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für die Veröffentlichung ist. "Wir haben wirklich hart gearbeitet" Sigrid Fischer: Laura Poitras, das berühmte Treffen mit Edward Snowden in einem Hotelzimmer in Hongkong ist jetzt über ein Jahr her, warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, den Film darüber ins Kino zu bringen und nicht zum Beispiel letzten Herbst? Laura Poitras: Als ich zurückkam aus Hongkong, wo wir die Begegnung im Hotelzimmer gefilmt haben, da habe ich mich sofort mit den Dokumenten und der Berichterstattung beschäftigt. Ich habe mich zum Beispiel mit Reportern vom Spiegel getroffen. Das war erst mal das Dringendste. In Berlin arbeite ich mit einem tollen Team zusammen. Also, ich habe den Film nicht zurückgehalten. Aber wir mussten erst mal über die Dokumente berichten und wir wollten auch verstehen, welche Auswirkungen die Enthüllungen haben. Das dauerte einige Zeit. Wir haben wirklich hart gearbeitet. Niemand aus dem Team von uns hat Urlaub genommen, wir waren also nicht langsam, und wir wollten den Film genauso machen, wie er jetzt ist und nicht nur auf aktuelle Debatten Bezug nehmen. Denn mit Dokumentarfilmen sollte man etwas schaffen, das Bestand hat - ein Jahr, zwei Jahre, zehn Jahre. Und das braucht eben Zeit, so, wie wenn man ein Buch schreibt. Edward Snowden in einer Szene des Dokumentarfilms «Citizenfour» (undatierte Filmszene). Laura Poitras half Edward Snowden, das Ausmaß der Überwachung durch amerikanische Geheimdienste aufzudecken. (picture alliance / dpa / Praxis Films) Fischer: Die Medien werden oft dafür kritisiert, dass sie Politik und Geschichte immer personalisieren. Dass sie auf Personen fokussieren, weil das ablenkt von dem, um was es eigentlich geht. Und Edward Snowden sagt ja auch im Film: Ich bin hier nicht die Story. Haben Sie nicht Sorge, dass die Leute mehr an ihm interessiert sind, mal sehen wollen, wie der so ist, dieser Snowden, anstatt an den Informationen, die er uns gegeben hat? Poitras: Mich interessiert vor allem eine Sache: Ich dokumentierte die amerikanische Politik nach dem 11. September seit inzwischen mehr als zehn Jahren. Und ich beobachte in meinem Heimatland ein Auseinanderdriften von Grundsätzen unseres Rechtsstaates. Ich denke, Edward Snowden und andere Whistleblower - William Binney oder Chelsea Manning zum Beispiel - das sind Leute, die einfach sagen, was falsch läuft in der Regierung und die bereit sind, ein persönliches Risiko auf sich zu nehmen, um das zu äußern. Das heißt, Sie haben recht: Es ist das Porträt eines Mannes und seiner Entscheidung. Aber es geht auch um das große Ganze, es geht auch darum, wohin sich die amerikanische Politik entwickelt. "Unter der Oberfläche verändert sich einiges" Fischer: Das ist schon klar, aber Fakt ist, dass wir so weitermachen, als wäre nichts passiert. Daran musste ich denken, als ich Ihren Film schaute - da opfert sich jemand gewissermaßen für unser Wohl, und wir machen so weiter. Das muss Sie doch sehr frustrieren? Poitras: Ich glaube eigentlich doch, dass sich Vieles verändert hat. Ich glaube, dass sich weltweit das Bewusstsein der Menschen verändert hat - was Überwachung angeht, und was Regierungen unternehmen. Auch die Technologieunternehmen sind wachsamer. Die Menschen nutzen häufiger Verschlüsselungen. Als Journalistin weiß ich, dass viele meiner Kollegen, die über die NSA berichten, ihre Kommunikation verschlüsseln. Und inzwischen bekomme ich fast jeden Tag E-Mails von Leuten, die das zum ersten Mal gemacht haben. Unter der Oberfläche verändert sich einiges. Und trotzdem gebe ich Ihnen recht: Ich bin enttäuscht davon, wie die anderen Regierungen reagieren. Die könnten mehr unternehmen. Ich denke aber, dass wir schon Veränderungen sehen können. Und der NSA-Untersuchungsausschuss, auch wenn mehr passieren könnte, ist ein guter Schritt. Fischer: Die Leute sagen: Ich habe nichts zu verbergen, was uns auch zeigen kann, wie sicher und frei sie sich fühlen in der westlichen Welt? Poitras: Aber das stimmt natürlich nicht. Wenn Sie die gleichen Leute nach ihrem E-Mail-Passwort fragen oder die Kamera auf ihren Computer richten, dann sehen sie es sofort als Persönlichkeitsverletzung. Das ist kein ernsthafter Standpunkt. Fischer: Wir können ja die Tatsache, überwacht zu werden, leicht verdrängen, weil wir das ja nicht sehen. Aber Sie, Laura Poitras, spüren deutlich, dass Sie überwacht werden, Sie stehen auf der Watch List mit Terrorismusverdächtigen, sind über 40 Mal an Flughäfen festgehalten worden, Sie mussten Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, um Ihr Filmmaterial zu sichern. Wie leben Sie damit? Poitras: In einigen Berufen kennt man sich ja damit aus. Als Journalistin ist es meine Pflicht, meine Quellen zu schützen. Da bin ich mir der Gefahren dessen, was Regierungen tun, um an Daten zu kommen, natürlich sehr bewusst. Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen, vielleicht mehr als andere Leute das tun müssen. Aber ich denke, der Wunsch nach Privatsphäre ist ein Grundrecht und ein menschliches Bedürfnis. "Deutschland ist ein sehr guter Ort für mich" Fischer: Sie leben seit zwei Jahren in Berlin, Warum glauben Sie eigentlich, dass Deutschland ein guter und sicherer Ort für Sie ist? Der BND kooperiert doch mit der NSA? Poitras: Das stimmt. Aber dennoch: Ich denke es hat mit der deutschen Geschichte zu tun. Aufgrund der Nazi- und der Stasi-Vergangenheit haben die Menschen bestimmte Erfahrungen und auch ein historisches Gedächtnis. Und deshalb sind irgendwann Gesetze erlassen worden, um die Privatsphäre der Menschen zu schützen. Deshalb ist das hier ein sehr guter Ort für mich zum Arbeiten. Die Gesetze sind gut. Und es gibt gerade hier auch eine große Community, die sich mit diesen Themen beschäftigt: Der Chaos Computer Club zum Beispiel setzt sich für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte ein. Es gibt viele Aktivisten hier, die das Menschenrecht auf Privatheit schützen wollen. Fischer: Ja, aber sieht unsere Regierung Sie nicht als eine Art Komplizin von Edward Snowden und wird Sie schon deshalb überwachen? Poitras: Wenn wir von Journalisten als Komplizen sprechen, dann begeben wir uns auf schwieriges Terrain, was die Pressefreiheit angeht. Aber was meine Rolle angeht: Ich bin natürlich eine Journalistin. Fischer: Das, worüber wir hier reden, ist eine Folge der Terroranschläge vom 11. September, die haben sich vor 13 Jahren ereignet. Ihre Filmtrilogie beschäftigt sich mit diesen Folgen - Irakkrieg, Guantanamo, Edward Snowden, glauben Sie, dass Amerika diese Traumata jemals überwinden wird und zu einem - wie soll ich es nennen - etwas rationaleren Verhalten zurückfindet? Poitras: Manchmal ist es schon sehr deprimierend zu sehen, was mit der amerikanischen Außenpolitik passiert, 13 Jahre dauert dieser endlos scheinende "war on terror" jetzt schon, und er scheint sich noch auszuweiten. Aber ich muss hoffen, dass sich etwas ändern kann, und Deutschland ist mit seiner Geschichte ein gutes Beispiel dafür. Ich wünsche mir natürlich, dass die europäischen Regierungen mehr Druck auf die USA machen und darauf, wie sie international agieren. Denn ich glaube nicht, dass das irgendjemandem von uns mehr Sicherheit bringt. "Die Kamera war das Letzte, worüber er sich Sorgen gemacht hat" Fischer: Laura Poitras, als ich den Film schaute, hatte ich schon den Eindruck, dass er sehr wahrhaftig ist, frage mich aber, wie authentisch ein Filmdokument überhaupt sein kann, denn die Anwesenheit einer Kamera beeinflusst das Verhalten von Menschen. Poitras: Was man da sieht im Hotelzimmer, ist, dass wir da zweifelsohne jemanden treffen, Edward Snowden, der große persönliche Opfer bringt, um sich mit Journalisten zu treffen. Und das hält der Film fest. Und Sie müssen sich vorstellen, er dachte, dass jeden Moment jemand die Tür eintreten und ihn festnehmen könnte. Und unter solchen Umständen war die Kamera, glaube ich, das Letzte, worüber er sich Sorgen gemacht hat. Fischer: Aber was ist Ihr Verständnis von dokumentarischem Filmen? Viele Zuschauer sind der Meinung, Dokumentarfilme müssten objektiv sein. Ist das Ihr Anspruch? Ich denke, Filme können grundsätzlich nicht objektiv sein. Poitras: In diesem Fall bin ich ja Teil des Films, Teil dessen, was passiert, insofern ist der Film von einer subjektiven Warte aus erzählt. Aber grundsätzlich interessiert mich bei meiner Arbeit immer, wie man größere Zusammenhänge anhand von Einzelpersonen und ihren Entscheidungen begreifen kann. Hier hat mich zum Beispiel interessiert, warum ein so junger Mann von 29 Jahren, der einen guten Job und eine Freundin hat, warum der das alles hinter sich lässt, um diese Informationen offen zu legen. Ich finde, das sagt etwas über die Zeit aus, in der wir leben. "Ich verstehe mich als Journalistin und Künstlerin" Fischer: Sie sagen immer, Sie wollten keine politischen Aussagen treffen mit Ihren Filmen, aber in Ihrer 9/11-Trilogie kann ich nichts anderes erkennen als politische Standpunkte. Sie treffen ja auch Entscheidungen durch den Schnitt, durch Fragen, die Sie Edward Snowden stellen und die Sie nicht stellen. Poitras: Was ich gesagt habe ist, dass ich keine Anwältin bin, ich verstehe mich als Journalistin und als Künstlerin, und als solche befinde ich mich in besonderen historischen Umständen, die ich anderen mitteilen möchte. Ich möchte den Menschen erzählen, was in meiner Heimat, den USA passiert. Wir sind dabei, gegen Grundprinzipien zu verstoßen. Und ich finde schon, dass es die Aufgabe von Journalisten und Intellektuellen und Bürgern ist, zu sagen: Da läuft etwas ganz falsch. Warum haben wir in Guantanamo ein Gefängnis, in das wir Leute schicken, denen nie ein Prozess gemacht wurde. Warum töten wir Menschen mit Drohnen? Ich finde, da läuft einiges grundsätzlich falsch, und das will ich zum Ausdruck bringen, aber auch in meiner Funktion als Journalistin, indem ich informiere. Fischer: Ist es auch schon vorgekommen, dass Sie durch die Arbeit an einem Film, durch die Recherche ihren Standpunkt hinterher geändert haben? Poitras: Absolut. Ich beginne immer mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse, und mit bestimmten Vorstellungen, und die ändern sich bei der Recherche, zum Beispiel, wenn ich Leute treffe wie im Irak. Als Amerikanerin dachte ich, der Irakkrieg ist falsch, und ich bin dahin gefahren mit der Ansicht, dass es ein Widerspruch ist, Demokratie in ein Land zu bringen, indem man es besetzt. Aber dann habe ich dort viel Zeit mit Irakern verbracht und festgestellt, dass sie bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um wählen zu gehen. Und dann musste ich meine Sicht als Außenstehende ändern. Fischer: Und wie war das im Fall von Edward Snowden? Sind Sie anders aus dem Hotelzimmer in Hongkong gegangen als sie reingegangen sind? Poitras: Naja, die Informationen, die er vorgelegt hat, beschreiben ein Überwachungssystem, das sich keiner von uns jemals vorgestellt hätte. Nicht mal die Pessimistischsten unter uns. Deshalb ja, Dokumente zu haben, die darlegen, was die NSA tut, hat meine Sicht verändert, klar. "Mir ist klar, dass ich Teil der Geschichte bin" Fischer: Laura Poitras, Sie sind eine sehr gefragte Frau geworden mit Ihrem Film Citizenfour, Sie geben viele Interviews, jeder kennt Ihr Gesicht, obwohl Sie ungern im Vordergrund stehen. Das heißt, das Ganze wirkt sich auch auf Ihr Leben aus. Poitras: Als wir den Film noch geschnitten und montiert haben, war es mir wichtig, das möglichst unbemerkt zu tun, ohne Öffentlichkeit. Aber seit der Film fertig ist, mache ich natürlich mehr Pressearbeit. Aber es geht mir nicht darum, dass ich erkannt werde auf der Straße. Mir ist natürlich schon klar, dass ich Teil der Geschichte bin, dass ich die Journalistin bin, die Edward Snowden kontaktiert hat, die ein Jahr darüber berichtet hat, und ich verstehe, dass es ein Medieninteresse gibt, da habe ich gar keine andere Wahl. Fischer: Oliver Stone hat ja einen Spielfilm über Edward Snowden angekündigt, halten Sie das für eine gute Idee? Ich meine auch grundsätzlich in so einem Fall? Poitras: Ich denke, die Geschichte wird bereits erzählt, und es wurde schon in langen Artikeln darüber geschrieben. Grundsätzlich finde ich, dass jeder, der noch weiter darüber arbeitet, mit den Leuten kooperieren sollte, die nah dran sind und die Bescheid wissen. Ich meine, das ist ja auch mein Leben, und man möchte doch nicht, dass das eigene Leben fiktionalisiert wird, ohne zu wissen, in welchem Kontext.
Laura Poitras im Gespräch mit Sigrid Fischer
"Es ist das Porträt eines Mannes und seiner Entscheidung", sagt die Journalistin Laura Poitras über ihren Dokumentarfilm "Citizenfour" über Edward Snowden. Trotzdem ginge es auch um das "große Ganze", nämlich die Entwicklung der amerikanischen Politik. Im Corso-Gespräch erklärt sie außerdem, warum sie sich nicht als Komplizin Snowdens sieht.
"2014-11-04T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:11:48.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/snowden-dokumentation-ich-bin-journalistin-keine-anwaeltin-100.html
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Obstbauern profitieren von Hitze
Hans-Olaf Schröder freut sich über die gute Ernte (Deutschlandradio / Felicitas Boeselager) "Ich hab ihr Auto jetzt eben gewogen, den Zettel bekomm ich nachher wieder. Nicht verlieren, hinten steht drauf wie sie die Äpfel pflücken sollen. Rechts rum Zwetschen und Mirabellen, links rum Zwetschen und Birnen" Zwischen den Obstplantagen der Schröders ist Stau. So viele Menschen kommen zu Saisonbeginn um Birnen, Äpfel, Mirabellen und Pflaumen zu pflücken. Bevor es losgeht, werden die Autos gewogen, wenn sie mit dem Obst raus fahren, müssen sie wieder auf die große Auto-Waage, und das, was sie dann mehr wiegen, das müssen sie zahlen. Die Autos parken direkt neben den Plantagen. Noch ist es angenehm kühl zwischen den langen Reihen der Obstbäume, eben hat es kurz geregnet, aber das war tatsächlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, die Wege sind schon wieder staubig. Soweit das Auge reicht, stehen Selbstpflücker zwischen Mirabellen- und Pflaumenbäumen und werfen die Früchte in ihre mitgebrachten Eimer. "Aber auch alle abpflücken vom Ast. Nicht welche hängen lassen. Richtig sauber abpflücken" Ganze Familien sind zum Pflücken gekommen und die Kinder umringen die Pflaumenbäume: "Und habt ihr schon mal eine gegessen Kinder?"- "Ja, süß" - "Sehr fruchtig" Früher Start der Selbstpflücker-Saison So früh wie dieses Jahr haben sie noch nie die Tore für die Selbstpflücker geöffnet, erzählt Hans-Olaf Schröder. Er leitet gemeinsam mit seinen zwei Brüdern das Familien-Unternehmen "Schröder Baumschulen" bei Bremen. "Als ich so elf, zwölf, dreizehn war, und hab hier angefangen in der Obstanlage so meinen Eltern zu helfen, da fingen wir so 7. 8. 9. September mit den Sorten, die wir jetzt heute am 8. August ernten, an." Das sei der Klimawandel, sagt Schröder. Der hat auch dafür gesorgt, dass dieses Jahr das beste Kirschjahr war, seit er denken kann. Aber nicht nur die Kirschen profitieren von der Sonne. "Also Zwetschen sind voll. Zwetschen haben nicht so extrem gelitten. Noch nicht." Die Pflaumen sind schon reif (Deutschlandradio / Felicitas Boeselager) Wenn es nicht kühler wird, dann kann es sein, dass auch die Pflaumen noch kaputt gehen. So wie jetzt die Äpfel, die Schröder braun vom Baum pflückt, innen ganz matschig, durchgegart von der Sonne. "Ich wollt erst noch reinschreiben in die Mail an unsere Kunden. Bringt ein bisschen Marzipan mit, Nüsse und Vanille-Sauce, dann könnt ihr hier Backäpfel vom Baum essen." Wasser für klimatische Bewässerung fehlt Um die Äpfel vor Sonnenbrand zu schützen, müssten die Schröders klimatisch bewässern. Das heißt die Äpfel von oben mit hochwertigem Wasser berieseln, sechs Stunden am Tag. So werden Bäume und Äpfel gekühlt und sie bekommen das nötige Wasser, das sie für den Nährstofftransport brauchen. Das geht aber nicht, weil es in dieser Gegend nicht genug Wasser gibt. "Ja, ich hab das mal so ausgerechnet, wenn ich so ungefähr 30.000 Kubikmeter brauche, dann brauch ich einen Teich von 100 mal 50 und 6 Meter hoch. Aber gerade Kanten. Das ist aber eine Menge, wenn sie ein hundert Meter langes Wasserbecken sehen, 50 Meter breit und 6 Meter hoch und bestes Trinkwasser da drin." Statt der klimatischen Bewässerung, werden die Bäume hier nun unten am Stamm gegossen. Das kostet viel Geld, nicht nur das Wasser, auch der Strom und der Diesel, den die Maschinen fressen, muss gezahlt werden: "Und das kann man richtig rechnen, wie das Geld einem durch die Finger rinnt. Aber das muss sein, damit man am Ende sieht: Ich habe sie am Leben gehalten. Dann hat sich's gelohnt." Schließlich sollen die Bäume auch in den nächsten Jahren noch Früchte tragen. Gleichzeitig denkt Schröder auch über den Anbau neuer Apfelsorten nach: "Alles was spät reif ist, hat schon mal einen Vorteil. Noch früher geht ja nicht. Da kann ich ja fast mit den Erdbeeren um die Wette anfangen, das ist ja unheimlich." Prinzip Hoffnung Aber auf alles, sagt Schröder, kann er sich nicht vorbereiten. "Hoffnung, das Prinzip Hoffnung lebt hier, ja das ist so. Wenn sie so einen Beruf machen, dann pflanze ich ja einen Baum, den ernte ich sowieso erst in zwei, drei Jahren. Solange muss er erstmal leben, dann hoffe ich noch, dass es die richtige Sorte ist, die den Leuten gefällt und dann müssen noch Leute Lust haben zu pflücken und dann muss noch ein gutes Jahr sein und, und, und." Heute hatten genug Leute Lust zu pflücken. Kiloweise fahren sie das Obst wieder von den Plantagen auf die Auto-Waagen. "34 Kilo haben sie. 40 Euro und 80 Cent hätte ich gerne. Super, danke. Tschüss"
Von Felicitas Boeselager
Obstbauern freuen sich über die lang anhaltende Wärme, denn Pflaumen, Äpfel, Kirschen und Mirabellen sind durch den Sonnenschein viel früher reif als sonst. Das Geschäft brummt. Trotzdem wird es Zeit für Regen: Die Früchte drohen zu verbrennen - und die Bewässerung geht ins Geld.
"2018-08-09T14:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:27.393000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fruchternte-obstbauern-profitieren-von-hitze-100.html
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Oympiasiegerin aus der Ukraine baut Team in Deutschland auf
Smirnow, Kristina
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"2022-06-06T19:30:05+02:00"
"2022-06-06T20:40:09.203000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/segeln-oympiasiegerin-aus-der-ukraine-baut-team-in-deutschland-auf-dlf-764c3ea0-100.html
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"Das Museum ist keine pädagogische Anstalt"
Sexismus-Debatte: Galerie in Manchester hängt das Gemälde ab (Britta Schultejans/dpa) Die Sexismus-Debatte hat auch die Kunstmuseen erfasst. In Manchester wurde das Gemälde "Hylas und die Nymphen" aus dem Jahr 1896 abgehängt. Die Kuratorin sieht den weiblichen Körper in der Gemäldegalerie als "passiv-dekorativ oder femme fatale" ausgestellt. Rechtfertigt das die Verhüllung? Ist da ein berechtigtes Diskussionsbedürfnis am Werk oder puritanische Zensur? Über abgehängte Bilder zu diskutieren scheint widersinnig. Konsequenterweise müsse man dann weite Teile der westlichen Museen von London bis Rom schließen, sagt Tobia Bezzola, der frühere Museumsdirektor des Essener Museum Folkwang. Er ist seit Anfang des Jahres als Direktor am Kunstmuseum im schweizerischen Lugano tätig. Ganze kunstgeschichtliche Epochen, die sich mit der intensivierten Betrachtung des menschlichen Körpers und seiner Leidenschaften befassen, stünden dann unter Verdacht. Eine lächerliche Diskussion Die zunehmend fehlende Autonomie der Kunst führt Bezzola auf die Pädagogisierung der Museen zurück. Sie unterlägen den Ministerien für Bildung. Dem liege die falsche Unterstellung zugrunde, es handle sich um Bildungseinrichtungen für die Jugend. Das führe dazu, dass Personen für Kultur zuständig seien, die Rubens nicht von Rembrandt unterscheiden könnten, fügt er sarkastisch hinzu. Was Museen aber zeigen, sei nicht zwingend bildend und erzieherisch. Das sei spezifisch für Deutschland und die angelsächsischen Länder. Damit steigen wir aus der Annahme des autonomen Kunstwerks aus. Die Diskussion um ein "paar viktorianische Akte" angesichts der Tatsache, dass jeder 12-Jährige sich alles Mögliche aus dem Interner herunterladen könne, wirke da lächerlich, sagt Bezzola. Dann bleibt nichts mehr übrig Er sieht das Problem, dass weite Teile der fotohistorischen Tradition dann nicht gezeigt werden könne, weil sie als pornografisch eingestuft werden würden. Sinnvoll sei die Diskussion, ob man im Museum Schranken schaffe, also Bereiche, die nur für Erwachsen oder in begleiteten Führungen zugänglich seien. Das werde schon in Wechselausstellungen praktiziert. Wenn alle erotischen Darstellungen verbannt würden, gebe es nur noch Landschaftsdarstelllungen und Herrscherporträts. Das wäre dann aber auf Dauer auch langweilig.
Tobia Bezzola im Gespräch mit Michael Köhler
Zu viele nackte weibliche Haut ist anstößig. Das finden einige Kuratoren und Museumsbesucher und sorgen für aufgeregte Debatten um abgehängte Bilder. Aber Museen seien keine pädagogischen Anstalten - sie richteten sich an Erwachsene, die sich ein eigenes Urteil bilden könnten, sagt der Museumsdirektor Tobia Bezzola im Dlf.
"2018-02-04T17:30:00+01:00"
"2020-01-27T17:37:55.530000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sexismus-debatte-in-der-kunst-das-museum-ist-keine-100.html
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Heilung alter Wunden
Youk Chhang erinnert sich noch ganz genau an den 17. April 1975. An diesem Tag marschierten die Roten Khmer in seine Heimatstadt Phnom Penh ein und zwangen alle Bewohner, die Stadt zu verlassen. Er selbst war damals 14 Jahre alt. Wochenlang war er dann allein unterwegs, er irrte durchs Land, auf der Suche nach dem Heimatdorf seiner Mutter. Dort angekommen setzte sich der Albtraum fort. Er wurde von seiner Familie getrennt, in ein Jugendcamp gesteckt und abkommandiert, Kanäle zu graben. Jeden Tag auf’s Neue. Bis heute kann er die Glocke zum Arbeitsappell hören. Er weiß noch, wie er hungerte und beim Gedanken an eine Schale Reis nicht einschlafen konnte; wie er fast zu Tode geprügelt wurde, weil er seiner schwangeren Schwester etwas zu Essen geklaut hatte. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, will Youk Chhang keine Rache mehr nehmen, doch er will Gerechtigkeit. Und: Es gibt einen ganz persönlichen Grund, warum er sich bis heute mit den Schreckensgeschichten von damals auseinandersetzt."Ich möchte meine Mutter glücklich machen. Sie hat sehr gelitten. Sie hat einige ihrer Kinder, all ihre Geschwister, ihre Eltern und ihren Mann verloren. Meiner Schwester wurde zum Beispiel der Bauch aufgeschlitzt, weil sie was zu Essen gestohlen haben soll. Meine Mutter musste miterleben, wie ihr Enkel verhungerte. Sie hat nie geweint und das hat mich wütend gemacht."Deshalb wurde Youk Chhang zum Sammler. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den schrecklichsten Abschnitt der Geschichte seines Landes zu dokumentieren. Youk Chhang ist der Leiter des Kambodschanischen Dokumentationszentrums und hat in den letzten 16 Jahren etwa eine Million Dokumente, Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokolle, Briefe, Filme und Fotos gesammelt. In seinem Büro häufen sich die Papierberge. Die Hälfte der gesammelten Dokumente hat er dem Gericht überstellt, einige werden in den Prozessen als Beweise angeführt."Unter diesen 500.000 Dokumenten gibt es genügend Beweise, um die Angeklagten ins Gefängnis zu bringen. Unser Hauptziel ist es, die historischen Informationen der Roten-Khmer-Zeit zu sammeln, für die Prozesse, um den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit zu geben, aber auch um die jungen Leute zu informieren, nicht nur in Kambodscha, sondern weltweit."Die ECCC - die außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha, das Rote-Khmer-Tribunal also, wurde 2007 mithilfe der Vereinten Nationen initiiert - 28 Jahre nach Ende der Herrschaft der Roten Khmer. Ein langer Zeitraum, der ungenutzt verstrichen war. Doch dafür gibt es Gründe: Bis Ende der 90er-Jahre herrschte in Kambodscha Bürgerkrieg. Danach brauchte es lange Jahre, um eine konkrete Rechtsform auszuhandeln und um Gelder zu sammeln. Die 170 Millionen US Dollar, die das Gericht bis Ende 2011 kosten wird, kommen zum größten Teil aus Japan, aber auch aus Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union. Gerichtssprecher Lars Olson über den Auftrag, der dem Tribunal gestellt wurde:"Als die Vereinten Nationen und die Regierung von Kambodscha dieses Gericht erschaffen haben, haben sie sich auf ein sehr spezielles und limitiertes Mandat geeinigt. Es werden in diesem Gericht nur Menschen angeklagt, von denen angenommen wird, dass sie damals Führungsmitglieder der Roten Khmer waren und am meisten verantwortlich für die Verbrechen zwischen 1975 und 1979 waren."Angesichts eines solch eingeschränkten Mandats blieb die Enttäuschung vieler Menschen in Kambodscha nicht aus. Alle, die auf eine breite, vielleicht sogar umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit gehofft hatten, fühlten sich betrogen. Denn Tausende andere Täter dürften nie für ihre Taten verantwortlich gemacht werden und leben auch weiterhin unbehelligt auf freiem Fuß. Sie bekleiden heute Ämter, sind Politiker und Lehrer. Und die kambodschanische Regierung ging den Rufen nach Bestrafung und Gerechtigkeit nicht nach, setzte vielmehr auf Amnestie und Reintegration der Täter.Die Opposition wirft der Regierung Eigeninteresse vor, denn auch der heutige Premierminister Hun Sen war Kommandeur der Roten Khmer, bis er dann infolge interner Auseinandersetzungen nach Vietnam floh. Als heutiger Premierminister sprach er sich dafür aus, keine weiteren Mitglieder der Roten Khmer vor Gericht zu stellen oder weitere Verdächtige zu verhaften. Er seinerseits führt an, dass das Land nicht weiter destabilisiert werden dürfte. Das Rote-Khmer-Tribunal kann daher nur Symbolhandlungen vollziehen und den Opfern eine Plattform geben, ihr Unrecht, das ihnen angetan wurde, vor der Welt laut auszusprechen. Youk Chhang, Leiter des Kambodschanischen Dokumentationszentrums:"Das Wichtigste ist, dass die Opfer teilnehmen und ihre Vorwürfe vortragen können, um ihre Menschlichkeit und Ehre wieder herzustellen. Die Roten Khmer haben weniger als vier Jahre gebraucht, um das Leben von zwei Millionen Menschen zu zerstören. Kambodscha hat über 30 Jahre gebraucht, eine Gesellschaft wieder aufzubauen."Während der 72 Verhandlungstage im ersten Prozess waren die Zuschauerplätze fast immer vollständig gefüllt - Tausende Menschen verfolgten die komplizierte Beweisführung, darunter viele Opfer, aber auch lokale und internationale Medienvertreter und Schulklassen. Für Youk Chhang ein großer Triumph:"Was mich und meine Mutter glücklich macht, ist, dass jetzt eine Millionen Kinder in der Schule lernen, was damals passiert ist. Kein Gericht, noch nicht einmal Gott kann uns zurückgeben, was wir verloren haben. Aber wenn ich diese Kinder sehe, dann ist das etwas mit dem wir leben können und es ist eine Ehre für viele Überlebende in diesem Land."Youk Chhang hat lange und akribisch gesammelt. Heute zahlt sich diese Mühe aus. Zwei Prozesse laufen und die Weltöffentlichkeit schaut auf Kambodscha. 2007 wurde er vom amerikanischen "Time Magazine" zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt gewählt. Er weiß: Gerechtigkeit lässt sich nach 30 Jahren nicht mehr herstellen, nur die Zeit kann helfen, die Vergangenheit zu überwinden. Und er weiß auch das: Vielen Buddhisten in Kambodscha hilft der Glaube daran, dass die Mörder in ihren nächsten Leben für ihre Grausamkeiten bestraft werden.
Von Juliane Kowollik
Die Roten Khmer herrschten vier Jahre in Kambodscha und verbreiteten Schrecken und Grausamkeit. Die Gesellschaft ist auch mehr als 30 Jahre danach noch traumatisiert. In einem Prozess werden vier Repräsentanten angeklagt. Die Verhandlung will vor allem den Opfern eine Plattform geben.
"2011-06-25T13:30:00+02:00"
"2020-02-04T01:50:22.844000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heilung-alter-wunden-100.html
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Sprache im Dienst der Propaganda
"Der Ein-Kopf-Staat hat den Eintopf hervorgebracht" - Deutscher Wehrmachtsoldat in Prag 1939 (dpa / picture-alliance) Stefan Koldehoff: "Wendepunkte in der Kultur" – damit befassen wir uns in den Sommermonaten in dieser Sendung. Heute soll es um die Sprache gehen, und damit eigentlich um Wendepunkte: Einmal um 1933, als die Nationalsozialisten ganz bewusst die Sprache verändert haben. Und dann auch über 1945, als einiges sprachlich nicht mehr ging – aber trotzdem weiter benutzt wurde; heute zum Teil übrigens von manchen Parteien oder Gruppierungen ganz bewusst wieder verwendet wird. Matthias Heine, Redakteur bei der "Welt" in Berlin, hat dazu ein Buch mit dem Titel "Verbrannte Wörter" geschrieben. Und ihn habe ich gebeten, erstmal chronologisch anzufangen: 1933 verändert sich auch die Sprache. Und sie veränderte sich, wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, nicht zufällig. Sie wird ganz bewusst verändert? Matthias Heine: Die Nationalsozialisten haben eine aktive Sprachpolitik betrieben, sie haben versucht eigene Begrifflichkeiten durchzusetzen, neue Wörter, Veränderung alter Wörter. Das ging bis hinein in Satzzeichen, inflationärer Gebrauch des Ausrufungszeichens in der Propaganda, das ist ein Beispiel, dass es wirklich bis in die Satzzeichen hineingeht. Es ist der Beginn einer – salopp gesagt – großen Sprachvergiftung, die aktiv herbeigeführt wird. Dazu gibt es auch Aussagen von Goebbels und anderen, die sagen, wir müssen jetzt eine neue, nationalsozialistische Sprache schaffen – und sogar von Hitler selbst. Goebbels´ Aufsätze wurden im Radio vorgelesen Koldehoff: Wie funktionierte das praktisch? Die Schulen waren sicherlich der eine Ort, aber damit erreicht man natürlich nur die Kinder und Jugendlichen. Heine: Vor allen Dingen natürlich über die gleichgeschaltete Presse, die gleichgeschalteten Medien, so muss man in diesem Fall sagen, den Rundfunk gab es ja auch schon. Und da war die Trennung nicht so groß. Goebbels große Aufsätze, die er dann ab Ende der 30er-Jahre immer schrieb, wurden freitags oder samstags dann auch im Radio vorgelesen und in großen Mengen von den gleichgeschalteten Zeitungen dann auch Ende der 30er-Jahre auch schon in Österreich nachgedruckt. Außerdem gab es jeden Morgen um neun Uhr, glaube ich, wenn ich mich richtig entsinne, auf jeden Fall am Vormittag, auf die Uhrzeit lege ich mich fest, es musste ja Gott sei Dank keiner von uns dabei sein, gab es eine Pressekonferenz im Propagandaministerium, wo Goebbels genaue Anweisungen gegeben hat, wie die Dinge zu behandeln waren, wie sie zu benennen waren. Man hat auch Ausdrücke wieder eingefangen, die man einmal in die Welt gesetzt hat. Zum Beispiel sollte dann irgendwann nicht mehr von arisch oder von Drittes Reich geschrieben werden, was wir vielleicht ein bisschen überraschend finden, aber arisch wurde dann, weil das immer schon umstritten war, durch deutschblütig ersetzt. Und Drittes Reich hatte dann irgendwann für den Geschmack der damals herrschenden Leute zu starke religiöse Konnotationen - man sprach dann von großdeutsches Reich – und das sollte dann durchgesetzt werden. "Alttestamentlich" als Empfehlung Koldehoff Nun haben Sie einige Begriffe schon angesprochen, das sind Begriffe, bei denen wir heute noch zusammenzucken und sofort merken, da sollte etwas mit bewirkt werden. Blut und Boden, Gleichschaltung, Reichskristallnacht, Bombenwetter, Rassenhygiene, da kann man den Bezug herstellen. Ich war, als ich Ihr Buch gelesen habe, über andere Worte erstaunt, über Worte wie alttestamentarisch oder Eintopf. Auch das sind sozusagen infizierte oder, wie Sie es nennen, verbrannte Wörter. Heine: Ja. "Alttestamentarisch", um es mal so zu nennen, ist ein bisschen vergleichbar gewesen mit dem Gebrauch, den es heute im rechtsradikalen, rechtspopulistischen Sprachgebrauch von "die Ostküste" gibt. Es ist ein Begriff, mit dem man andeutet, dass es sich um Juden handelt, die da vorgehen, aber man möchte es vielleicht so nicht sagen oder man hat nach einem Synonym gesucht. Und das lässt sich ganz deutlich nachweisen in Reden von Hitler, in Reden von Goebbels, dass die Nazis von diesem Wort einen ganz spezifischen Gebrauch gemacht haben, sie sprachen dann immer vom alttestamentarischen Hass, mit dem die Alliierten Deutschland verfolgen würden, und wollten damit natürlich andeuten, dass dahinter irgendwelche jüdischen Verschwörungen und Mächte stecken. Deswegen wird von der deutschen Bibelgesellschaft schon lange – und auch von Theologen und Leuten, die sich mit dem alten Testament oder mit der jüdischen Bibel, wie man heute korrekterweise sagt, beschäftigen – empfohlen, von "alttestamentlich" zu sprechen. "Der Ein-Kopf-Staat hat den Eintopf hervorgebracht" Koldehoff: Und der gute alte Eintopf, der auch heute noch auf vielen Speisekarten steht? Heine: Der ist natürlich nicht vergiftet, also hoffentlich nicht im Wortsinn – und auch nicht im übertragenen Sinne. Das ist einfach nur interessant, dass dieses Wort aufkam in den 30er-Jahren im Zusammenhang mit den sogenannten Eintopf-Sonntagen, die Anfang der 30er-Jahre dem deutschen Volk verordnet wurden, da sollte man einmal im Monat immer nur sonntags statt des Sonntagsbratens einen Eintopf kochen und das gesparte Geld dem Winterhilfswerk, dieser Hilfsorganisation, spenden. Vorher ist das Wort Eintopf nur vereinzelt nachweisbar, meistens auch in der Langform Eintopfgericht. Also, auch in der Notküche des Ersten Weltkriegs gab es das schon gelegentlich, aber richtig verbreitet hat es sich erst in diesem Zusammenhang. Und es wird auch von den Zeitgenossen als neues Wort beschrieben, in der Weltbühne im Exil in Prag gibt es dann das Wortspiel: Der Ein-Kopf-Staat hat den Eintopf hervorgebracht. "Kulturschaffende" bei den Nazis und in der DDR Koldehoff: Auch in dieser Sendung, letztes Einzelbeispiel, auf das ich eingehen möchte, sprechen wir oft von den "Kulturschaffenden". Und auch da habe ich bei Ihnen gelernt, das ist nicht so ganz ohne. Heine: Ja. Das ist ein Wort, das nun wirklich ganz eindeutig im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus aufgekommen ist und sich vorher überhaupt nicht nachweisen lässt. Als die Reichskulturkammer geschaffen wurde, stand das zwar nicht in den offiziellen Dokumenten, aber es gab dann einen Aufruf der sogenannten Kulturschaffenden, die sich als solche bezeichneten, die das begrüßten und dazu aufforderten, da mitzumachen. Und in diesem Zusammenhang kommt das Wort zum ersten Mal auf, und das ist natürlich eine hübsche Pointe, dass es dann nach einem Nachleben in der DDR auch eher im linken Sprachgebrauch heute verwendet wird. Es gab ja vor zwei Jahren diesen Aufruf der Kulturschaffenden gegen Seehofer. Und es war immer, wenn nicht von diesen Leuten selbst, doch zumindest in der Presse von Kulturschaffenden die Rede. Das ist genau wie Eintopf – es ist eher interessant, zu wissen, dass das im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus aufgekommen ist. Es ist jetzt kein vergiftetes Wort in dem Sinne, wie Untermensch und Rassenhygiene vergiftete Worte sind. Sie werden nicht zum Nazi, wenn Sie Kulturschaffender hundertmal sagen oder Eintopf hundertmal sagen, aber ich finde das erst mal einfach interessant. Renaissance eines bestimmten Nazivokabulars Koldehoff: 1945 dann der zweite Wendepunkt, viele dieser Worte gehen plötzlich nicht mehr, werden trotzdem weiterverwendet, auch das beschreiben Sie sehr schön. Wenn man Sprache als Ausdruck des Gedachten denkt, dann muss man davon ausgehen, dass zwar das sogenannte Dritte Reich aufgehört hatte, aber viele der Gedanken, die damit zusammenhingen, in der Sprache weiterhin ihren Niederschlag fanden. Heine: Na ja, da muss man, glaube ich, unterscheiden zwischen Begriffen, die dann aktiv noch gebraucht werden und ganz bewusst und jetzt auch wieder. Es gibt ja gerade eine große Renaissance eines bestimmten Nazivokabulars im Rechtspopulismus oder ganz rechts, da spricht man von Systempresse … "Man sprach von betreuen und meinte töten" Koldehoff: … von Umvolkung, Überfremdung … Heine: … Volksverräter, genau. Alles solche Begriffe, die plötzlich ein Revival ganz bewusst erleben, teilweise umgedeutet werden. Man spricht von der gleichgeschalteten Presse und fühlt sich als deren Opfer, weil angeblich nicht genug über Flüchtlingskriminalität berichtet wird oder weil feindselig über Rechte berichtet wird, während für die Nazis ja gleichgeschaltet zu sein eher etwas Positives war. Da gibt es eine Renaissance, es gab natürlich ein Nachleben nach 1945, da hat es ja auch noch ganz klar nur vage getarnte nationalsozialistische Parteien gegeben, Sozialistische Reichspartei und so etwas. Und es gibt ein Nachleben von bestimmten Begriffen, die halt nicht ganz so mit Ideologie gefüllt sind. Betreuen ist für mich immer ein Paradebeispiel. Das finden Sie sowohl in den beiden großen Werken, die sich gleich nach 1945 mit der NS-Sprache beschäftigen, einerseits Victor Klemperers "LTI" im Osten und im Westen "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" von Süskind und anderen. Da steht betreuen eindeutig als ein Wort, das in der NS-Zeit aufgekommen ist zur Vernebelung bestimmter Vorgänge, sowohl bürokratischer Vorgänge, parteilicher Vorgänge bis hin zur Vernebelung von Tötung: Man sprach auch von betreuen und meinte töten. Trotzdem hat das Wort eine unfassbare Karriere nach 1945 im bürokratischen und juristischen Sprachgebrauch gemacht, und es ist natürlich eine bittere Pointe, dass zum Beispiel die Betreuung, also der Umgang mit Behinderten, früher hätte man gesagt Entmündigten, mit dem Wort betreuen juristisch geregelt wurde – und diese Leute wurden mit dem gleichen Wort zur Nazizeit getötet, umgebracht. "Immer genau überlegen, was man sagen möchte" Koldehoff: Kurz zum Schluss noch, Herr Heine: Sprachpolizist wollen Sie damit nicht sein, sondern Bewusstsein schaffen? Heine: Bewusstsein schaffen, man muss sich immer genau selber überlegen, was man sagen möchte. Wie gesagt, ich finde auch betreuen jetzt … Auch davon ist … Nur weil wir betreuen gesagt haben, ist die AfD nicht groß geworden und wir werden keinen neuen Faschismus kriegen, man sollte sich aber überlegen, an welcher Stelle man es gebraucht. Dafür möchte ich Bewusstsein schaffen, vor allen Dingen bei Professionellen und bei Leuten, die sich wirklich intensiv für Sprache interessieren, Journalisten wie wir, Politiker – und wie gesagt, ich finde es, ganz unabhängig davon, was man mit diesen Informationen anfängt, erst mal unglaublich interessant und spannend. Auch, wie beispielsweise technische, harmlose Begriffe wie Gleichschaltung plötzlich zu politischen Begriffen wurden. Das ist ja alles erst mal ungeheuer interessant und, wenn man sich für Geschichte interessiert, lesenswert – hoffe ich jedenfalls, ich rede ja natürlich als Autor. Der Autor Matthias Heine will für einen bewussten Umgang mit der deutschen Sprache sensibilisieren (Deutschlandradio / Manfred Hilling) Matthias Heine ist Journalist, Historiker und Linguist. Er hat für diverse Tageszeitungen, Zeitschriften und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet. Seit 2010 ist er Redakteur der Zeitung "Die Welt". Heine hat an der Neubearbeitung des "Deutschen Wörterbuchs" von Hermann Paul mitgewirkt, im März ist sein Buch "Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis - und wo nicht" im Duden Verlag erschienen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Matthias Heine im Gespräch mit Stefan Koldehoff
"Eintopf", "alttestamentarisch" und "betreuen" sind nur scheinbar harmlose Wörter. Sie haben eine NS-Karriere hinter sich. Die Nazis hätten eine aktive Sprachpolitik betrieben, sagt Buchautor Matthias Heine. Wörter wie "gleichgeschaltet" kehren umgedeutet im Rechtspopulismus wieder.
"2019-07-16T17:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:02:07.955000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/matthias-heine-ueber-verbrannte-woerter-sprache-im-dienst-100.html
90,718
Botschaft im Jemen geschlossen
Huthi-Milizionäre patrouillieren nahe dem Präsidentenpalast in Sanaa (Aufnahme vom Januar). (picture alliance / dpa / EPA / STR) Die schiitischen Huthi-Rebellen hatten bereits im September die Hauptstadt Sanaa eingenommen. Vor einer Woche erklärten sie den Übergangspräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi für abgesetzt und lösten das Parlament auf. Stattdessen soll ein sogenannter Präsidentschaftsrat für zwei Jahre eine Regierung bilden. Ein sogenannter Nationalrat soll das Parlament ersetzen. Dagegen gibt es heftige Proteste der sunnitischen Mehrheit. Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich, Italien und die Niederlande schlossen wegen der schwierigen Sicherheitslage ebenfalls ihre Botschaften. Der Jemen wird seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Ali Abdullah Saleh im Rahmen des Arabischen Frühlings im Jahr 2012 von Gewalt und schweren politischen Unruhen erschüttert. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hatte am Donnerstag in einer Rede vor dem Weltsicherheitsrat gewarnt: "Der Jemen zerfällt vor unseren Augen." (vic/tgs)
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Der Putsch der Huthi-Rebellen im Jemen zementiert sich zunehmend. Deutschland zog nun seine Diplomaten ab. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes reisten die Mitarbeiter der Botschaft heute aus. Auch andere Länder schlossen ihre Vertretungen in dem Land auf der arabischen Halbinsel.
"2015-02-13T15:51:00+01:00"
"2020-01-30T12:21:48.659000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/auswaertiges-amt-botschaft-im-jemen-geschlossen-100.html
90,719
Australischer Journalist nach 400 Tagen frei
Der australische Journalist Peter Greste (2.v.r.) ist nach 400 Tagen frei gekommen, während das Schicksal seiner Kollegen weiter unklar ist. (picture alliance / dpa - Khaled Elfiqi) Greste war gemeinsam mit zwei Kollegen Ende 2013 festgenommen worden. Den Journalisten wurde vorgeworfen, die in Ägypten verbotenen Muslimbrüder unterstützt zu haben. Sie sollen in einem Hotelzimmer in Kairo unerlaubt ein Büro des katarischen Nachrichtensenders Al-Dschasira eingerichtet haben. Im Juni vergangenen Jahres wurden die drei Journalisten zu Haftstrafen zwischen sieben und zehn Jahren verurteilt, was weltweit auf scharfe Kritik stieß. Noch gestern hatten zahlreiche Kollegen an die Verhaftung vor exakt 400 Tagen erinnert. Greste habe bereits ein Flugzeug Richtung Zypern bestiegen, berichtete ein Mitarbeiter des Flughafens. Im Januar hatte ein Kassationsgericht entschieden, den Prozess gegen die Angeklagten neu aufzurollen. Die Zukunft von Grestes Kollegen, dem Ägypter Baher Mohamed und dem kanadisch-ägyptischen Journalisten Mohamed Fahmy, ist noch unklar. Al-Dschasira begrüßte die Freilassung von Greste und forderte die ägyptische Regierung auf, auch die beiden anderen Journalisten aus der Haft zu entlassen: "Wir werden nicht ruhen, bis Baher und Mohamed ebenfalls frei kommen. Die ägyptischen Autoritäten haben es in der Hand, es heute angemessen zu beenden, und das müssen sie tun." Die ägyptische Regierung um Präsident Sisi wirft Al-Dschasira vor, die Muslimbruderschaft zu unterstützen. Die Armee, deren Chef Sisi damals war, hatte die regierenden Muslimbrüder 2013 gestürzt.
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Der australische Journalist Peter Greste ist nach mehr als einem Jahr in ägyptischer Haft frei gekommen. Nach einem Erlass von Präsident Abdel Fattah al-Sisi konnte der Reporter von Al-Dschasira das Gefängnis verlassen. Das berichtete die ägyptische Nachrichtenagentur Mena.
"2015-02-01T16:45:00+01:00"
"2020-01-30T12:19:47.605000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/begnadigung-in-aegypten-australischer-journalist-nach-100.html
90,720
Armee verhängt Kriegsrecht
"Wir sind besorgt, dass die Gewalt die Sicherheit des Landes insgesamt gefährden könnte", begründete Armeechef Prayuth Chan-ocha den Schritt. Im Zuge der Proteste der Regierungsgegner seien "Kriegswaffen" eingesetzt worden, sagte Prayuth. Nach zunehmender Gewalt auf Bangkoks Straßen sei die Armee daher im Morgengrauen eingeschritten. Das Militär kann unter dem Kriegsrecht unter anderem Ausgangssperren verhängen und Demonstrationen verbieten. "Keine Panik", sagte Prayuth. "Die Leute sollen ihrem normalen Leben nachgehen, damit sich die Situation schnell normalisieren kann." Die Armee hat seit dem Ende der absoluten Monarchie im Jahr 1932 elf Mal geputscht. Die Regierung blieb im Amt, allerdings mit unklaren Machtbefugnissen: Sie schlug nach Angaben des staatlichen Informationsbüros den 3. August als neuen Wahltermin vor - ursprünglich waren Neuwahlen im Juli geplant. Übergangspremier Niwatthamrong Boonsongpaisan forderte die Wahlkommission auf, den Urnengang vorzubereiten. Der Leiter der Wahlkommission wolle aber erst bei den "nationalen Sicherheitsbehörden" nachfragen, ob die Regierung dazu noch befugt sei. Die Sicherheit ist mit den weitreichenden Befugnissen des Kriegsrechts jetzt Sache des Militärs. Der amtierende Justizminister Chaikasem Nitisiri begrüßte den Schritt und sagte, die Regierung habe "noch immer die gesamte Macht, das Land zu führen". Menschenrechte "nicht zu sehr" verletzen Regierungsanhänger demonstrieren in den Vororten Bangkoks - das Militär kann solche Proteste jetzt verbieten (dpa / picture-alliance / Narong Sangnak) Die Armee wolle weitere Todesopfer verhindern, sagte General Prayuth. Mehr als 25 Menschen sind seit Beginn der Proteste im November umgekommen. Prayuth schränkte als erstes die Pressefreiheit ein. Zehn parteiische Fernsehsender mussten ihren Betrieb einstellen. In der Anordnung hieß es zur Begründung, "um sicherzustellen, dass Nachrichten nicht verfälscht werden, was den Konflikt anheizen könnte". Unter den geschlossenen Sendern sind sowohl Blue Sky, der Kanal, der den Regierungsgegnern nahe steht, als auch ein Sprachrohr der Regierungsanhänger. Bewaffnete Soldaten drangen in etliche Radio- und Fernsehsender in Bangkok ein, um ihre Botschaft publik zu machen. Die Polizei wurde zudem angehalten, öffentliche Versammlungen zu unterbinden. Das Militär werde "versuchen, keine Menschenrechte zu verletzen - nicht zu sehr", sagte General Prayuth. In Bangkok blieb es am Dienstag zunächst relativ ruhig. Auf Bangkoks Straßen war vom Kriegsrecht zunächst wenig zu spüren. Zwar standen an manchen Kreuzungen bewaffnete Soldaten, sie hielten sich aber zurück. Touristen schossen Erinnerungsfotos mit ihren Handykameras neben Uniformierten oder Armeefahrzeugen. Die Geschäfte waren geöffnet, ebenso Attraktionen wie der Königspalast und Museen. Straßenszene in Bangkok nach der Verhängung des Kriegsrechts am Dienstag (dpa / picture-alliance / Narong Sangnak) Tiefe Spaltung in der Gesellschaft Dass das Kriegsrecht die nötige Annäherung der verfeindeten Lager zur Lösung der Krise bringt, wird von Beobachtern nicht erwartet. Beide Seiten sind bislang kompromisslos. Die Opposition sieht die kürzlich vom Verfassungsgericht wegen "Machtmissbrauchs" abgesetzte Regierungschefin Yingluck Shinawatra als Marionette ihres Bruders Thaksin Shinawatra an. Dieser war 2006 vom Militär gestürzt worden und lebt im Exil in Dubai, um einer Gefängnisstrafe wegen Amtsmissbrauchs zu entgehen. Die Opposition verlangt einen ungewählten Rat, der für ein, zwei Jahre regieren und Reformen einleiten soll, um einen Aufstieg wie den Thaksins zu politischer Macht in Zukunft zu verhindern. Die Regierung ist sich dagegen der Mehrheit im Land sicher, und besteht deshalb auf Wahlen. Ihre Anhänger haben mit Bürgerkrieg gedroht, sollte die gewählte Regierung entmachtet werden. Die Opposition wird von der Mittelschicht Bangkoks und von Anhängern des Königshauses unterstützt. Armeechef Prayuth mahnte zur Zurückhaltung: "Ich rufe alle Aktivistengruppen auf, ihre Aktivitäten einzustellen und mit uns zusammenzuarbeiten, um einen Weg aus der Krise zu finden." Doch sowohl die "Rothemden" als Unterstützer der Regierung als auch die oppositionellen "Gelbhemden" kündigten neue Proteste an. Eminente Politiker, Akademiker, Wirtschaftsfachleute und Generäle - viele Gruppen haben zur Versöhnung der Lager aufgerufen. Einen Dialog hat aber bislang niemand zustande bekommen. Zwischen Kriegsrecht und Ausnahmezustand Der Begriff Kriegsrecht bezeichnet eigentlich Rechte im Krieg, also zwischen Staaten. Für Maßnahmen, die bei internen Konfliktsituationen verhängt werden, gilt in der Regel der Begriff Ausnahmezustand. Den würde in Thailand die Zivilregierung verhängen. Die neue Rechtslage ordnete aber das Militär an. Deshalb ist umgangssprachlich von Kriegsrecht die Rede. Die Entwicklungen in Thailand beunruhigen die Bundesregierung. "Wir haben die Verhängung des Kriegsrechts mit Sorge zur Kenntnis genommen", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Berlin. Er appellierte an die Verantwortlichen, die Krise "auf friedlichem Wege zu lösen und die Menschenrechte zu respektieren". Die für den Sommer geplante Neuwahl müsse "frei und fair" ablaufen. (nch/sdö/tj/stfr/tgs)
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Nach sechs Monaten schwerer Unruhen hat sich Thailands Armee in die politische Krise eingeschaltet. Einen Putsch solle die Maßnahme nicht einleiten, versicherte das Militär. Die Übergangsregierung will Neuwahlen nun erst im August. Der Leiter der Wahlkommission fragt sich, ob die Regierung dazu befugt sei.
"2014-05-20T09:59:00+02:00"
"2020-01-31T13:42:01.435000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/thailand-armee-verhaengt-kriegsrecht-100.html
90,721
Waffenruhe in Homs gebrochen
Bis zum Nachmittag hatte sich die Lieferung verzögert, weil die vereinbarte Waffenruhe nicht eingehalten wurde. Die dreitägige Feuerpause sollte es dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR ermöglichen, die Bewohner der Altstadt von Homs mit Essen und weiteren dringend benötigten Gütern zu versorgen. Es stand seit Wochen mit Lastwagen bereit, um die Hilfslieferungen in die Stadt zu bringen. Die Aktion hatte sich bereits immer weiter verzögert. Das Eintreffen eines ersten Hilfskonvois nun betätigte die Syrische Beobachtungestelle. Die Altstadt von Homs steht unter der Kontrolle von Rebellen und wird deshalb seit rund eineinhalb Jahren von Regierungstruppen belagert. 3000 Menschen sind dort eingeschlossen. Sie sollen bereits Hunger leiden. Am Freitag hatten bereits die ersten Zivilisten mit Hilfe der UNO die Altstadt von Homs in Bussen verlassen dürfen. Vor der für heute geplanten Lebensmittellieferung erklärte der Gouverneur der Region, Talal Barasi: "Jetzt wollen wir uns um die elementaren Bedürfnisse der Menschen kümmern, die es nicht geschafft haben, mit der ersten Evakuierungswelle rauszukommen. Heute wollen wir ihnen diese Sachen bringen, morgen soll die Evakuierung weitergehen." Fassbomben auf Aleppo Die Nachrichtenagentur AP berichtet, dass die syrische Armee auch wieder Fassbomben auf Aleppo abgeworfen hat. Sie beruft sich dabei auf syrische Aktivisten. Mindestens 15 Menschen sollen am Samstag bei der Explosion der von Hubschraubern abgeworfenen Bomben im Stadtteil Massaken Hanano getötet worden sein. Die Örtlichen Koordinationskomitees sprachen sogar von 20 Toten. Die mit Metall- und Eisensplittern sowie Treibstoff gefüllten Fassbomben zerstörten offenbar ein Gebäude, wie auf einem von Aktivisten ins Internet geladenen Video zu sehen war. Raus aus Homs Die Evakuierung und die humanitäre Hilfe für Homs waren nach zähen Verhandlungen zwischen UNO-Vertretern und der syrischen Regierung erzielt worden. Für die Zeit der Evakuierung gilt derzeit eine dreitägige Feuerpause. Insgesamt will die UNO rund 200 Zivilisten aus Homs in Sicherheit bringen. Die Regelung betrifft Kinder, Frauen und ältere Menschen. Ausgenommen von der Evakuierung sind hingegen Männer zwischen 15 und 55 Jahren, weil es sich bei den meisten um Kämpfer handeln dürfte, so Gouverneur Barasi. Zweite Runde der Friedensgespräche Die syrische Regierung kündigte ihre Teilnahme an der zweiten Runde der Genfer Friedensgespräche an, die am 10. Februar beginnen soll. Das berichtete ebenfalls das Staatsfernsehen unter Berufung auf den stellvertretenden Außenminister Faissal Mekdad. Die Opposition hat ihre Teilnahme ebenso zugesagt. Die erste Runde der Gespräche war am 31. Januar beendet worden.
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Trotz anhaltender Unruhen in Homs hat ein erster Hilfskonvoi die eingeschlossenen Menschen erreicht. Die vereinbarte Waffenruhe wird offenbar nicht eingehalten. Regierung und Rebellen beschuldigen sich gegenseitig, Granaten auf die Altstadt abgefeuert zu haben.
"2014-02-08T11:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:25:20.402000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/syrien-waffenruhe-in-homs-gebrochen-100.html
90,722
FIFA will Whistleblower abschrecken
Der neue Ethikkodex der FIFA sorgt weltweit für Irritationen. (imago sportfotodienst) Der Fußball-Weltverband gerät wegen der Änderungen am eigenen Ethikcode immer stärker in die Kritik. Miguel Maduro, bis 2017 Governance-Chef der Fifa, sieht seinen Verdacht bestätigt, dass die Fifa unfähig zu Reformen sei. Der frühere Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof erklärt, er habe nach all den Korruptionsaffären nie erwartet, dass die Fifa ihren Ethikcode "unterminieren statt stärken" würde. Maduro war von Fifa-Boss Gianni Infantino aus dem Amt manövriert worden, nachdem er den als Doping-Organisator verdächtigten russischen Sportminister Vitaly Mutko nicht zur Wahl in den Fifa-Vorstand zuließ. "Verleumderische Aussagen zu Fifa-Personen" unter Strafe International kritisiert wird bereits, dass die Fifa unter der umstrittenen kolumbianischen Chefermittlerin Maria Claudia Rojas für Korruptionsdelikte eine zehnjährige Verjährungsfrist eingeführt hat. Nun weist Maduro darauf hin, dass die korruptionsverdächtigen WM-Vergaben an Russland 2018 und Katar 2022 bereits 2010 erfolgt sind. Etwaige Bestechungsgeschäfte dürften vorher erfolgt sein und fielen nun also in Kürze unter die Verjährung. Zugleich lenkt der Topjurist das Augenmerk auf neue Verleumdungs-Regeln, die es Whistleblowern künftig massiv erschweren, Korruptionsverdachtsfälle anzuzeigen. Ab sofort werden "verleumderische Aussagen zu Fifa-Personen" nicht nur mit Sperren bestraft, sondern auch mit erheblichen Geldstrafen von "mindestens 10.000 Schweizer Franken". Maduro sieht darin eine massive Abschreckung für interne Hinweisgeber. Keine Meldepflicht mehr für Geschenke an FIFA-Funktionäre Noch an anderer Stelle habe die Fifa ihre Anti-Korruptions-Regeln stark gelockert. Bisher musste jeder Versuch der Annahme oder Übergabe eines Geschenkes, das symbolische Werte übersteigt, gemeldet werden. Doch im überarbeiteten Code ist die Meldepflicht zu verdächtigen Geschenken verschwunden. Da zugleich das Whistleblowertum mit hohen Risiken verknüpft wurde, erscheinen üppige Gaben im Fifa-Umfeld de facto kaum noch risikobehaftet. Denn dass sich Fußballfunktionäre selbst anzeigen, ist auch künftig nicht zu erwarten. All dies gehe genau in die falsche Richtung, rügt Maduro. Die Entwicklung entlarve die Fifa-Führung als "ein politisches Kartell", dem die Ansprüche von Öffentlichkeit und sogar der Sponsoren egal seien.
Von Thomas Kistner
Die Kritik am neuen Ethikkodex der FIFA reißt nicht ab. Darin wird Korruption nicht mehr als Straftatbestand aufgeführt. Auch Miguel Maduro, ehemaliger Governance-Chef der Fifa, greift den Verband und Präsident Gianni Infantino scharf an. Die FIFA wolle mögliche Gegner mundtot machen.
"2018-08-16T22:52:00+02:00"
"2020-01-27T18:06:33.054000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kritik-an-neuem-ethikkodex-fifa-will-whistleblower-100.html
90,723
Technik funktioniert nur bis zur Garantiegrenze
"Hier sehen wir einen Server, den muss ich austauschen, der funktioniert nicht mehr."Ulrich Hergenhahn, IT-Experte bei den Volks- und Raiffeisenbanken, Frankfurt am Main:"Wahrscheinlich ist das Mainboard kaputt. Aber das Mainboard zu reparieren, ist in der heutigen Zeit fast unmöglich. Und selbst wenn man es könnte, würde es sich nicht lohnen, weil ein neues Mainboard so günstig ist, dass man es einfach wegschmeißt." Ein Server im Wert von mehr als 1.000 Euro wandert in Müll, weil niemand willens oder in der Lage ist, winzige Kondensatoren auszutauschen."Diese Kondensatoren haben oben eine Sollbruchstelle, diese Sollbruchstelle geht bei manchen auf, da kann man optisch schon sehen, dass dieses Mainboard defekt ist. Diese Kondensatoren kosten einzelne Cent, die sind sehr, sehr günstig." Trotzdem wandert der Rechner in die Tonne. Vergleichbare Fälle gibt es zuhauf: Mal befördern defekte Grafikkarten oder Netzteile teure Laptops in den Mülleimer, mal verwandeln Risse im Display oder Schäden an winzigen Schaltern Smartphones in teuren Elektronikschrott."Das ist jetzt in diesem Fall eine der vielen Variationen von Schaltern, die eingebaut werden in Smartphones und in andere Geräte. In dem Fall ist es der Homebutton beim iPhone 4." Theodor Krall, Servicemechaniker der Firma Phonecare GmbH in Köln: "Interessant ist in diesem Fall, dass auf dem Metallplättchen ein Kunststofftropfen aufgesetzt ist, der natürlich im Laufe der Zeit immer mehr verschleißt. Das heißt, man kann eigentlich voraussehen, dass nach soundso viel oft Draufdrücken dann die Funktion irgendwann nicht mehr gewährleistet ist."Weg damit! Ein paar Hundert Euro wandern in den Müll, weil ein Druckknopf im Wert weniger Cent seinen Dienst aufgegeben hat.Jeder kennt vergleichbare Phänomene: Minimale Defekte münden in Totalschäden. Außerdem treten die Defekte immer früher auf. Ein Fernseher, der 15 Jahren hält? Mittlerweile schwer vorstellbar. Geht es dabei mit rechten Dingen zu? Viele können das nicht glauben. Industriekonzerne, so der Verdacht, bauen künstliche Sollbruchstellen in ihre Produkte ein: Fernseher und Küchenmixer, Tablet-PCs und Waschmaschinen, Glühbirnen und Bohrmaschinen – alles soll nach zwei, drei Jahren kaputt gehen, damit die Kunden rasch neue Geräte kaufen.Zum Wohle der Produzenten, meint etwa Theodor Krall von der Phonecare GmbH:"Das wäre ja für die Industrie eine Katastrophe, wenn die Geräte alle ewig halten würden, also, wem soll man das alles verkaufen, was man da gerade erfunden hat?"Zum Nachteil aber für den Kunden, den die Industrie in einen endlosen Kreislauf von kaufen, wegwerfen und neu kaufen zwingt. Und der sich größtenteils auch gerne dazu verführen lässt."Geplante Obsoleszenz" heißt dieser Vorgang. "Obsoleszenz" leitet sich aus dem lateinischen Begriff "obsolescere" ab, was "sich abnutzen" bedeutet, "alt werden", "aus der Mode kommen", "an Wert verlieren". Indizien, dass zumindest Unterhaltungselektronik tatsächlich künstlich eingebaute Mängel enthält, um Lebenszyklen zu verkürzen, sind nicht von der Hand zu weisen. Die Beweislage, dass der Käufer im großen Stil, ja womöglich im Rahmen einer Verschwörung bewusst betrogen wird, ist aber eher dünn. Die Bundestagsfraktion "Bündnis 90/Die Grünen" wollte Licht ins Dunkel bringen und hat ein Gutachten bei der "ARGE REGIO Stadt- und Regionalentwicklung GmbH" in Auftrag gegeben. Herausgekommen ist zunächst einmal, dass die "geplante Obsoleszenz" sich aus einem Bündel unterschiedlicher Facetten zusammensetzt."Also, den Begriff, den wir verwenden, ist "Schwachstelle". Und solche gibt es natürlich nachweislich. Wir unterscheiden im Gutachten dann die "leichte" und "grobe" Fahrlässigkeit. Zuletzt ist dann die Frage zu diskutieren, inwieweit Arglist des Herstellers vorliegt. Wir können aber an vielen Beispielen zeigen, dass die Fragen der Produktentwicklung offensichtlich nicht mehr darauf hinauszielen, dem Kundeninteresse nach Langlebigkeit oder Reparierbarkeit nachzukommen, sondern ausschließlich kurze Produktzyklen generieren sollen."Stefan Schridde ist Mitautor der Studie "Geplante Obsoleszenz": "Na ja, offensichtlich wird geschwiegen in der Produktentwicklung. Zum Beispiel, wenn unterdimensionierte Elektrolytkondensatoren auf Elektroplatinen verlötet werden, wo dann jeder Elektrotechniker sofort sagt: Erstens, die sind doch an der völlig falschen Stelle. Zweitens, die sind doch unterdimensioniert. Und bei sonst gleichen Kosten könnte eine Platine mit deutlich mehr Haltbarkeit, zehn Jahre und mehr, hergestellt werden. Wenn das zum Grundwissen gehört, da fragt man sich natürlich, was passiert da nicht mehr in der Produktentwicklung. Da wird dann offensichtlich nicht mehr Wert auf Nachhaltigkeit oder Langlebigkeit gelegt, sondern es wird entweder geschwiegen, nicht mehr geredet. Vielleicht ist es schlicht Blödheit, in den meisten Fällen kann man aber zeigen, dass es grobe Fahrlässigkeit ist. Denn in der Planung werden solche Dinge schon bewogen. Wenn sie dann nicht mehr bewogen werden, dann heißt es eben, wir reden hier von gewollter Unterlassung, dass hier Managementhandlungen unterlassen werden, die Langlebigkeit zur Folge hätten."Untersucht wurden dabei qualitativ hochwertige und teure Produkte, also nicht der Akkuschrauber für 30 Euro, der wenige Einsätze hält. "Also, wir haben mittlerweile über sogenannte Whistleblower, also, Leute, die aus dem Fach selber sprechen, die Produktentwickler sind und Produktentwickler kennen, gehört, dass sogar führende Qualitätshersteller Entwicklungsingenieure gesondert beauftragen und ihnen den Auftrag geben: Schauen Sie sich doch bitte mal unser Produkt an, an welchen Stellen wir hier mit etwas geringeren Haltbarkeiten fertigen können, damit es eben nicht so langlebig ist."Nun sind Informationen von Whistleblowern durchaus nützlich, um eine Szene auszuleuchten, Beweiskraft haben sie nicht. Vor allem beantworten sie nicht die Frage, nach welchen Kriterien die Lebensdauer eines technischen Produktes bestimmt wird."Lebensdauergrößen sind immer Zielvorgaben in der Entwicklung."Mirko Mebold, Professor für Produktentwicklung und Konstruktion an der ETH Zürich:"Wenn sie zum Beispiel ein Nutzfahrzeug, einen LKW kaufen, der ist dann ausgelegt auf eine Lebensleistung, eine Laufleistung von vielleicht einer Million Kilometer. Im Nutzfahrzeugbereich ist das halt der Standard. Im Bereich PKW sind es 200.000 Kilometer. Das heißt, es hängt immer sehr stark vom Benutzungsprofil des Produktes ab. Und daraufhin wird ein Produkt entwickelt."Billige Bohrmaschinen aus Baumärkten und Discountern versagen tatsächlich nach vergleichsweise kurzer Zeit. Allerdings wissen die Produzenten aus Untersuchungen, dass solche Maschinen in ihrem Lebenszyklus gerade mal zwischen elf und 15 Minuten genutzt werden. Profiwerkzeug hält natürlich länger, ist aber auch wesentlich teurer. Hier von "geplanter Obsoleszenz" zu sprechen, sei falsch, sagt Mirko Mebold. Die Werkzeugproduzenten passten sich einfach den Kundenwünschen an. "Die Herausforderung der Hersteller ist es, das Vertrauen der Kunden zu gewinnen. Und gerade für Markenhersteller ist Produktqualität eines der Hauptverkaufsargumente. Die Diskussion, die aus der Dokumentation der geplanten Obsoleszenz entstanden ist, geht in die Richtung, dass sich plötzlich Endkunden über die Nachhaltigkeit ihrer Produkte auseinandersetzen. Das finde ich eine sehr gute Auseinandersetzung, die auch sehr viele Unternehmen freut, da gerade deutsche, österreichische und Schweizer Unternehmen gerade für Produktqualität bekannt sind, sie aber natürlich dort auch im Wettbewerb stehen mit Produkten, die eine minderwertige Qualität haben."Bei der Diskussion um geplante Obsoleszenz gehe es letztlich um Marktmechanismen, die ebenso minderwertige wie hochwertige Produkte zulassen. Und es gehe um die Rolle des Endkunden in diesem Markt. Natürlich gebe es Firmen, die bewusst minderwertige Produkte herstellen. Es gebe aber auch Firmen, die eine diametral entgegengesetzte Philosophie vertreten, Firmen, die in langlebigen Produkten einen Wettbewerbsvorteil sehen. Der Weiße-Ware-Hersteller Miele zählt dazu, der an seinem Firmensitz in Gütersloh eigens ein Labor eingerichtet hat, in dem Waschmaschinen nur eines beweisen müssen: dass sie sehr, sehr lange halten. "Hier im Raum werden Lebensdauerversuche an Waschautomaten durchgeführt, also, dass die Geräte hier 20 Jahre Haushaltslebensdauer absolvieren müssen, bevor wir die freigeben."Sagt Martin Horsthemke, Techniker bei Miele, und schaut mit kritischem Blick auf 40 stoisch vor sich hinwaschende Maschinen, kleine und große, Hightechgeräte und einfache Schätzchen. Alle verbunden mit Computern, die von der eingelegten Wäschemenge über das aktuelle Waschprogramm bis zum letzten Schleuderintervall minutiös registrieren, was gerade passiert."Also bei uns dauert die Prüfung etwa 60 Wochen, permanent durchgehender Betrieb der Geräte." 60 Wochen Dauerbetrieb simulieren die Belastung einer Waschmaschine, die 20 Jahre lang fünf Mal pro Woche angeworfen wird."Der Dauerwaschversuch ist so aufgebaut, dass wir einen Zyklus aus unterschiedlichen Programmen zusammengestellt haben, der im kontinuierlichen Ablauf stattfindet." Karsten Gayk, Leiter des Waschmaschinenlabors bei Miele, Gütersloh:"Die Versuche laufen dann eine gewisse Zeit eine Zykluswiederholung durch. Dann muss Wäsche gewechselt werden und es muss natürlich im kontinuierlichen Betrieb dafür gesorgt werden, dass alle Medien wie Waschmittel permanent automatisch zugeführt werden und stetig zur Verfügung stehen."In einem zweiten Dauerversuch durchleiden die Waschmaschinen endlose Schleudergänge, gleichgültig, ob viel Wäsche in der Trommel ist oder wenig. 20 Jahre müssen sie halten, möglichst sogar länger. Getestet werden:"Vor allem Federn, Dämpfer, alles, was durch die Erschütterungen und Vibrationen in Mitleidenschaft gezogen wird. Die andere Belastung, die wir haben, ist eine sogenannte tribochemische Belastung. Das heißt, wir haben eine mechanische Belastung, gleichzeitig wirkend mit einer chemischen und einer thermischen Belastung. Die wirkt auf alle Teile, die mit der heißen Waschlauge benetzt werden und gleichzeitig durch die mechanische Belastung des Waschens belastet werden."Viel Aufwand und wenig schnelle Rendite. Warum nutzt das Unternehmen nicht die Möglichkeiten der geplanten Obsoleszenz? Weil dessen Manager glauben, dass Kunden qualitäts- und preisbewusst sind. Und weil sie der Meinung sind, dass hochwertige und langlebige Produkte in letzter Konsequenz für den Kunden preiswerter sind als vermeintliche Schnäppchen, die – gleichgültig ob durch ungeplante oder geplante Obsoleszenz - rasch ihren Geist aufgeben. Bei der Auseinandersetzung rund um die geplante Obsoleszenz gewinnt der Kunde eine entscheidende Rolle, sagt Mirko Mebold von der ETH Zürich: "Früher hat man gesagt, ein unzufriedener Kunde erzählt es mindestens zehn anderen Kunden. Heute, durch die Möglichkeiten des Internets, kann ich das auch für die Ewigkeit dokumentieren. Das heißt, hierdurch ist eigentlich eine Verschiebung entstanden, dass eigentlich die Verbraucher ein unglaublich mächtiges Werkzeug in die Hand bekommen haben. Das heißt, die Machtverschiebung von Anbieter zum Nachfrager. Und dort ist auch etwas, was sich durch neue Portale, die sich mit dieser Thematik von der Lebensdauer von Produkten auseinandersetzen, entstanden ist, dass man sich dort informieren kann. Und dann entsteht auch wieder ein Markt, dass sich Leute darüber informieren, welche Produkte nachhaltig sind. Und dann kann er das als Information nehmen, um das für ihn beste Produkt zu kaufen."Die Kunden kaufen kritischer. Schon das sollte Firmen, die schnelles Geld über die geplante Obsoleszenz verdienen möchten, Sorgen machen. Und noch ein Trend ist unübersehbar: Immer weniger Kunden werfen teure defekte Geräte weg, immer mehr möchten sie reparieren lassen. Die Phonecare GmbH Köln etwa hat sich auf die Reparatur von Handys und Smartphones spezialisiert. Apples iPhone, sagt Servicetechniker Theodor Krall, nehme bei den reparaturbedürftigen Geräten eine unrühmliche Spitzenstellung ein."Wenn man sich das überlegt, dass es die Firma Apple zum Beispiel überhaupt geschafft hat, ein Gerät zu verkaufen, wo man die Batterien nicht tauschen kann. Ich sage jetzt einfach mal, mein Vater würde so ein Gerät nicht kaufen. Das ist schon eine Leistung aus meiner Sicht."Doch die Reparaturen gestalten sich oft alles andere als einfach. Phonecare kann nur mit Mühe Ersatzteile besorgen, wahrscheinlich, weil viele Handyhersteller lieber ihre Neugeräte verkaufen wollen. Stephan Huxoll, Assistent des Phonecare-Geschäftsführers:"Durch Recherche im Internet kann man durchaus den einen oder anderen Lieferanten finden, Ersatzteile finden. Das führt aber dazu, dass man nie hundertprozentig sicher sein kann, aus welchen Quellen kommen diese Ersatzteile. Handelt es sich da um einen billigen, primitiven Nachbau, handelt es sich um ein Originalersatzteil, das vielleicht aus irgendeinem Grund aus der Produktionskette übrig geblieben ist. Diese Unterscheidung alleine für den Einkauf der Ersatzteile stellt uns immer wieder vor große Herausforderungen."Für Stefan Schridde verbirgt sich hinter dieser unangenehmen Petitesse noch ein handfestes juristisches Problem."Ein Kaufvertrag ist ein Vertrag, bei dem das Eigentum übergeht auf den anderen gegen Geld. Das Eigentum heißt aber auch, dass die Eigentumsrechte übergehen müssen, Verfügungsrechte zum Beispiel. Wenn sie dann aber bei ihrem Produkt selber gar nicht mehr verfügen können, wie sie es reparieren wollen - sie sind meinetwegen selber ein Elektrotechniker, wollen sich ihren Fernseher zu Hause selber reparieren, sie kommen an die Ersatzteile gar nicht ran. Und da muss man schon die Frage stellen, inwieweit hier quasi Monopole aufgebaut werden."In solchen Fällen von einer "geplanten Obsoleszenz" zu sprechen, liegt für Stephan Huxoll auf der Hand:"Wenn ein Hersteller das gerne wollte, dass ein Gerät reparabel ist, dann würde er gleichzeitig Zubehör oder Ersatzteile anbieten im Eigenvertrieb. Warum nicht? Was spricht dagegen?" Die Versorgung mit Ersatzteilen alleine reicht aber nicht; die Geräte müssen überhaupt reparierbar sein."Eine ganz wichtige Sache ist Modularität, dass die Teile so hergestellt werden, dass sie die Teile auch in anderen Produkten verwenden können. Dass die Produkte so gebaut sind, dass sie die als Laie auch auseinandernehmen können. Zum Beispiel Lüfter bei Notebooks. Da müssen sie regelmäßig zur Wartung an den Lüfter ran, um den Staub zu entfernen, der sich an den Kühlrippen ablagert. Sie können bei vielen Notebooks schon gar nicht mehr das Teil öffnen. Sie kommen, falls sie es öffnen können, nur sehr, sehr schwer an den Lüfter dran. Ich habe schon gute Beispiele gesehen bei anderen Notebookherstellern, die es so gebaut haben, dass sie ohne Weiteres an den Lüfter ran kommen, den locker entnehmen konnten, Staub entfernen, Lüfter wieder rein und zu das Ding." Und noch etwas müsse sich ändern, sagt Stephan Huxoll: Vor allem bei Mobilfunkverträgen dürften die tatsächlichen Kosten nicht verschleiert werden. "Meine persönliche Meinung dazu ist, dass durch die Preispolitik und Vertriebspolitik der Netzwerkbetreiber, die in der Regel Zwölf-Monatsverträge, 24-Monatsverträge anbieten dem Kunden bei vielleicht einem Euro und sie bekommen ein wunderbares Smartphone dazu. Das verschleiert den Wert des Gerätes dem Kunden gegenüber, weil der Endkunde ganz selbstverständlich davon ausgeht: Er bekommt das Gerät, nach Möglichkeit auch das Tollste, Neueste. Das wird das Entscheidungskriterium des Endkunden sein, für welchen Provider er sich entscheidet. Und die Überraschung ist dann groß, wenn ein Schaden eintritt, der nicht über Garantie gedeckt ist. Der Klassiker ist der Glasbruch."Dessen Reparatur schon mal 100 Euro und mehr kostet. "Hier haben wir eine Kiste mit kaputten Teilen, insbesondere Displays von 4er-iPhones. Diese Kiste ist bis oben hin voll, wie sie ja sehen. Der Klassiker, die Spinne im Glas, also vorne im Touchscreen, womit man das Gerät bedient. Und man sieht es sehr gut, wenn man es umdreht, da ist eine spiegelnde Oberfläche, das ist der eigentliche Bildschirm, wo also die Farben und alles dargestellt wird. Sie sehen hier, das ist so fest miteinander verklebt, das ist eine Einheit. Nun kann es sein, das Glas außen ist kaputt, aber der Bildschirm ist intakt. Und das ist so miteinander verklebt, dass es sich nur unter industriellen Maßstäben trennen ließe. Wir haben da mal mit Experten gesprochen, das müsste unter Vakuum und Reinraum und so weiter passieren. Letztendlich ist es so, diese Kiste fällt alle 14 Tage an, das sind also Bruchdisplays von den Geräten, die im Grunde genommen Elektroschrott sind und als Sondermüll entsorgt werden müssten. Und es ist eine riesige Ressourcenverschwendung, weil, nur weil das Glas, das vorne drauf ist, zersprungen ist, nur deshalb muss das komplette Bauteil in die Tonne wandern."Da hofft natürlich mancher Handyhersteller, der Kunde möge sich gleich ein neues Gerät kaufen. Ob dies schon zur geplanten Obsoleszenz zählt, zur geschickten Kundenbindung oder zur normalen Preiskalkulation, sei dahingestellt. Nüchtern betrachtet kommt man wohl zum Schluss: Ja, die geplante Obsoleszenz gibt es. Nicht immer und überall, aber sie kommt vor. Das ist die schlechte Nachricht.Doch es gibt auch eine gute. Der Verbraucher kann sich wehren. Wenn die Kunden sich eher für Elektrogeräte entscheiden würden, die überhaupt repariert werden können, hätte dies weitreichende Folgen. Die Möglichkeit zur Reparatur und Langlebigkeit sollte also Teil der Kaufentscheidung sein. Und würden sich zweitens mehr Kunden überlegen, ob sie tatsächlich immer das allerneueste Smartphone oder den schmalsten Fernseher brauchen. Wer weiß, wie sich der Markt zukünftig entwickeln würde: "Da steckt dahinter, genau die Kundenmacht auch zu überlegen: Muss es immer das Neueste sein, reicht nicht das, was ich jetzt noch habe. Muss man nach einem dreiviertel Jahr ein nigelnagelneues Gerät haben, was vielleicht ein paar Prozent mehr Leistung hat? Ich wage das zu bezweifeln, das ist auch eine gewisse Form der Verwöhntheit."
Von Mirko Smiljanic
Technische Geräte wandern auf dem Müll, weil einzelne Bauteile defekt sind - und ein Austausch entweder zu aufwendig ist oder sogar gar nicht funktioniert. Der Verdacht: Viele Hersteller kalkulieren ganz bewusst mit einer geringen Lebensdauer.
"2013-05-02T18:40:00+02:00"
"2020-02-01T16:16:37.061000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/technik-funktioniert-nur-bis-zur-garantiegrenze-100.html
90,724
Französische Geisel enthauptet
Mit einem Foto-Plakat wird in Algerien nach dem entführten französischen Touristen gesucht. (afp / Jean Christophe Magnenet) Das Video der Islamistengruppe Dschund al-Khilafa (Soldaten des Kalifats) soll den Titel "Blutige Botschaft an die französische Regierung" tragen. Darin ist offenbar zu sehen, wie ein 55-jähriger Bergführer von seinen Geiselnehmern enthauptet wird. Frankreichs Präsident François Hollande hat die Ermordung der französischen Geisel bestätigt. Französische Regierung lehnte Forderungen der Islamisten ab Der Mann war am Sonntag bei einer Wanderung in der Bergregion Kabylei von Islamisten verschleppt worden, die der Dschihadisten-Organisation "Islamischer Staat" (IS) nahestehen. Am Montagabend drohten sie damit, ihn zu ermorden, sollte Frankreich nicht innerhalb von 24 Stunden mit den Luftangriffen auf den IS im Irak aufhören. Die Regierung erklärte jedoch, dass sie den Forderungen nicht nachgeben werde. Jund al-Khilafah in Algeria Beheads French Hostage in Video http://t.co/pU8GpB6nIJ— SITE Intel Group (@siteintelgroup) 24. September 2014 Frankreich hatte sich Ende vergangener Woche als erstes europäisches Land den US-Luftangriffen auf Stellungen des IS im Irak angeschlossen. Am Montag rief der IS zur Ermordung von Bürgern der Länder auf, die sich an der internationalen Koalition gegen die Dschihadisten beteiligen. Explizit nannte der IS dabei Franzosen und US-Bürger. Auch Geiseln auf den Philippinen mit dem Tod bedroht Auch auf den Philippinen drohen Islamisten mit der Ermordung zweier deutscher Geiseln. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes hat die Entführung bestätigt. Die auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte Firma Site veröffentlichte ein Bild des deutschen Paares sowie eine Erklärung, die der Extremistengruppe Abu Sayyaf zugeschrieben wurde. Darin fordert die Gruppe ein Lösegeld von umgerechnet 4,4 Millionen Euro und ein Ende der deutschen Unterstützung des Kampfes gegen die Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Syrien und dem Irak. Sollte dies nicht binnen 15 Tagen geschehen, werde eine der Geiseln getötet. Das Auswärtige Amt teilte dazu mit, Drohungen seien "kein geeignetes Mittel, um Einfluss auf unsere Syrien- und Irak-Politik zu nehmen". (tj/ach)
null
In Algerien haben Extremisten offenbar einen Franzosen getötet. Französische und amerikanische Medien berichten von einem Video, das die Enthauptung des verschleppten Mannes zeigen soll. Frankreichs Präsident François Hollande bestätigte den Tod des 55-jährigen Touristen.
"2014-09-24T17:45:00+02:00"
"2020-01-31T14:05:17.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/algerien-franzoesische-geisel-enthauptet-100.html
90,725
Freihandelsabkommen mit Kiew kommt später
Der Streit über die Nähe der Ukraine zu Europa hatte im vergangenen Jahr heftige Proteste in Kiew ausgelöst. (pa/ITAR-TASS/Maxim) Fallen die Zollbarrieren zwischen den EU-Ländern und der Ukraine, dann könnte das nach Angaben der russischen Regierung einen Milliardenschaden anrichten. Auf Waren aus der EU erhebt Russland Zölle, nicht jedoch auf Güter aus der Ukraine. Tritt das neue Freihandelsabkommen in Kraft, könnten diese Regelungen unterhöhlt werden und eigentlich zollpflichtige EU-Produkte über die Ukraine zollfrei nach Russland gelangen. Die russischen Behörden hatten deshalb schon damit gedroht, auch Zölle auf ukrainische Waren zu erheben, sollte das Abkommen umgesetzt werden. Das sei mit der Verschiebung nun erst einmal vom Tisch, erklärte der russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew. Aufschub bis Ende nächsten Jahres In Brüssel hatte sich Uljukajew dazu mit EU-Handelskommissar Karel de Gucht und dem ukrainischen Außenminister Pawel Klimkin getroffen, um über Details zu sprechen. "Wir haben vereinbart, die provisorische Anwendung bis zum 31. Dezember nächsten Jahres zu verzögern", erklärte de Gucht im Anschluss. Darüber muss aber noch der EU-Ministerrat abstimmen. EU-Handelskommissar de Gucht (r.) mit dem russischen Handelsminister Uljukajew vor dem Treffen in Brüssel. (afp / John Tys) Auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko steht hinter der Verschiebung. Das Freihandelsabkommen ist Teil eines umfangreicheren Partnerschaftsabkommens zwischen der Ukraine und der EU, das schließlich in einen EU-Beitritt münden könnte. Dieses sogenannte Assoziierungsabkommen hat den bis heute anhaltenden Konflikt in der Ukraine ausgelöst. Im vergangenen November hatte der damalige Präsident Viktor Janukowitsch seine Unterschrift unter dem Papier verweigert - auf Druck der russischen Regierung. Dagegen waren viele Ukrainer schließlich auf die Straße gegangen.
null
Während die EU ihre Strafmaßnahmen gegenüber Russland weiter verschärft hat, gibt es an anderer Stelle zwischen beiden Seiten Entspannung. Wegen russischer Bedenken wird ein umstrittenes Freihandelsabkommen mit der Ukraine frühestens nächstes Jahr umgesetzt, gab EU-Handelskommissar de Gucht bekannt.
"2014-09-12T19:57:00+02:00"
"2020-01-31T14:03:33.281000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-freihandelsabkommen-mit-kiew-kommt-spaeter-100.html
90,726
Handelsminister Ross' private Geschäftsinteressen in China
US-Handelsminister Wilbur Ross (dpa) Wilbur Ross ist die zentrale Figur im eskalierenden Handelskrieg der Vereinigten Staaten mit China. Aber der US-Handelsminister verfolgt auch private Geschäftsinteressen in der Volksrepublik. Denn der Milliardär habe nicht all seine Investitionen aufgelöst, erklärt Dan Alexander vom Magazin Forbes "Er verkaufte einen Teil seiner Beteiligungen an Goldman-Sachs, den anderen Teil hat er in einen Treuhandfond für seine Familie gelegt. Das entspricht den Regeln, aber löst nicht den grundlegenden Interessenskonflikt, der Sorgen bereitet." Beim Gespräch mit dem Radiosender NPR erinnert Alexander an die Anhörung im US-Kongress. Im Januar 2017 lobten Senatoren wie Richard Blumenthal, dass Ross bereit ist, für sein Ministeramt auf Posten in Unternehmen zu verzichten. "Sie haben 50 Sitze aufgegeben. Der Vorgang war sehr komplex, herausfordernd und für sie persönlich auch teuer." Vier Briefkastenfirmen auf den Cayman Islands Ross verspricht, eine Reihe von Anteilen zu verkaufen, um Interessenskonflikte zu vermeiden. Er bekommt Zustimmung von mehr als 70 Senatoren. Erste Zweifel kommen im November 2017 mit den Paradise Papers auf. Das sind Datensätze von Off-Shore-Firmen, die in Deutschland die Süddeutsche Zeitung gemeinsam mit NDR und WDR auswertet. Dabei kommt heraus, dass Ross vier Briefkastenfirmen auf den Cayman Islands behalten hatte. Darüber hielt er Anteile am Schiffsunternehmen Navigator. Das wiederum transportiert für das russische Gasunternehmen Sibur Flüssiggas. Ein Unternehmen mit direktem Draht zum Kreml. Die Enthüllungen der "Paradise Papers" lösten weltweit Schlagzeilen aus (MAXPPP / dpa / Jean-François Fre) Ross sagt, er habe nicht gelogen: "Die Beteiligungen an Navigator sind an drei verschiedenen Stellen offengelegt worden. Der Vorwurf, ich habe den Ausschuss getäuscht, ist völlig haltlos." Jetzt hat das US-Magazin Forbes aufgedeckt, dass Handelsminister Ross fünf Tage vor Veröffentlichung der Paradise Papers an der Börse gegen seine eigene Beteiligungen gewettet hat. Womöglich um auch an fallenden Aktienkursen zu verdienen. Ross wusste von der drohenden Enthüllung. Beteiligungen in den familieneigenen Treuhandfond abgeladen Zudem musste der US-Handelsminister einräumen, dass er nicht alle Zusagen eingehalten hat. So hielt er im November 2017 immer noch Anteile an der Investmentfirma Invesco. Zudem hatte er gegen den Kurs einer Bank gewettet - was auch als Investition gilt. Forbes-Journalist Dan Alexander hält die Verbindung zu chinesischen Unternehmen und der Regierung in Peking aber für den größten Interessenskonflikt des Ministers: "Die chinesische Regierung führt einen unabhängigen Anlagefonds, der gemeinsam mit Ross' Fonds investiert hat. Bei einer Firma wie Diamond S. Shipping, sind sie zum Beispiel zu gleichen Teilen Besitzer; Willbur Ross, der im Namen der US-Regierung Verhandlungen führt und der Investmentfond der chinesischen Regierung." Diese Beteiligungen sind offenbar nicht an das Investmenthaus Goldman Sachs gegangen, sondern in den Treuhandfond der Familie Ross. "Du kannst alles abladen in einem Treuhandfond für deine erwachsenen Kinder, wenn Du 80 Jahre alt bist. Das Büro für Ethisches Regierungsverhalten ist damit einverstanden. Mal schauen, ob alle Menschen das so sehen." Im drohenden Handelsstreit empfiehlt Wilbur Ross Investoren immer gelassen zu bleiben. Der Milliardär hält sich bei seinen eigenen Geschäften mit Sicherheit auch daran.
Von Torsten Teichmann
Im eskalierenden Handelsstreit der USA mit China gilt Handelsminister Wilbur Ross als zentrale Figur. Offenbar verfolgt Ross aber auch private Geschäftsinteressen in der Volksrepublik: Wie jetzt bekannt wurde, hat der Milliardär nicht all seine Investitionen aufgelöst.
"2018-06-20T05:54:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:56.931000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-handelsminister-ross-private-geschaeftsinteressen-in-100.html
90,727
Überwachung oder Absicherung?
Bundespolizisten am Münchener Hauptbahnhof testen Bodycams. (Deutschlandradio/Susanne Lettenbauer) Auf den ersten Blick gleichen die zwei Bundespolizeibeamten, die an diesem Tag im Münchner Hauptbahnhof Streife laufen, ihren anderen Kollegen. Sie gehen langsam an den Gleisen entlang, kontrollieren Passanten und beobachten die kleinen Grüppchen junger Männer, die jeden Tag an denselben Stellen stehen. Erst auf den zweiten Blick fällt die kleine Kamera an der rechten Seite der Beamtin Julia Siegmund auf: "Also ich trage ein Modell, was man auf der Schulter trägt, das sieht man hier, das ist im Grunde die Linse. Den Akku und den Bildschirm trage ich weiter unten in meiner Kletttasche." Die Beamtin öffnet leicht die Jacke, hervor schaut ein Streichholzschachtel großer Akku. Auf der Jacke, linke Seite prangt ein Knopf. Sie dreht sich um. Jetzt wird auch die deutliche Leuchtaufschrift "Videoüberwachung" auf dem Rücken der Polizistin sichtbar: Eine Bodycam auf der Schulter einer Beamtin. (Deutschlandradio/Susanne Lettenbauer) "Genau, sobald die rote Lampe leuchtet zeigt mir das an, dass die Aufnahme läuft. Zumal ich mein Gegenüber auch darauf hinweise." Keine Tonaufnahme, kein GPS Nicht nur die Beamtin, sondern auch das Gegenüber sieht, dass es gefilmt wird, ein wichtiger rechtlicher Punkt. Versteckte Kamera spielen, das dürfen die Bundespolizisten nicht, erklärt der zweite Bundesbeamte Nikolas Herrmann. Er trägt eine Kamera direkt vorne an der Jacke, ein zweites Modell, dass in München getestet wird: "Sie können sich selber sehen - ich kann es auch gerne mal einschalten - jetzt wird noch nicht gefilmt, aber dann kommt so ein Warnsignal und wenn man ein bisschen Abstand hat, können Sie deutlicher sehen, wie Sie sich sehen. Ja, ich habe ein Kompaktsystem, alles in einem, auch mit dem An-Knopf gleich verbunden, leuchtet auch wie das Gerät bei der Frau Siegmund in rot. Momentan ist es aus. Es blinkt rot und wir müssen vorher ankündigen, wenn wir filmen. Man muss schon genau hinschauen, wenn es aus ist. Wenn es an ist, kann das Gegenüber das gut erkennen, weil da ein Display drauf ist, wo sich die Person sehen kann." Der Beamte drückt zwei Sekunden auf den Kopf, das Display leuchtet auf und der Gefilmte sieht sich selbst. 25 Beamte werden derzeit in München an den zwei Kamerasystemen ausgebildet. Jede Aufnahme muss genau dokumentiert, die Gefilmten müssen über den Einsatz aufgeklärt werden. Noch fehlt die Tonaufnahme bei den Videos, es gibt auch keine GPS-Funktion wie bei handelsüblichen Modellen. Die vom Bundespolizeipräsidium Potsdam bereitgestellten drei Kameras für München seien vorerst vor allem zur Abschreckung gedacht, betont Sprecher Wolfgang Hauner: "Bei uns bei der Bundespolizei ist es jetzt so, dass wir seit Anfang Februar an fünf Inspektionen, bundesweit gibt es 77, und an fünf wird dieser Modellversuch jetzt geprobt, das heißt in Köln, Düsseldorf, in Berlin, Hamburg und hier in München werden wir jetzt einfach mal schauen, inwiefern dieses Einsatzmittel, und nichts anderes soll es sein, den Kollegen tatsächlich Hilfestellung gibt." Gegen Manipulationen gesichert Diese fünf Dienststellen der Bundespolizei, die jetzt an dem Test teilnehmen, gehören zu denen mit den meisten Straftaten in Deutschland. Bisher verhinderten die Polizeigesetze der einzelnen Bundesländer den Einsatz der mobilen Videoüberwachung. Vor dem Testeinsatz wurden deshalb Paragrafen auch im Bundespolizeigesetz und in der Strafgesetzordnung geändert. Aufnahmen dürfen jetzt als Beweismittel bei einem Strafverfahren eingesetzt werden. Wirklich verhindern kann man als Gefilmter die Aufnahme nicht, betont Polizeisprecher Hauner: "Also das ist leider kein Wunschkonzert jetzt in dem Fall, das heißt, wenn der Beamte das einschaltet, das ist wie bei jeder polizeilichen Maßnahme, dann ist das eingeschaltet, dann muss der Bürger das erst mal ertragen. Natürlich kann er ankündigen, er möchte sich beschweren, kann verschiedene Maßnahmen machen und dann müssen wir das in der Dokumentation das auch festhalten." Polizisten mit Bodycams weisen auf ihre Kameras hin. (Deutschlandradio/Susanne Lettenbauer) Gegen Manipulationen seien die Aufnahme gesichert, der Beamte könne die Videos auch nicht bearbeiten. Gesichtet werden die gefilmten Situationen durch einen Vorgesetzten, dann auch entscheidet, was gelöscht wird und was nicht. Er habe grundsätzlich etwas gegen Videoüberwachung, sagt Andreas Nagel, Sprecher der Aktion Münchner Fahrgäste. Dass mittlerweile in S- und U-Bahnen, im Bahnhof und auf Bahnhofsvorplätzen Kameras angebracht seien, diene zwar der Nachverfolgung von Straftaten, aber nicht der viel wichtigeren Prävention: "Wir sehen das immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das mit den Kameras ist sicherlich richtig, wenn es den Respekt vor den Beamten erhöht. Das ist eine gute Sache. Grundsätzlich ist mir immer wichtiger, es ist ein Mensch da und keine Videokamera. Der Mensch kann mir auch helfen, die Videokamera kann hinterher aufklären." Ein Jahr lang läuft jetzt die Testphase für die mobilen Körperkameras. Ob sich die Menschen davon beeindrucken lassen und die Zahl der Übergriffe auf Polizisten sinken lässt, muss sich zeigen. Dass der Respekt vor den Beamten wieder steigen muss, fordert die Polizeigewerkschaft seit Langem.
Von Susanne Lettenbauer
Ihr Einsatz war lange nicht erlaubt, nun werden sie in fünf Städten getestet: sogenannte Bodycams bei Polizisten. Die Kameras sind an Schulter oder Brust der Beamten befestigt und filmen ihr Gegenüber - allerdings mit deren Wissen. Sie sollen den Respekt vor den Polizisten erhöhen. Doch es gibt auch Kritik.
"2016-02-23T14:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:15:19.392000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundespolizei-testet-bodycams-ueberwachung-oder-absicherung-100.html
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Wenn kleine Verlage nach und nach geschluckt werden
Zur Südwestdeutschen Medienholding gehören inzwischen etliche Zeitungen rund um Stuttgart. (dpa) "Ja, das ist eine Skizze, wo wir uns einmal die Südwestdeutsche Medienholding als Teil der südwestdeutschen Medienmacht aufzeigen lassen..." Siegfried Heim ist Gewerkschafter. In seinem Stuttgarter Verdi-Büro hängt ein riesiges Plakat mit großen und kleinen Rechtecken, die durch dünne Linien miteinander verbunden sind. "Das sind alles die Unterfirmen, weil insbesondere die SWMH alle Kleinverlage, die sie kriegen kann, aufkauft. Es waren vor allem Esslingen und die Böblinger Kreiszeitung / Böblinger Bote." "Nur noch Medien aus einem Konzern" Die Südwestdeutsche Medienholding ist aus dem altehrwürdigen Stuttgarter Zeitungsverlag hervorgegangen. Sie zählt mit knapp 6000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von knapp 900 Millionen Euro zu den ganz großen Medienunternehmen der Republik. Selbst die "Süddeutsche Zeitung" gehört dem Stuttgarter Konzern, der vor allem durch seine Expansionsstrategie auffällt. 2016 übernahm das Unternehmen die bis dahin selbständige "Esslinger Zeitung", vor etwas mehr als einem Jahr die "Kreiszeitung Böblinger Bote". Und erst kürzlich kam eine weitere Übernahme hinzu. "Das ist die Bietigheimer Zeitung, wo vor kurzem die SWMH die Mehrheit übernommen hat. Und damit hat man im Prinzip einen Riesenring geschlossen rund um die Metropolregion Stuttgart. Da hat man jetzt sozusagen nur noch Medien aus einem Konzern." Abgesehen von wenigen eigenständigen Blättern wie der "Ludwigsburger Kreiszeitung". Dagmar Lange ist Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg im Deutschen Journalistenverband. Sie klagt: Mehr als 60 Arbeitsplätze seien durch die Übernahme alleine der beiden Blätter in Esslingen und Böblingen auf der Strecke geblieben. Auch sie befürchtet durch den Konzentrationsprozess ebenso wie ihr Verdi-Kollege Siegried Heim einen Verlust an publizistischer Vielfalt. "Die ist deutlich geringer geworden, weil das ist ja das Geschäftsmodell der Südwestdeutschen Medienholding, dass von dieser großen Redaktion in Stuttgart aus alle kleineren Redaktionen beliefert werden und dort nur noch wenige Journalisten arbeiten, die dort eine lokale Färbung bringen." Eine Handvoll Exklusiv-Autoren "Im Blick auf die regionale, lokale Berichterstattung bemüht sich unser Konzern, unser Unternehmen, die örtlichen Redaktionen noch zu erhalten, so dass die Vielfalt dort auf alle Fälle noch gegeben ist", betont dagegen Michael Trauthig, Konzernbetriebsratsvorsitzender der Südwestdeutschen Medienholding Süd, einer Tochtergesellschaft der SWMH. Auch er sieht die Lage kritisch. "Die Meinungsvielfalt wird mit Sicherheit durch solche Fusionsprozesse nicht gestärkt. Und besonders wenn wir eine Vielfalt wollen mit Blick auf die überregionale Berichterstattung, dann muss man sagen, dass zum Beispiel in Esslingen die eigenständige Mantelredaktion jetzt nicht mehr besteht und die Esslinger Leser im Blick auf überregionale Berichterstattung von Stuttgart versorgt werden und dabei natürlich die Meinungsvielfalt abgenommen hat." Dieser Prozess sei allerdings schon seit längerem zu beobachten. Betriebsrats-Vorsitzender Michael Trauthig erinnert an die Zusammenlegung der Redaktionen der bis dahin eigenständigen Titel "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" vor mehr als zwei Jahren. Zwar stehen an der Spitze beider Blätter noch jeweils eigene Chefredakteure. Beide Zeitungen verfügen auch jeweils über eine Handvoll Exklusiv-Autoren. Der überwiegende Rest wird jedoch aus einem Guss gestaltet. "Und dann hat natürlich die Meinungsvielfalt an dieser Stelle auch nicht zugenommen, sondern im Gegenteil eher abgenommen, weil die Konkurrenz zwischen Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten in vielen Bereichen jetzt nicht mehr gegeben ist." "Es entsteht ein Druck durch sinkende Auflagen" Die Südwestdeutsche Medienholding selbst wollte gegenüber dem Deutschlandfunk keine Stellungnahme abgeben. Klar ist aber: Große Verlagshäuser, die klassische, gedruckte Tageszeitungen herausgeben, sehen sich einer zunehmenden Konkurrenz durch Online-Medien ausgesetzt. "Das heißt: Es entsteht ein Druck durch sinkende Auflagen. Das kann man nicht abstreiten. Und deshalb wird an den Redaktionen gespart." Eine Strategie, so die baden-württembergische DJV-Vorsitzende Dagmar Lange, die derzeit allerdings weit über die Südwestdeutsche Medienholding hinaus bundesweit Schule macht. Und dem gelte es gegenzusteuern. "Letztendlich hilft nichts anderes, als dass alle Parteien, dass die Gewerkschaften, die Mediengewerkschaften, die Verleger und die Politik zusammen sich an einen Tisch setzen, um zu diskutieren, wie das Thema Pluralismus bei den Medien vorangebracht werden kann, vielleicht auch über Förderungen. Vielleicht müsste da auch das Kartellamt mal mehr eingreifen." Das aber hat bislang zu den Übernahmen kleinerer Zeitungsverlage durch die Südwestdeutsche Medienholding keinerlei Bedenken angemeldet.
Von Thomas Wagner
Die Südwestdeutsche Medienholding befindet sich seit Jahren auf Expansionskurs. Deshalb gibt es rund um Stuttgart neben eben dieser SWMH immer weniger komplett eigenständige Verlage. Nach Ansicht der Gewerkschaften ist das eine schlechte Nachricht für die Meinungsvielfalt in der Region.
"2018-12-18T15:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:26:15.202000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/medienkonzentration-wenn-kleine-verlage-nach-und-nach-100.html
90,729
Steile Höhen, tiefe Keller
In keiner Straußwirtschaft darf diese Moselhymne fehlen, auch nicht in Zell. Der Ort liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen den einzigen größeren Städten der Mosel, Trier und Koblenz. Wer am Fluss entlang moselabwärts reist, macht in der Region rund um Zell zum ersten Mal Bekanntschaft mit der sogenannten Terrassenmosel - eine äußerst liebevolle Bezeichnung für Schwerstarbeit im Weinberg. Lägen manche dieser Hänge in einem alpinen Skigebiet, müssten sie als tiefschwarz markiert werden. Seit jeher versuchen die Menschen diese schrägen Lagen in den Griff zu bekommen, um wenigstens einigermaßen Halt zu finden. Teils mannshohe sogenannte Trockenmauern, gestapelt aus brüchigen Schieferstücken, lassen aus den Steilhängen schiefe Ebenen werden. Und auf diesen Terrassen wächst in warmen Sommern allerfeinster Rebensaft. Denn schon die Römer hatten vor 2000 Jahren erkannt, dass das angenehm milde Klima im Moseltal beste Voraussetzung für edle Weine bietet - hier ist die Durchschnittstemperatur um gute drei Grad höher als auf den Höhen der Eifel. Tagsüber wird die Sonne vom Schieferboden gespeichert, und kühle Nächte überbrückt die aufgewärmte Mosel mit ihrer Strahlung. Und die Wärme wird zu Öchslegraden, der Maßeinheit für Traubenmost, in den Träubchen. Für die römischen Winzer diente der Fluss als Transportweg, und natürlich mussten hier und dort Lager - Cellare also - eingerichtet werden. Zell war solch eine Lagerstätte, aber eben nicht nur. Ende der 70er-Jahre wurden bei Straßenarbeiten Reste eines römischen Bades gefunden."Und das war für Zell insofern eine ganz wichtige Sache, weil man damit klarmachen konnte: In Zell war nicht nur einfach ein Depot der Römer, sondern in Zell war tatsächlich eine römische Siedlung."Wir treffen Gerd Bayer im Museum des Zeller Rathauses, das er liebevoll mitgestaltet hat."Zu einer römischen Siedlung gehörte ein Bad, weil: Die römischen Soldaten empfanden es als unmöglich, hier in Germania oder in Gallia Dienst zu tun, und da musste wenigstens für die Wochenenden ein Bad da sein."Im 13. Jahrhundert erhielt Zell Stadtrechte. Aus diesen Tagen existieren noch Reste der Stadtmauer mit einem beeindruckenden viereckigen Turm, natürlich aus Schiefer, und einem Pulverturm, der heute weithin als "Runder Turm" bekannt ist. Er thront als Wahrzeichen, mitten in den Weinbergen liegend, über den Dächern der Stadt. Gegenüber wandern Urlauber auf Weinbergswegen und -pfaden einen Berg hinauf, um einen einzigartigen Blick ins Moseltal einzufangen. Es war hier, am "Runden Turm", als vor gut Jahren Herbert Sachsler und Willy Nickel vom Heimat- und Verkehrsverein eine Idee hatten."Der Herbert und ich, wir sind einmal spazieren gegangen, und da sagt er: 'Mensch, wie wäre das schön, wenn wir hier einen Steilpfad machen würden.' Das war so eine spontane Idee, und einen Monat später haben wir schon angefangen."Männer der Tat eben. Es passt gut ins Bild: Der Weinbau prägt seit jeher das Bild an der Mosel. Urlauber waren zwar stets willkommen, aber wer noch vor rund 30 Jahren die Mosel besuchte, war zumeist in erster Linie Weinliebhaber. Touristisch führte das Tal entlang dieses im besten Sinne romantischen Flusses einen Dornröschenschlaf. Das Erwachen geschah langsam: Erst der einbrechende Weinabsatz, auch wegen des Skandals um europaweit glykolgepanschte Weine Mitte der 1980er-Jahre, rüttelte auch Lokalpolitiker wach und führte zu der eigentlich so naheliegenden Erkenntnis: Diese einzigartige Kulturlandschaft hat ja weit mehr zu bieten als "nur" Wein. Das Angebot für Feriengäste wurde erweitert, mosel-umspannende Rad- und Wanderwege entstanden, und die touristischen Organisationen begegnen seither konkurrierenden deutschen Ferienlandschaften auf Augenhöhe. Zell zum Beispiel konnte die Besucherzahl zwischen 1980 und 2008 fast verdreifachen. Touristische Begriffe wurden kreiert, wie zum Beispiel die "Moselerlebnisroute", unter der touristische Attraktionen unter verschiedenen Aspekten vermarktet werden; auch Wandern und Klettern, und irgendwann wird auch der neue Klettersteig in Zell hinauf auf den Collis-Aussichtspunkt hier vertreten sein. Zunächst führt der Pfad flach ansteigend durch Weinberge, und dann taucht eine steil ansteigende Wand auf - die erste echte Herausforderung für die "Pfadfinder" rund um Willy Nickels. "Zuerst war der Felsen in dem Sinn gar nicht zu sehen. Der war vom Efeu in den letzten 50 Jahren überwuchert. Dann hat der Alpenwanderverein von Koblenz mitgeholt, weil uns das zu gefährlich war und wir keine Erfahrung haben. Das sieht man dann: Wir haben Steigeisen, Kletterbügel, Seil - und oben zum Ausstieg mussten wir eine Leiter holen. Es geht hier senkrecht hoch. Ich würde mal sagen, es sind 30 Meter, wo man halt schon im Fels klettern muss; und bestes Schuhwerk und Trittsicherheit ist schon Voraussetzung."Darauf und dass man schwindelfrei sein sollte, weisen mehrere Schilder hin. Eine Vorsichtsmaßnahme auch aus Versicherungsgründen. Sind denn schon mal Leute umgekehrt?"Ja, manche. Die stehen dann unten und sagen: 'Nein, ich nicht.' Und deswegen haben wir einen Weg drumherumgemacht, dass man immer wieder zusammen zum Collis-Türmchen kommen kann.""Also, dann gehen wir mal los. Jetzt kommt man an den neuen Klettersteig, der geht so eine zehn Meter hohe steile Wand hoch - die ist aber wirklich ganz steil. Und da haben sie Klettereisen rein gemacht, da kommt man sich schon vor wie in den Alpen. Also man muss genau gucken, wo man hintritt. Da sind überall Steigeisen - und jetzt geht es hier einmal gerade rüber. Da haben sie ein Seil hingebaut - langsam - man muss gucken, wo man hintritt - und man hängt also tatsächlich in der Schieferwand drin. Einen Schritt vor den anderen - okay: oben. Ja, und dann blickt man ins Moseltal. Toll!"Ein paar Höhenmeter liegen nun noch vor dem ultimativen Blick auf die berühmte Moselschleife zwischen Bullay an einem und Pünderich am anderen Ende. Ein paar Millionen Jahre vielleicht noch, und die Mosel wird sich von beiden Seiten durchgefressen und eine Insel geschaffen haben. Über eine gewaltige - aus zwei Tonnen Steinen neu gebaute - Schiefertreppe führt der Weg zu einem kleinen, runden, steingemauerten Häuschen mit offenen Guckfenstern zu allen Seiten. Das Collis-Häuschen auf 300 Metern Meereshöhe."Collis ist römisch und heißt Bergkuppe."Wie auf einer Spielzeugeisenbahn schmiegen sich die Winzerdörfer in die Weinberge, und am Horizont schweift der Blick über die sanften toskanaähnlichen Hügel der Eifel. Des Wanderers Herz schlägt höher:"Gigantisch, wirklich schön, jetzt im Frühling sowieso.""Was fehlt ist der Schoppen Wein.""Ja, ja, das trinken wir später.""Man kann schön wandern hier?""Ist wunderschön. Schön ruhig, ein Ausblick nach dem anderen, ist schon toll."Beim Abstieg kommen wir im Ort an einem steinernen Brunnen vorbei, das Markenzeichen der Weinstadt Zell. Irgendwann vor weinselig langer Zeit wollten Weinkommissionäre bei einem Zeller Winzer ein Fass Wein kaufen. Schließlich, nach vielen Proben, entschieden sich die Händler für jenes Fass, von dem ein kleines schwarzes Kätzchen sie anfauchte. Die Geburtsstunde der "Zeller Schwarze Katz".Wir treffen den Winzer mitten bei der Arbeit. Ein Teil des 2008er wird abgefüllt. Die meisten Weinberge von Peter Weis liegen im Steilhang. Warum diese Plackerei?"Leidenschaft. Man muss an der Mosel Weinbau und gute Weine machen wollen, sonst wird man krank, weil es einfach zu steil und zu mühsam ist."Der Moselwein hat eine Renaissance erlebt. Oder sollte man besser sagen: Der Rieslingwein wurde neu erfunden. Auch dem allgemeinen Trend folgend, statt schwer und süß, nun prickelnd, fruchtig und trocken. "Vor 20 Jahren waren 20 bis 30 Prozent mild, heute ist es gerade umgekehrt. Da spielt uns die globale Erwärmung in die Hände. Die Weine sind einfach reifer. Die Säure ist nicht mehr so kratzig, so bissig, und ein trockener Wein darf nicht sauer sein. Und deshalb sind wir heute imstande, tolle trockene und halbtrockene Weine zu machen."Recht hat er. Mit einer guten Flasche im Gepäck brechen wir auf nach Bremm, zum Calmont, dem steilsten Weinberg Europas, einige kräftige Paddelschläge entfernt. Auch das ist eine Errungenschaft des neu gewonnenen touristischen Selbstverständnisses: Kanufahren auf der Mosel - früher undenkbar, heute ein echtes aktives Erlebnis in wunderschöner Natur. Udo Marx vermietet Kanus und sitzt mit mir im selben Boot: "Es ist eben alles noch ein bisschen tiefer, wenn man auf dem Wasser sitzt und schaut sich die Berge an, das macht einen ganz anderen Eindruck. Das ist schon ganz schön steil."Vor uns liegt ein wahres Stück Terrassenmosel, der Calmont. Calidus mons nannten die Römer diesen schroff abfallenden, zerfurchten Berg - es war ihre Umschreibung für den heißen Berg. Denn in den nach Süden liegenden Calmont scheint von früh bis spät die Sonne. Rieslingtraube, was willst du mehr? Und schon Goethe war vom Calmont beeindruckt:Jeder sonnige Hügel war benutzt, bald aber bewunderten wir schroffe Felsen am Strom, auf deren schmalen, vorragenden Kanten, wie auf zufälligen Naturterrassen, der Weinstock zum allerbesten gedieh.Rund drei Stunden dauert die "anspruchsvolle Wanderung", wie es im Prospekt heißt, von Bremm nach Eller, oder umgekehrt, mitten durch den rebbestockten Calmont, hoch über dem Fluss. Auf einer Länge von gut drei Kilometern überwindet sie rund 1000 Höhenmeter. Aus breiten Weinbergswegen werden schmale Trampelpfade, felsige Schieferkanten sind an Stahlseilen zu überwinden, und wer nicht frei von Schwindelgefühlen ist, sollte lieber auf den Calmont-Höhenweg oben auf dem Berg ausweichen. Den grandiosen Blick ins Moseltal vom Gipfelkreuz erlebt er dennoch, wie diese Gruppe jugendlicher Niederländer:"Sehr, sehr schön, toll, wunderbar.""Und noch keine Angst gehabt bisher?""Nein, weil: Es hat viele Seile und Steigen und das hilft uns."In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ließen immer mehr Winzer den Calmont links liegen. Und so blickten die Bremmer und ihr Bürgermeister Heinz Berg sorgenvoll auf ihren arg ramponierten Calmont. Steil und schroff und abweisend zwar, aber doch ihr Hausberg - ihr steiler, heißer Berg. Und so wurde aus einer Tourismusidee der Rettungsanker für einen ganzen Berg."So einen Berg können wir nicht sich selber überlassen, und da kam damals die Idee, den Klettersteig anzulegen - mit dem Ziel: Steillagenweinbau erlebbar zu machen, die Winzer wieder dazu zu animieren, wieder hier in den Berg neu einzusteigen, neu einzupflanzen - und das ist uns, so sieht man das hier, ganz gut gelungen."Der Blick nach unten folgt einer fast senkrechten Falllinie: 65 Grad misst der Calmont in seinen steilsten Hängen - gefühlt ist das irgendwie schon ziemlich senkrecht. Zwei Leitern sind auf den drei Kilometern zu überwinden, und zwischendurch gibt es immer wieder Rastplätze, um die Bilderbuchmosel zu genießen - eine Wandergruppe aus dem Siegerland:"Ja, toll, klasse, wirklich beeindruckend. Wunderschön, diese Moselschleife mit dem Blick ins Tal; und vor allem dadurch beeindruckt, in welcher steilen Lage hier gearbeitet werden muss.""Da schmeckt der Wein gleich anders und besser?""Auf jeden Fall.""Wie war denn bisher der Aufstieg?"Ich denke mir, für den Ungeübten mit Sicherheit nicht unbedingt empfehlenswert. Man sollte schon auf die Hinweistafeln achten."Muss man schwindelfrei sein?""Das auf jeden Fall.""Mein Mann ist nicht schwindelfrei. Er hat es trotzdem gemacht, und er ist bis hierher lebend gekommen. Wir hoffen, er kommt auch lebend bis Bremm."90 bis 100 Grad Oechsle erreicht Uli Franzen in seinem Weinberg im Calmont. Der Wander- und Kletterweg führt mitten durch seine 7000 Rieslingreben, die er vor wenigen Jahren neu gepflanzt hat. In mühevoller Arbeit hat er dem Calmont diesen Weinberg durch Roden und Abholzen abgerungen. "Es ist halt eben eine einzigartige Lage, einmal von der Exposition zur Sonne her - Südsüdwesthang, ideal für Riesling - dann vom Boden her. Es ist ein reiner Schieferboden, Devonschieferboden, und der ist ideal zur Erzeugung von einzigartigen Rieslingweinen."Weinführer und Fachzeitschriften loben den kräftigen, erdverbundenen Riesling, den Uli Franzen im Calmont erzeugt, in höchsten Tönen, und so hat sich die hehre Idee, das Erbe der Vorfahren nicht einfach verfallen zu lassen, inzwischen auch in barer Münze ausgezahlt: "Der Calmont ist ja nicht nur ein Naturdenkmal, es ist ja auch ein Kulturdenkmal. Hier haben Generationen dran gearbeitet. Sie sehen hier die Trockenmauern - Weinberge angelegt seit 2000 Jahren. Es ist auch ein Kulturdenkmal, und es ist wichtig, das auch für die nächste Generation zu erhalten."Viel Wein - das war gestern. Herausragende Rieslingweine heißt die neue Devise. Peter Weis in Zell und Uli Franzen in Bremm gehören zu jener neuen Generation an Winzern, die erkannt haben, dass die Mosel nur mit Qualität im globalen Weinwettbewerb bestehen kann. Und das gilt genauso für das touristische Angebot, um zukunftsfähig zu bleiben: die naturgegebenen Vorteile bestmöglich zu nutzen. Bremms Bürgermeister formuliert es so:"Unser Publikum ist nicht nur mehr, sondern im Durchschnitt auch wesentlich jünger, weininteressierter geworden. Auch wenn Kinder hier mit durchlaufen: Das sind potenzielle Gäste von morgen, und dafür haben wir es gemacht. Also, die Investition, die wir hier gemacht haben, hat sich in jedem Fall für alle gelohnt."Aber noch liegt dieser Aussichtspunkt einige Höhenmeter von uns entfernt.
Von Hans Günther Meurer
Der Bremmer Calmont am Moselufer zählt zu den steilsten Weinbergen Europas. Aufgrund der Hanglage gedeihen dort aber besonders gute Trauben. Touristen lockt der Berg zu einer Kletterpartie. Voraussetzung: Man muss schwindelfrei sein.
"2009-06-21T11:30:00+02:00"
"2020-02-03T09:53:59.265000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/steile-hoehen-tiefe-keller-100.html
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+++ Die Entwicklungen vom 27. bis 29. Juli +++
Laut RKI gibt es zunehmend Corona-Fälle nach einer Auslandsreise. (picture alliance / Daniel Kubirski) Die aktuellen Entwicklungen finden Sie hier in unserem Newsblog. Donnerstag, 29. Juli +++ Corona-Ansteckungen, die wahrscheinlich auf Reisen passiert sind, spielen laut dem Robert Koch-Institut eine zunehmende Rolle beim Infektionsgeschehen in Deutschland. Das schreibt das RKI in seinem wöchentlichen Lagebericht. In der Zeit vom 28. Juni bis 25. Juli sind demnach 3.662 Fälle gemeldet worden, in denen die Betroffenen dem Virus wahrscheinlich im Ausland ausgesetzt waren. Als wahrscheinlcihe Infektionsländer in den vier betrachteten Wochen wurden Spanien, die Türkei und die Niederlande am häufigsten genannt, vor Kroatien und Griechenland. Der überwiegende Anteil der Corona-Übertragungen finde allerdings weiterhin innerhalb Deutschlands statt, betont das RKI - die Rede ist von mindestens 81 Prozent. +++ Nach der Unterbrechung wegen einer Sicherheitslücke beginnen in Deutschland erste Apotheken wieder mit der Ausstellung von digitalen Corona-Impfzertifikaten. Wie ein Sprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände in Berlin mitteilte, fange man schrittweise damit an, den Service für Geimpfte erneut anzubieten. Wer das Zertifikat haben möchte, solle sich jedoch vorab auf der Internetseite www.mein-apothekenmanager.de informieren, welche Apotheke den Nachweis ausstelle, hieß es. Vor gut einer Woche hatte der Verband das Ausstellen der digitalen Zertifikate nach Rücksprache mit dem Bundesgesundheitsministerium gestoppt. +++ Portugal will angesichts sinkender Corona-Zahlen seine Beschränkungen in drei Schritten lockern. Ab Sonntag werde die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben, sagt Ministerpräsident Costa. Auch Einschränkungen bei den Öffnungszeiten für Restaurants und Geschäfte würden fallen. Ab September werde die Verpflichtung zum Tragen von Masken in der Öffentlichkeit aufgehoben, ab Oktober dürften Bars und Nachtclubs für Besucher mit Negativtest wieder öffnen. Die Zahl der Corona-Toten und Klinik-Einweisungen war in Portugal zuletzt so langsam gestiegen wie seit Februar nicht mehr. +++ In der slowakischen Hauptstadt Bratislava führen Proteste gegen eine gesetzlich festgeschriebene Testpflicht für Ungeimpfte Medienberichten zufolge zu Verkehrsbehinderungen. Die Menschenmenge vor dem Amtssitz von Präsidentin Caputova sei den ganzen Tag über angewachsen, berichtet die Zeitung "Dennik N". Bislang seien die Proteste friedlich. +++ Nordrhein-Westfalen legt eine Regelung der Corona-Schutzverordnung auf Eis, die härtere Auflagen in Kommunen vorsieht, in denen die Inzidenz dauerhaft über 50 liegt. Die sogenannte Inzidenzstufe 3 werde bis zum 19. August ausgesetzt, teilte Gesundheitsminister Laumann mit. Man habe derzeit eine vergleichsweise niedrige Landesinzidenz. Zudem gebe es die Möglichkeit, auf lokaler Ebene strengere Coronaschutzmaßnahmen durchzusetzen, betonte der CDU-Politiker. Die Stufe 3 sieht unter anderem vor, dass Gäste in der Außengastronomie wieder negative Corona-Tests vorweisen müssen. Statt der Stufe 3 gelten in den betroffenen Gebieten die Regeln der Stufe 2 - dann kann etwa die Außengastronomie ohne Test besucht werden. +++ Der Lehrerverband lehnt eine Impfpflicht ab. Die Impfquote bei Lehrkräften sei mit knapp 90 Prozent bereits eine der höchsten aller Berufsgruppen in Deutschland, sagt Verbands-Präsident Meidinger dem "Handelsblatt". Eine Impfpflicht bei einem Vakzin, über das - anders als beim Masernimpfstoff - keine jahrzehntelangen Erfahrungen vorlägen, halte man für falsch. +++ In Österreich sind 215 Corona-Infektionen unter Reiserückkehrern nach einem Festival in Kroatien registriert worden. Die Veranstaltung "Austria goes Zrce" fand in der vergangenen Woche auf der Insel Pag statt. Knapp 8.000 Menschen im Alter zwischen 19 und 27 Jahren waren zu der mehrtägigen Strandparty gereist, wie der Veranstalter Martin Reitstätter der Deutschen Presse-Agentur sagte. +++ Israel bietet über 60-Jährigen ab Sonntag eine dritte Impfung mit dem Mittel von Biontech/Pfizer an, berichten der Radio-Sender Kan und Channel 13 TV. Damit solle gegen die ansteckendere Delta-Variante des Coronavirus vorgegangen werden. +++ Vor dem Hintergrund steigender Corona-Infektionszahlen soll die Testpflicht für alle nicht geimpften Reiserückkehrer nun offenbar doch zum 1. August kommen. Das meldet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Regierungskreise. Die Bedenken gegen eine entsprechende Regelung per Verordnung seien ausgeräumt, hieß es. Zuvor hatten Bundesgesundheitsminister Spahn und mehrere Ministerpräsidentinnen und -präsidenten eine schnelle Regelung gefordert. In einigen Bundesländern gehen die Sommerferien zu Ende. +++ Der Lehrerverband lehnt eine Impfpflicht ab. Die Impfquote bei Lehrkräften sei mit knapp 90 Prozent bereits eine der höchsten aller Berufsgruppen in Deutschland, sagt Verbands-Präsident Meidinger dem "Handelsblatt". Eine Impfpflicht bei einem Vakzin, über das - anders als beim Masernimpfstoff - keine jahrzehntelangen Erfahrungen vorlägen, halte man für falsch. +++ Angesichts weiter steigender Corona-Neuinfektionen sorgen sich die japanischen Behörden um die Belastungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Man habe noch nie eine Ausbreitung der Infektionen in diesem Ausmaß erlebt, sagte Kabinettschef Kato in Tokio. Die Zahl der neuen Fälle steige nicht nur in der Region Tokio, sondern im ganzen Land. Die japanische Hauptstadt meldete den dritten Tag in Folge mit 3.865 Neuinfektionen einen neuen Höchststand. Das sind doppelt so viele wie vor einer Woche. +++ Die Olympia-Organisatoren haben Vorwürfe zurückgewiesen, die Sommerspiele in Tokio seien für die steigenden Coronazahlen in Japan verantwortlich. Ein Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees sagte, es gebe keinen einzigen bekannten Fall, in dem sich die Infektion eines Beteiligten auf die Bevölkerung übertragen habe. Er verwies auf zahlreiche Tests und Beschränkungen im Olympischen Dorf. Die Zahl der positiv gestesteten Sportler, Journalisten und Arbeiter liegt laut IOC bei mindestens 193. +++ Der Immunologe Watzl hat Äußerungen des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten Aiwanger zum Risiko der Coronaimpfungen zurückgewiesen. Die grippe-ähnlichen Impfreaktionen seien bekannt und es gebe nur sehr selten schwere Nebenwirkungen, sagte Watzl im Deutschlandfunk. Diese seien auch gut dokumentiert. So stehe die Zahl der Todesfälle nach einer Sinusvenenthrombose im Zusammenhang mit einer Impfung mit Astrazeneca mit aktuell 24 in keinem Verhältnis zu der Zahl der Coronatoten mit etwa 90.000. Die Impfung schützt sehr gut vor schweren Verläufen von Covid-19. Dennoch sind viele noch unsicher, ob sie sich impfen lassen wollen. (Unsplash.com / Towfiqu barbhuiya) +++ Der Medizinrechtler Ehlers hält eine generelle Testpflicht für alle Reiserückkehrer für verfassungsrechtlich problematisch. Er sagte im Deutschlandfunk, die Freiheitsrechte müssten abgewogen werden gegen das Risiko, das Leben Dritter zu gefährden. Für Geimpfte und Genesene sei eine solche Pflicht wahrscheinlich unverhältnismäßig, denn sie stellten keine große Gefahr für andere dar. Zulässig wäre eine solche Maßnahme aus seiner Sicht jedoch bei nicht vollständig geimpften Menschen, die aus Gebieten mit hoher Inzidenz und in Deutschland noch nicht verbreiteten Virusvarianten kommen. Seit dem 28. Juli gilt eine neue Einreiseverordnung der Bundesregierung für Menschen, die nach Deutschland einreisen, weil sie zum Beispiel aus dem Urlaub zurückkehren. Eine Testpflicht für alle Reisende ist darin nicht vorgesehen. Die wichtigsten Regelungen im Überblick. +++ Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann hält die geplante Corona-Testpflicht für Reiserückkehrer, die nicht geimpft oder genesen sind, für richtig. Dies sei eine wichtige Maßnahme, damit nicht weitere Probleme wie etwa neue Varianten des Virus nach Deutschland eingeschleppt würden, sagte der Grünen-Politiker im Deutschlandfunk. Kretschmann forderte die Bundesregierung auf, das Vorhaben möglichst schnell zu realisieren. Er betonte, eine Umsetzung erst im September wäre viel zu spät. Sie finden hier die Liste der Risikogebiete. +++ Bundestagspräsident Schäuble hat sich dafür ausgesprochen, dass in der Corona-Pandemie Geimpfte und Genesene mehr Freiheiten genießen als Ungeimpfte. Der CDU-Politiker sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", er sähe für eine unterschiedliche Behandlung keine verfassungsrechtlichen Probleme. Es sei erwiesen, dass nach Genesung oder vollständiger Impfung die Gefahr deutlich sinke, andere anzustecken. +++ Die US-Internetkonzerne Google und Facebook haben für Mitarbeiter, die nicht im Homeoffice arbeiten wollen, eine Impfpflicht verhängt. "Jeder, der zum Arbeiten auf unsere Campus kommt, muss geimpft sein", erklärte Google-Firmenchef Pichai in einem Blog-Eintrag. Ähnlich äußerte sich Facebook. Die Homeoffice-Regelung wird in beiden Unternehmen wegen der erneut steigenden Corona-Zahlen bis Oktober verlängert. +++ In der Debatte um die Bedeutung des Corona-Inzidenzwerts hat Bundesgesundheitsminister Spahn der Haltung des Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Wieler, widersprochen. Mit steigender Impfrate verliere der bisherige Leitindikator an Aussagekraft, sagte Spahn der "Bild"-Zeitung. Daher brauche es zwingend weitere Kennwerte, um die Lage bewerten zu können. Als Beispiel nannte der CDU-Politiker die Zahl der neu aufgenommenen Covid-19-Patienten im Krankenhaus. +++ Die geplante Corona-Testpflicht für Urlaubsheimkehrer wird von Regierungschefs mehrerer Bundesländer unterstützt. Sie schließen sich damit der Haltung ihres bayerischen Kollegen Söder (CSU) und den Plänen von Gesundheitsminister Spahn (CDU) an. Berlins Regierender Bürgermeister Müller, SPD, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dies sei der zentrale Baustein, um das Infektionsgeschehen in der ungeimpften Bevölkerung einzudämmen. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer betonte, aus dem vergangenen Jahr wisse man, dass Reiserückkehrer viel zum Anstieg der Zahlen beigetragen hätten. Mehr zur Debatte können Sie in dieser Meldung lesen. +++ Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Infektionen ist abermals gestiegen. Sie liegt nach Angaben des Robert Koch-Instituts jetzt bei 16. Am Vortag betrug der Wert 15, eine Woche zuvor waren es 12,2. Die Gesundheitsämter meldeten mehr als 3.500 neue Ansteckungen. Das waren gut 1.600 mehr als vor einer Woche. 10 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. Insgesamt wurden bisher 91.702 Corona-Tote registriert. Mehr aktuelle Zahlen zum Coronavirus finden Sie in diesem Beitrag. Mittwoch, 28. Juli +++ Die Bundesregierung hat noch nicht entschieden, ob ab dem 1. August flächendeckende Corona-Tests für Ungeimpfte bei Einreise nach Deutschland eingeführt werden. Regierungssprecherin Demmer sagte in Berlin, man befinde sich in dieser Frage weiter in der Abstimmung. Sie reagierte damit auf eine Äußerung des bayerischen Ministerpräsidenten Söder. Der CSU-Politiker hatte in den "Tagesthemen" im ARD-Fernsehen erklärt, die Regierung habe zugesagt, bis zum 1. August alles zu probieren, um eine einheitliche Testpflicht für alle nicht geimpften Einreisenden einzuführen. Bisher gilt diese Anordnung nur für Flugreisende. +++ Im Kampf gegen die rasche Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus werden Impfungen im Bundesstaat New York für Teile des medizinischen Personals künftig Pflicht. Alle anderen Beamten in allen Bereichen müssten entweder geimpft sein oder regelmäßig einen Covid-Test vorlegen. +++ Sachsen-Anhalt ermöglicht den Impfzentren, Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren an speziellen Tagen Corona-Schutzimpfungen anzubieten. Das teilte das Gesundheitsministerium in Magdeburg mit. Vielfach hätten Familien sich ein solches Angebot gewünscht, da es für sie schwierig gewesen sei, einen Kinderarzt zu finden, der diese Impfungen nach Beratung anbietet, erklärte Ministerin Petra Grimm-Benne (SPD). +++ COVID-19 kann negative Auswirkungen auf unsere Gehirnleistung haben. Das bestätigte der Neurowissenschaftler Adam Hampshire im Deutschlandfunk. Er hatte mit seinem Team Intelligenztests von Erkrankten und Nicht-Erkrankten verglichen. Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass eine COVID-19-Erkrankung den Intelligenzquotienten um bis zu 7 Punkte drücken kann. +++ Sechs positiv auf das Corona-Virus getestete Olympia-Teilnehmer aus den Niederlanden haben sich über gefängnisartige Zustände im Quarantäne-Hotel beklagt. Sie haben sich nach eigenen Angaben mit einem Sitzstreik das Recht auf eine Viertelstunde Frischluft pro Tag erkämpft. +++ Die Menschen in Norwegen müssen wegen Sorgen vor der Delta-Variante des Coronavirus länger auf die Lockerung weiterer Corona-Maßnahmen warten. Die Umsetzung der vierten Stufe des Öffnungsplans der Regierung wird auf Empfehlung der norwegischen Gesundheitsbehörden um mindestens zwei Wochen aufgeschoben. In Stufe vier fallen unter anderem Beschränkungen für den Spitzensport und Begrenzungen für die Gästezahl im eigenen Heim. +++ In Deutschland ist inzwischen mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums wurden 41,8 Millionen Menschen immunisiert. Das entspricht 50,2 Prozent. Gut 61 Prozent haben mindestens eine Impfdosis erhalten. +++ Die Brandenburger Landesregierung will mit einer Werbekampagne gegen eine schwächer werdende Impfbereitschaft angehen. Sie soll an diesem Freitag starten, wie Gesundheitsstaatssekretär Michael Ranft mitteilte. Landesweite Plakataktionen, Filme, aber auch Online-Werbung und Radiospots sollen dafür sorgen, dass noch mehr Menschen ein Impfangebot wahrnehmen. Eine Sorge, die von Impfskeptikern geäußert wird, ist die Angst vor Unfruchtbarkeit. Hier finden Sie Hintergründe. +++ Die deutschen Amtsärztinnen und -ärzte sprechen sich dafür aus, alle Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren gegen das Coronavirus zu impfen. Die Inzidenzen seien bereits jetzt in den niedrigeren Altersgruppen besonders hoch, sagte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, Teichert, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Das werde sich bald in noch jüngere Gruppen verschieben. Zudem hätten gerade die Jungen viele Kontakte. Da sei es doch sinnvoll, sie zu impfen, betonte Teichert. Was bedeuten steigende Impf- und steigende Inzidenz-Zahlen für Deutschland? Wir haben die Diskussion für Sie zusammengefasst. +++ Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident Aiwanger hat sich gegen Druck auf Menschen ausgesprochen, die sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen. Hubert Aiwanger, Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Bayern (Peter Kneffel/dpa) Es gehe darum, bei der Frage, was dem Einzelnen vom Staat aufgezwungen werden dürfe, die rote Linie nicht zu überschreiten, sagte der Vorsitzende der Freien Wähler im Deutschlandfunk. Die Grenze sei die Entscheidung über den eigenen Körper. +++ Mit diesen Aussagen hat Aiwanger unter anderen Politikern für Unmut gesorgt. Es sei gefährlicher Unsinn, was Aiwanger heute früh im Deutschlandfunk gesagt habe, erklärte der SPD-Politiker Wölken via Twitter. Dass Bayerns Ministerpräsident Söder einen so unprofessionellen Minister in seiner Regierung dulde, sei abenteuerlich. Ähnlich äußerte sich seine Parteikollegin Mattheis. Sie warf Aiwanger vor, für Verunsicherung zu sorgen, während das ganze Land engagiert gegen die Pandemie kämpfe. Der CDU-Politiker Steiniger bezeichnete Aiwanger als Trittbrettfahrer. Bayerns Vize-Ministerpräsident lasse sich nicht impfen und verteidige das auch noch, kritisiert Steiniger. Der Grünen-Abgeordnete Özdemir meinte, es gebe kaum einen stärkeren Ausdruck von Freiheit und Vernunft, als sich und andere durch Impfen zu schützen. +++ Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Widmann-Mauz, fordert besser auf Migranten zugeschnittene Impfangebote. Menschen stehen im Kölner Stadtteil Chorweiler Schlange, um eine Corona-Impfung zu erhalten. (AFP / Ina Fassbender) Sie sagte der "Rheinischen Post", jeder Vierte in Deutschland habe eine Einwanderungsgeschichte. Die meisten erreiche man über deutschsprachige Medien. Aber für Menschen, deren Deutschkenntnisse gering seien, würden andere Kanäle gebraucht. In vielen Kommunen gebe es bereits gute Beispiele – etwa Corona-Lotsen, die vor Ort aufklärten, Info-Busse und Lautsprecherwagen sowie mobile Impfstationen. Das müsse lokal und kommunal Schule machen. +++ Die EU-Kommission hat mit dem Pharmakonzern GlaxoSmithKline einen Rahmenvertrag über die Lieferung des Corona-Medikaments Sotrovimab abgeschlossen. Die Behörde sicherte so für 16 Mitgliedstaaten bis zu 220.000 Chargen, wie sie am Mittwoch in Brüssel mitteilte. Ob Deutschland darunter ist, wurde auch auf Anfrage nicht mitgeteilt. Sotrovimab wird derzeit von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) geprüft. +++ Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Infektionen ist abermals gestiegen. Sie liegt nach Angaben des Robert Koch-Instituts jetzt bei 15,0. Am Vortag betrug der Wert 14,5, eine Woche zuvor waren es 11,4. Die Gesundheitsämter meldeten innerhalb eines Tages mehr als 2.700 neue Ansteckungen. Das waren gut 560 mehr als vor einer Woche. 21 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. Insgesamt wurden bisher 91.586 Corona-Tote registriert. Mehr zum Thema: Hier bilden wir die aktuellen Entwicklungen der Corona-Zahlen in Deutschland ab. +++ Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Wieler, hat sich einem Medienbericht zufolge dafür ausgesprochen, weiter die Inzidenz als Leitindikator für die Entwicklung der Corona-Pandemie heranzuziehen. Coronavirus - Wieler zur aktuellen Lage (dpa/Bernd von Jutrczenka) Damit widerspricht er einer Mehrheit der Bundesländer, wie die "Bild"-Zeitung meldet. Wieler präsentierte demnach am Montag auf einer Schaltkonferenz zwischen Kanzleramtschef Braun und den Chefs der Staatskanzleien ein Papier, in dem er dafür plädierte, an der Niedrig-Inzidenz-Strategie festzuhalten. Die Ländervertreter waren dem Bericht zufolge damit überwiegend nicht einverstanden. Auch Bundesgesundheitsminister Spahn hatte vor einigen Wochen erklärt, dass der Inzidenzwert an Aussagekraft verliere. Die Begründung dafür lautet, dass die gefährdeten Gruppen geimpft seien und es deshalb weniger Krankenhauseinweisungen gebe. +++ Der Bund plant nach Angaben von Bayerns Ministerpräsident Söder schon ab dem 1. August eine Testpflicht für alle, die nach Deutschland einreisen. Diese solle nicht nur für Flugreisende, sondern auch für Bahnreisende und Autofahrer kommen, sagte der CSU-Politiker im ARD-Fernsehen. Grenze Frankreich Deutschland (dpa-Bildfunk / Oliver Dietze) Er glaube, dass das verständlicher und sicherer sei. Das ursprünglich angedachte Datum für eine Einreiseverordnung ab dem 11. September wäre "ein Witz" gewesen. Da sei der Urlaub vorbei; selbst in den Ländern mit späten Ferien. Söder betonte, die Länder hätten Druck gemacht, weil sie eine verlässliche Basis für die Einreise bräuchten. Am Nachmittag sei ihm mitgeteilt worden, dass eine Rechtsgrundlage geschaffen werde, damit die Umsetzung zum 1. August klappe. Bundesinnenminister Seehofer sagte der "Bild"-Zeitung, dass nachweislich Geimpfte oder Genesene kein negatives Testergebnis nachweisen müssten. +++ Die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder beraten früher als bisher geplant mit Bundeskanzlerin Merkel über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie. Die nächste Bund-Länder-Runde werde am 10. August per Videoschalte stattfinden, teilte Berlins Regierender Bürgermeister Müller als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz mit. Er hatte zuvor auf die steigende Zahl der Neuinfektionen verwiesen und ebenso wie andere Länderchefs ein zügiges Handeln angemahnt. Dienstag, 27. Juli +++ Portugal hat die EU-Staaten um zusätzliche Impfdosen gegen das Coronavirus gebeten. Damit solle die Impfkampagne beschleunigt werden, sagte Gesundheitsministerin Temido in Lissabon. Das Land will demnach bis Ende August 70 Prozent seiner erwachsenen Bevölkerung vollständig immunisieren. Derzeit sind rund 45 Prozent der Portugiesen zweimal geimpft. Mehr Informationen lesen Sie hier. +++ In Kanada hat Ministerpräsident Justin Trudeau zufolge jetzt genug Impfstoff vorrätig, um alle Berechtigten versorgen zu können. Mit dem Kauf von 66 Millionen Dosen liege seine Regierung zudem vor der angepeilten Frist Ende September. In Kanada wird spekuliert, dass Trudeau vorgezogene Wahlen ausrufen könnte und dabei mit Erfolgen im Kampf gegen die Pandemie werben will. Die Skyline von Toronto (imago stock&people) +++ Coronabedingt sind Mitte Juli deutlich über eine Million Schüler in England dem Unterricht ferngeblieben. 1,126 Millionen fehlende Schüler am 16. Juli - etwa jeder achte - bedeuteten einen Rekordwert und zugleich ein Plus von knapp einem Drittel im Vergleich zur Vorwoche. Das geht aus Daten hervor, die das britische Bildungsministerium am Freitag veröffentlichte. Demnach waren 994 000 Kinder wegen Kontakts mit Corona-Infizierten in Quarantäne. 48 000 Schüler waren selbst an dem Virus erkrankt und 33 300 galten als Verdachtsfall. Für mehr als 50 000 Kinder fiel der Unterricht aus, weil ihre Schule coronabedingt geschlossen war. Thinking School Success Story (Finnbarr Webster/ Getty Images Europe) +++ Eltern, deren Schulkinder wegen einer Reise in ein Corona-Hochrisikogebiet nach Ferienende in Quarantäne müssen, droht ein Bußgeld. Darauf wies der Gelsenkirchener Rechtsanwalt Arndt Kempgens im Dlf hin. Wenn man nicht zum Unterricht gehe, sei das ein Verstoß gegen die Schulpflicht. Und wenn dies verschuldet sei, drohe ein Bußgeldverfahren, das die Schule einleiten könne. Mehr dazu lesen Sie hier. +++ Gesundheitsminister Spahn strebt eine deutliche Ausweitung der Testpflicht für Reiserückkehrer an. Die Abstimmung dazu laufe derzeit innerhalb der Regierung, meldet die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf das Ministerium. Zuvor hatten die Zeitungen der Funke Mediengruppe darüber berichtet. Bisher müssen Flugpassagiere und Einreisende aus Hochrisikogebieten einen negativen Corona-Test vorlegen – es sei denn, sie sind vollständig geimpft oder genesen. Künftig wolle Spahn einen Test offenbar unabhängig davon verlangen, aus welchen Gebieten und mit welchen Verkehrsmitteln die Reisenden nach Deutschland kommen, heißt es. Wie AFP weiter schreibt, gibt es offenbar aus dem Bundesjustizministerium Bedenken gegen die geplante Neuregelung. Sollen die Einreiseregeln nach Deutschland strenger werden angesichts der Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus? (picture alliance / Daniel Kubirski) Bayerns Ministerpräsident Söder kritisiert das "Tauziehen" um verpflichtende Corona-Tests für Reiserückkehrer. Spahns Vorschlag, ab dem 11. September alle Heimkehrer auf das Virus zu testen, laufe ins Leere, sagte Söder nach einer Sitzung des bayerischen Kabinetts. Bis dahin seien auch die Ferien in Bayern zu Ende. "Es ist halt alles sehr spät. Die Ferientermine sind ja nicht vom Himmel gefallen", ergänzte Söder. Mit Blick auf verpflichtende Tests für alle Reiserückkehrer sagte der Virologe Stürmer im Deutschlandfunk, wenn man darauf verzichte, "riskieren wir das Einschleppen von Infektionen, für die wir erst einmal blind sind". Denn man dürfe nicht davon ausgehen, dass Menschen mit einer doppelten Impfung sich nicht doch noch einmal ansteckten. +++ Die EU hat nach den Worten von Kommissionspräsidentin von der Leyen ein selbstgestecktes Impfziel erreicht. Corona-Impfung in Frankreich am Stadtrand von Paris (Thomas Samson / POOL AFP via AP / dpa) Geplant sei gewesen, im Juli 70 Prozent der Erwachsenen durch mindestens eine Impfung zu schützen. Das Ziel habe man heute erreicht. 57 Prozent der Erwachsenen sind demnach bereits vollständig geimpft. Von der Leyen rief dazu auf, sich impfen zu lassen. Man müsse sich weiter anstrengen. Die Delta.Variante sei sehr gefährlich. +++ Der Oberbürgermeister von Solingen, Kurzbach, fordert mit Blick auf Herbst und Winter klare und einheitliche Corona-Regeln. Der SPD-Politiker sagte im Deutschlandfunk, man erlebe wegen der steigenden Infektionszahlen gerade, wie man schnell durch die einzelnen Inzidenzstufen mit den jeweiligen Auflagen wechsle. Man könne den Menschen aber nicht innerhalb von wenigen Tagen immer neue Vorschriften erläutern. Das gehe zu schnell und sei für viele nicht nachvollziehbar. Solingen hat mit 60,9 aktuell die bundesweit höchste Inzidenz +++ Die USA verweigern Europäern und anderen Ausländern wegen der Coronavirus-Pandemie weiter die Einreise ins Land. Gründe seien die hoch ansteckende Delta-Variante und die steigenden Infektionszahlen in den Vereinigten Staaten, sagte Präsidialamtssprecherin Psaki in Washington. Für wie lange das Einreiseverbot voraussichtlich noch gilt, ließ Psaki offen. Fluglinien und Touristik-Konzerne hatten massiv für eine Aufhebung der Beschränkungen geworben, die für Europäer seit mehr als einem Jahr in Kraft sind. +++ Der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach warnt davor, nach den Sommerferien den Schulbetrieb ohne Corona-Schutzmaßnahmen wieder aufzunehmen. Aus den Bundesländern habe er schon von der Idee gehört, den Unterricht ohne jede Einschränkung auch bei hohen Inzidenzen durchzuführen, sagte Lauterbach der Düsseldorfer "Rheinischen Post". Dies sei gefährlich, weil sich sehr viele Kinder infizieren könnten. Es sei unklar, wie viele nach einer Covid-19-Erkrankung mit Spätfolgen oder gar einem schwächeren Immunsystem zu kämpfen hätten, betonte Lauterbach. Er fordert deshalb, an Schutzmaßnahmen wie Masken, Tests, Quarantäne und Wechselunterricht festzuhalten. Wie geht es nach den Sommerferien weiter? Wenn es nach SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach geht, auch im Wechselunterricht. (imago-images / photothek / Ute Grabowsky) +++ Patientenvertreter haben sich kritisch zur Debatte über eine Impfpflicht in Deutschland geäußert. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Brysch, sagte der "Rheinischen Post", es sei brandgefährlich, öffentlich über eine Impfpflicht zu sinnieren. Vielmehr gelte es, die Skeptiker mit Argumenten zu überzeugen. Kern einer solchen Debatte müsse der Selbstschutz vor Corona sein. Brysch warf der Bundesregierung vor, diese Debatte zu scheuen. Damit überlasse sie den Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern das Feld. Sollte es für Nicht-Geimpfte Einschränkungen geben? Kanzleramtschef Braun (CDU) hat das vorgeschlagen und damit eine kontroverse Debatte ausgelöst. Justizministerin Lambrecht (SPD) etwa lehnt seinen Vorstoß ab – andere stimmen Braun zu. Die Bundesregierung stellte nochmals klar: Eine allgemeine Impfpflicht wird es in Deutschland nicht geben. Hier die wichtigsten Standpunkte in der Debatte zusammengefasst. +++ Die Sieben-Tage-Inzidenz der in Deutschland nachgewiesenen Corona-Neuinfektionen ist erneut leicht gestiegen. Sie liegt jetzt bundesweit bei 14,5 nach 14,3 am Vortag, wie das Robert Koch-Institut mitteilte. Die Gesundheitsämter meldeten dem RKI 1.545 weitere Infektionsfälle innerhalb der vergangenen 24 Stunden. 38 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit dem Virus. +++ Mediziner rechnen bei einer möglichen vierten Corona-Welle mit weniger Patienten auf den Intensivstationen als in der letzten Hochphase. Er sei sich sicher, dass die Patienten-Zahlen auf den Intensivstationen und in den Krankenhäusern bei einer vierten Welle nicht so hoch sein werden wie bei der dritten Welle, sagte das Vorstandsmitglied der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Kluge. Im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland verwies er aber zugleich darauf, dass einige Regeln - wie etwa das Maskentragen in Supermärkten - weiter nötig seien. Hier geht es zu unserem Archiv.
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+++ Corona-Ansteckungen, die wahrscheinlich auf Reisen passiert sind, spielen laut dem Robert Koch-Institut eine zunehmende Rolle beim Infektionsgeschehen in Deutschland +++ Nach der Unterbrechung wegen einer Sicherheitslücke beginnen in Deutschland erste Apotheken wieder mit der Ausstellung von digitalen Impfzertifikaten +++ Portugal will angesichts sinkender Infektionszahlen seine Beschränkungen in drei Schritten lockern +++ Mehr in unserem Newsblog
"2021-07-29T00:00:00+02:00"
"2021-07-31T08:47:32.016000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zum-coronavirus-die-entwicklungen-vom-27-bis-104.html
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Droht bald die nächste Pandemie?
In chinesischen Schweineställen grassiert seit einiger Zeit ein neues Grippevirus, das auch Menschen infizieren kann (imago / Blickwinkel) In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins PNAS beschreiben Forscher in China ein neues Influenzavirus, das sich dort in den riesigen Schweineherden ausbreitet. Da das Virus offenbar auch in der Lage ist, Menschen zu infizieren, ist die mediale Aufmerksamkeit in Zeiten von Corona groß. Doch Grund zur Panik besteht nicht. Noch fehlt dem Erreger eine Schlüsseleigenschaft, um zu einer globalen Bedrohung zu werden. Droht jetzt unmittelbar die nächste Pandemie? Nein. Es ist zwar unausweichlich, dass es immer wieder neue Pandemien geben wird. Die Menschheit ist für Viren einfach ein attraktives Ziel. Aber ob es nun wirklich dieses neue Influenzavirus namens G4 sein wird, das kann derzeit noch niemand sagen. Und auch die Experten, mit denen ich gesprochen habe oder die von den Kollegen bei der BBC oder bei Science zitiert werden, warnen vor Panik. Woher stammt dieses neu beschriebene Virus? Influenzaviren sind sehr flexibel, weil sie sich so schnell verändern. Sie kommen ursprünglich aus Wasservögeln, aber sie können eben auch Säugetiere infizieren und da insbesondere Schweine. Die nehmen eine Sonderrolle ein, weil sich in ihnen Viren aus Vögeln mit Viren aus Säugetieren mischen können. Das liegt gar nicht unbedingt an einer besonderen Schweinebiologie. Es gibt einfach viele davon, und in China kommen sie eben auch in engen Kontakt mit Enten und mit Menschen. Das neue Virus G4 ist ein Mischvirus: Es hat Anteile von Vogelinfluenzaviren, Anteile von der Schweinegrippe H1N1, die von den Menschen zurück in die Schweine gewandert ist, und auch noch von einem dritten Influenzavirus. So eine Mischung sorgt dafür, dass dieses Virus für das Immunsystem der Schweine noch recht unbekannt ist. So konnte es sich seit 2013 erst einmal unter den chinesischen Schweinen rasant verbreiten und hatte bis 2018 praktisch alle anderen Grippeviren in den Ställen verdrängt. Eine neue Grippevariante bei Schweinen - wie ungewöhnlich ist das? Das kommt immer wieder vor. In dänischen Schweineställen wurde 2017 ein neues Grippevirus gefunden, das ebenfalls eine Neukombination aus drei unterschiedlichen Grippestämmen darstellt. Was die Forscher in China jetzt aber festgestellt haben: Die G4-Variante lässt sich ziemlich effektiv in menschlichen Lungenzellen vermehren. Sie haben das Virus auch in Frettchen getestet, die in der Grippeforschung oft als Stellvertreter für Menschen genutzt werden - und da verbreitet sich G4 leicht von Tier zu Tier. Das lässt schon aufmerken. Die Forscher in China haben auch über die Jahre immer wieder Blutproben von Arbeitern in Schweineställen untersucht. Und bei den über 300 Proben waren zehn Prozent positiv. Das heißt, diese Arbeiter hatten irgendwann einmal eine Infektion mit diesen G4-Influenzaviren durchgemacht. Bei der Allgemeinbevölkerung aus der Gegend lag der Wert immerhin noch bei vier Prozent. Hier waren sich allerdings die Experten, mit denen ich gesprochen habe, einig, dass so ein Antikörpertest, mit das erfasst wurde, nicht unbedingt auf eine Infektion mit genau diesem G4-Virus hinweisen muss. Diese Tests reagieren manchmal auch auf andere Viren. Entscheidend ist der Nachweis des Virus selbst bei menschlichen Patienten. Es gab früher schon Berichte aus chinesischen Krankenhäusern über zwei Patienten, die tatsächlich eine schwere G4-Infektion durchgemacht haben. Ein 46-jähriger Mann ist sogar daran verstorben. Aber er hat niemanden angesteckt. Wie groß ist das Risiko einer Pandemie? Ich habe mit einem Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Influenza am Robert-Koch-Institut gesprochen. Der hat darauf hingewiesen, dass Schweinegrippeviren immer wieder auch Menschen infizieren und bei den Betroffenen dann auch Krankheitssymptome hervorrufen. Aktuell wird gerade ein Fall in Deutschland untersucht. Auch der Virologe Timm Harder vom Friedrich-Loeffler-Institut auf der Insel Riems sieht das so. Von ihm und seinen Kollegen erscheint demnächst eine Arbeit, die im Grunde ganz ähnliche Beobachtungen bei Schweinen in europäischen Ställen dokumentiert. Es finden sich verschiedene Grippeviren in den Populationen, die untereinander auch Elemente austauschen und neu kombinieren; diese Viren können menschliche Lungenzellen infizieren und werden zwischen Frettchen übertragen; sie infizieren auch gelegentlich Menschen und verursachen dabei auch Symptome. So eine Infektion ist meldepflichtig und das RKI informiert dann auch die Weltgesundheitsorganisation. Entscheidend für das Potenzial, eine Pandemie auszulösen, ist aber: Werden diese Viren effektiv von Mensch zu Mensch verbreitet - wie etwa die Schweinegrippe H1N1 im Jahr 2009? Und zweitens: Wie häufig führen sie zu schweren Krankheitsverläufen. Beides zeichnet sich derzeit weder beim G4-Virus aus China noch bei den Schweinegrippeviren in Europa und auf anderen Kontinenten ab. Alle Experten sagen deshalb: Grippeviren haben grundsätzlich das Potential, eine neue Pandemie auszulösen. Aber welche der vielen Varianten in den Ställen und bei Wildtieren, das am Ende auch tatsächlich schaffen wird, ist schwer zu sagen. Wozu raten die Fachleute jetzt? Es spricht alles dafür, die Situation in den Ställen in China und anderswo aufmerksam zu verfolgen - um schnell zu entdecken, wenn sich dieses Virus in eine ungünstige Richtung weiterentwickeln sollte. Tim Harder vom Friedrich-Loeffler-Institut sagt: Das entscheidende Warnzeichen wäre, wenn ein solches Virus sich unter Menschen verbreitet - in Familien oder in einem Betrieb. Theoretisch könnte man auch Vorbereitungen für einen Impfstoff gegen G4 treffen. Das dürfte allerdings Ressourcen binden, die für die Impfung gegen die saisonale Grippe gebraucht werden. Die kommt ja sicher im Winter und wird die Probleme mit Covid-19 verstärken. Es heißt also: Wachsam bleiben! Aber vorerst sollten wir die Anstrengungen darauf konzentrieren, der Corona-Pandemie entgegenzuwirken.
Von Volkart Wildermuth
Chinesische Forscher warnen vor einem neuen Grippevirus bei Schweinen. Der Erreger namens G4 könnte künftig auch Menschen gefährlich werden. In China ist das Virus bereits vielfach von Schweinen auf Menschen übergesprungen - eine Verbreitung von Mensch zu Mensch wurde aber noch nicht nachgewiesen.
"2020-06-30T16:41:00+02:00"
"2020-07-02T09:39:26.528000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-schweinegrippevirus-droht-bald-die-naechste-pandemie-100.html
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Deutscher Craig Venter
Vitor Martins dos Santos leitet eine Forschergruppe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Er und seine Kollegen erforschen Bakterien der Gattung Pseudomonas. Das sind Allerweltskeime, die im Boden, im Wasser, aber auch im Menschen vorkommen. Um die Bakterien besser kennen zu lernen, wurde ihr Erbgut vollständig sequenziert. Aber die Aussagekraft der Genom-Sequenz ist begrenzt, betont Vitor Martins dos Santos. "Die Sequenzierung von einem Genom, das ist nur eine Liste von Bausteinen. Dann braucht man natürlich einen Bauplan; und diesen Bauplan gibt es nicht. Deshalb benutzt man mathematische Modelle oder sehr viele Experimente. Mit unterschiedlichen Ansätzen versucht man, diesen Bauplan zu erstellen."Das ist wie bei einem Auto, nur komplizierter, erklärt Vitor Martins dos Santos. Ein Auto auseinander zu nehmen und in seine Einzelteile zu erlegen, ist vergleichsweise einfach. Aber einen Konstruktionsplan zu erstellen, nach dem das Auto zusammengebaut werden kann, das erfordert die besten Ingenieure und heutzutage natürlich Computerhilfe. Martins dos Santos:"Wenn man ein Auto baut, dann erstellt man das Auto zuerst im Computer. Alle Teile eines Autos. Und am Ende sieht man: Welches sind die besten Kombinationen? Und wie passt alles am besten zusammen? Und dann wird das Auto gebaut."Die Bakterienkonstrukteure in Braunschweig sind dabei, einzelne Teile des Lebewesens Pseudomonas im Computer zu simulieren. Ihr erster Eindruck: Vieles ist komplizierter, als es sein müsste. Die Biologie schleppt Informationen mit sich herum, Gene, die sie im Alltag gar nicht braucht. In Extremsituationen jedoch könnten sie wichtig werden, überlebenswichtig. Martins dos Santos:"Diese vielen Gene geben dem Bakterium die Möglichkeit in vielen verschiedenen Umwelten zu leben, sehr viele Stoffe abzubauen, sehr viele Stoffe zu produzieren und so weiter. Aber im Prinzip braucht es das alles nicht zu jeder Zeit. Deshalb versucht man, einen Teil von diesem Genom wegzuschmeißen, so dass man das Genom von diesen Bakterien sozusagen vereinfacht."Die Idee dahinter ist einfach: Bakterien in einem Bioreaktor leben in einer gleichförmigen Umwelt. Die Gene, die sie auf alle Eventualitäten des Lebens vorbereiten, sind für sie nur Ballast. Biotechnologen wünschen sich einfache kleine Produzenten von bestimmten Biomolekülen, die sich nur auf eine Aufgabe konzentrieren. Vereinfachte, synthetische Bakterien müssten also im Bioreaktor ihren natürlichen Vorbildern überlegen sein – was ihre Produktionsleistung angeht. Vitor Martins dos Santos will also vereinfachte Formen bereits existierender Lebewesen konstruieren. Die Arbeit beginnt mit einem komplexen Pseudomonas-Bakterium, bei dem immer mehr Gene entfernt werden – bis eine Lebensform entsteht, wie sie die Natur nicht kennt. Künstliches Leben wäre das aber nicht – so Vitor Martins dos Santos. "Künstliches Leben, das gibt es im Prinzip nicht, denn Leben ist per Definition nicht künstlich. Denn die Bakterien sind da, und sie haben Millionen Jahre gebraucht, um zu sein, was sie jetzt sind. Und was man macht bei diesen synthetischen Biologie-Ansätzen ist, dieses Leben oder diese Evolution zu beschleunigen in eine bestimmte Richtung. Aber künstliches Leben ist das nicht."Im Unterschied zu den Braunschweiger Mikrobiologen will der US-Biotechnologe Craig Venter ein Lebewesen selbst zusammen bauen, im Labor. Auch er verwendet künstliche Vorbilder, will aber die Bauteile ohne Hilfe der Natur zusammen fügen. Ob das dann synthetische Nachahmung der Biologie ist? Oder die Schaffung künstlichen Lebens? Dieser feine Unterschied spielt für Craig Venter keine Rolle. Er will und wird der erste sein, der ein künstliches Lebewesen präsentiert. Auch wenn Vitor Martins dos Santos mit seiner vereinfachten Version von Pseudomonas-Bakterien schneller fertig sein sollte, den Titel als Schöpfer künstlichen Lebens will er dem Pionier aus den USA nicht streitig machen.
Von Michael Lange
Der durch die Entzifferung des menschlichen Genoms bekannt gewordene US-amerikanische Biotechnologe Craig Venter will künstliches Leben schaffen. Die ersten Schritte hat er getan, nun wartet alle Welt gespannt auf Nachrichten aus seinem Labor. Aber auch in Deutschland sollen neuartige, synthetische Bakterien entstehen. Auch wenn man hierzulande nicht so gern von „künstlichem Leben“ spricht.
"2008-07-30T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:47:56.001000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutscher-craig-venter-100.html
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Die Leere sinnlos füllen
Einschlafen vor dem Fernseher - das Programm der öffentlich-rechtlichen Sender, macht das diesen Sommer besonders einfach, meint Matthias Dell (imago images / Shotshop) Im Sommer sendet das Fernsehen traditionell Wiederholungen. Auch wenn keine Pandemie herrscht und die großen Sportereignisse ausfallen, mit denen sonst stundenlang Programm gemacht worden wäre. Beim "Tatort" ist das schon seit Jahren so, wobei die ARD-Pressestelle großen Wert darauf legt, dass es eben keine "Tatort"-Sommerpause gibt, sondern lediglich keine neuen Filme. Genau genommen muss man also von der "Tatort"-Erstausstrahlungspause sprechen. Für die "Tatort"-Erstausstrahlungspause 2020 hat sich die ARD etwas Besonderes überlegt, ebenfalls unabhängig von der Pandemie. Weil die beliebte Sendereihe, das Immer-noch-Prunkstück des Ersten, im Herbst 50 Jahre alt wird, darf das Publikum jede Woche seinen liebsten "Tatort" küren. "Tatort" statt SportDa in diesem Jahr Sportgroßereignisse ausfallen, sind bei ARD und ZDF im Sommer noch mehr Programmstunden zu füllen als sonst. Zu befürchten ist ein Festival der Wiederholungen. Ältere Filme traut man dem Publikum anscheinend nicht zu 50 Filme hat die ARD vorauswählen lassen, und zwar nach Quotenstärke, schön gerecht verteilt auf alle Sender des Verbundes. Und dann sollen die Leute abstimmen und die Folge mit den meisten Stimmen wird gesendet. Der Schmu bei der ganzen Sache ist: Der älteste Film im Angebot stammt von 1999. Das heißt, die ARD feiert eigentlich 21 Jahre "Tatort". Die Erklärung dafür lautet: Sehgewohnheiten. Dass, so die Annahme, Leute vor dem Fernseher Allergie, Herzinfarkt oder Übelkeit kriegen, wenn sie im Fernsehen einen Film entdecken, der nicht aussieht wie das immer gleiche Bewegtbild sonst. Es ist traurig, dass Menschen, die so denken, öffentlich-rechtliches Fernsehen verantworten dürfen. Nicht die einzige "Tatort"-Wiederholungsstrecke Wie langweilig das Ergebnis ist, lässt sich an den bisher gesendeten Wunsch-"Tatort"-Folgen ablesen. Bis auf die erste, eine misogyne Münchner Folge von 2003, handelte es sich um Darlings aus der letzten Zeit – um zwei Folgen mit Thiel und Boerne von 2015 und 2017 und eine aus Dortmund aus dem selben Jahr. Mit anderen Worten: um Filme, für die die ARD überhaupt keine Abstimmung gebraucht hätte, weil sie eh laufend wiederholt werden. Programmlücken bei ARD und ZDF - "Chance, kreativ zu sein"Die Coronakrise berge für ARD und ZDF die Chance, kreativ zu sein, sagte DWDL-Chefredakteur Thomas Lückerath im Dlf: "Hoffen wir, dass es nicht nur Krimiwiederholungen werden." Damit nicht genug der Rosstäuscherei! Am Freitagabend sendet die ARD aktuell eine weitere Strecke mit "Tatort"-Wiederholungen, die scheinbar ebenfalls dem Jubiläum gewidmet sind. Die ARD spricht nämlich von "Tatort-Klassikern" - Highlights wie "Blechschaden" von 1971, "Rot, rot, tot" mit Curd Jürgens oder den Berliner Experimental-Streich "Ein Hauch von Hollywood" vom Ende der neunziger Jahre sucht man dort aber vergebens. Genauso wie Geschichte: Die älteste bislang programmierte Folge datiert von 1996. Ganz am Ende der Reihe soll der erste Schimanski-"Tatort" gezeigt werden, der ist von 1981. Hamburg in der DDR Immerhin: Wohin diese Geschichtslosigkeit fährt, kann man aktuell auf der Website des öffentlich-rechtlichen Spartenkanals Phoenix sehen, wo für Donnerstag, den 16. Juli, die Ausstrahlung von Andreas Goldsteins schönem und unbedingt sehenswertem Dokumentarfilm "Der Funktionär" angekündigt ist – eine essayistische Auseinandersetzung des Sohnes mit dem Vater, Klaus Gysi, der Minister und Botschafter war in der DDR und ein Symbol dafür, wie das Land von seinen großen Idealen in graue Bürokratie hineingescheitert ist. Die Ankündigung zum Film auf der Homepage zeigt nun ein Schwarzweiß-Foto, unter dem steht: "Straßenszene in der DDR". Auf dem Bild sind Trabis und Wartburgs zu sehen, also Autos aus der DDR, aber hinter diesen Autos ist das Cafe Keese zu entdecken, eine Las Vegas-Spielhalle, das Hotel Hanseat, ein Sex-Kino. Bei der Straße handelt es sich um die Hamburger Reeperbahn. Bildungsauftrag, warum hast du uns verlassen? Hamburg liegt in der DDR. Und der "Tatort" wird dieses Jahr 21 Jahre alt. Matthias Dell, Jahrgang 1976, studierte Komparatistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Paris. Er schrieb von 2004 bis 2014 für das Medien-Watchblog "Altpapier" und veröffentlicht jeden Sonntag nach der Ausstrahlung eine Kritik zum aktuellen "Tatort" beziehungsweise "Polizeiruf" auf Zeit Online. 2012 erschien sein Buch "'Herrlich inkorrekt'. Die Thiel-Boerne-Tatorte" bei Bertz+Fischer.
Von Matthias Dell
"Tatort" in der Wiederholungsschleife - der Anblick des öffentlich-rechtlichen Fernsehsommers löst bei unserem Kolumnisten einen Gähnreflex aus. Ihn ärgert, wie wenig die Sender dem Publikum anscheinend zutrauen. Die Zuschauerinnen hätten zwar mitbestimmen, aber nicht wirklich etwas ändern können.
"2020-07-15T15:35:00+02:00"
"2020-07-17T09:56:53.941000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sommerloch-bei-ard-und-zdf-die-leere-sinnlos-fuellen-100.html
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SPD gewinnt, AfD liegt vor der CDU
Erwin Sellering, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern. (dpa / picture alliance / Bernd Wüstneck) Die Linke erreichte dem vorläufigen amtlichen Endergebnis zufolge 13,2 Prozent . Die Grünen gehören mit 4,8 Prozent künftig nicht mehr dem Landtag an. Auch die NPD wird aus dem Schweriner Schloss ausziehen: Sie erhielten laut der Hochrechnung 3,0 Prozent der Stimmen. Auch die FDP scheiterte mit 3,0 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. SPD-Chef Sigmar Gabriel will nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Thema soziale Sicherheit Wähler für seine Partei gewinnen. Er sagte in Berlin, nötig sei ein Solidarpakt für auskömmliche Renten, bezahlbare Wohnungen, Gesundheit und Pflege. Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry wertete es nicht als Problem, dass ein Teil der Wähler von der NPD zu ihrer Partei gewandert ist. Sie erklärte, die AfD habe aus allen Parteien Stimmen für sich gewinnen können. Dies sei ein deutliches Signal gegen die bisherigen Landtagsparteien. Linken-Chef Bartsch: "Bitteres Ergebnis" CDU-Generalsekretär Peter Tauber rief die SPD in Mecklenburg-Vorpommern auf, die große Koalition mit der CDU fortzusetzen und für stabile Verhältnisse zu sorgen. Linken-Chef Dietmar Bartsch sprach von einem bitteren Ergebnis für seine Partei und beschuldigte die AfD, das Land zu spalten. Der Grünen-Co-Vorsitzende Cem Özdemir betonte, alle demokratischen Parteien hätten die Flüchtlingspolitik gemeinsam getragen und müssten ihren Teil der Verantwortung für das Abschneiden der Rechtspopulisten übernehmen. Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu 2011 deutlich gestiegen. Damals hatte sie mit insgesamt 51,5 Prozent einen historischen Tiefpunkt erreicht. Diesmal waren 61,6 Prozent der Stimmberechtigten zur Wahl gegangen. Insgesamt waren gut 1,3 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, einen neuen Landtag zu wählen. 17 Parteien und sieben Einzelbewerber bewarben sich um die 71 Sitze im Schweriner Parlament. (cvo/tzi)
null
Die AfD hat bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Stand 20,8 Prozent der Wählerstimmen erreicht. Damit liegt sie vor der CDU, die bei 19,0 Prozent liegt. Stärkste Kraft ist demnach mit 30,6 Prozent die SPD. Die Wahlbeteiligung stieg im Vergleich zu 2011 um fast zehn Prozent auf 61,6 Prozent.
"2016-09-04T17:16:00+02:00"
"2020-01-29T18:51:22.338000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landtagswahl-in-mecklenburg-vorpommern-spd-gewinnt-afd-100.html
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Anhaltender Widerstand gegen Mega-Bauprojekt
Waterfront soll ein neues, von arabischen Investoren finanziertes Hafenviertel mit Luxuswohnungen und Shopping-Malls werden - in Belgrad protestierten die Menschen 2016 und auch 2017 dagegen. (AFP PHOTO / ANDREJ ISAKOVIC) Es sind wieder Maskierte unterwegs an diesem Abend in Savamala, Belgrads altem Hafenbezirk am Fluss Save. Marta und Jan, beide um die 40, haben ihre Phantom-Verkleidung spontan zu Hause aus alten T-Shirts genäht, ihre Form des Protests gegen das, was sich in Savamala in einer Nacht vor einem Jahr abgespielt hat: "Warum wir Masken tragen? Weil in jener Nacht Maskierte mit Bulldozern kamen und einfach mehrere Häuser platt gemacht haben. Und Leute, die gerade zufällig da waren, Passanten also, wurden zu Boden gestoßen, festgehalten, mussten ihr Handy abgeben. Viele konnten trotzdem die Polizei rufen, aber die kam einfach nicht. Niemand kam. Es war offensichtlich, dass die Polizei Order hatte, nicht einzugreifen. Das war eine illegale Aktion, gegen unsere Bürgerrechte, ein offener Angriff auf unsere Verfassung.” Proteste in Belgrad: "Die Stadt gehört uns" Rund 4.000 Menschen haben sich versammelt auf einem Platz in Savamala, Redner auf einer Bühne wettern gegen Aleksandar Vučić, der am 2. April zum neuen serbischen Präsidenten gewählt worden ist. Seitdem reißen die Proteste in Belgrad gegen den Premier nicht ab. Und auch an diesem Abend sind wieder Plakate zu sehen, auf denen steht: "Vučić, du Bandit” oder "Die Stadt gehört uns”. Aus der Menge ragt eine fünf Meter hohe gelbe Plastikente hervor, das Symbol der Proteste gegen die "Nacht der Phantome” vor einem Jahr und das damit verbundene Mega-Bauprojekt an der Save: die "Waterfront”. Auf einer 180 Hektar großen Fläche soll in Savamala, ein völlig neues Luxuviertel mit Wohnungen, Shopping-Malls und Parkanlagen entstehen, für angeblich drei Milliarden Euro. Doch die Verträge mit den arabischen Investoren sind geheim, niemand kennt die genauen Baupläne und: Niemand habe vor allem die Bürger Belgrads um ihre Meinung gefragt, kritisiert Slobodan Georgiev. Der Journalist vom unabhängigen, balkanweit tätigen Medien-Netzwerk BIRN steht genau an der Stelle, wo im Jahr 2016 Häuser zerstört wurden: "Am Anfang richteten sich die Proteste ja nur gegen die "Waterfront" selbst, weil die Regierung einfach entschieden hat: Wir nehmen uns diesen Teil der Stadt und überlassen das Ganze irgendwelchen Investoren. Niemand wurde da gefragt, weder wir als Bürger der Stadt Belgrad noch Experten oder Architekten. Die zerstörten Häuser, die hier auf dem umzäunten Gelände standen, haben die Proteste dann nur noch mehr angeheizt. Vučić hat sich dann einige Tage später vielsagend zu der Sache geäußert: Man hätte das am Tage machen sollen, dann hätte er selbst, der Ministerpräsident, sich auf einen Bulldozer gesetzt und beim Abriss der Häuser geholfen zum Wohle und Fortschritt des Landes.” Ermittlungen der Justiz scheinen im Sande zu verlaufen Noch-Premier und Präsident in spe Vučić hat sogar mehrfach eingeräumt, er wisse, dass hinter der Nacht-und-Nebel-Aktion hochrangige Vertreter der Stadt steckten. Geschehen ist seitdem allerdings nichts, die Ermittlungen der Justiz scheinen im Sande zu verlaufen. Zu wichtig scheint das Prestige-Objekt im Herzen Belgrads, eine der aktuell größten Baustellen Europas. Und so klingt auch die Einschätzung Mihailo Vesovićs, Vizechef der serbischen Industrie- und Handelskammer: Belgrad ist für Serbien die wichtigste Marke "Das Waterfront-Projekt ist ein wichtiger Baustein, wenn es um Belgrad als Business-Standort und Touristenziel geht. Und: Belgrad ist für Serbien nun mal die wichtigste Marke, die wir verkaufen: 99 Prozent der Menschen, die etwas mit unserem Land zu tun haben, die hierher kommen, machen ihre erste und wichtigste Erfahrung in Belgrad. Und darum sind solche Projekte wichtig, weil sie auch eine Sogwirkung auf neue Investoren aus dem Ausland haben.” Die Demonstranten ziehen an diesem Abend noch durch die Belgrader Innenstadt. Studenten aus ganz Serbien, die seit einem Monat in der Hauptstadt gegen den 'despotischen' Regierungsstil von Aleksandar Vučić protestieren, schließen sich dem Zug an. Auch der 30-jährige Vladen ist mit einigen Mitstreitern aus Novi Sad nach Belgrad gekommen: "Wir haben keinen Rechtsstaat in Serbien, keine freien Medien. Darum sind wir heute hier. Wir wollen nicht, dass alle Macht in den Händen eines Mannes liegt, in den Händen von Vučić!”
Von Christoph Kersting
Seit Wochen demonstrieren in Belgrad Menschen gegen den neu gewählten Präsidenten Aleksandar Vučić. Kürzlich jährte sich die "Nacht der Phantome", bei der in einer geheimen Aktion Häuser im Hafengebiet weichen mussten. Vermutlich, um einem geplanten Luxusviertel zu weichen. Ermittlungen der Justiz scheinen im Sande zu verlaufen.
"2017-05-04T09:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:26:15.870000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/belgrad-anhaltender-widerstand-gegen-mega-bauprojekt-100.html
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COVID-19 ist deutschlandweit präsent
Abstand halten, Maske auf, Händewaschen bleiben weiter die Corona-Grundregeln (imago images / Future Image) An diesem Montag (10.08.) meldet das Robert Koch-Institut 436 Neuinfektionen. Waren die höheren Zahlen der Vortage kurze Ausrutscher? Wohl leider nicht. Die Zahlen schwanken im Wochenverlauf. Sonntag und Montag liegen sie immer besonders niedrig, steigen dann im Lauf der Woche an. Am Freitag und Samstag liegen sie am höchsten. Das liegt an der Auswertung der Gesundheitsämter. Die testen zwar, melden aber die Zahlen nicht so schnell weiter. Coronavirus - Aktuelle Zahlen und EntwicklungenWie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Wie die Zahlen zu bewerten sind – ein Überblick. Deshalb muss man den heutigen Montagswert mit 436 Neuinfektionen mit anderen Montagszahlen vergleichen. Mitte Juli wurden da nur 159 gemeldet. Die Werte liegen also mehr als doppelt so hoch, und das gilt für das Ende vergangener Woche mit Werten über 1.000 genauso wie für den Sonntag und den Montag. Es ist zu befürchten, dass die Zahlen im Verlauf der Woche weiter deutlich steigen. Wie wichtig ist vor diesem Hintergrund die Reproduktionszahl R? Der R-Wert beschreibt nicht die aktuelle Entwicklung der Neuinfektionen, sondern die Trends vor ein, zwei Wochen. Damals war die Epidemie relativ stabil, aber auf eher niedrigem Niveau. Gerade unter diesen Bedingungen haben kleine Abweichungen, etwa wegen eines Meldeverzugs, großen Einfluss auf den R-Wert. Der schwankt deutlich. Das zeigt sich auch im Unsicherheitsbereich. So langsam nimmt der R-Wert den Anstieg der Zahlen in den Blick und wird heute vom RKI auf den Bereich zwischen 1,03 und 1,52 geschätzt. Steigt der R-Wert über 1, breitet sich die Epidemie tendenziell aus. Und das obwohl die aktuellen Zahlen fallen. Das ist kein Widerspruch, einzelne Zahlen können in die Irre führen, deshalb ist es wichtig, unterschiedliche Maße zu betrachten und vor allem zu gucken: Wohin geht der Trend. Laut RKI sind immer weniger Kreise in Deutschland frei von COVID-19. Was bedeutet das? Die Bedeutung großer Ausbrüche wie etwa im Fall Tönnies nimmt tendenziell ab. Das Virus konzentriert sich nicht, es findet sich an vielen Orten diffus verteilt. Das spiegelt sich eben darin wider, dass die Zahl der Kreise, die eine Woche lang gar keine Neuinfektion registriert haben, beständig gesunken ist, auf jetzt unter 50 von 401 Kreisen und kreisfreien Städten. Wenn es jetzt aber an vielen Stellen zu kleinen Ausbrüchen kommt, dann ist das für die Amtsärzte eine Herausforderung. Die Vorstellung, dass das Virus nicht in kleine Gemeinden gelangt, ist eine Illusion. Was viele Gesundheitsämter beobachten, ist, dass kleine Ausbrüche auf Reisende zurückgehen. Von daher kommen die Infektionen auch keineswegs nur aus Risikogebieten, sondern auch aus vielen Urlaubsländern. Wie können die Behörden auf die veränderte Situation reagieren? Testen ist in jedem Fall eine gute Maßnahme. Die überwiegende Mehrzahl der Ansteckungen findet nach wie vor innerhalb Deutschlands statt. Das heißt für alle: Abstand halten, Maske auf, Händewaschen, Lüften. Gesundheitsminister Jens Spahn hat angemerkt: Fallzahlen um die 1.000 können die Gesundheitsämter bewältigen. Das heißt: Person isolieren, Kontaktpersonen finden, ebenfalls isolieren und testen. Wenn die Zahlen steigen, wird das schwierig. Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte) Der Virologe Christian Drosten schlägt eine etwas andere Strategie vor: Wenn jemand positiv getestet wird, dann sollte zunächst abgeklärt werden, ob die Person an einem Ort war, wo andere leicht angesteckt werden konnten. Zum Beispiel auf einer Party, bei einem Gottesdienst oder am Arbeitsplatz. Das sind Situationen, wo es zu Superspreader-Ereignissen kommen kann. Die Kontaktpersonen sollten dann direkt für fünf Tage in Quarantäne und erst dann getestet werden. So könnten viele Übertragungen mit vergleichsweise kleinem Aufwand verhindert werden. Allerdings müssten sich dann auch viele Personen isolieren.
Von Volkart Wildermuth
Die Zahl der Neuinfektionen lag bundesweit mehrere Tage lang über 1.000. Die Zahlen waren kein Ausrutscher, sondern deuten auf einen Trend hin. Das Virus konzentriert sich nicht, sondern ist an vielen Orten diffus verteilt. Es gibt nur noch wenige Regionen, wo aktuell keine Fälle registriert wurden.
"2020-08-10T16:35:00+02:00"
"2020-08-11T08:59:25.008000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/entwicklung-der-corona-pandemie-covid-19-ist-100.html
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Mehr offene Stellen als Bewerber
Deutschland gehen Ingenieure und Techniker aus. (picture alliance / ZB / Matthias Hiekel) Deutsche Ingenieurskunst und deutsche Technik hat weltweit einen hervorragenden Ruf - aber der ist gefährdet. Deutschland gehen nämlich die Ingenieure und Techniker aus. Für Sylvia Löhrmann, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, wäre das eine Katastrophe: "Nicht nur unsere Kinder und Jugendlichen, sondern auch wir selbst können uns unser alltägliches Leben ohne Internet, Computer, Handys, spritsparende Automobile, Arzneimittel und weitere naturwissenschaftlich-technische Errungenschaften nicht mehr vorstellen. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik liefern uns patente Lösungen für unseren Alltag." Fachkräftemangel deutlich zugenommen Schule, Uni und Wirtschaft müssen an einem Strang ziehen, wenn es auch in Zukunft ausreichend Nachwuchs in den technischen Berufen geben soll. Darin sind sich die Experten auf dem 2. Nationalen MINT-Gipfel in Berlin einig. Im MINT-Forum vertreten sind unter anderem die deutsche Hochschulrektorenkonferenz, Arbeitgeberverbände und die Industrie und Handelskammern. Es gibt bereits etliche MINT-Initiativen in Deutschland. Aus gutem Grund. Es fehlen rund 100.000 Arbeitskräfte im sogenannten MINT-Bereich, also aus Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Es fehlen sowohl Akademiker als auch Fachkräfte aus dem beruflichen Bereich. Überall gibt es erheblich mehr offene Stellen als Bewerber, Dringend müssen also neue Reservoires erschlossen werden, sagt Ortwin Renn, Ordinarius für Umwelt- und Techniksoziologie an der Uni Stuttgart. "Ein Reservoir sind sicherlich die Frauen, die immer noch sehr unterrepräsentiert sind, zweites Reservoir sind die Immigranten und das dritte sind eben die Familien, die bislang eher bildungsfern waren und von denen wir glauben dass wir sie gerade mit Technik vielleicht eher noch begeistern können als mit anderen Fächern." Bereits möglichst früh muss deshalb Kindern der Spaß an Naturwissenschaft und Technik vermittelt werden. Einfach ist das nicht. Eva Nicolin-Sroka ist Lehrerin für Informatik und Mathematik am Gymnasium Schloss Neuhaus in NRW und Gewinnerin des deutschen Lehrerpreises 2009. Sie versucht, durch einen ausgeprägten Praxisbezug für ihre Fächer Begeisterung zu vermitteln: "Ich versuche, meinen Schülern Türen zu öffnen, gerade aus dem Informatikunterricht muss ich sie in die Wirklichkeit führen, muss ich die engen Grenzen der Schule überwinden. Und ich bin sehr viel bei Unternehmen unterwegs mit Schülern und zeige ihnen, welchen Sinn und Hintergrund das hat, was sie jetzt in Grundlagen lernen und versehe das Ganze einfach mit dem realen Leben." Um Mädchen bei der Stange zu halten, sollte man sich in Schulen und Unis auch mehr Gedanken um Didaktik in den technischen Fächern machen, meint Ortwin Renn von der Universität Stuttgart. "Also es geht immer um Autos, um Raumfahrt, um Maschinen und wir haben ganz bewusst vor Jahren mal so ein Programm gemacht mit Textilkunde, also mit ganz anderen Dingen, vor allem kreativen Bereichen, also sehr viel mehr auch im Physikunterricht, dass man konstruiert, dass man Dinge selber baut, das kommt bei Mädchen sehr gut an." Auch Studierende aus dem Ausland benötigt Besonders wichtig ist die Unterstützung interessierter Schülerinnen und Schüler beim Übergang in die Uni. Ohne Studierende aus dem Ausland wird es aber nicht gehen, sagt MINT-Sprecher Prof. Henning Kagermann. Hier gelte es, die künftigen MINT-Studenten erst nach Deutschland zu locken und dann auch zum Bleiben und zum Arbeiten in Deutschland zu bewegen. Henning Kagermann ist selber theoretischer Physiker und Präsident der der deutschen Akademie der Technikwissenschaften. "Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, macht doch die Regionen in Deutschland attraktiv, zeigt nicht nur die Uni, zeigt, da gibt es auch Arbeitnehmer, da gibt es auch Großforschungsinstitute, so komm in diese Gegend und das sind deine Chancen. Das Zweite war, dass wir uns nicht genügend kümmern um die Leute, auch die kulturellen Unterschiede nicht so wahrnehmen, dass es auch zu kompliziert ist, hier ein Studium anzufangen, hinterher die Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Also eine ganze Reihe von Punkten, die eigentlich bekannt sind und die müssten in einem Bündel eigentlich mal verbessert werden." Von den ausländischen Hochschulabsolventen bleibt gerade mal ein Viertel in Deutschland und viel zu viele Studierende brechen ihr Studium vorzeitig ab - deutsche genauso wie ausländische. Immerhin: Der Anteil aller Studienanfänger mit einem MINT-Fach ist von 36 Prozent 2006 auf 39 Prozent gestiegen.
Von Anja Nehls
Schule, Uni und Wirtschaft müssen an einem Strang ziehen, wenn es auch in Zukunft ausreichend Nachwuchs in den technischen Berufen geben soll. Darin sind sich die Experten auf dem 2. Nationalen MINT-Gipfel in Berlin einig. Es fehlen rund 100.000 Arbeitskräfte im sogenannten MINT-Bereich, also aus Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
"2014-05-08T14:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:39:55.315000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mint-gipfel-mehr-offene-stellen-als-bewerber-100.html
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Plan für Olympia-Bewerbung steht
DOSB-Präsident Thomas Weikert ist mit großer Mehrheit im Amt bestätigt worden. (Michael Reichel/PA/DOSB/dpa)
Schweizer, Marina; Rieger, Maximilian
Das Präsidium des Deutschen Olympischen Sportbundes ist bestätigt worden. Die Mitgliederversammlung hat außerdem für einen Plan gestimmt, der den Weg für eine Bewerbung für Olympische Spiele vorgibt.
"2022-12-03T19:32:05+01:00"
"2022-12-03T21:13:45.489000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dosb-mitgliederversammlung-praesidium-gewaehlt-olympia-strategie-beschlossen-dlf-aa985664-100.html
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Vergessene Stars: En-Hedu-Anna
Um das Jahr 2300 vor Christus war En-Hedu-Anna die führende astronomische Priesterin in Mesopotamien. Sie war die Tochter des Königs Sargon und stand dem Tempel der Mondgöttin Nanna in der Stadt Ur vor. Auf Keilschrifttafeln sind viele Gedichte und Tempelhymnen von En-Hedu-Anna überliefert. In einem Text beschreibt sie, wie sie den Lauf des Mondes beobachtet, der die kosmische Ordnung vorgibt. Der Mond spielte offenbar schon damals eine Rolle als Taktgeber des Kalenders. In einem anderen Vers geht es darum, wie sie den Himmel vermisst und die Erde erkundet. En-Hedu-Anna betrieb sowohl Astronomie als auch Landvermessung und Ackerbau. In einem längeren Gedicht preist sie die Göttin Inanna, die am Himmel vom Planeten Venus repräsentiert wird. Schon damals war den Sumerern bekannt, dass die Venus mal als Abend- und mal als Morgenstern leuchtet. En-Hedu-Anna heißt wörtlich übersetzt 'führender Schmuck des Himmels'. Sie steht am Beginn einer fünfhundert Jahre andauernden Periode, in der immer Königstöchter die Hohepriesterinnen des Mondtempels gewesen sind. En-Hedu-Anna gilt als die erste Gelehrte der Menschheitsgeschichte, von deren Schriften wir Kenntnis haben. Aber natürlich haben schon lange vorher Frauen und Männer die Vorgänge am Firmament verfolgt – nur sind uns deren Namen nicht bekannt.
Von Dirk Lorenzen
Heute Abend steht der Halbmond oberhalb von Antares im Skorpion – in den kommenden Nächten zieht er quer durch die Milchstraße im Schützen. Wie der Mond über den Himmel läuft, haben schon sumerische Priesterinnen und Priester verfolgt, so auch En-Hedu-Anna.
"2014-09-02T02:05:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:28.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/astronomie-vergessene-stars-en-hedu-anna-100.html
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Soziologe Jürgen Prott sucht gesellschaftlichen Kitt
"Solidarität, wenn sie als kämpferisches Füreinandereinstehen herausgefordert ist, lässt sich nicht so einfach einschalten und abschalten wie einen Lichtschalter." (imago / Panthermedia) Wer in diesen Zeiten über Solidarität spricht, muss natürlich über Corona sprechen. Die Gabenzäune für Hilfsbedürftige, die Einkaufshilfen für Ältere, die Notwendigkeit einschränkender Maßnahmen! Selten, so schien es, hat sich das Solidarische in unserer Gesellschaft so direkt und allumfassend gezeigt, waren Hilfsbereitschaft, Rücksicht und Anteilnahme so deutlich spürbar gewesen. Doch selbst in dieser Phase des sichtbaren Für- und Miteinanders offenbarte die Solidarität auch ihr Konfliktpotenzial, analysiert der Soziologe Jürgen Prott in seinem neuen Buch. "Wer unverschuldet in Not gerät, der soll sich in unserer Gesellschaft auf großzügige Barmherzigkeit verlassen können. Solidarität aber, so belehren uns manche Politiker, ist noch einmal etwas anderes. Die gibt es nämlich nicht umsonst. Sie ist auch keine Einbahnstraße. Man muss sich Solidarität durch normgerechtes Sozialverhalten verdienen […] Solidarität, das lehrt dieses Beispiel, erschöpft sich nicht im selbstverständlichen Einvernehmen. Sie ist ein Konfliktfall." "Vorwärts, nicht vergessen…" Konfliktgeladen war die Solidarität bereits in den frühen Jahren der Arbeiterbewegung. Die vielbeschworene Solidarität der Gleichgesinnten, die nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, brauchte einen Gegner - das Kapital, den Klassenfeind, die Unterdrücker. Solidarität galt als Stärke, als konstituierend für die Gemeinschaft und als geradezu euphorisierend im revolutionären Kampf, wie im "Solidaritätslied" von Bertolt Brecht und Hanns Eisler aus dem Jahr 1932 deutlich zu hören ist. In liberalen Gesellschaften westlichen Zuschnitts, so Prott, habe sich jedoch der Grundsatz der Freiwilligkeit in den Vordergrund gedrängt. Wenn der verinnerlichte Zwang sozialer Gemeinschaften zum kollektiven Handeln durch freiwillige Zugehörigkeiten durchsetzt wird, werde Solidarität als "durchaus zerbrechlich" empfunden. Deshalb habe sich im Arbeitermilieu und bei manchen Gewerkschaftern eine gewisse "Lagermentalität" herausgebildet. "Mitgliedschaften als Resultat freier Entscheidungen des Einzelnen sind vielen traditionalistischen Gewerkschaftern bis heute ein Dorn im Auge. Wer nicht dazugehört, kann keine guten Gründe haben. Er ist ein ‚Trittbrettfahrer‘, also prinzipiell unsolidarisch. […] Vielleicht ist hier eine Art Urangst der Arbeiterbewegung vor dem Liberalismus am Werk." Ökonomisches Weltsystem - Postkapitalistische PerspektivenZum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit leben wir in einem echten Weltsystem: dem Kapitalismus. Er ist dabei, sich zu Tode zu siegen. Der Ausstieg aus der heißlaufenden Maschine Kapitalismus stellt eine gewaltige Herausforderung dar. Die veränderte Rolle der Gewerkschaften Als Gewerkschaftssoziologe legt Jürgen Prott den Schwerpunkt seines Buches auf Arbeitnehmersolidarität. Anhand von anschaulichen, selbst erlebten und fiktiven Beispielen beschreibt er Kollegialität und soziales Miteinander am Arbeitsplatz. Mithilfe von Interviews und Gesprächen, die er mit Beschäftigten und Betriebsräten geführt hat, zeigt er, wie sich in modernen Gesellschaften die Rolle der Gewerkschaften verändert hat. Die stets kampfbereiten Arbeitnehmervertreter haben sich zu institutionalisierten Konfliktpartnern entwickelt, die in Krisenzeiten auch mal das Wohl des großen Ganzen über ihre Gruppeninteressen stellen. Eine früher undenkbare "Entgrenzung des Solidarischen", stellt Jürgen Prott fest. "Wir erkennen an diesem Beispiel veränderter Konfliktkonstellationen in der Arbeitswelt, dass es zu kurz greift, Solidarität als gelebte Zwischenmenschlichkeit in den Grenzen des vormodern Gemeinschaftlichen gefangen zu sehen. […] Die Solidarität, so sagte es ein Teilnehmer eines Gesprächs unter Gewerkschaftern, ‚ist eher ein Auslaufmodell.‘" Wo es an Solidarität fehlt Als Beispiel für bröckelnde Solidarität dienen Jürgen Prott die "Fridays for Future"-Proteste, die sich gegen den weiteren Abbau von Braunkohle richten. Wer solidarisiert sich angesichts der berechtigten Forderungen junger Menschen nach einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes mit den Braunkohlebeschäftigten? Immerhin 30.000 Menschen, Angestellte in der Energiewirtschaft und Sympathisanten, konnten die Gewerkschaften im Herbst 2019 mobilisieren, um für die Zukunft ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren. Doch der Protest fiel im Vergleich zu den "Fridays for Future"-Demos einigermaßen uninspiriert aus. Die Demonstranten waren in gecharterten Bussen gut versorgt mit Lunchpaketen wie zu einem Ausflug zur Kundgebung gekarrt worden. Danach war von "gekaufter Solidarität" die Rede. Das Fazit von Jürgen Prott: "Solidarität, wenn sie als kämpferisches Füreinandereinstehen herausgefordert ist, lässt sich nicht so einfach einschalten und abschalten wie einen Lichtschalter. Jedenfalls dann nicht, wenn der Gegner nicht in der vertrauten Gestalt des tarifpolitischen Kontrahenten daherkommt, sondern als buntes Konglomerat von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich vom Rückenwind der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung kräftig beflügelt sehen." Auch wenn Jürgen Protts Fokus auf Arbeitnehmersolidarität auf Dauer etwas eng wirkt und seine beispielhaften Erzählungen oft zu episch geraten, sind seine Ausführungen über solidarisches Handeln gestern und heute äußerst anregend. Das liegt vor allem daran, dass er den Begriff des Solidarischen schärft, indem er die damit verbundenen Handlungsdispositionen als konfliktgeladen betrachtet. Solidarität, so Prott, sei nun mal der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Insofern ist es wichtig, genau hinzuschauen, wenn der Zusammenhalt in Zeiten zunehmender Individualisierung brüchig zu werden droht. Jürgen Prott: "Konfliktfall Solidarität. Geschichten und Analysen aus einer erschöpften Lebenswelt",Steidl Verlag, 368 Seiten, 24 Euro.
Von Ralph Gerstenberg
Welchen Stellenwert und welche Funktion hat Solidarität in einer Gesellschaft, die eher den persönlichen Ehrgeiz und Erfolg wertschätzt? Dem geht der Gewerkschaftssoziologe Jürgen Prott auf den Grund – in seinem Buch "Konfliktfall Solidarität".
"2020-12-21T19:15:00+01:00"
"2020-12-22T11:50:42.702000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/solidaritaet-soziologe-juergen-prott-sucht-100.html
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Der schwierige Weg zu einem neuen Transsexuellenrecht
Geschlechtliche Identitätsfindung ist oft ein langer und schwieriger Prozess. Durch das geltende Transsexuellengesetz kommen noch bürokratische Hürden hinzu. (picture alliance / chromorange / Matthias Stolt) "Dann habe ich gesagt, okay, ich fühle mich immer noch gut, ich habe immer noch genug Selbstvertrauen, diesen Schritt jetzt zu gehen, um zu sagen, ich will die komplette Personenstandsänderung und die komplette Namensänderung." Charlotte Jerke ist Mitte 30, als sie sich dafür entscheidet, dass nun in Zukunft auch in ihrem Ausweis ihr Name und als Geschlecht "weiblich" stehen soll – bis dahin war sie zumindest noch auf dem Papier ein Mann. Welchen Weg eine Person nehmen muss, um Vornamen und Geschlechtseintrag offiziell ändern zu lassen, gibt das Transsexuellengesetz vor. Betroffene wie Charlotte Jerke müssen, Stand heute, dafür zwei Gutachten vorlegen, die bestätigen, dass sie dauerhaft Geschlecht und Vornamen ändern wollen. Für das Verfahren zuständig sind Amtsgerichte. Zumindest noch. Denn seit Jahren wird über eine Reform beziehungsweise Abschaffung des Gesetzes gestritten. Aber auch in dieser Legislaturperiode deutet sich keine Einigung an. Lässt sich Identität begutachten? Gestritten wir vor allem darum, inwieweit die Betroffenen selbst über ihre geschlechtliche Identität bestimmen können oder ob sie für die sogenannte Namens- und Personenstandsänderung einen Nachweis brauchen – der bislang aus den beiden Gutachten besteht, die von vielen Betroffenen als entwürdigend empfunden werden. Dr. Gisela Wolf ist Teil einer verhaltenstherapeuthischen Gemeinschaftspraxis in Berlin, erstellt selbst solche Gutachten und spricht von einer peinlichen Rolle, die die begutachtende Person habe. "Man muss dann drei Fragen, die vom Gericht gestellt werden, beantworten. Die erste ist: Ist die Person wirklich trans? Die zweite, ob das seit drei Jahren so ist, und die dritte ist, ob das in die Zukunft stabil bleiben wird." In der Regel sei es so, dass die Person diese Fragen seit Jahren mit sich herum trage und mit "Ja" beantworten könne, sagt Gisela Wolf. "Die Problematik ist aber, dass man dann noch irgendwelche psychologischen Verrenkungen vollziehen muss, um nach außen zu demonstrieren, dass die Selbsteinschätzung der Person auch eine Fachperson überzeugt. Und je nachdem wie transfreundlich oder transfeindlich die Fachperson ist, lässt sie halt die begutachtete Person mehr oder weniger zappeln." Die Gutachter und Gutachterinnen würden außerdem in Situationen gebracht, erklärt Wolf, in denen sie so tun müssen, als könnten sie etwas beurteilen, nämlich die Identität eines Menschen, was nach fachlichem Ermessen aber von außen nicht beurteilbar sei. Ich bin trans. Sicher?Die Akzeptanz von Menschen mit einer Transidentität wächst und mit ihr die Zahl derer, die ihr Geschlecht angleichen. In jüngster Zeit hört man aber auch von trans*Menschen, die ihre Entscheidung bereuen. Dürfen Ärzte Jugendlichen deshalb eine Behandlung verwehren? Darüber ist ein Streit entbrannt. "Mehrwert dieser Gutachten geht gegen Null" Auch Charlotte Jerke hat diesen Prozess durchlaufen. Viele Transpersonen beschreiben diesen als belastend. Das tut Transfau Jerke nicht, es sei aber ein organisatorischer Aufwand gewesen. "Was ich eher diskriminierend fand, waren diese pathologisierenden Fragen dazu. Also du musstest tatsächlich drei verschiedene Fragebögen vorher ausfüllen zum Thema psychische Erkrankungen, zum Thema Lebenszufriedenheit, körperliche Zufriedenheit, Hobbys, Familien…" Ein Gutachten erstellte die Therapeutin von Charlotte Jerke, die sie seit Jahren kennt. Als unangenehm empfand sie allerdings das Gespräch mit dem zweiten, ihr unbekannten Gutachter. "Und der zweite Gutachter, der war megasensibel und meganett, aber trotzdem ist es ein bisschen komisch, sich eine Stunde lang über intime Sachen mit einer wildfremden Person zu unterhalten, und wo ich mir immer gedacht habe, der schreibt mir ja letztendlich das Gutachten, und wenn er was 'Falsches' schreibt, kriege ich diese Namensänderung nicht. Das heißt, ich habe mich schon sehr angebiedert, weil ich will dieses Gutachten ja unbedingt haben." Kalle Huempfner vom Bundesverband trans*, der für geschlechtliche Vielfalt und Selbstbestimmung eintritt, bezeichnet diese Gutachten als Gängelung, weil diese zu 99 Prozent dem entsprächen, was die Transperson vorher schon über sich gesagt habe. "Das heißt der Nutzen, der Mehrwert von diesen Gutachten geht gegen Null. Und gleichzeitig verzögert das den Prozess, bis Transpersonen den Namen und Personenstand ihrem eigenen Empfinden angleichen können." Zudem sei der Prozess teuer, sagt Huempfner. Im Schnitt gehe es um 2.000 Euro pro Person. Charlotte Jerke erzählt, sie habe vom Amtsgericht einen Brief bekommen, dass sie 1.600 Euro innerhalb einer Woche überweisen müsse, weil sonst der Antrag verfalle. Da die Prozesskostenhilfe abgelehnt worden war, hat sie am Ende Crowdfunding gemacht, also das Geld online gesammelt. Entdeckung der eigenen Identität Als trans gilt eine Person, die im Laufe ihres Lebens feststellt, dass sie sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlt, als demjenigen, das in ihrer Geburtsurkunde steht. Jerke: "Ich glaube, es gibt diesen Punkt, wo Transpersonen aufwachen und sagen, das ist es, so bin ich, ab heute habe ich die Kraft dafür und hab auch die Worte dafür. Bei mir war es absolut nicht so. Bei mir war es schleichend." So hat Charlotte Jerke Kindheit und Jugend als Junge verbracht: "Ich bin zu Fasching als Mädchen gegangen und fand das wunderbar, in der Grundschule damals, das war total genial. Ich war in der Tanz-AG, war dort die einzige männlich gelesene Person. Ich hab mich so wohl gefühlt. Aber das war für mich nie ein Indiz dafür, dass ich auch eine Frau bin. Und das lag definitiv auch an meiner Erziehung und auch an meinem Bildungsstand. Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt. Wenn ich das wissen würde, also ich hab diesen Gedanken gar nicht zugelassen, dass ich tatsächlich auch eine Frau oder ein Mädchen bin." Erst im Studium habe sich das geändert, sie habe zum ersten Mal von Transfrauen und Transmännern gehört, habe auch zum ersten Mal Kontakt zu Transpersonen gehabt: "Und ich dachte mir so, wow, ja, endlich gibt mir jemand eine Sprache, damit ich das artikulieren kann, was ich tatsächlich fühle." Danach folgten kleine optische Veränderungen. Jerke arbeitete nach dem Studium an einer kleinen, privaten Schule, fing dort an, Röcke zu tragen, Nagellack und Make-up zu verwenden und ihren Vornamen und auch ihr Pronomen, mit dem sie angesprochen werden will, zu verändern. Es gab auch den Wunsch nach körperlichen Anpassungen, zunächst trug sie Brustprotesen: "Irgendwann habe ich aber gesagt, ich will keine Brustprotesen, ich will eine Brust, ich will meine Brust." Jerke entschied sich Hormone zu nehmen, später folgen Entfernung der Barthaare und eine Stimmtherapie – wofür sie bereits mehrere ärztliche Gutachten brauchte. Zwei, drei Jahre sagt Jerke, habe dieser Prozess gedauert, danach erst entschied sie sich auch ganz offiziell den Vornamen und den Geschlechtseintrag zu ändern. Laurel Hubbard - erste Transgender-Athletin bei Olympischen Spielen?Das Thema Diversität findet im Sport immer öfter Beachtung. Meistens geht es dabei um Homosexualität oder Rassismus – spätestens zu Beginn der Olympischen Spiele wird aber auch die Transidentität in den Fokus rücken: Die erste offen lebende Transfrau geht in Tokio an den Start. Ein Gesetz wie ein Schweizer Käse Die Zahl der Personen, die das tun, steigt in Deutschland. Das geht aus der Geschäftsübersicht der Amtsgerichte in Deutschland vom Oktober 2020 hervor. Diese gibt unter anderem Auskunft über die Verfahren nach dem Transsexuellengesetz von 1995 bis 2019. So waren es 1995 noch 400 Verfahren, 2019 schon 2.582. In dieser und auch der vergangenen Legislaturperiode gab es schon mehrere Anläufe das Gesetz neu zu regeln. Zuletzt konnten sich das SPD-geführte Justizministerium und das CSU-geführte Innenministerium allerdings nicht einmal auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf einigen. Auch die Koalitionsfraktionen von Union und SPD finden keinen Kompromiss. DASS das Transsexuellengesetz aber reformbedürftig ist, darüber besteht kaum Zweifel, allein deshalb, weil dieses Gesetz, dass vor 40 Jahren in Kraft getreten ist, schon lange nicht mehr so aussieht wie 1981: "Jedenfalls kann man festhalten, dass in der Zwischenzeit in einer Vielzahl von Entscheidungen das Verfassungsgericht einzelne Regelungen für verfassungswidrig erklärt hat aus diesem Transsexuellengesetz und das ist jetzt kein besonders langes Gesetz, deswegen sind die gerissenen Lücken schmerzlich und man kann dieses Gesetz heute eigentlich nur noch als Schweizer Käse bezeichnen", sagt die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Anna Katharina Mangold von der Europa-Universität Flensburg. Als die wahrscheinlich weitreichendste Änderung bezeichnet sie eine Entscheidung der Karlsruher Richter und Richterinnen aus dem Jahr 2011: "Unter anderem ist die Voraussetzung entfallen, die dem Gesetz zu Grunde liegt, dass nämlich eine angleichende Operation stattfinden muss." Das Gesetz unterscheidet zwischen einer sogenannten kleinen Lösung, mit der der Vorname geändert werden kann, und einer sogenannten großen Lösung für den Personenstand. Bis vor zehn Jahren mussten sich transgeschlechtliche Menschen für letzteres unter anderem einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen und sich sterilisieren lassen. Diese Regelung kippte das Bundesverfassungsgericht. Seitdem gelten sowohl für die Änderung des Vornamens als auch des Geschlechtseintrages dieselben Voraussetzungen – zumindest bis zu der nach wie vor umkämpften Neuregelung. Spanien: Koalitionsstreit um die freie Wahl des GeschlechtsSpanien gilt in Europa als Vorreiter für Rechte von Transpersonen, deren Zahl die Verbände mit rund 50.000 angeben. Doch die Reform des sogenannten "Trans-Gesetzes" entzweit derzeit nicht nur die linke Regierung, sondern erfährt auch Ablehnung bei Konservativen und Feministinnen. Die Streitpunkte in der Koalition Der Großteil der Union besteht weiterhin auf einen Nachweis, den die Betroffenen erbringen müssen. Es gehe darum, die Ernsthaftigkeit abzuklopfen, sagt der CDU-Abgeordnete Marc Henrichmann, der in seiner Fraktion für dieses Thema zuständig ist: "Es geht ja nicht darum, transsexuellen Menschen Steine in den Weg zu legen oder Träume zu zerstören, es geht auch darum, es wirklich nur für die zu machen, für die es auch bestimmt ist, und nicht für Menschen, die vielleicht aus irgendwelchen Gründen mit ihrer Identität hadern." Es gehe um den Schutz der Betroffenen selbst, sagt Christdemokrat Henrichmann. Ähnlich argumentiert er auch bei der Frage, ob Gerichte weiterhin entscheiden sollen oder ein Gang zum Standesamt ausreicht. Eine gerichtliche Entscheidung wirke für und gegen jedermann: "Wenn ich eine reine Entscheidung des Standesamtes mache, dann habe ich eine Entscheidung, die kann gegebenenfalls auch in Frage gestellt werden." Das sieht der Koalitionspartner anders. Zwar will auch die SPD einen Nachweis – in Form einer verpflichtenden Beratung über die rechtlichen Folgen – aber es sollen nicht mehr die Amtsgerichte zuständig sein. "Es war bei uns immer die ganz klare Aussage: Wir wollen nicht mehr haben, als beispielsweise bei der Schwangerschaftsberatung. Dass eben über die Folgen beraten wird und dann ein Beratungsschein ausgestellt wird und dann ordnungsgemäß im Standsamt im Personenstandsregister die Änderungen erfolgen", sagt Karl-Heinz Brunner, queerpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Die Befürchtungen der Union sind aus seiner Sicht überzogen, da der Weg der Geschlechtsanpassung ein langer und schwerer sei, den die Personen über viele Jahre gingen. Man könne aber entsprechende Fristen einbauen: "Indem man sagt, man kann jetzt nicht sagen, in der einen Woche trag ich mich ein als männlich, in der zweiten Woche trag ich mich ein als weiblich, in der dritten als divers – das ist jetzt überspitzt gesagt." Begutachtung oder Beratung Dass es gewisse Hürden für die Änderung des Geschlechtseintrages gibt, hält auch der Rechtswissenschaftler Professor Florian Becker von der Uni Kiel für richtig und verweist auf die Rechtsfolgen der Entscheidung. Er sagt, der Gesetzgeber dürfe die rechtliche Zuordnung zum "nachhaltig empfundenen Geschlecht" nicht von unzumutbaren Voraussetzungen abhängig machen. Er dürfe allerdings auch keine völlige Beliebigkeit erlauben, solange die Rechtsordnung an anderer Stelle - etwa bei dem verfassungsrechtlichen Förderungsgebot für Frauen in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes - noch erhebliche Rechtsfolgen an die Zuordnung einer Person zu einem Geschlecht anknüpfe Aus Beckers Sicht, tue der Gesetzgeber daher gut daran, die Plausibilität des Wunschs nach einer rechtlichen Veränderung des Geschlechts zu verlangen, ohne dabei unzumutbare, unüberwindbare oder die Würde verletzende Hürden aufzustellen. Um sich abzusichern muss der Gesetzgeber, meint Rechtswissenschaftler Becker, aber nicht unbedingt ein Gutachten verlangen, stattdessen kann auch der Nachweis einer Pflichtberatung ausreichend sein, Wartefristen, oder dass eine Gebühr erhoben wird, wenn jemand wiederholt seinen Geschlechtseintrag ändern möchte. Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold sieht dies ganz anders und verweist auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zum Transsexuellengesetz und auch zur sogenannten dritten Option, die es intergeschlechtlichen Menschen ermöglicht, als Geschlechtseintrag divers zu wählen. Schaue man sich diese an, "so kann man aus meiner Sicht ganz deutlich herauslesen, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, die geschlechtliche Identität ist etwas, über das nur die betroffene Person Auskunft geben kann; infolge dessen ist eine externe Begutachtung überhaupt nicht erforderlich." Das Recht auf ein GeschlechtDas Geschlecht eines Neugeborenen darf in der Geburtsurkunde unausgefüllt bleiben. Ein drittes Geschlecht einzutragen, soll aber bis Ende des Jahres möglich sein – so lange gibt das Bundesverfassungsgericht der Regierung Zeit für eine Gesetzesänderung. Doch wie soll die Bezeichnung lauten? Rechtlich gebe es keine Notwendigkeit für einen Zertifizierungsprozess, sagt Mangold: "Ich möchte, dass die Grundrechte mich als Bürgerin davor schützen, dass der Staat mich paternalistisch bevormundet und genau sowas sind jede Form von Beratungspflichten. Alles was Beratungspflichten statuiert und intimste Entscheidungen davon abhängig macht, dass der Staat mich zwingt zuerst eine Beratung in Anspruch zu nehmen, mir also gewissermaßen eine vermeintliche Beratung aufdrängt, halte ich für einen Eingriff in Grundrechte." Oder einfach per Selbstauskunft beim Standesamt? So sieht es auch der Großteil der Oppositionsparteien. Grüne und FDP haben entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht. Über beide wurde vergangene Woche in zweiter und dritter Lesung abgestimmt. Für die SPD ein Problem. Denn eigentlich könnte man sich, so Brunner, mit Grünen und FDP wohl relativ schnell auf ein Gesetz einigen – jedoch stimmten die Sozialdemokraten, bis auf eine Ausnahme, mit dem Koalitionspartner gegen die Entwürfe der Opposition. Grüne, FDP und auch die Linke wollen das Transsexuellengesetz in seiner jetzigen Form abschaffen. In Nuancen gibt es Unterschiede in den Details – weitgehend einig sind sich alle drei Parteien, dass die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrages wesentlich einfacher gestalten werden soll als bisher, die Selbstbestimmung soll stärker im Mittelpunkt stehen: "Die geschlechtliche Identität ist ja etwas sehr Subjektives, das sagt auch das Bundesverfassungsgericht, auch die Wissenschaft, deshalb gibt es keinen besseren Experten als den Menschen selbst und deshalb sagen wir Freie Demokraten, soll die Korrektur des Geschlechtseintrages ganz einfach beim Standesamt per Selbstauskunft möglich sein", sagt FDP-Politiker Jens Brandenburg. Sprich, Gutachten oder eine verpflichtende Beratung soll es dann für die Änderung von Personenstand und Vornamen nicht geben. Dass Menschen dies ausnutzen könnten und heute so, morgen so entschieden, hält er für "völligen Unsinn": "Und das sieht man in den Ländern, Malta, Irland, Argentinien beispielsweise, die eine Selbstauskunft bereits eingeführt haben. Da, genau wie bei uns, ist der Anteil der Menschen, die überhaupt ihren Geschlechtseintrag nach einer ersten Korrektur später noch einmal in eine andere Richtung korrigieren lassen wollen, verschwindend gering, weit unter einem Prozent." Tatsächlich gibt es dazu kaum valide Zahlen und auch keine Studien in Deutschland, die Aufschluss darüber geben könnten, wie viele Personen den Wechsel des Geschlechts bereuen. Allerdings deutet auch eine Studie aus den USA, die "US Transgender Survey" aus dem Jahr 2015, auf eine sehr geringe Quote von weit unter einem Prozent hin. Dass Menschen durch geringere Hürden sich leichtfertig für Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens entscheiden würden, glaubt auch Transfrau Charlotte Jerke nicht: "Das passiert nicht, weil mit so einer Namens- und Personenstandsänderung, da gehen Diskriminierungen mit einher und keiner wählt freiwillig Diskriminierungen", sagt Jerke. "Die Menschen, die einen Geschlechtseintrag ändern wollen, oder ihren Vornamen ändern wollen, die machen das nicht zum Spaß", sagt auch Linkenpolitikerin Doris Achelwilm. Vornamens- und Personenstandsänderung müssten über einen einfachen Amtsgang möglich sein, fordert Achelwilm. Allerdings: "Also man kann da jetzt noch sagen, muss dann, wenns erfolgt ist, vielleicht noch mit ner bestimmten Frist versehen werden, damit es dann erstmal eine gewisse Stabilität hat, ansonsten ist das überhaupt nicht restriktiv zu halten." Ab welchem Alter ist man sich sicher? Auch die Zahl der transidenten Kinder und Jugendlichen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Einfluss dürfte dabei auch die stärkere gesellschaftliche Anerkennung von Transpersonen haben. "Es gibt mehr Sichtbarkeit von Transpersonen, es gibt immer mehr bekannte, berühmte Transpersonen, beispielsweise hat sich Ende vergangenen Jahres Elliot Page geoutet, das war ein total wichtiges Signal", sagt Kalle Huempfner vom Bundesverband trans*. Jedoch: Trotz vieler Verbesserungen, gäbe es weiter viel zu tun. In Bezug auf Jugendliche und Kinder geht es in der Debatte um das Transsexuellengesetz auch um die Frage, inwieweit diese über ihre geschlechtliche Identität selbst entscheiden können. Dazu schrieb der Ethikrat Anfang 2020, es entstehe dadurch eine Spannung, dass sich einerseits Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit im Heranwachsenden erst entwickelten und andererseits die in der Pubertät stattfindende körperliche Entwicklung Zeitdruck schaffe. In dieser Situation können sowohl die in Betracht gezogenen Behandlungsmöglichkeiten als auch deren Unterlassung schwerwiegende und teils irreversible Folgen haben. Erschwerend komme hinzu, dass einige Entscheidungen getroffen werden müssten, wenn das Kind noch nicht vollumfänglich einsichts- und urteilsfähig sei. Grüne, Linke und FDP sprechen sich auch hier für eine weitgehende Selbstbestimmung aus – zumindest bei Jugendlichen ab 14 Jahren. Brandenburg: "Das ist ein Alter, das wird auch regelmäßig aus der Wissenschaft zurückgespielt, in dem man tatsächlich schon von einer stärkeren Identitätsbildung ausgehen kann. Insbesondere bei medizinischen und operativen Fragen ist es natürlich wichtig, dass ärztliche Beratung und die Eltern sehr, sehr eng mit eingebunden sind." Ähnlich sieht es der Bundesverband trans*. Jugendliche könnten schon eine Entscheidung treffen, wenn es um den Geschlechtseintrag geht, sagt Huempfner: "Wenn es jetzt um medizinische Maßnahmen geht, würde ich sagen, das ist ja keine rechtliche Frage, das wird aktuell auch verhandelt in den medizinischen Fachgesellschaften. Da werden voraussichtlich Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres auch neue Leitlinien kommen, wo dann auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage entschieden wird, was eine gute Behandlung und Begleitung von trans-Jugendlichen ist." Über Transidentität bei KindernBeratungsstellen registrieren immer mehr und immer jüngere Kinder, die sich nicht ihrem natürlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Wie schnell sollen Eltern reagieren, vor allem mit irreversiblen Eingriffen? Nach wie vor zu wenig Beratungsstellen Die Koalitionsfraktionen sind hingegen zurückhaltend. Heranwachende und Jugendliche seien anders zu behandeln als Erwachsene, sagt Sozialdemokrat Karl-Heinz Brunner: "Für diesen Personenkreis zwischen 14 und 18 Jahren, die ja auch in einem gewissen Familienverband, in Gesellschaftsverbänden in einem Umfeld lebt, dass sie sozial sehr stark beeinflusst werden, würde ich persönlich sagen, halte ich die Zuständigkeit der Familiengerichte für den besseren Weg." Dort würden den jungen Menschen Beistände oder ähnlich fachkundige Personen zur Seite gestellt, die helfen, die Identität richtig zu bestimmen, sagt Brunner. Ähnlich sieht es auch sein Kollege Henrichmann von der CDU, der aber auch auf den letzten Entwurf aus dem Innenministerium verweist. Der sieht für Jugendliche weiterhin eine Gutachtenpflicht vor. Spricht man mit Betroffenen, Experten und Expertinnen, kommt immer wieder der Hinweis, dass es in Deutschland nach wie vor zu wenig Beratungsstellen für Transpersonen gibt. Dabei wäre ein Ausbau der Beratungsmöglichkeiten wichtig, gerade auch wenn es um Kinder und Jugendliche gehe, sagt Gisela Wolf: "Wenn ein Kind den Namen ändert und den Personenstand, müssen andere ja auch mitgenommen werden. Der Jugendliche kann das oft für sich ganz gut entscheiden, aber das Umfeld braucht eine gute Beratung. Die müssen sich auseinandersetzen mit Ängsten, Eltern müssen sich auseinandersetzen mit Bildern, die sie hatten, als das Kind zur Welt kam." Zwei Sitzungswochen dauert die aktuelle Legislaturperiode noch – dass die Koalition bei diesem Thema bis dahin einen Kompromiss findet, scheint nahezu ausgeschlossen. Damit wird es Aufgabe der kommenden Regierung eine Neuregelung für das Transsexuellengesetz zu finden.
Von Katharina Hamberger
Seit Jahren wird über eine Reform des Transsexuellengesetzes gestritten. Das Bundesverfassungsgericht hat Teile davon als verfassungswidrig eingestuft, eine Neuregelung muss her. Doch Union und SPD können sich wohl auch in dieser Legislaturperiode nicht auf einen Gesetzentwurf einigen.
"2021-05-26T18:40:00+02:00"
"2021-05-27T15:18:08.265000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geschlechteridentitaet-der-schwierige-weg-zu-einem-neuen-100.html
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Die Rolle der Medien im Fall Metzelder
Großes Medieninteresse am Prozess in Düsseldorf gegen den ehemaligen Fußball-Nationalspieler Metzelder (picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd) Es ist ein Verfahren, das die erwartete öffentliche Aufmerksamkeit erfährt: Als sich Christoph Metzelder am 29. April 2021 erstmalig zu Vorwürfen gegen sich äußerte, waren zahlreiche Journalistinnen und Journalisten dabei. Der ehemalige Fußballnationalspieler musste sich vor Gericht verantworten, weil er Kinder- und Jugendpornografie besessen und entsprechende Dateien an mehrere Frauen weitergeleitet haben soll. Sein Fall hat von Anfang an für Medieninteresse gesorgt – genau wie die Frage, ob und wie Medien überhaupt berichten dürfen. Als erste Redaktion hatte die "Bild"-Zeitung im September 2019 die Vorwürfe auf ihre Titelseite gehoben, samt Bildern und Namensnennung. Und andere folgten. Zu diesem Zeitpunkt gab es aber noch keine Anklage, sondern nur einen Anfangsverdacht, dem die Staatsanwaltschaft mit ersten Untersuchungen nachging. War also das, was "Bild" machte, unzulässige Verdachtsberichterstattung? Eine Bühne für den Täter?Nach Gewaltverbrechen berichten Medien zu viel über Täter und zu wenig über Opfer – diese Kritik ist in den vergangenen Jahren immer lauter geworden. Justizreporterinnen müssen sich inzwischen fragen, wie sie verhindern, dass der Gerichtssaal zur Bühne für Angeklagte wird. Denn der Ruf Metzelders war – da waren sich Experten wie der Erlanger Medienethik-Professor Christian Schicha einig – wegen der Berichterstattung bereits zu diesem Zeitpunkt beschädigt. "Es entsteht (…) ja fast schon der fatale Eindruck, dass Metzelder eine Straftat begangen hat, obwohl eine mögliche Schuld in keiner Weise bewiesen ist, sondern zunächst ein Anfangsverdacht besteht", stellte Schicha gegenüber der "Augsburger Allgemeinen" fest. Im selben Artikel betonte Hendrik Zörner, Pressesprecher des Deutschen Journalisten-Verbands, Journalisten seien Berichterstatter und nicht Richter. Gut anderhalb Jahre juristische Klärung Im Interview mit dem Deutschlandfunk widersprach " Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt damals diesen Vorwürfen. Man habe ein Recht der freien Presse auf "Verdachtsberichterstattung auf Grundlage von Recherche" wahrgenommen. Wenig später stellte das Landgericht Köln fest, die Berichterstattung sei "mindestens unausgewogen, in Teilen deutlich vorverurteilend", und untersagte "Bild" per einstweiliger Verfügung, mit Foto und Namen über die Ermittlungen gegen Metzelder zu berichten. Entsprechende Artikel aus dieser Zeit finden sich bis heute nicht mehr im Online-Archiv der Redaktion. Die eigenen Kanäle der AnwälteIm Laufe des Verfahrens gegen den inzwischen verurteilten Mörder von Walter Lübcke kündigte Anfang 2020 sein damaliger Anwalt an, auf seinem Youtube-Kanal über den Prozess zu informieren. Längst nutzen auch andere Juristen soziale Medien. Eine Gratwanderung. Fast genau ein Jahr nach dieser Auseinandersetzung erhob am 2. September 2020 die verantwortliche Staatsanwaltschaft in Düsseldorf Anklage und gab das in verschiedenen Pressemittelungen bekannt. In einer ersten fehlte noch der Name. Erst nachdem "Bild" in diesem Zusammenhang Metzelders Namen nannte, tat das die Behörde auch. Einen Antrag von Metzelders Anwälten, der Justiz jede Information über die Anklageerhebung mit Namensnennung zu verbieten, lehnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf ab. Noch bis Februar 2021 beschäftigte sich die nächste Instanz, das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen, mit dem Fall. Insgesamt also gut anderthalb Jahre, in denen die Justiz die Frage klären musste, wie Medien über den Fall berichten dürfen und können. Medien und die "Litigation PR" Dass einer seiner Anwälte kurz vor Prozessbeginn RTL ein Interview gab, ein "exklusives", wie der Sender betont, ist vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick überraschend. Denn es handelt sich um eine Art von Pressearbeit, die in der Branche immer beliebter ist und sich "Litigation PR" nennt. Das bedeutet so viel wie Öffentlichkeitsarbeit im Rechtsstreit und beschreibt den Versuch, die Kommunikation vor und während eines Verfahrens zu steuern. In dem RTL-Interview sagte der Anwalt unter anderem, dass die Frau, der Metzelder laut Anklage kinderpornografische Bilder schickte und die zur Polizei ging, eine "Provokateurin" sei. Außerdem betonte er, sein Mandant sei "natürlich nicht" pädophil. Für Medien wäre es falsch, eine solche Art von Pressearbeit durch Rechtsanwälte zu negieren, sagte Andrea Titz, Vizevorsitzende im Deutschen Richterbund, im Deutschlandfunk. Medien dürften sich aber nicht zum "einseitigen Sprachrohr" einer Prozesspartei machen und es ihren Lesern oder Zuschauerinnen ermöglichen, sich eine Meinung zu bilden. Auch Richterinnen und Richter nähmen wahr, wenn über ihre Verfahren berichtet werde und es dabei einen "bestimmten Zungenschlag" gebe, so Titz, die Sprecherin des Oberlandesgerichts München beim Steuerprozess gegen Uli Hoeneß war. "Und sie müssen sich bemühen, das auszublenden." Im Fall von Christoph Metzelder ist das Urteil gleich am ersten Prozesstag ergangen. Metzelder wurde zu einer zehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Text von Michael Borgers / Andrea Titz im Gespräch mit Sebastian Wellendorf
Der Prozess gegen den ehemaligen Fußballer Christoph Metzelder hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Fall war von Anfang auch ein Medien-Thema – mit einer Frage im Fokus: Was darf die Öffentlichkeit erfahren?
"2021-04-29T15:35:00+02:00"
"2021-04-30T13:12:39.585000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verdachtsberichterstattung-die-rolle-der-medien-im-fall-100.html
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Inoffizielle Rundfahrt für 13 Frauen
Das Logo der Tour de France (Yorick Jansens/BELGA/dpa/picture-alliance) 13 Frauen vor der Tour. Etappe für Etappe, jeden einzelnen der 3.351 Kilometer, jeden der 26 Gipfel und Pässe fahren sie jeweils am Tag vor den Männern ab - und brauchen auch nur 21 Tage. Eine der Frauen macht das sogar schon zum 4. Mal: Claire Floret, eine Sportlehrerin aus dem Süden von Paris. "Wir haben nach einem Weg gesucht, den Frauenradsport zu entwickeln. Und wir haben uns gedacht, die beste Gelegenheit ist die Tour de France. Weil es keine Tour de France der Frauen gibt, ist das ist die beste Möglichkeit, die Menschen auf das Fehlen eines solchen Rennens aufmerksam zu machen.", erzählt Floret am Morgen um 7.30 Uhr beim Frühstück in einem kleinen Hotel in den Alpen. Eine Tour de France der Frauen gab es früher schon. Von 1984 bis 1989 wurde sie als Etappenrennen über mehr als zwei Wochen während der Männer-Tour ausgetragen. Später wurde sie abgekoppelt von der Tour, und 2010 komplett eingestellt. "Keine Authorisierung am selben Tag" Claire Floret findet das ungerecht. Sie hat mit drei Getreuen vor vier Jahren das Projekt Tour am Tag minus 1 ins Leben gerufen. Tag minus 1 deshalb, weil die Frauen der Tour um einen Tag voraus sind. Warum einen Tag vorher und nicht am Tag der Tour selbst? "Es ist eine logistische Frage. Alle Straßen sind gesperrt während der Tour. Und wir können nicht die Autorisierung bekommen, am Tag selbst zu fahren. Deshalb haben wir uns einen Tag vorher ausgewählt", erzählt Floret. Zur Tour gehören die Frauen von "Donnons les elles au velo" irgendwie aber doch. Denn zahlreiche Zuschauer haben sich am Tag zuvor schon mit den Wohnwagen an der Strecke aufgebaut. Der Streckenverlauf selbst ist mit Pfeilen markiert. Floret sagt: "Wir haben einen richtig guten Kontakt mit den Jungs, die die Pfeile anbringen. Seit vier Jahren sind wir ja schon gemeinsam unterwegs. Sie hinterlassen manchmal kleine Botschaften zur Aufmunterung für uns am Fuß der Berge auf den Pfeilen." "Wunsch nach Rückkehr der Tour für Frauen" Auch die Zuschauerreaktionen sind positiv. "Sie feuern uns an. Sie erkennen uns auch, denn im letzten Jahr hat schon das französische Fernsehen über uns berichtet. Die Leute erwarten jetzt auch ein Frauenpeloton am Tag vor der Tour. Und wenn wir auf den Gipfeln mit ihnen reden, bemerkt man den echten Wunsch nach einer Rückkehr einer Tour de France der Frauen", sagt Floret. Nur auf den Chefetagen von Tourveranstalter ASO ist die Resonanz verhaltener. Gut, das Unternehmen hat seit 2014 das Frauenrennen La Course by Le Tour de France im Programm. Es handelt sich dabei aber nur über ein Rennen mit einer, maximal zwei Etappen. Zu wenig, finden viele Frauen und fordern ein sieben- bis zehntägiges Etappenrennen für Frauen während der Tour. Thierry Gouvenou, Chefplaner der Tour und auch für La Course verantwortlich, schüttelt bei solchen Vorstellungen nur den Kopf. Wir treffen ihn im Startvillage der Tour, initten all des Treibens, das die Frauen der Tour vor der Tour nur sehen, wenn sich zwei Etappen einmal überlappen. Gouvenou sagt: "Ich weiß, es gibt eine große Nachfrage, das weiterzuentwickeln. Aber technisch ist das sehr schwierig. Ich denke, die Frauentour hat ihren Platz im Radsport, ganz sicher. Und sie wollen medial präsent sein, wollen das Fernsehen. Aber die Direktübertragungen für Männer und Frauen am gleichen Tag zu organisieren, ist sehr schwer." Manpower-Problem? Sicher, die Sache ist komplex. Warum aber soll nicht etwas, das einen Tag schon funktioniert, eben bei La Course, auf fünf, sechs oder zehn Tage auszudehnen sein? "Man bringt alle sehr in Schwierigkeiten. Die Logistiker, die die Startinfrastruktur auf- und abbauen, müssen viel länger arbeiten, auch die im Ziel. Das gilt auch für das Fernsehen und die Organisation selbst. Da kommt man zu Arbeitstagen , die um 4 Uhr früh beginnen und um 10 Uhr abends enden", sagt Gouvenou. Es ist also ein Manpower-Problem. Teilweise werden zwei Schichten benötigt. Oder es müssen Arbeitstage geteilt werden. Das ist komplex, sicher. Aber es erscheint nicht unlösbar. "Nicht gegen Männer gerichtet" Und deshalb machen Claire Floret und ihre Mitstreiterinnen auch weiter. Sie treffen viele Unterstützerinnen und Unterstützer bei ihrer Tour. "Jeden Tag sind es zwischen 50 und 150 Personen, die uns auf einer Etappe begleiten. Darunter sind auch Männer. Die Idee ist ja nicht gegen Männer gerichtet, sondern wir laden die Männer ein, mit uns die Idee voranzubringen und das Projekt zu unterstützen," sagt Floret. Die Basis zu mobilisieren führte schon früher zum Erfolg. Erst als mehr als 97.000 Personen im Jahr 2014 eine Petition für eine Frauentour unterschrieben, richtete die ASO La Course aus - noch im gleichen Jahr, nur wenige Monate nach Übergabe der Unterschriften. Geht doch. Den vollständigen Beitrag können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Von Tom Mustroph
Das Projekt "Donnons des elles au velo" - deutsch: Setzen wir sie aufs Rad - hat eine ganz besondere Promokampagne für eine Tour de France der Frauen entwickelt. Die Rad-Amateurinnen fahren die gesamte Tour ab, immer einen Tag vor dem Männer-Peloton.
"2018-07-22T19:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:02:50.622000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tour-de-france-inoffizielle-rundfahrt-fuer-13-frauen-100.html
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Polenz (CDU): "Gewicht der Jüngeren etwas stärken"
Wahlrecht ab 16 Jahre - das sei auch eine große Chance für den Politikunterricht, sagte Ruprecht Polenz (picture alliance / Fabian Sommer) Es gebe in Deutschland künftig 21 Millionen Menschen über 60 Jahre und neun Millionen unter 30 Jahre. Die 16- bis 18-Jährigen würde 2,2 Millionen Menschen ausmachen. Dieser Gruppe gelte es mehr Gewicht zu verleihen, sagte Polenz. Dem Argument, dass unter 18-Jährigen die Geschäftsfähigkeit fehle, sie dann aber schon wählen dürften, hielt der frühere CDU-Generalsekretär entgegen, dass jungen Menschen in Deutschland bereits andere weitreichende Erlaubnisse zugestanden werden. So dürften 14-Jährige über ihre Konfession entscheiden und 16-Jährige Bier und Wein trinken. CDU-Politiker Ruprecht Polenz (imago-images/ tagesspiegel) Die Maßnahme der Absenkung sei auch eine große Chance für den Politikunterricht in den Schulen, meinte Polenz. Wer erst mit 18 Jahren wählen dürfe und die Schule dann schon verlassen habe, würde eine ganz andere Motivation im Unterricht zeigen, sagte der CDU-Politiker. Die Herabsetzung des Wahlalters ist eine Chance für die ParteienEs sei Zeit, das Wahlalter auch bei der Bundestagswahl auf 16 Jahre herabzusetzen, kommentiert Katharina Hamberger. Junge Menschen hätten in den letzten Jahren gezeigt, wie sehr sie sich für Politik interessieren. Das Interview mit Ruprecht Polenz in voller Länge. Sandra Schulz: Sie können sich ja die Absenkung des Wahlalters auf 16 vorstellen. Warum sollte wählen, wer nicht voll geschäftsfähig ist? Ruprecht Polenz: Ich habe meine Meinung in dieser Frage tatsächlich geändert. Ich kann mich übrigens noch gut besinnen: Vor 50 Jahren, als das Wahlalter auf 18 gesenkt wurde, war ich Vorsitzender eines bundesweiten Studentenverbandes und damals bei einer Bundestagsanhörung zu diesem Thema dabei. Das Hauptargument war: Wer zur Bundeswehr muss, weil damals gab es noch die Wehrpflicht, der soll auch wählen dürfen. Übrigens: Sicher hat Willy Brandt und die sozialliberale Koalition das damals eingeführt. Aber die Verfassungsänderung ging auch damals nur mit der Union und das ist jetzt die gleiche Situation. Mein Hauptpunkt ist: Wir haben eine große Verschiebung in der Bevölkerung durch die Überalterung, dass wir immer älter werden, und von den jetzigen Wahlberechtigten sind 21 Millionen über 60, neun Millionen unter 30. Wir reden jetzt über 2,2 Millionen Menschen zwischen 16 und 18, die das Gewicht der jüngeren Generation etwas stärker machen könnten, und das halte ich wegen der Zukunftsfragen, über die entschieden wird und von denen natürlich jüngere Menschen doch stärker betroffen sind als ältere, grundsätzlich für richtig. Schon vor der Volljährigkeit geht was Schulz: Aber müsste das dann nicht auch im gesamten Recht stimmig gelöst werden? Wir haben jetzt die Situation, dass einem 17jährigen von unserem Bürgerlichen Gesetzbuch nicht zugetraut wird, ohne Zustimmung der Eltern ein Fahrrad zu kaufen. Aber wählen können, das soll möglich sein? Oder soll dann auch tatsächlich Geschäftsfähigkeit und Volljährigkeit auch abgesenkt werden? Polenz: Wir haben ja keine Situation, wo vor der Volljährigkeit gar nichts geht, und in dem Moment, wo man volljährig ist, darf man dann auf einen Schlag alles. Schon mit zwölf Jahren darf man nicht mehr zu einem religiösen Bekenntnis gezwungen werden und ab 14 Jahren darf man seine Konfession ganz alleine bestimmen. Man darf ganz alleine über seine Religion bestimmen. Mit 16 Jahren darf man Bier und Wein trinken und mit 17 Jahren darf man in Begleitung Erwachsener ein Auto fahren. Wir haben in vielen Punkten oder in anderen Punkten auch abweichend von der Volljährigkeit durchaus weitgehende Erlaubnisse für junge Menschen. Wenn ich mir jetzt anschaue – das ist gerade ja noch mal gesagt worden -, dass wir in einigen Ländern mit 16 bei der Kommunalwahl dabei sein dürfen oder auch bei der Landtagswahl, dann ist ja auch dort deutlich geworden, dass es keine so prinzipielle Frage ist, die in Stein gehauen wäre. Und mir hat nie eingeleuchtet, dass Kommunalwahlen oder Landtagswahlen weniger wert wären, um das mal so auszudrücken, als Bundestagswahlen. In Jugendparlamenten diskutieren nur junge Menschen Schulz: Aber brauchen die 16 bis 18jährigen denn für politisches Engagement überhaupt dieses Wahlrecht bei den Bundestagswahlen? Es gibt doch da auch andere Möglichkeiten des Engagements. Polenz: Ja, sicher gibt es andere Möglichkeiten. Es gibt Jugendparlamente. Aber da diskutieren junge Menschen eher unter ihres gleichen und richten dann die Forderung der "Jugend" an die Politik in den Rathäusern. Ich finde, es ist auch eine große Chance, wenn man mit 16 wählen darf, für den Politikunterricht in den Schulen. Es ist ein Unterschied, ob ich Schülerinnen und Schüler als Schülerin und Schüler auf eine erste Wahlteilnahme vorbereiten kann im Politikunterricht, oder ob ich das mache und sage, wenn ihr dann 18 seid, viele von euch sind dann auch schon aus der Schule, dann dürft ihr auch wählen, oder ob ich sage, im nächsten Jahr ist Wahl, dann seid ihr 16, und jetzt nehmen wir mal durch, was die Parteien so alles erzählen und so weiter und so weiter. Schulz: Ich konfrontiere Sie da jetzt natürlich auch mit den Argumenten, die aus Ihrer eigenen Partei kommen. Der CDU-Generalsekretär Ziemiak dreht das Argument um. Der sagt, man soll in der Tat lieber daran, dass sich die jungen Menschen auch politisch engagieren, dass man vor Ort die Möglichkeit hat, in der Schule, in der Kirche, in der Nachbarschaft aktiv mitzuarbeiten. Diese Debatte um das Wahlrecht, ist das dann eine Stellvertreterdebatte? Polenz: Nein, das schließt sich ja nicht aus. Im Gegenteil! Das würde sich vielleicht auch gegenseitig verstärken. Natürlich geht es ja bei der Frage, können junge Menschen ab 16 wählen, auch um die Frage, interessieren sie sich überhaupt für die Politik, interessieren sie sich überhaupt für etwas anderes außer ihren eigenen Hobbys und der Schule, und selbstverständlich hat Herr Ziemiak recht, dass alle diese Maßnahmen unterstützen sollen ein Engagement junger Menschen in der Gesellschaft. Aber mit dem Wahlrecht, finde ich inzwischen – ich habe es damals auch anders gesehen, aber ich finde,: Nehmen wir mal das Klimathema. Ich sage zwar auch immer, selbstverständlich geht mir das als 74jährigen auch nahe, weil ich habe Kinder und Enkel. Aber meine Kinder und Enkel sind natürlich persönlich von einem Klimawandel in 10, 20, 30, 40 Jahren viel stärker betroffen als ich, der das dann nicht mehr erlebt. Diese Existenzfragen – und es gibt auch noch andere – sprechen, finde ich, dafür, dass man mit 16 wählen können sollte. Ich finde, es wäre gut, wenn meine Partei darüber auch offen mitdiskutierte und nicht von vornherein sagen würde, kommt gar nicht in Frage, denn natürlich braucht man für eine Wahlrechtssenkung eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament wie vor 50 Jahren auch. Bisher nicht groß auf der Tagesordnung Schulz: Suchen Sie denn da aktiv auch das Gespräch? Polenz: Bisher war das Thema ja noch nicht so groß auf der Tagesordnung. Ich habe vor einiger Zeit mal mit einer Vertreterin der Jungen Union, die auch gegen die Senkung des Wahlalters war, darüber diskutiert. Aber natürlich würde ich mich auch an einer solchen Diskussion beteiligen, mache das ja jetzt hier in diesem Interview auch, und wir werden sehen, wie es diesmal ausgeht. Nur noch mal: Es ist kein qualitativer Unterschied zwischen einer Bundestagswahl und einer Landtagswahl und einer Kommunalwahl im Hinblick auf die Bedeutung dieser Wahl, auch nicht im Hinblick auf die Schwierigkeit, politische Prozesse zu durchschauen in der Kommune oder im Land oder im Bund und dann als Wählerin oder Wähler die richtige Entscheidung zu treffen. Schulz: Wenn Sie jetzt auf dieses demographische Thema hinweisen – das war ja Ihr Eingangsargument -, müsste man dann nicht den Schritt weitergehen und sagen, dass auch minderjährige Kinder, die unter 16 sind, denen mehrheitlich jetzt vielleicht nicht zugetraut wird, selbst zu wählen, dass deren Stimme dann durch die Eltern wahrgenommen werden müsste? Polenz: Es gibt eine solche Diskussion über Kinderwahlrecht, was dann stellvertretend durch die Eltern wahrgenommen wird. Ich habe die Positionen mir auch angeguckt. Ich finde sie deshalb nicht überzeugend, weil bestimmte Konflikte, wenn die Eltern beispielsweise unterschiedlich abstimmen wollen nach ihrer persönlichen Überzeugung, es ist ein Kind da, wer gibt dann für das Kind die Stimme mit ab. Es gibt eine ganze Reihe praktischer Fragen, die damit zusammenhängen. Ich sehe auch nicht, dass es in absehbarer Zeit in diese Richtung eine Mehrheit geben könnte. Deshalb glaube ich, dass mit 16 eine vernünftige Grenze gezogen ist, wo dann auch jeder selber entscheiden kann und nicht es eine Art Stellvertreterwahl gibt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ruprecht Polenz im Gespräch mit Sandra Schulz
Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz hat sich entgegen der Haltung seiner Partei für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 ausgesprochen. Es werde in den kommenden Jahren eine große Verschiebung durch Überalterung in Deutschland geben. Mit der Herabsetzung würden die Jüngeren gestärkt, sagte Polenz im Dlf.
"2020-07-31T06:50:00+02:00"
"2020-08-03T21:50:39.499000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/absenkung-des-wahlalters-polenz-cdu-gewicht-der-juengeren-100.html
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Die irrationale Angst vor dem Virus
In China haben sich inzwischen mehr als 7000 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt (Getty Images / Barcroft Media / Feature China) Wie gehen die Menschen in China und die chinesische Regierung mit dem Ausbruch des Corona-Virus um? Unser Korrespondent Steffen Wurzel beschreibt, wie immer mehr Menschen freiwillig mit Mundschutz unterwegs sind und die Zweifel am Staat wachsen - auch wegen zahlreicher Falschmeldungen in den Medien. Er schildert außerdem, wie Chinesinnen und Chinesen zunehmend im Ausland angefeindet werden, weil sie als potentielle Ansteckungsgefahr betrachtet werden. Aufhebung der Immunität Der Bundestag hat die Immunität von zwei Abgeordneten aufgehoben. Unsere Hauptstadtkorrespondentin Nadine Lindner erklärt, welche Ermittlungen gegen Alexander Gauland (AfD) und Karin Strenz (CDU) geführt werden. Mietendeckel für Berlin Berlin wird die Mieten in Zukunft deckeln. Unsere Landeskorrespondentin Claudia van Laak erklärt, wie das funktionieren soll und welche Kritik es an der Entscheidung gibt.
Von Ann-Kathrin Büüsker
Wie Chinesen mit dem Ausbruch der Coronavirus umgehen, wie sie an ihrer Regierung zweifeln und im Ausland angefeindet werden. Außerdem: Warum die Immunität von Alexander Gauland aufgehoben wurde und wie Berlin die Mieten deckeln will.
"2020-01-30T17:00:00+01:00"
"2020-02-12T14:49:50.748000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-die-irrationale-angst-vor-dem-virus-100.html
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Ein Leben für den Versandhandel
Die steile Karriere des Werner Otto beginnt 1949. Im Gründungsjahr der Bundesrepublik ist der gelernte Einzelhändler schon vierzig Jahre alt und hinter ihm liegen schwere Zeiten. Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verteilt er Flugblätter für den Linksnationalen Otto Strasser und sitzt dafür zwei Jahre im Strafgefängnis Plötzensee bei Berlin. Danach eröffnet Otto erst einen Zigarrenladen am Alexanderplatz. Wenige Jahre später sattelt er um und handelt im westpreußischen Kulm mit Schuhen. - Den Zweiten Weltkrieg überlebt er schwer verletzt und wagt nach dessen Ende einen Neustart in Hamburg: Der mittellose Flüchtling, Ehemann und Vater von zwei Kindern eröffnet eine Schuhfabrik in der Hansestadt. Und muss wenige Jahre später Konkurs anmelden. Dann, 1949, legt er den Grundstein seines Erfolgs: Mit 6000 Mark Startkapital gründet er seinen Versandhandel: Wieder einmal bietet er Schuhe an. 28 verschiedene Modelle stehen zur Auswahl, zum Unternehmensstart werden nur 300 sehr dünne Kataloge gedruckt und verteilt. Damals beschäftigt Werner Otto vier Angestellte. 1953 sind es bereits 150 Mitarbeiter, die zusammen fünf Millionen D-Mark Umsatz erwirtschaften. Zwei Jahre später sind es 28 Millionen D-Mark. Sein jüngster Sohn, Alexander Otto, erinnert sich an die Unternehmerqualitäten seines Vaters:""Was ich gelernt habe, ist sicherlich seine Konsequenz. Dass er klare Entscheidungen getroffen hat. Und diese dann auch nicht so schnell revidiert hat. Allerdings ist auch kein Mensch unfehlbar und auch mein Vater hat falsche Entscheidungen getroffen. Was ich da bewundere, ist, dass er das auch zugegeben hat."Den schleppenden Aufbau einer ganzen Kette von Autowaschanlagen gibt Otto deshalb nach wenigen Jahren wieder auf. Er konzentriert sich auf den Versandhandel und baut dessen Potenzial aus: Mitte der Sechzigerjahre entstehen beim Otto-Versand die ersten Call-Center der Republik. 1972 baut der Konzern mit Hermes einen eigenen Paketdienst auf. Dabei begnügt sich der Unternehmer mit den großen strategischen Entscheidungen und überlässt das operative Geschäft anderen. 1981, Otto ist damals immerhin schon 72 Jahre alt, zieht er sich aus der Firma zurück. Der Firmengründer steckt danach seine Kraft und sein Kapital vor allem in soziale Projekte und in sein Mäzenatentum: ""Spontan einfach zu helfen war ihm wichtig. Ob das zum Beispiel bei der großen Hamburger Flutkatastrophe der Fall war, als damals die Otto-Auslieferungswägen von Hermes spontan geholfen haben. Oder ob s beim Aufbau des Werner-Otto-Instituts für behinderte Kinder war - ganz klare Ausrichtung, auch den Schwachen der Gesellschaft zu helfen. "Werner Otto starb am vergangenen Mittwoch in Berlin. Er wurde 102 Jahre alt.
Von Axel Schröder
Wie heute bekannt wurde, starb bereits am vergangenen Mittwoch Werner Otto, der Gründer der Hamburger Otto-Gruppe, inzwischen - nach eigenen Angaben - der weltgrößte Versandhauskonzern.
"2011-12-27T13:35:00+01:00"
"2020-02-04T01:48:38.238000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-leben-fuer-den-versandhandel-100.html
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Wie Orbán und seine Vertrauten sich durch den Fußball bereichern
Liebt den Fußball: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (li.) (dpa / picture alliance / Andrew Surma) Neuer Kunstrasen, hochmoderne Trainingsanlagen, ein schmuckes Stadion. Im kleinen ungarischen Dorf Felcsút schlägt das Herz jedes Fußballers höher. Der ansässige Verein Puskás Akadémia trainiert und spielt hier unter besten Bedingungen. Man könnte meinen, die Anlagen stünden da als Huldigung an den Namensgeber, Fußballlegende Ferenc Puskás. Weit gefehlt. Ein kleines weißes Haus neben dem Stadion verrät den wahren Grund. Es gehört nämlich Viktor Orbán. "Ich glaube, dass Orbán den Fußball wirklich liebt. Er geht ständig zu den Spielen. Du gehst nicht so oft ins Stadion, wenn es dir dort nicht gefällt. Aber es gibt eben auch eine wirtschaftliche Seite des Ganzen", sagt der Fußballkorrespondent Tomasz Mortimer. Orbans Herzensprojekt Puskás Akadémia ist das Herzensprojekt des ungarischen Ministerpräsidenten, aber auch viele andere Vereine im ganzen Land dürfen sich neuer Stadien erfreuen. Denn seit dem Regierungswechsel 2010 wurden für den Sport rund zwei Milliarden Euro ausgegeben. Zum Vergleich: Alle Universitäten und Fachhochschulen erhalten zusammen in einem Jahr gerade einmal halb so viel. Ist die Orbán-Regierung einfach nur sportverrückt? Miklós Ligeti von Transparency International hat so seine Zweifel: "Die Förderung hat den Sport sicherlich vorangebracht. Aber man hätte das auch erreichen können, ohne dafür ein undurchsichtiges finanzielles Gebilde zu konstruieren." Das Wochenendhaus von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, steht direkt neben der Pancho Arena in Felcsut. (dpa / picture alliance / Martin Fejer) Das viele Geld fließt eben nicht einfach an die Vereine und Verbände, die es dann investieren. Der Vorwurf lautet: Freunde und Vertraute Orbáns bereichern sich hier im großen Stil. Miklós Ligeti versucht, das System am Beispiel des Oligarchen Lőrinc Mészáros zu erklären. Dieser ist Unternehmer und noch dazu Präsident von Puskás Akadémia: "Staatliche Gelder gehen an die Unternehmen von Herrn Mészáros – beispielsweise für den Bau von öffentlichen Straßen und Gebäuden. Diese Unternehmen verzeichnen Gewinne. Doch statt Steuern zu zahlen, fließen die Gewinne an die Stiftung seines Fußballvereins. Durch diese Stiftung beauftragt er dann wiederum seine eigenen Firmen mit dem Bau von Sportanlagen. Die Gelder verlassen also nie die Taschen von Herrn Mészáros." Die Ferenc-Puskas Fußball-Akademie (dpa / picture alliance / Martin Fejer) Vetternwirtschaft im ungarischen Sport Die ungarische Regierung bestreitet die Vorwürfe natürlich. Sie verweist lieber auf die sportlichen Erfolge: auf das Erreichen der Europameisterschaft durch das Nationalteam oder den internationalen Durchbruch von Spielern wie Dominik Szoboszlai und Roland Sallai, die in der Bundesliga aktiv sind. Aber gelassen nehmen Orbán und seine Mitstreiter die Vorwürfe nicht. Das zeigt beispielsweise der Fall von János Kele. Kele war einige Jahre als Studioexperte für das ungarische Sportfernsehen tätig – bis er sich auf seiner privaten Facebook-Seite kritisch zu einem möglichen Fall der Vetternwirtschaft geäußert hat. "Ich schrieb während einer Sommerpause einen Facebook-Eintrag zu einem neuen Sportausrüster namens 2Rule. Diese Firma gehört dem bekannten Lőrinc Mészáros. In meinem Text warf ich die Frage auf, wie dieser vollkommen neue Ausrüster innerhalb kürzester Zeit Verträge mit drei Erstligaklubs sowie dem olympischen Komitee abschließen konnte, ohne ein einziges T-Shirt oder was anderes produziert zu haben. Aus meiner Sicht veranschaulicht das, wie in diesem Konstrukt operiert wird. Der Staat gibt den Vereinen zwar Zuschüsse, aber die Vereine müssen mit diesem Geld dann befreundete Unternehmen beauftragen. Damit landet Steuergeld im großen Maßstab in den privaten Taschen von jenen, die Regierungspartei Fidesz und Orbán nahestehen." Schon kurz nach seinem Facebook-Eintrag teilte ihm der regierungstreue Senderchef mit, dass man fortan auf Keles Dienste verzichten werde. Der Rat: Er solle sich doch zurückhalten, dann könne man vielleicht später wieder zusammenarbeiten. Kele denkt aber gar nicht daran und kritisiert stattdessen genau wie andere Orbán-Gegner immer zu die Vetternwirtschaft im ungarischen Sport. Aber Veränderung ist nicht in Sicht. Die könnte es erst nach einem Regierungswechsel geben, wie Miklós Ligeti findet. "Wenn es mal zum Regierungswechsel kommt, muss dieses Finanzierungsprogramm beendet werden. Und die Sportverbände, Finanzämter und Ministerien müssen dazu gezwungen werden, die Bücher offenzulegen." Bis dahin wird aber noch einige Zeit vergehen; viele weitere Millionen werden wohl unter dem Vorwand der Sportförderung bei Orbán-Freunden landen; und Orbán selbst kann auch künftig mit Stolz die Spiele in Felcsút verfolgen.
Von Constantin Eckner
Der ungarische Fußball erstrahlt in neuem Glanz. Die Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán hat in den vergangenen zehn Jahren den Bau vieler neuer Stadien und Trainingsanlagen vorangebracht. Doch die Machthabenden in Budapest tun das nicht nur aus reiner Liebe zum Sport.
"2021-02-06T19:36:00+01:00"
"2021-02-08T16:56:29.814000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ungarn-wie-orban-und-seine-vertrauten-sich-durch-den-100.html
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Europäische Zentralbank lässt Leitzins bei 0,5 Prozent
Die Krisenländer hätten sicher gern einen noch niedrigeren Leitzins gesehen. Erst Anfang Mai hatte ihn die Europäische Zentralbank auf 0,5 Prozent gesenkt. Aber der EZB-Rat habe sich dagegen entschieden, sagte EZB-Präsident Mario Draghi nach dessen Sitzung:"Der EZB-Rat hat entschieden, dass es im Großen und Ganzen keine Richtungsänderung gegeben hat, die rechtfertigen würde jetzt zu handeln. Aber natürlich beobachten wir die Entwicklungen sehr genau und wir sind bereit zu handeln."Denn zuletzt hatte es zwar einige Anzeichen gegeben, dass sich die Wirtschaftslage im Euroraum aufhellen könnte. Aber die Erholung sieht die Notenbank jetzt erst später im Jahr. Die Volkswirte der EZB rechnen in ihrer jüngsten Prognose mit einer Schrumpfung der Wirtschaft der Eurozone um 0,6 Prozent im laufenden Jahr, während die Konjunktur im kommenden Jahr wieder wachsen soll, und zwar mit 1,1 Prozent etwas stärker als bisher erwartet. Die niedrigen Zinsen aber kommen vor allem in den Krisenländern nicht ausreichend an. Deshalb diskutiert der EZB-Rat seit längerer Zeit, mit welchen Maßnahmen man die Kreditvergabe der Banken an die Unternehmen dort stimulieren könnte. Deshalb ist der Zins, zu dem Banken ihre Gelder über Nacht bei der EZB parken können, schon auf null Prozent gesenkt worden, man hofft, dass sie dieses Geld eher als Kredite an die Unternehmen ausleihen. Man könnte auch Strafgebühren für solche Einlagen einführen, also den sogenannten negativen Einlagezins. Mario Draghi:"Wir haben auch die Möglichkeit eines negativen Einlagenzinses diskutiert. Technisch sind wir dazu bereit. Wir sehen aber auch, dass diese auch unerwünschte Folgen haben könnten. Dafür als auch für einige andere Maßnahmen sehen wir aber zurzeit keinen Handlungsbedarf. Aber diese Instrumente liegen im Regal bereit." Eine außergewöhnliche Maßnahme war auch das Programm zum Kauf von Staatsanleihen gewesen. Dieses Programm wird in der nächsten Woche ein wesentlicher Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein. Das Gericht prüft, ob der Euro-Rettungsfonds ESM verfassungsgemäß ist, will aber vor allem die Geldpolitik der EZB intensiv unter die Lupe nehmen. Für den EZB-Präsidenten ist eines klar: "Das Anleihekaufprogramm ist wahrscheinlich die erfolgreichste geldpolitische Maßnahme, die wir in jüngerer Zeit ergriffen haben. Vor diesem Programm hatten wir die Sorge um deflationäre Risiken. Diese Risiken sind gebannt, das ist eine der größten Errungenschaften dieser geldpolitischen Maßnahme. Die Kurse an den Aktienmärkten sind gestiegen, überall von 30 Prozent in Deutschland bis zu 39 Prozent in Spanien. Das bedeutet, dass die Kapitalkosten gesunken sind. So sind die Investitionsbedingungen viel günstiger geworden." Dass nicht der EZB-Präsident selbst, sondern Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen die EZB in Karlsruhe vertreten wird, erklärte Draghi damit, dass Asmussen "die beste und am meisten geeignete" Person im Direktorium sei, denn er verantworte den Rechtsbereich und kenne das deutsche Rechtssystem am besten.
Von Brigitte Scholtes
Die Europäische Zentralbank lässt den Leitzins unverändert, auf dem historischen Tief von einem halben Prozent. Geld bleibt also billig und wird vorerst nicht noch billiger. Diese Entscheidung ist in der EZB einstimmig gefallen.
"2013-06-06T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:21:18.773000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-zentralbank-laesst-leitzins-bei-0-5-prozent-100.html
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Lastesel für die Kurzstrecke
Güterbahnhof Osnabrück. Hier stehen sie, die Cargo-Sprinter: Sechs rote, kurze Züge; jeder besteht aus fünf einzelnen, flachen Pritschen-Wagen. Die Wagen an den Enden haben je eine Fahrerkabine. Seit mehr als drei Jahren stehen sie schon hier - dabei sollten sie eigentlich den Güterverkehr der Bahn retten. So berichtete etwa der Deutschlandfunk in einer Wirtschaftssendung schon im Jahr 1997: Die Deutsche Bahn AG ist überzeugt, mit dem Cargo Sprinter über ein ausreichend schnelles und flexibles Transportmittel zu verfügen. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Dabei war und ist die Idee bestechend: Der Cargo-Sprinter ist im Prinzip ein LKW auf Schienen. Er fährt direkt zum Kunden, bekommmt dort einen oder mehrere Container aufgeladen, und fährt dann los. Unterwegs trifft er sich mit anderen Cargo-Sprintern, die in dieselbe Richtung fahren. Damit die Bahn Energie spart, kuppeln sich diese kleinen Züge zu einem großen zusammen, fahren gemeinsam weiter, bis sich ihre Wege kurz vor dem Ziel wieder trennen. Der Vorteil dabei: Der Cargo-Sprinter muss nicht rangieren wie ein normaler Ferngüterzug - und spart damit pro Fahrt bis zu acht Stunden Fahrzeit.Der Cargo-Sprinter, das war eine interessante Entwicklung. Sagt Marian Gaidzik von der Berater-Firma HAKON in Hannover. Der gelernte Bauingenieur beschäftigt sich seit den achtziger Jahren mit Konzepten für den Güterverkehr - und hat dabei auch die Entwicklung des Cargo-Sprinters verfolgt. 1996 fuhr der erste Prototyp, zur Jahrtausendwende sollte der Routine-Betrieb beginnen. Eine Spedition aus Osnabrück wollte abends zwei Güterzüge, einen in Hamburg und einen in Osnabrück auf die Reise schicken. In Hannover sollten sich beide treffen und dann gemeinsam nach München fahren, und dort am Morgen ankommen. Konzept und systemtechnischer Ansatz sind an sich überzeugend, aber leider nicht die betriebliche Realität. Die Fahrzeuge waren technisch einfach nicht ausgereift, Kinderkrankheiten führten häufig zu Ausfällen, daraus resultierten entsprechende Verspätungen.Probleme gab es aber auch dann, wenn die Wagen funktionierten: Der Probebetrieb startete ausgerechnet kurz vor der Weltausstellung Expo in Hannover. Da gab es aber besonders viele Baustellen um Hannover, auf denselben Strecken, die auch der Güterverkehr benutzt - die also der Cargo-Sprinter passieren sollte. Wegen dieser Baustellen mussten die Cargo-Sprinter häufig lange warten und verspäteten sich - oder bekamen von vornherein ungünstige Fahrzeiten zugewiesen.Und das hat letztendlich dazu geführt, dass das Projekt nach einem Jahr Betrieb eingestellt werden musste, da diese Verspätungen für die Systemverkehre halt nicht mehr tragbar waren. Ein Jahr Probebetrieb - das scheint nicht allzu lang zu sein, zumal sich die Fahrplanprobleme nach der Expo gegeben hätten. Aber Marian Gaidzik sieht das anders: Ein Jahr ist ein relativ langer Probebetrieb, etwa für einen Spediteur, der die Schiene nutzt, statt über die Autobahn zu fahren wie seine Konkurrenten das tun.Die Spedition dagegen weist darauf hin, dass es die Bahn gewesen sei, die sich aus dem Projekt zurückgezogen hat. Doch selbst wenn der Probebetrieb funktioniert hätte, ist fraglich, ob der Cargo-Sprinter ein Erfolg geworden wäre: Die Triebwagen wurden immer teurer und sollten am Ende doppelt so viel kosten wie geplant. Das war zu teuer für die Bahnbetreiber. Ganz vergeblich war die Entwicklung indes nicht: Die Herstellerfirma verkaufte knapp 50 Fahrzeuge nach England und Australien. Allerdings fährt nur eines davon Güter, die anderen wurden mit einem Spezialaufbau versehen: sie reinigen heute Schienen. Und auch für die in Osnabrück stehenden Cargo-Sprinter könnte die Zeit der Untätigkeit vorbei sein: Die Bahn hat die Wagen verkauft - an die Österreichischen Bundesbahnen.
Von Sönke Gäthke
Er sollte den Güterverkehr auf der Schiene vor dem Exodus auf die Strasse retten: Der Cargosprinter. Ein leichter, schneller Gütertriebwagen, der auf den Schienen ähnlich flexibel fahren sollte wie der LKW auf der Strasse, dabei billiger und zuverlässiger sein sollte - weil es auf der Schiene ja keine Staus gibt. Wenn es nach der Bahn gegangen wäre, führen heute auf vielen Strecken diese Gütertriebwagen - doch was man sieht, sind die normalen Güterzüge. Wo also ist der Cargo-Spriter?
"2004-05-18T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:39:10.527000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/lastesel-fuer-die-kurzstrecke-100.html
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Im kommenden Sommer steigen die Renten
Durch die hohe Inflation gibt es einen effektiven Kaufkraftverlust der Rentnerinnen und Rentner. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen)
Finthammer, Volker
Im Westen sind es 4,39, im Osten 5,86 Prozent: Ab Juli steigen die Alterseinkünfte. In normalen Zeiten wäre das eine ordentliche Steigerung, doch es reicht nicht, um die Inflation auszugleichen. Vorsichtiger Optimismus ist trotzdem angebracht.
"2023-03-21T08:24:00+01:00"
"2023-03-21T08:38:06.620000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-rente-rentenwert-in-ost-und-westdeutschland-ab-juli-gleich-hoch-dlf-1e14101d-100.html
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Schwarz-gelbe Koalition in Bayern auf der Kippe
Horst Seehofer auf Wahlkampftour in der Oberpfalz. Beim traditionellen Rossmarkt in Berching empfängt ihn eine Kinder-Blaskapelle."Grüßt Euch. Spielt's, wie ihr's gelernt habt, gell?""Extra für den Ministerpräsidenten: die Bayernhymne!"Die kleinen Musiker geben sich alle Mühe - aber es klingt schräg - disharmonisch - so wie es seit Tagen in der schwarz-gelben Regierung zugeht. Die Studiengebühren spalten die Koalition in Bayern. Der CSU-Chef gibt sich kompromisslos:"Die werden abgeschafft. Die sind weder zeitgemäß noch gerecht. Deshalb werden wir sie schlicht und einfach abschaffen!"Erst kürzlich haben 15 Prozent der bayerischen Bevölkerung per Volksbegehren gefordert, die Studiengebühren abzuschaffen. Das Parlament kann dem Begehren zustimmen - das will die CSU. Oder es lehnt ab und lässt das ganze Land per Volksentscheid abstimmen. Das will die FDP, erklärt Fraktionschef Hacker:"Unsere Position ist klar: Wir wollen den Volksentscheid zusammen mit dem Wahltag. Die Bürgerinnen und Bürger haben das gefordert, und diesen Wunsch wollen wir respektieren. Punkt."Punkt, sagt der Liberale. "Keine Kompromisse", fügt sein Parteifreund Tobias Thalhammer hinzu. In der Münchner FDP kursiert sogar schon eine Einladung zu einer Sitzung, unter TOP 6 heißt es da: "Sofortmaßnahmen Wahlkampf bei vorgezogener Wahl."Sollte die Koalition im Freistaat tatsächlich sieben Monate vor dem regulären Wahltermin am Thema Studiengebühren zerbrechen?"Ich würde im Moment die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns verständigen, als höher einstufen als die Möglichkeit, dass es scheitert."Seehofers Einschätzung klingt nur scheinbar abwiegelnd. Denn sie bedeutet: Es steht Spitz auf Knopf. Der bayerische Ministerpräsident weiß: Die FDP will keine vorgezogene Wahl, denn die Liberalen kommen in Umfragen auf gerade mal drei Prozent. Und ihr Wirtschaftsminister Martin Zeil müsste um seinen Posten fürchten. Er wiegelt ab."Der Wahltermin wird nicht vor dem 15.September liegen. Die Staatsregierung hat sich verständigt, dass der Wahltermin am 15.September sein wird."Aber nur, wenn die CSU-Abgeordneten im Landtag vorher nicht gegen die Studiengebühren und damit gegen den Koalitionsvertrag stimmen. Die Opposition zieht die CSUler derzeit am Nasenring durch das Maximilianeum: Die Schwarzen seien erst für, dann gegen, dann wieder für und wieder gegen die Studiengebühren, unkt die SPD-Abgeordnete Isabell Zacharias genüsslich.Zwischenzeitlich ist sogar schon zu beobachten, dass immer mehr Christdemokraten bei den regelmäßigen Dringlichkeitsanträgen der Opposition nicht im Plenarsaal sitzen, sondern - um nicht abstimmen zu müssen - heimlich auf der Toilette verschwinden. "Harndrang statt Fraktionszwang" witzelt Claudia Stamm von den Grünen.Die Opposition will die CSU bis September in punkto Studiengebühren quälen - mit Abschaffungsanträgen. Das werden die Seinen nicht monatelang durchhalten, fürchtet Parteichef Seehofer und warnt: "Dass es für die CSU objektiv sehr schwer wäre, die Weggabelung Volksentscheid zu gehen. Das sehen Sie ja an den Abgeordneten. Die sagen schlicht und einfach: Es geht um unsere Glaubwürdigkeit. Die schätzen sie höher ein als alles andere."Gestern Abend trafen sich FDP und CSU in kleiner Runde in der Staatskanzlei zum Vermittlungs- im Klarext: Krisengespräch. Kurz vor Mitternacht gab's dann einen Schnaps - aber kein Ergebnis. Ein müder CSU-Fraktionschef Georg Schmid erklärt:"Wir haben uns aufeinander zubewegt und haben festgelegt, dass wir bis zur nächsten Plenarwoche eine Verständigung herbeiführen wollen."Die nächste Plenarwoche beginnt Montag in einer Woche. Davor steht der Politische Aschermittwoch an, in Bayern wird dann traditionell die Wahlkampftrommel geschlagen.Und die SPD hat schon mal die Homepage www.drehhofer.de gestartet. Auf ihr wollen sie dokumentieren, dass Horst Seehofer seine Meinung so häufig wechselt wie das Wetter in der Oberpfalz.Dort, auf dem Marktplatz von Berching, erhebt der bayerische Ministerpräsident seine Form der Politik zur Staatskunst:"Wenn Sie heute die Geschichtsbücher lesen, dann werden Sie feststellen, dass die Historiker schreiben, dass dieses Wechseln - einmal da und einmal dort, aber immer auf der Seite der Erfolgreichen - dass dies ein historischer Weitblick war. So steht es heute bei Hubensteiner, der die bayerische Geschichte geschrieben hat."Die Bayern, sagt Seehofer, hätten immer auf der Seite der Sieger gestanden. Und wenn sie ausnahmsweise mal zu verlieren drohten, hätten sie schleunigst die Seiten gewechselt.Aber wo ist im Streit um die Studiengebühren die Gewinnerseite? Verlieren am Ende nicht beide - CSU und FDP, wenn sie sich nicht einigen?Neulich hat Seehofer mit Angela Merkel telefoniert. Ihr hat er schon oft kluge Tipps in punkto Wahlkampftaktik gegeben. Dieses Mal aber war sie die Ratgeberin. Beendet die Diskussion um die Studiengebühren schnell, hat sie empfohlen, soviel lässt Seehofer durchblicken. Aus gutem Grund: Scheitert Schwarz-Gelb in Bayern an dieser - aus Berliner Sicht - Kleinigkeit, wird auch Schwarz-Gelb auf Bundesebene wanken. "Es würde der Koalition auch nicht bekommen, daraus eine Endlos-Unterhaltung zu machen."Eine Einigung muss her. Schleunigst. Derzeit aber spielen CSU und FDP in Bayern noch Beamtenmikado: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.
Von Michael Watzke
Die CSU würde die Studiengebühren gerne im Parlament abschaffen, weil sonst im Herbst dazu ein Volksentscheid droht. Die FDP möchte lieber die Bürger abstimmen lassen. Ministerpräsident Horst Seehofer könnte sich mit diesem Streit selbst Schachmatt setzen.
"2013-02-07T19:15:00+01:00"
"2020-02-01T16:07:00.241000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schwarz-gelbe-koalition-in-bayern-auf-der-kippe-100.html
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Obama sieht Land "am Abgrund"
Blauhelmsoldaten bei der UNO-Mission UNMISS im Südsudan. (afp/UNMISS) Die Bundeswehr hat wegen der anhaltenden Gewalt damit begonnen, Deutsche und andere Ausländer aus dem ostafrikanischen Krisenland auszufliegen. "Die Zustände im Südsudan sind so, dass wir sofortige Hilfsmaßnahmen ergreifen mussten, um dort lebende deutsche Staatsangehörige zu evakuieren und auszufliegen", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. 55 Menschen wurden nach Angaben des Auswärtigen Amtes bereits aus der südsudanesischen Hauptstadt Juba nach Entebbe in Uganda in Sicherheit gebracht. Ein zweites deutsches Flugzeug sollte weitere Westeuropäer ausfliegen. Insgesamt sollen bis zu 100 Deutsche in Sicherheit gebracht werden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes in Berlin wurde auch der deutsche Botschafter ausgeflogen; ebenso drei deutsche Polizisten, die bisher an einer EU-Mission beteiligt waren. Die zwölf deutschen Soldaten, die an der UNO-Friedensmission im Südsudan beteiligt sind, bleiben vorläufig im Land. Auch die USA, Großbritannien, die Niederlande und Italien flogen Landsleute aus. US-Flugzeuge im Südsudan beschossen Laut einem Bericht der BBC wurden am Samstag zwei US-amerikanische Evakuierungs-Flugzeuge beim Anflug auf die Stadt Bor beschossen. Es habe mehrere Verletzte gegeben, meldete der britische Sender unter Berufung auf Regierungsmitarbeiter in Uganda, wo die Maschinen schließlich landeten. Die Stadt Bor ist unter Kontrolle von Truppen, die auf der Seite von Riek Machar stehen. US-Präsident Barack Obama forderte unterdessen die Konfliktparteien zu Verhandlungen und einem Ende der Kampfhandlungen auf. "Südsudan steht am Abgrund", warnte er. Nach einem jahrelangen "Teufelskreis der Gewalt" hätten im Südsudan alle auf Frieden und Wohlstand gehofft. Nun drohe das Land, "in die dunklen Tage seiner Vergangenheit" zurückzufallen. Die Afrikanische Union (AU) entsandte eine Vermittlerdelegation in die Hauptstadt Juba. Die USA und die Vereinten Nationen wollten ihre jeweiligen Kontingente an Sicherheitskräften im Land verstärken. Hunderte Tote, unter ihnen auch zwei UNO-Soldaten Ein Sprecher der südsudanesischen Streitkräfte sagte nach einem Bericht der "Sudan Tribune", es habe in der Hauptstadt Juba etwa 450 Tote gegeben, darunter seien 100 Soldaten. Erstmals wurden auch zwei UNO-Soldaten Opfer des Machtkampfes. Bei einem Angriff auf einen UNO-Stützpunkt in Akobo in der Provinz Jonglei wurden zwei indische Soldaten der UNO-Friedenstruppe getötet. Zunächst war von drei toten Soldaten die Rede gewesen. Auch mehr als 20 Zivilisten starben bei der Attacke. In der Basis haben mehr als 10.000 Menschen Zuflucht gesucht. Machtkampf zwischen Präsident und Ex-Stellvertreter Im ölreichen Südsudan, der sich im Juli 2011 vom Sudan unabhängig erklärt hatte, gibt es seit vergangenem Sonntag schwere Kämpfe zwischen rivalisierenden Fraktionen der Armee. Die Auseinandersetzungen hatten sich an einem Machtkampf zwischen Präsident Salva Kiir und seinem im Juli entlassenen ehemaligen Stellvertreter Riek Machar entzündet. Die Vereinten Nationen befürchten, dass sich die Kämpfe zu einem Bürgerkrieg zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen ausweiten. Außenminister Barnaba Marial Benjamin betonte jedoch, bei den Unruhen handele es sich nicht um einen ethnischen Konflikt. Dies sei ein Militärputsch, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. Präsident Kiir gehört der in der Regierungspartei und früheren Rebellentruppe SPLM (Sudanesische Volksbefreiungsbewegung) vorherrschenden Volksgruppe der Dinka an, Machar ist ein Lou Nuer. In dem Land gibt es aber noch weitere untereinander verfeindete Völker. Nach UNO-Angaben suchen bereits 35.000 Menschen Schutz vor den Kämpfen in Einrichtungen der Vereinten Nationen.
null
Afrika droht ein neuer Bürgerkrieg: Angesichts der anhaltenden Kämpfe im Südsudan forderte US-Präsident Barack Obama die Konfliktparteien dringend zu Verhandlungen auf. Die Bundeswehr bringt Deutsche außer Landes.
"2013-12-20T20:03:00+01:00"
"2020-02-01T16:52:06.581000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/suedsudan-obama-sieht-land-am-abgrund-100.html
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Keiner wie der andere
Das Eis in Grönland und in der Antarktis schmilzt immer schneller (picture-alliance / dpa / Albert Nieboer) So genau hat sich noch niemand die größte Insel der Welt von oben angeschaut. An fast hunderttausend Stellen von Grönland bestimmte die US-Raumfahrtbehörde NASA in den vergangenen Jahren die Höhe des Eispanzers, mit sogenannten Laserlicht-Altimetern an Bord von Satelliten und Flugzeugen. Diesen Wust von Daten werteten Forscher aus vier Nationen jetzt erstmals vollständig aus. Unter ihnen Michiel van den Broeke, Professor für Polare Meteorologie an der Universität Utrecht in den Niederlanden. "Aus unserer Studie lernen wir zum einen, dass Satelliten unerlässlich sind zur Überwachung des Eisschildes. Und zum anderen, dass sich Grönlands Gletscher individuell sehr unterschiedlich verhalten. Es genügt nicht, sich einige von ihnen anzuschauen und dann zu glauben, man könne so die Entwicklung des ganzen Eisschildes in der Zukunft schließen. Man muss wirklich alle Gletscher berücksichtigen." Die bodennahe Luft in Grönland hat sich stark erwärmt - um rund zwei Grad Celsius in den letzten hundert Jahren. Auch der Ozean ist wärmer geworden, was zumindest die sogenannten Auslassgletscher spüren. Das sind jene an der Küste, die sich Richtung Meer schieben und ihr Eis nach und nach an den Ozean verlieren. Grönland reagiert dabei doppelt auf die Erwärmung: Die Gletscher schmelzen nicht nur an ihrer Oberfläche; viele fließen auch beschleunigt ins Meer ab. Beide Prozesse tragen gleichermaßen zum Eismassen-Verlust der Insel bei. Das Verhalten der Gletscher sei aber viel komplizierter als bisher gedacht, sagt auch Bea Csatho, Professorin für Geologie an der Universität von Buffalo in den USA: "Schauen wir uns zum Beispiel den Südosten Grönlands an. Diese Region macht zwar nur ein Zehntel des Eisschildes aus. Zwischen 2003 und 2009 spielte sich hier aber fast die Hälfte des gesamten grönländischen Eis-Verlustes ab. Es gibt dort viele kleine, direkt benachbarte Gletscher. Und man stellt fest: Der eine schmilzt ab, der andere wächst, während ein dritter zur selben Zeit beschleunigt abfließt. Forscher befürchten, dass Grönlands Eisverlust unterschätzt wird Wie viel Eis an der Oberfläche der Gletscher schmilzt, weil die Luft wärmer wird - das können die Polarforscher ganz gut abschätzen. Anders verhält es sich mit der Dynamik der Eisströme in Grönland, mit ihrer Bewegung. Viele Auslassgletscher haben Phasen, in denen sie beschleunigt ins Meer abfließen. Doch dann kommen sie plötzlich zum Halten, und ihr Eispanzer wächst sogar wieder. Erklären könne er diese Dynamik bisher nicht, sagt Polarmeteorologe van den Broeke: "Wir müssen zugeben, dass wir diese Dynamik der Gletscher in unseren Computermodellen bisher nicht simulieren können. Dafür gibt es allerdings einen simplen Grund. Viele Auslassgletscher fließen in tiefe Fjorde. Die Wasserströmungen dort sind aber sehr kompliziert und lokal sehr unterschiedlich. Wenn wir wissen wollen, wie das Meer die Gletscher von unten erwärmt und abtaut und so ihren Abfluss verändert, dann müssen wir diese lokalen Strömungen in unseren Modellen mit berücksichtigen. Dafür reicht ihre räumliche Auflösung heute aber noch nicht aus. Das ist der nächste Schritt, den wir gehen müssen! Grönlands Eispanzer dehnt sich über 1,7 Millionen Quadratkilometer aus. Deutschland würde fast fünf Mal hineinpassen. Auf der Insel gibt es vermutlich über 20.000 einzelne Gletscher. Nur vier von ihnen werden aber bisher in den Szenarien der Klimaforscher für Grönlands künftige Entwicklung berücksichtigt. Und darunter ist auch noch ein Eisstrom im Norden, der seine Fließgeschwindigkeit so gut wie gar nicht verändert hat. Im Gegensatz zu so vielen anderen Gletschern, die verstärkt an Substanz verlieren. Die Forscher fürchten deshalb, dass der Eisverlust in Grönland in den heutigen Prognosen unterschätzt wird. Verlässlichere Vorhersagen wird es ihrer Meinung nach erst dann geben, wenn die Modelle höhere Auflösungen haben – und sich auf viel mehr als nur vier Gletscher stützen.
Von Volker Mrasek
Die Eisgletscher lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Wie Forscher nun herausfanden, gibt es dort höchst unterschiedliche Gletscher, was Prognosen über ihr Abtauverhalten erschwert. Sicher scheint aber, dass der Eisverlust bisher unterschätzt wurde.
"2014-12-16T16:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:19.656000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/groenlands-gletscher-keiner-wie-der-andere-100.html
90,755
Die USA suchen nach Optionen
Sergej Lawrow und John Kerry bei einer UNO-Sitzung. In Lausanne beraten sie wieder über den Syrienkonflikt. (AFP) In Washington macht sich niemand große Hoffnungen, dass die neue Gesprächsrunde in Lausanne zu einem Durchbruch führen wird. Ein Erfolg wäre es schon, wenn sich alle Beteiligten auf eine kurze Feuerpause einigen, damit Aleppo mit humanitären Hilfsgütern versorgt werden kann. US-Außenminister Kerry will dennoch nichts unversucht lassen, um die Luftangriffe des syrischen Regimes auf die Zivilbevölkerung zu stoppen. Dass nur Russland den syrischen Machthaber Assad davon abhalten kann, Putin jedoch genau das Gegenteil tut, das sorgt in Washington für Empörung und Frust. Josh Earnest, der Sprecher des Weißen Hauses: "Das ist zutiefst besorgniserregend. Es ist unmoralisch und verstößt direkt gegen jene Werte, die wir vertreten." Doch bringt John Kerry mehr mit nach Lausanne als moralische Appelle an das Gewissen der russischen Regierung? Noch am Freitagabend versammelte US-Präsident Obama seinen Nationalen Sicherheitsrat, zu dem auch Kerry gehört. Es ging um die verbleibenden Optionen der US-Regierung, Russland und das syrische Regime zur Vernunft zu bringen. Mark Toner, der Sprecher des US-Außenministeriums: "Wir haben uns mehrere Optionen angeschaut: wirtschaftliche, militärische und andere Wege, um mehr Druck ausüben zu können und mehr Einfluss in Syrien zu bekommen." Kerry versuchte, Obama zu Militäreinsätzen zu überreden Innerhalb der Obama-Regierung mehren sich die Stimmen, dass sich die USA in Syrien stärker militärisch engagieren müssen. Nur diese Sprache verstünden Putin und Assad. Die weitestgehende Option sieht US-Luftangriffe auf syrische Militärstützpunkte vor, sowie auf Luftabwehrstellungen und Munitionsdepots des Assad-Regimes. Kritiker warnen jedoch, dadurch könnten schlimmstenfalls russische Soldaten durch US-Raketen getötet werden. Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland in Syrien will Präsident Obama jedoch unbedingt vermeiden. Eine andere militärische Option wäre es, die von den USA unterstützten Rebellen mit modernen Waffen auszurüsten. Doch auch davor scheute Obama bislang zurück, weil er befürchtet, dass dann gefährliche Waffen wie Flugabwehrraketen in den Händen radikaler Islamisten landen könnten. Außenminister Kerry versuchte mehrfach, Obama zu Militäreinsätzen zu überreden. Leider vergeblich, gestand Kerry kürzlich in einem vertraulichen Gespräch mit syrischen Oppositionsgruppen, das dem Sender CNN zugespielt wurde: "Vier Leute in der Regierung haben allesamt für einen Militäreinsatz argumentiert. Aber ich habe mich nicht durchsetzen können." Obama hat andere Prioritäten Kaum vorstellbar also, dass sich Obama in den verbleibenden 100 Tagen seiner Amtszeit doch noch stärker militärisch in Syrien engagiert. Zumal Obama bis zu seinem Ausscheiden andere Prioritäten hat: Der sogenannte Islamische Staat soll weiter zurückgedrängt und die irakische Stadt Mossul zurückerobert werden. Deshalb gilt es in Washington als wahrscheinlicher, dass die US-Regierung weitere Sanktionen des Westens gegen Russland und Syrien anstrebt, sollten diese ihre Angriffe auf Aleppo fortsetzen: und zwar gegen jene Personen und Militäreinheiten, die für den Einsatz der bunkerbrechenden Bomben verantwortlich sind. Einzelheiten könnte Kerry mit den Außenministern von Deutschland, Großbritannien und Frankreich besprechen, die er am Sonntag in London trifft.
Von Martin Ganslmeier
Während der syrische Machthaber Assad mit russischer Hilfe versucht, die Stadt Aleppo möglichst schnell einzunehmen, wird heute in Lausanne wieder ein Versuch unternommen, die Spirale der Gewalt diplomatisch zu stoppen. Die USA sind aber auch wegen des nahenden Endes der Präsidentschaft von Barack Obama kaum handlungsfähig.
"2016-10-15T06:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:40.199000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-syrien-gespraeche-in-lausanne-die-usa-suchen-nach-100.html
90,756
Nordkorea kein normales Reiseland
Reisen nach Nordkorea seien immer eine durchorganisierte Geschichte, sagte Rüdiger Frank im Dlf. "Es gibt keinen Individualtourismus." (Jiji Press) Daniel Heinrich: Ich spreche mit Rüdiger Frank, Ostasien-Experte der Universität Wien. Herr Frank, die nordkoreanischen Behörden sprechen von Lebensmittelvergiftung als Todesursache. Glauben Sie das? Rüdiger Frank: Das ist natürlich jetzt sehr, sehr schwer nachzuvollziehen, warum jemand vor 16 Monaten, denn so lange ist das ja her, ins Koma gefallen ist, und ich glaube, es ist auch überhaupt nicht relevant, egal ob es jetzt eine Lebensmittelvergiftung war, ein Unfall oder ein Selbstmordversuch. Fakt ist, dass die Situation von den nordkoreanischen Behörden herbeigeführt worden ist, und damit sind sie auch dafür verantwortlich. Heinrich: Warum, Herr Frank, sollte Pjöngjang in diesem Fall die Unwahrheit sagen? Frank: Ich denke, man hat große Sorge, Angst auch vor den Konsequenzen. Man hat ja sehr lange verheimlicht, dass der Otto Warmbier in diesem komatösen Zustand ist. Man hat vermutlich gehofft, dass er sich wieder erholen wird. Es ist denen völlig klar, dass das scharfe Reaktionen in den USA gibt. Er war ja auch ein kleines Licht. Ich denke auch nicht, dass man wirklich die Absicht hatte, ihn da irgendwo körperlich zu misshandeln. Aber es ist nun mal dazu gekommen, jetzt muss man damit umgehen. Heinrich: Das Regime in Pjöngjang, Sie sagen, hat Angst? Frank: Ich denke schon. Das ist ein kleines Land. Dieses ganze Atomprogramm und all dieses aggressive Gehabe auch nach außen ist ja letztlich Ausdruck der Tatsache, dass man schon sehr besorgt ist um die Sicherheit des Regimes, um die Sicherheit des Landes. Da ist sicherlich einiges an Propaganda dabei, aber auch vieles an historischer Erfahrung. Man beobachtet, wie die USA mit anderen Ländern umgehen, die ihnen nicht in den Kram passen, und hat große Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Ja, ich denke, da herrscht tatsächlich Angst in Pjöngjang. "Für Ausländer sind die Haftbedingungen in der Regel nicht schlimm" Heinrich: Ich habe bei der Vorbereitung für dieses Gespräch gelesen, es gibt in Nordkorea vier ganz große Haftanstalten, 120.000 politische Gefangene in dem Land. Wie schlimm sind die Haftbedingungen für die? Frank: Für Ausländer sind die Haftbedingungen in der Regel nicht schlimm. Wir haben ja doch einiges bedauerlicherweise auch an Erfahrungen in diesem Bereich, Menschen, die freigelassen worden sind und darüber berichtet haben, wie sie in Nordkorea untergebracht waren. Die haben zum Teil in Gästehäusern gelebt, zum Teil sogar in internationalen Hotels wie der Merrill Newman zum Beispiel. Eine Ausnahme wäre Kenneth Bae, das ist ein Amerikaner koreanischer Abstammung, der tatsächlich nicht nur zur Schwerstarbeit verurteilt wurde, sondern auch tatsächlich schwere Arbeit leisten musste. Aber auch der war in einer separaten Einrichtung. Ausländer haben mit diesen üblichen Lagern, Haftanstalten Nordkoreas nichts zu tun. Das macht es aber nicht besser. Es ist trotzdem eine große Herausforderung, nicht nur körperlich, sondern vor allem auch seelisch. Heinrich: Dann wäre der Fall Otto Warmbier nicht der Präzedenzfall? Frank: Ich glaube nicht, dass Otto Warmbier tatsächlich körperlich misshandelt worden ist. Man kann das natürlich nicht ausschließen. Ich glaube aber aufgrund meiner eigenen Erfahrungen im Umgang mit Nordkorea, dass gerade der seelische Stress für ihn das größere Problem war. Man hat auch gesehen, wie er in dieser öffentlichen Vorführung, der man ihn ausgesetzt hat, damals als er da vor die Kameras gezerrt wurde und seine Verbrechen gestehen musste, wie er dort auch schon hysterisch quasi reagiert hat. Er hat geweint. Man hat gesehen, das ist ein sehr sensibler Mann, und ich glaube, der ist einfach mit diesem Druck nicht zurechtgekommen. Heinrich: Wenn wir über ausländische Gefangene sprechen, haben Sie gesagt, die Haftbedingungen seien für sie nicht so schlimm. Lassen sie uns mal auf die koreanischen Häftlinge gucken. Ist da Folter an der Tagesordnung? Gibt es Folter, was für Folter gibt es? Frank: So etwas ist natürlich als Außenstehender immer sehr schwer zu sagen. Aber wir haben eine reichhaltige Zahl an Berichten von Menschen, die Nordkorea verlassen haben, die geflohen sind und über ihr Schicksal dort berichtet haben. Da kommen immer und überall Geschichten vor über auch körperliche Misshandlung, systematische Folter und Ähnliches. Fragwürdige Reiseunternehmen Heinrich: Herr Frank, eine Frage zu dem Reiseunternehmen, mit dem Otto Warmbier unterwegs war. Sie kennen dieses Reiseunternehmen. Tourismus nach Nordkorea, wie gefährlich ist das? Frank: Reisen nach Nordkorea ist immer eine durchorganisierte Geschichte. Es gibt keinen Individualtourismus. Man wird vom Flughafen bis zum Flughafen betreut, so könnte man es nennen. Manche nennen es auch überwacht. Andererseits hat sich so was wie eine Tourismusindustrie zum Thema Nordkorea herausgebildet, die gerade auch auf den sogenannten Freak-Faktor setzt, also darauf, dass Nordkorea anders ist. Es wird auch so angepriesen, und der Anbieter Young Pioneer Tours[*], mit dem Otto Warmbier verreist ist, ist einer der extremsten Anbieter in diesem Bereich. Deren Zielgruppe sind junge Menschen, die auf Abenteuer, auf Thrill setzen, und man versucht, das durchaus auch zu forcieren. Heinrich: Was ist da passiert bei Otto Warmbier? Frank: Nach dem, was wir wissen, war es wohl eine recht lustige Runde aus Leuten, die dort tatsächlich jede Menge Spaß hatten, sich mit lustigen Fellmützen und lustigen Posen da haben vor den einzelnen Sehenswürdigkeiten fotografieren lassen. Meiner Erfahrung nach - ich bin sehr oft auch mit Touristengruppen nach Nordkorea gefahren - gehen die Menschen auch mit der ja doch sehr komplizierten, auch emotionalen Situation, die man durchlebt, wenn man da hinfährt, unterschiedlich um. Viele konsumieren reichlich Alkohol und versuchen, auch irgendwo den Druck zu kompensieren durch zum Teil wilde hysterische Reaktionen. Heinrich: Moment! Ein Spaßurlaub in Nordkorea? Frank: Ja. So wird es verkauft. Ich muss ehrlich sagen, ich halte das auch für sehr fragwürdig. Ich bin damit sehr skeptisch. Ich persönlich halte auch nichts zum Beispiel davon, zum Skifahren nach Nordkorea zu fahren, was auch angepriesen wird, was auch möglich ist. Ich finde, das wird dem Land nicht gerecht. Ich kann Menschen verstehen, unterstütze sie auch, die hinfahren, um etwas über das politische System zu lernen, etwas zu begreifen. Aber es gibt tatsächlich auch Reisegruppen, Reiseveranstalter, die darauf setzen, dort ganz normalen Spaß zu haben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. [*] Anm. d. Red.: An dieser Stelle nannte Frank in der Sendung irrtümlich den Namen eines anderen Nordkorea-Reiseveranstalters (Uri Tours) und korrigierte sich nach dem Interview. Otto Warmbiers Reise wurde von Young Pioneer Tours organisiert. YPT hat als Konsequenz aus dem Fall Warmbier angekündigt, vorerst keine Reisen nach Nordkorea mehr anzubieten.
Rüdiger Frank im Gespräch mit Daniel Heinrich
Der Asienexperte Rüdiger Frank von der Universität Wien hat angesichts des Falls Otto Warmbier Teile der Tourismusindustrie kritisiert. Nordkorea werde als ein Land mit "Freak-Faktor" angepriesen, in dem man "ganz normalen Spaß" haben könne. "Ich finde, das wird dem Land nicht gerecht", sagte Frank im Dlf.
"2017-06-20T23:16:00+02:00"
"2020-01-28T10:33:21.662000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fall-otto-warmbier-nordkorea-kein-normales-reiseland-100.html
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Radio für mehr Afrika in Portugal
Die Journalistin Carla Fernandes will schwarze Menschen in Portugal stärken (Tilo Wagner) Aus einer kleinen Bar im Lissabonner Altstadtviertel Alfama klingen melancholische Moll-Akkorde: Eine junge Sängerin studiert mit ihrem Gitarristen kapverdische Lieder für ein Abendprogramm ein. Hinter der Theke steht Carla Fernandes und hört zu: Große braune Augen, Rastalocken, an ihren Ohren baumeln Muschel-Ringe. Die 38-jährige veranstaltet in ihrer Bar kleine Konzerte, Lesungen und Diskussionsrunden. Einmal in der Woche setzt sich Fernandes mit einem Gesprächsgast an einen runden Tisch, holt ihr Aufnahmegerät hervor und zeichnet ein Interview auf. Das Radiomachen hat Carla Fernandes in Bonn gelernt. Fünf Jahre lang arbeitete sie beim portugiesischsprachigen Afrika-Programm der Deutschen Welle, bevor sie 2013 zurück in ihre Heimatstadt Lissabon ging: "Ich wollte mit den Geschichten über Afrika, die ich von Deutschland aus erzählte, nicht mehr weitermachen. Es waren gute Geschichten, aber mir fehlte die Nähe. Ich wollte über Dinge berichten, die ich selber gesehen und erlebt habe. Ich wollte den Leuten, mit denen ich mich unterhielt, direkt gegenübersitzen. Diese Nähe zu den Themen, über die ich berichte, gibt mir auch eine größere Legitimität. Also habe ich das Projekt Radioblog Afrolis gegründet. Dank der neuen Kommunikationsmittel habe ich die Möglichkeit, meine eigene Plattform im Internet zu schaffen. Ich kann nun Geschichten erzählen, die von den Mainstreammedien nicht aufgegriffen werden." In Alfama, der Altstadt von Lissabon, betreibt die Journalistin Carla Fernandes eine kleine Bar (picture alliance / dpa / EPA / Filip Singer) Diesmal geht es um ein Kulturprojekt: Pedro Barbosa, der Leiter einer afrobrasilianischen Tanzgruppe, spricht über eine anstehende Aufführung in Lissabon: Ein Tanz-Musical über das westafrikanische Yoruba-Volk, dessen religiöse Traditionen großen Einfluss in Brasilien und der Karibik haben. "Uns geht es darum, zu zeigen, dass wir viel mehr Geschichten von uns Schwarzen auf den Bühnen brauchen. Im Tanzbereich gibt es unendlich viele Geschichten der Weißen, der Europäer. Aber das betrifft uns nicht. Wir müssen unseren Standpunkt deutlich machen." Den latenten Rassismus durchbrechen Mit diesem Statement ihres Interviewgastes beendet Carla Fernandes das Gespräch. Sie schaltet das Aufnahmegerät aus und nickt anerkennend. Fragen nach Identität und Selbstbestimmung spielen in ihrem Radioblog eine große Rolle. Und das habe auch etwas mit ihrer eigenen Geschichte zu tun, sagt sie: Anfang der 80er-Jahre kam sie als Kleinkind mit ihren Eltern aus Angola nach Portugal und lebte südlich von Lissabon in einem Sozialviertel. "Es herrschte eine familiäre Atmosphäre dort, die aber auch voller Gegensätze war. Fast alle Bewohner kamen aus Afrika, sowohl die Weißen wie auch die Schwarzen, und dadurch gab es eine Menge Berührungspunkte. Rassistische Ressentiments wurden überlagert von den gemeinsamen Erfahrungen, die wir in Afrika gemacht hatten: Wir sprachen über Essen oder gewisse Wörter und Ausdrücke. Da war viel Folklore dabei, aber es brachte uns enger zusammen." Das änderte sich, als Fernandes nach dem Studium ins Zentrum der portugiesischen Hauptstadt zog: "Ich habe den Rassismus zum ersten Mal gespürt, als ich mich hier frei bewegte, nach einem Job suchte und eine Wohnung mieten wollte. Das war schwierig: Ich schwarz und mein Freund Spanier – das ging gar nicht. Da hieß es: Die Spanier sind Banditen, und die Schwarzen sind Diebe und bringen immer die ganze Familie mit. Aber ich dachte immer noch, dass sich der Rassismus eher auf einer zwischenmenschlichen Ebene abspielte und kein strukturelles Problem war." Carla Fernandes denkt heute anders. Sie glaubt, dass Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln viel stärker auftreten müssen, um den latenten Rassismus in den portugiesischen Institutionen zu durchbrechen. Deshalb hat sie ihre Bar auch "Lugar de fala" genannt – übersetzt: Standpunkt. "Der Begriff 'Standpunkt' bezieht sich auf ein Konzept aus dem Kreis des afroamerikanischen Feminismus' der 1980er-Jahre. Es geht um folgende Idee: Du kannst als Weißer gegen den Rassismus kämpfen, aber vorher musst du wissen, wer du bist, woher du kommst, wie die Geschichte deiner Heimat ist; nur dann kannst du dich mit mir unterhalten: Carla, eine schwarze Frau, Tochter angolanischer Migranten, die in Portugal lebt." Die Idee der Selbstbestimmung Für den frühen Abend hat Carla Fernandes zu einer Poesielesung eingeladen. Über ein Dutzend junger Lissabonner hat auf den kleinen Hockern in der Bar Platz gefunden. Vor einem Ecktisch steht Elsa Noronha mit einem Haufen loser Blätter und Notizen in den Händen. Die 83-Jährige ist die Tochter von Rui de Noronha, der als Wegbereiter der modernen mosambikanischen Lyrik gilt. Sie selbst sei keine Dichterin, sagt Noronha, sondern eine Gedichte-Aufsagerin. "Quero ser tambor" – "Ich will Trommel sein". Es ist ein berühmtes Gedicht des mosambikanischen Poeten João Craveirinha, der, ohne je eine Waffe in die Hand genommen zu haben, in Mosambik als Befreiungsheld gefeiert wurde. Noronhas rhythmische Stimme klingt durch den Raum, ein junger Mann mit Rastalocken begleitet das Gedicht mit seiner Mbira. Carla Fernandes sitzt an einem Tisch und lächelt: Für einen kurzen Moment scheint die Idee der Selbstbestimmung in ihrer Bar eine vollkommene Form gefunden zu haben.
Von Tilo Wagner
In den portugiesischen Medien sind Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund unterpräsentiert. Die Journalistin Carla Fernandes will das ändern. In ihrem Radioblog Afrolis will sie Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln eine Plattform bieten.
"2018-06-01T09:18:00+02:00"
"2020-01-27T17:53:53.403000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-afrikanische-lissabon-5-5-radio-fuer-mehr-afrika-in-100.html
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Poetische Landnahme im Sperrgebiet
Buchcover Isabel Fargo Cole: "Die grüne Grenze" und ein Foto der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse 2017 (Edition Nautilus / Deutschlandradio Jelina Berzkalns) Julius Cäsar, Tacitus und Plinius der Ältere waren die ersten Ausländer, die in ihren Schriften von den Wundern des Harzes kündeten. Auf den Kämmen des deutschen Mittelgebirges wollten die Römer knielose Elche gesichtet haben, die sich zum Schlafen an die Bäume lehnten, oder Vögel, deren Gefieder nachts leuchte wie Feuer. Eine ähnlich starke Faszination muss der Herzynische Wald, wie der Harz nach der germanischen Überlieferung genannt wird, auch auf die Amerikanerin Isabel Fargo Cole ausgeübt haben. Die sprechenden Namen der Dörfer Sorge und Elend gingen der Germanistikstudentin aus Illinois nicht mehr aus dem Kopf: "Das fing damit an, dass ich 1991 das erste Mal durch Ostdeutschland gereist bin mit meiner ehemaligen Austauschpartnerin, da sind wir auch durch den Harz gefahren mit der Schmalspurbahn durch Sorge und Elend. Und da bleiben diese Namen natürlich hängen. Und dass auf dem Brocken dann eben diese russische Abhöranlage war und dieses sich Überschneiden von mythischer und Zeitgeschichte und diese Grenze: Da dachte ich mir schon, das ist wirklich eine spannende Gegend. In den 90ern, als ich in Berlin gelebt habe, war ich mal wieder dort auf Wanderurlaub und habe mich da auch ein bisschen mit diesen Grenzgeschichten beschäftigt und mit der Geschichte. Das wucherte irgendwann alles und es kam immer mehr zusammen und ich habe gemerkt, wie viele Schichten es da gibt in dieser Gegend." Wie ein am Überhang stehen gebliebener Zug "Die grüne Grenze" heißt Isabel Fargo Coles Debütroman, den sie in traumsicherem Deutsch geschrieben hat. Sie pflegt einen elegischen, versonnenen Stil, der Seltenheitswert hat. "Das Dorf Sorge liegt im Tal wie ein am Überhang stehen gebliebener Zug. Westlich der Eisenbahnbrücke ziehen sich die Waldhänge leicht zusammen, schon die Auen sind von einem undurchdringlichen Grün, wie auf einem gemalten Bild; nur ein Kind will wissen, was hinter einem Bild steckt." Der atmosphärisch dichte Zeitroman setzt 1973, dem Geburtsjahr der Autorin, im einstigen DDR-Teil des Harzes ein und endet 1987. Um die Geschichte des jungen Künstlerpaares Thomas und Editha möglichst exakt verorten zu können, las sich Isabel Fargo Cole in die jahrhundertealte Sagenwelt der Region ein. Außerdem unternahm sie aufwendige Recherchen, unter anderem im Landesarchiv Sachsen-Anhalt, im Bundesarchiv und in der Harzbücherei Wernigerode. Vor allem aber sprach sie mit Bewohnern des damaligen Sperrgebietes, in dem auch der Ort Sorge lag. Pilzesammeln durfte man nur mit einer Sondergenehmigung. Suche nach dem russischen Ersatzvater Ausgerechnet dort, wo man nachts die ausgehungerten Hunde der DDR-Grenzsoldaten heulen hört, wähnt sich der Schriftsteller Thomas Grünwald in Sicherheit vor den Nachstellungen der Stasi – weit weg von Ost-Berlin, dessen Geisteszustand er als erregt und wirr erlebt, wie es heißt. Als jüdisches Waisenkind hatte er den Zweiten Weltkrieg in einem Versteck überlebt. Anschließend adoptierte ihn ein Rotarmist, der ihn aber wieder abgeben musste. Die Suche nach dem russischen Ersatzvater Lew durchzieht den Roman, dessen vielfältige Geheimnisse sich nach und nach märchengleich auflösen. Mit seiner schwangeren Frau Editha, einer Bildhauerin mit staatlichen Aufträgen, zieht Thomas im Frühjahr 1973 in das ehemalige Ausflugslokal der vermeintlich systemtreuen Schwiegermutter. Mit einiger Naivität will er ausgerechnet einen – wenn auch im Mittelalter spielenden - Roman über die Grenze schreiben. Schließlich hatte der Staatsratsvorsitzende Honecker in einer kurzen kulturpolitischen Entspannungsphase verkündet, in der Literatur gebe es keine Tabus mehr. Doch an dem Unterfangen, einen Roman über die innerdeutsche Grenze zu verfassen, sind schon manch andere gescheitert – etwa 1960 der Hamburger Journalist Karsch in Uwe Johnsons Leipziger Roman "Das dritte Buch über Achim". Auch für Isabel Fargo Cole hat die innerdeutsche Grenze eine autobiografische Bewandtnis. Als Vierzehnjährige sah die Amerikanerin zum ersten Mal die Berliner Mauer, seit 1995 lebt sie in der Stadt. "Ich war das erste Mal 1987 in Berlin. Wir haben in der achten Klasse einen Austausch bekommen mit Bielefeld mit kurzem Ausflug nach Berlin, da stand die Mauer noch. Wir hatten so eine ganz kurze Rundfahrt durch Ostberlin, und da war sofort das Bedürfnis da, irgendwie hinüber zu können und den Menschen zu begegnen, die auf der anderen Seite leben. Und als die Mauer dann weg war, da hatte ich eben mein College-Studium hinter mir in Chicago, dann bin ich einfach gleich nach Berlin." Viel gelesen und gesprochen, weniger gehandelt Nicht umsonst hat Isabel Fargo Cole einen Schriftsteller als Hauptfigur ihres vielschichtigen, dafür im Gegenzug kontemplativen und recht statischen Harzpanoramas gewählt. Thomas recherchiert über den Mönchsweg, er korrespondiert mit seinem Lektor und freundet sich mit dem örtlichen Antiquar an. Es wird in diesem Buch daher viel gelesen und gesprochen, dafür weniger gehandelt. "Des schlafenden Kaisers Bart breitete sich über den Einband, überwucherte die Vorsatzblätter, die Überschriften trieben aus, selbst die Farbdrucke schienen in geilem Wachstum begriffen. Das konnten die Menschen damals: sich der grauen Vernunft widersetzen, die grauen Gestalten von sich weisen. Man konnte das Buch kaum aus den Augen lassen, so wie es seine Triebe ausschickte." Thomas muss erkennen, dass selbst im abgelegensten Winkel der DDR kein apolitisches Leben möglich ist. Er wird zu unfreiwillig komischen Lesungen vor schreibenden Arbeitern aufgefordert und soll der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft Tribut zollen. Von ferne dringen Erschütterungen wie die Biermann-Ausbürgerung im November 1976 heran und drohen die Kleinfamilie zu destabilisieren. Thomas fühlt sich beobachtet, so dass er eine Geheimbibliothek anlegt. Das gibt Isabel Fargo Cole Gelegenheit, Plinius zu zitieren, aber auch tief in die deutsche Geschichte und deren Harzmythen abzutauchen, bis hin zu Görings Lebensborn-Heim in Wernigerode. "Dieser Waldmythos ist natürlich erst einmal ein identitätsstiftender deutscher Mythos und wurde von den Nazis missbraucht. Und das war so eine Spannung, die mich sehr interessiert hat, diese Idylle der Nazis, die sie heraufbeschworen haben, diese Naturidylle, dieses Einssein mit der Natur, dass sie sozusagen die Natur für sich reklamieren, dieses Utopische. Diese Harzkreise waren eben sehr wichtig in der Nazi-Ideologie, das waren eben die Kaiser, die oft eine Ostexpansion betrieben haben und Pate standen für diese Operation Barbarossa. Allmählich entwickelt sich die Tochter Eli zur zentralen Figur. Früh schon bekommt das aufweckte Mädchen mehr von seiner Umgebung mit, als es den Eltern recht sein kann. Eines Tages verschwindet Eli im dichten Wald – handelt es sich etwa um eine angeborene Neigung zur Republikflucht, wie es heißt? Das ist nur eine von vielen Fragen, die Isabel Fargo Cole bei ihrer geglückten poetischen Landnahme aufwirft, aber nicht unbedingt beantwortet – denn entscheidend an diesem Buch ist seine grüngesättigte Atmosphäre. Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze. Roman. Edition Nautilus, Hamburg. 496 Seiten, 26 Euro.
Von Katrin Hillgruber
Mit "Die grüne Grenze" legt die US-amerikanische Wahlberlinerin Isabel Fargo Cole einen atmosphärisch dichten Zeit- und Künstlerroman vor. Sie erzählt von einem jungen Ost-Berliner Künstlerpaar, das 1973 in den Harz zieht und sich ausgerechnet im DDR-Sperrgebiet in politischer Sicherheit wähnt.
"2018-01-19T16:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:35:45.061000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/isabel-fargo-cole-die-gruene-grenze-poetische-landnahme-im-100.html
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"Die Reformation steht noch aus"
Denkmal für den deutschen Reformator Martin Luther auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg (dpa / picture alliance / Jens Wolf) Irgendwo auf den 500 Seiten seiner fulminanten Reformationsgeschichte schreibt Thomas Kaufmann: "Eine 'deutschere' Gestalt als Luther hat es schwerlich gegeben." Dennoch: Mit deutschem Lutherkult, wie er bei den meisten Lutherjubiläen der vergangenen 500 Jahre gepflegt wurde, hat der Göttinger Kirchenhistoriker nichts am Hut. Das zeigt der Paukenschlag gleich am Anfang seines lesenswerten Buches. Schon im ersten Satz von "Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation" schlägt Kaufmann einen Ton an, der sich bis zur letzten Seite durchzieht - ein Satz, der die Nüchternheit und die Gelehrsamkeit des Autors widerspiegelt. Dieser erste Satz von Thomas Kaufmann lautet: "Wittenberg, 'am Rande der Zivilisation'. Von diesem traditionslosen deutschen Universitätsstädtchen ausgehend, wurde die Reformation binnen kürzester Zeit zu einem europäischen Ereignis." Ein europäisches Ereignis, ein extrem dynamischer Kommunikationsprozess, der weit über deutsche Lande hinausgeht - das ist für Kaufmann die Reformation. Es ist ausgerechnet ein evangelischer Theologie-Professor, der das große Bild im Auge behält: Europa, die Welt. Während Feuilletonisten, Schriftsteller und andere Edelfedern Luther anlässlich des Reformationsjubiläums hochjubeln und stilisieren, bewahrt der evangelische Kirchenhistoriker Distanz. Ihm gelingt es, sich von dieser Überfigur zu befreien, ihn in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in die Denkaufbrüche seiner Zeit, ja, in die Weltgeschichte einzubinden. Kaufmann hat einen freien Blick - und eröffnet neue freie Blicke. "Erlöste und Verdammte" von Thomas Kaufmann ist für mich das wichtigste Buch zum Reformationsjubiläum. Europa bekommt ein neues Gesicht Kaufmann liefert auch Merksätze wie diesen, die zeigen: Wir haben es hier mit einem eminent politischen Buch zu tun: "Im Zeitalter der Reformation erhielt Lateineuropa ein neues Gesicht. Nicht mehr die Einheit der 'Christianitas' mit dem Papst als sichtbarem Haupt, der in der alten Kapitale des Imperiums, Rom, residierte, sondern eine Vielzahl einzelner Länder prägte den Geschichts- und Kulturraum. Dieses Europa der Nationen ist nicht durch die Reformation entstanden, aber befördert worden." Die Reformation und der Modernitätsschub Am Anfang war Luther. Das sagt auch Kaufmann. Und doch setzt er auf den ersten 80 Seiten seines Buches ganz auf den Weitwinkel: Er nimmt die gesamte europäische Christenheit um 1500 in den Blick. Dann zoomt er näher ran. Sehr nah. Auch nach Wittenberg. Aber zum Beispiel auch nach Zürich: zu Zwingli. Er analysiert die frühe Reformation im Reich bis 1530. Dann wieder der Panoramablick: ein Parforce-Ritt durchs "reformatorische Europa bis 1600". Hier im zweiten Drittel kann dem Leser schon mal der Überblick verloren gehen, sofern er keine Vorkenntnisse hat. Doch dann macht Kaufmann den Sack zu und reflektiert, wie die Reformationsjubiläen in den vergangenen 500 Jahren wahrgenommen wurden und werden, etwa das erste, 1617 oder das jüngste: 2017. Dass Kaufmann die Langzeitwirkungen der Reformation im Auge behält, macht die Lektüre zu einem Gewinn. Denn was in dem Wirbel jener Jahre entstand, wirkt sich bis heute aus. Thomas Kaufmann: "Nie zuvor hatte die lateineuropäische 'Christianitas' Grundfragen des christlichen Glaubens in so kurzer Zeit und mit einer solchen Intensität so kontrovers überdacht wie in dem Jahrzehnt zwischen 1520 und 1530. In dieser medien- und kommunikationsgeschichtlichen Dynamik der Reformation einen 'modernen' Zug zu sehen, ist angemessen und unabweisbar." Der Modernitätsschub, der von der Reformation ausgeht, ist auch für Kaufmann ohne das Printmedium nicht denkbar. In seinen Worten: "Ohne Gutenbergs Erfindung wäre Luther nicht möglich gewesen; ohne Luthers Sprachkraft aber wären die geschichtsverändernden Potentiale, die der Erfindung des Mainzer Meisters innewohnten, bis auf weiteres unentdeckt geblieben." "Notorische Staatsnähe protestantischer Kirchen" Kaufmann bleibt aber kritisch. Er spricht von einer "notorischen Staatsnähe des kirchlichen Protestantismus" - besonders in Skandinavien und England, aber auch hierzulande, wo Luther und andere Reformatoren ihr Werk mit Hilfe der Obrigkeit durchsetzten. Kaufmanns Kommentar: "In dem Maße, in dem die Reformation 'verstaatlicht' wurde, wurde sie restaurativ. Nach einer heißen Phase beschleunigten Wandels verlangsamte sich das Tempo der Veränderung; bald dominierte die Ordnung." Ein Buch, das glücklich machen kann Kaufmanns Buch kann Leser glücklich machen, die eine innere Bindung an die Kirchen haben. Nach der Lektüre werden sie besser verstehen, warum ihre Kirche ist, wie sie ist. Es kann auch Theologen und Historiker glücklich machen. Denn - soweit das zu überblicken ist - hat Kaufmann alles zusammengetragen und neu durchdacht, was Reformationshistoriker bisher gedacht haben. Dieses Buch kann aber auch jene glücklich machen, die beim Stichwort Luther oder Reformation in Deckung gehen. Denn Thomas Kaufmann zeigt, wie Geschichtsschreibung sein kann: spannend, unterhaltsam und intelligent zugleich. Er lässt einerseits Luther oder seine Kontrahenten poltern, agitieren, zuspitzen - andererseits erzählt er in aller Ruhe und analysiert multiperspektivisch. Dieser Professor aus Göttingen will verstehen - alle Kontrahenten. Er stellt sich neben oder über seine Protagonisten und ausgerechnet durch diese Distanz entsteht eine große Nähe. Diese Nüchternheit beim Betrachten eines auch religiösen Großkonflikts könnte in unseren aufgeheizten, teils sehr schlichten Debatten rund um einen neuen auch religiösen Großkonflikt unserer Tage hilfreich sein - wenn nicht erlösend. Unvollendete Reformation? Und dann die Ausstattung: Dieses Buches ist nicht einfach bebildert. Die üppigen, edlen Illustrationen sollen das im Text Gesagte unterstützen und transzendieren. Einfach wunderbar, dieser Tiefgang und Beleg eines umfassenden Überblicks über die Kunstgeschichte im Wechselspiel mit Politik- und Geistesgeschichte. Ich habe mit den ersten Worten dieses Buches begonnen. Ich ende mit den letzten. Was dieser Satz meint, soll hier nicht verraten werden. Lesen Sie selbst! Sie werden bereichert. Der letzte Satz lautet: "Die Reformation steht noch aus." Thomas Kaufmann: "Erlöste und Verdammte: Eine Geschichte der Reformation"C.H. Beck 2016, 508 Seiten, 26,95 Euro
Von Andreas Main
Luther hat vor 500 Jahren den Buchdruck massiv angekurbelt - und zum Reformationsjubiläum tut er es wieder. Aus der Fülle der Bücher ragt das Werk des evangelischen Theologen und Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann heraus. Seine Geschichte der Reformation ist ein Buch, das glücklich machen kann.
"2016-10-31T19:15:00+01:00"
"2020-01-29T19:01:23.492000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/luther-jubilaeum-die-reformation-steht-noch-aus-100.html
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Militär in Myanmar baut "Herrschaft des Schreckens" auf
"Die Bilder, die wir dort sehen, es ist unerträglich", sagt der CDU-Politiker und Europaabgeordnete Daniel Caspary - Polizei und Militär in Myanmar gehen mit extremer Härte gegen die Demonstranten vor. (dpa / picture alliance / Kaung Zaw Hein) In Myanmar ist das Militärregime brutal gegen friedliche Kundgebungen vorgegangen. Bei den Protesten gegen den Militärputsch in Myanmar waren nach UNO-Angaben zuletzt mindestens 18 Menschen getötet worden. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europa-Parlament, Daniel Caspary (CDU), sagte im Deutschlandfunk, die EU müsse gemeinsam mit den USA empfindliche Sanktionen gegen die Führungsriege in Myanmar verhängen. "Wir werden als Europäische Union nur in enger Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten etwas erreichen", so Caspary zur Außen- und Sicherheitspolitik der EU. "Illegale Machtübernahme des Militärs" In der Region gebe es ein Machtvakuum, das vor allem von China gefüllt werde. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden hat schon neue Sanktionen gegen Myanmar angekündigt. "Was wir dort sehen seit dem 1. Februar, ist eine illegale Machtübernahme des Militärs", sagte der CDU-Politiker und Europaabgeordnete Daniel Caspary im Dlf. "In den letzten Jahren haben wir gehofft, dort blüht die Pflanze der Demokratie langsam auf. Aber wir haben gemerkt, wenn es ernst wird und wirtschaftliche Interessen der Beteiligten dazukommen, wird es schwer", so Caspary weiter. "Ganz gezielt gegen Führungsclique vorgehen" Man müsse ganz gezielt gegen die "Führungsclique" vorgehen. Das Militär baue eine Herrschaft des Schreckens auf, so Caspary. Die Wahlen im November seien nicht manipuliert worden, dafür gebe es keine Hinweise. Myanmar: Tote und Verletzte bei Protesten (05:27) Das Wochenende in Myanmar hat gezeigt: Das Militär ist fest entschlossen, die Proteste mit allen Mitteln zu beenden, sagt ARD-Korrespondent Holger Senzel im Dlf. Mindestens 18 Menschen wurden getötet. Silvia Engels: Die verschiedenen EU-Institutionen haben ja den Militärputsch in Myanmar und die Brutalität der Sicherheitskräfte gegen den Protest bereits verurteilt. Aber reicht das noch, angesichts dieser erneuten Eskalation? Daniel Caspary: Frau Engels, was wir dort sehen seit dem 1. Februar ist einfach eine illegale Machtübernahme des Militärs. Die Situation ist dort ja schon seit vielen, vielen Jahren schwierig. In den letzten Jahren haben wir gehofft, dort blüht die Pflanze der Demokratie langsam auf, aber wir merken, wenn es ernst wird und wenn dann wirtschaftliche Interessen der Beteiligten dazukommen, wird es schwer. Ich wünsche mir, dass im Europäischen Rat darüber nachgedacht wird, wie wir ganz gezielt gegen diejenigen, die hier maßgeblich beteiligt sind und die auch wirtschaftlich von der Situation profitieren, vorgehen und uns da weitere Sanktionen überlegen und verhängen. "Was wir dort erleben ist eine Herrschaft des Schreckens" Engels: Konkrete Konten sperren oder Beschränkungen speziell für die Führungsklicke in Myanmar vom Militär? Caspary: Genau. Wir müssen zielgerichtet vorgehen. Sanktionen haben ja die Wirkung, wenn man einfach Sanktionen verhängt und zum Beispiel Wirtschaftsbeziehungen komplett erschwert oder wenn wir bestimmte Handelserleichterungen wegnehmen, das trifft ja genau diejenigen, die jetzt auf der Straße sind. Deswegen wünsche ich mir, wie wir das ja in vielen Fällen tun, Stichwort Russland und andere Länder, dass wir ganz gezielt gegen die Führungsclique vorgehen. Was wir dort erleben ist eine Herrschaft des Schreckens, die das Militär dort wieder aufbaut. Wir sehen, dass jetzt nach den vorliegenden Berichten wahllos in die Menschen reingeschossen wird wie in einem schlechten Computerspiel, um dort Sorge und Angst zu verbreiten, die Leute von der Straße gehen zu lassen, und das ist einfach nicht in Ordnung. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen waren die Wahlen im November in Ordnung. Es gibt bis heute keine vorgelegten Beweise der Militärregierung, dass dort in größerem Umfang irgendetwas gefälscht sein sollte. Deswegen muss der rechtmäßige Zustand wiederhergestellt werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass hier das Militär die Macht übernimmt und die Demokratie wieder komplett vor die Hunde geht. Entwicklung in Myanmar passt in das Gesamtbild SüdostasiensDie Entwicklung in Myanmar weise in eine andere Richtung als in die Demokratisierung, sagte Myanmar-Experte Andreas Lorenz. "Ich fürchte, dass der Traum, ein demokratisches Myanmar zu bekommen, erst einmal ausgeträumt ist." Engels: Punktuelle Sanktionen gegen die Führungsclique ist das eine. Nun hat die Europäische Union ja traditionell keinen starken Einfluss in Myanmar, aber China hat diesen Einfluss. Bislang hat sich Peking ja öffentlich nicht eindeutig positioniert. Könnte aber hier die EU mit ihren eigenen Wirtschaftsbeziehungen zu China, die ja doch sehr groß sind, Druck auf Peking aufbauen, in Myanmar Deeskalation zu erreichen? Caspary: Es laufen meiner Erkenntnis nach auch Gespräche mit China. Die Frage ist, wenn wir am Ende mit allen Druck aufbauen in Form von Sanktionen, dann reden wir ja bald mit niemandem mehr, und die Herausforderung von erfolgreicher Außenpolitik ist genau, wie schafft man es, im Gespräch zu sein, trotz unterschiedlichster Auffassungen, auch über elementarste Themen wie Demokratie und Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Was wir sehen, Sie sprechen es an, in der gesamten Asean-Region: China versucht, massiv Einfluss auszubauen. Das gelingt in den letzten Jahren auch deshalb, weil China wirtschaftlich immer stärker wird, aber wir dort auch ein Vakuum erleben, seit sich die Vereinigten Staaten seit mehreren Jahren aus vielen Regionen aus der Welt zurückziehen. Was mich optimistisch gestimmt hat: Dieser Asean-Verbund, ein Verbund von zehn Staaten, die sind normalerweise ganz zurückhaltend und halten sich normalerweise komplett raus über die Situation in den Mitgliedsstaaten. Aber dass vor einigen Tagen mit Singapur das allererste Land auch mal zumindest kritische Töne hat durchblicken lassen, ist zumindest ein kleiner Lichtblick. Aber klar ist auch, es geht jetzt in vielen Ländern dort bei der demokratischen Bewegung, Stichwort Thailand und andere Länder, darum, wird sich dieser chinesische Ansatz in der Region weiter durchsetzen, oder hat dort die zarte Pflanze der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit eine Chance. Da sollten wir schon als Europäische Union schauen, was sind intelligente Möglichkeiten, um die Demokratiebewegung dort zu unterstützen. "Wir werden da als EU nur in enger Partnerschaft mit den USA was erreichen" Engels: Sie hatten es angesprochen. In den vergangenen Jahren hatten sich die USA als Akteur in der Region ziemlich zurückgezogen. Das will US-Präsident Biden nun ändern. Wäre das eine Möglichkeit, gemeinsam mit den USA vielleicht auch einen etwas konfrontativeren Weg gegenüber China einzuschlagen, um diesen Druck auf das Militär in Myanmar zu setzen? Caspary: Gemeinsam mit den USA ist das gute Stichwort, denn in der Region haben die USA Gewicht. In der Region erleben wir auch, dass dort einfach traditionell ja leider eine andere politische Herangehensweise ist als bei uns in der Europäischen Union. Was meine ich damit? Es gilt dort oft die Macht der Macht und nicht unbedingt die Macht des Wortes, und das ist ja eines der großen Probleme, das wir in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik haben, dass wir zwar wortgewaltig unterwegs sind, aber nicht in der Lage sind, im Zweifel auch mal zu handeln. Deswegen ist dieser Konflikt ganz, ganz wichtig. Wir werden da als Europäische Union nur in enger Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten was erreichen. Denn noch mal: Die Bilder, die wir dort sehen, es ist unerträglich. Wir hatten Riesenhoffnungen gesetzt in die Situation in Myanmar. Wir haben dort ja die Friedensnobelpreisträgerin als rechtmäßige Ministerpräsidentin gehabt. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, auch bei ihrem Vorgehen gegen Minderheiten, dass sie wohl intern unter einem Riesendruck steht, und ich kann mir da manche Vorgehensweise von ihr nur so erklären, dass sie keine andere Chance gesehen hat, überhaupt an der Macht zu bleiben, wenn sie nicht diesem Druck auch des Militärs nachgibt. Jetzt ist dieses Kartenhaus leider komplett zusammengebrochen und ich wünsche wirklich von Herzen, dass wir alles tun, gemeinsam mit unseren Partnern, dass die Demonstranten auf der Straße Erfolg haben, dass sie Rückenwind bekommen. Wir werden es im Zweifel nur gemeinsam transatlantisch hinbekommen, weil auch uns als Europäische Union alleine die Mittel fehlen. Myanmar - was der Putsch des Militärs bedeutetIn dem südostasiatischen Land Myanmar hat wieder das Militär die Macht übernommen. Dabei gab es erst seit zehn Jahren einen zivilen Präsidenten als Staatsoberhaupt. Was hat der Staatsstreich zu bedeuten? Eine Übersicht. "China ist dort in den Ländern immer stärker präsent" Engels: Aber mancher Beobachter argwöhnt, am Ende werde die EU aufgrund eigener Wirtschaftsinteressen gerade in China dem friedlichen Protest in Myanmar genauso wenig helfen wie zuvor auch nicht der Hongkonger Protestbewegung. Was entgegnen Sie? Caspary: Wie gesagt, wir helfen, was geht. Ich stelle nur am Anfang fest, man kann jetzt immer kritisieren, wie gehen wir mit solchen Konflikten um. Deswegen ist ja immer dieser Ausgleich, den wir brauchen, Frau Engels, zwischen berechtigten außenpolitischen Interessen und unseren eigenen Überzeugungen, bei denen wir auch keine Kompromisse eingehen dürfen. Aber was wir auch erleben ist: Wir brauchen Partner in der Region. Das hat dann viel mit außenpolitischen oder auch handelspolitischen Abkommen zu tun. Wir müssen dort Gesprächsverbindungen aufbauen. Und was wir dort sehen: China mit seiner massiven Strategie ist dort in den Ländern immer stärker präsent. Auch jede Sanktion bedeutet, wir ziehen uns ein Stück zurück, dann sind noch mehr chinesische Ansprechpartner in der Region und die Situation wird nicht besser. Genau das ist das klassische Dilemma der europäischen Außenpolitik. Der CDU-Politiker Daniel Caspary (dpa/Patrick Seeger) Engels: Herr Caspary, ist angekommen. Wir müssen noch kurz zu einem anderen Thema kommen. Sie sind auch Vorsitzender der deutschen Delegation in der EVP-Fraktion. Dort eskaliert gerade einmal mehr der Streit zwischen dem Fidesz des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán und Ihrer Fraktionsspitze. Es geht darum, dass Sie die Geschäftsordnung so ändern wollen, dass man künftig Gruppen suspendieren kann. Orbán hat nun geschrieben, dass seine Fraktion die EVP verlässt, wenn diese neue Geschäftsordnung in Kraft tritt. Lenken Sie ein? Caspary: Nein. Wir haben die Geschäftsordnungsänderung viele Wochen diskutiert. Es macht Sinn, dass wir in der Fraktion das Instrument einführen, was die Partei schon lange hat, nämlich ein Zwischending zwischen einem Rausschmiss und einer Suspendierung. Und was wir jetzt machen: Wir ändern die Geschäftsordnung um und wollen damit den Arm ausstrecken, aber einen durchtrainierten starken Arm ausstrecken, dass sich die Fidesz an die Dinge hält, die wir als christdemokratische und bürgerliche Politik in der Europäischen Union verstehen. Wenn die Fidesz da mitmacht, ist sie herzlich willkommen. Ansonsten wäre es sehr, sehr schade, wenn Viktor Orbán einen falschen Schritt geht. Engels: Rechnen Sie damit, dass er geht? Caspary: Ich rechne jetzt erst mal damit, dass das ein klassisches Instrument ist, um Druck auszuüben. Wir brauchen eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Satzung zu ändern. Wir haben ja auch beim Europäischen Rat vor Weihnachten gesehen, als es um den Haushalt ging, Herr Orbán baut gern Druck auf. Ich denke, wir sind in der Lage, auch mit Druck umzugehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Daniel Caspary im Gespräch mit Silvia Engels
Die Bilder der Gewalt gegen Demonstranten in Myanmar seien unerträglich, sagte der Europaabgeordnete Daniel Caspary (CDU) im Dlf. Er spricht sich für gemeinsame Sanktionen der EU mit den USA gegen die Führungsriege aus. Nur so könne verhindert werden, dass in dem Land die Demokratie vor die Hunde gehe.
"2021-03-01T06:50:00+01:00"
"2021-03-02T13:08:29.834000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaabgeordneter-caspary-cdu-militaer-in-myanmar-baut-100.html
90,761
Islamisierte Christen
Die armenische Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir - vor drei Jahren wurde sie wieder zerstört (Imago/Westend61) Festgottesdienst in der armenischen Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir, und die Gäste sind von nah und fern gekommen. Armenier aus Anatolien, aus Armenien und aus Amerika feiern im Jahr 2011 die Einweihung nach einer mehrjährigen Restaurierung. Es ist der erste Gottesdienst in dieser Kirche seit 25 Jahren. Gafur Türkay vom Kirchenvorstand ist sieben Jahre später noch immer stolz auf diese Restaurierung: "Wir haben im Jahr 2008 den Kirchenvorstand gegründet, und unser erster Beschluss war es, die Kirche zu restaurieren. 560 Wagenladungen Schutt und Erde haben wir herausgeholt, nur um die Ruine freizulegen. Das war ein gewaltiges Stück Arbeit. Die Restaurierung hat dann drei oder vier Jahre gedauert und zweieinhalb Millionen Dollar gekostet. Mit einer halben Million hat uns die damalige kurdische Stadtverwaltung unterstützt, alles andere haben wir aus Spenden von Armeniern in aller Welt selbst aufgebracht." Surp Giragos - bedeutend für Armenier in aller Welt Ursprünglich im Jahr 1376 errichtet, ist Surp Giragos die größte armenische Kirche im Nahen Osten. Sie hat Bedeutung für Armenier in aller Welt, weit über die winzige Gemeinde hinaus, die heute noch in Diyarbakir lebt. Schließlich war die Stadt jahrtausendelang ein Zentrum armenischen Lebens, sagt Türkay: "Wir Armenier betrachten Diyarbakir als armenische Stadt. Bei uns heißt sie Dikranagerd, nach dem armenischen König Tigran dem Großen, der im ersten Jahrhundert vor Christus hier herrschte. Die Armenier stellten noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mehrheit in dieser Stadt – fast 60 Prozent der Bevölkerung. Neun von zehn Goldschmieden in Diyarbakir waren damals in der Hand von Armeniern; die Seidenproduktion, der Handel und das Handwerk waren alle in armenischer Hand." Noch heute wachsen in Diyarbakir die Maulbeerbäume, die einst von den Armeniern für ihre Seidenraupen gepflanzt wurden. Die Armenier von damals sind aber fort – umgekommen im Völkermord von 1915, der in Diyarbakir besonders grausam vollstreckt wurde. "Der Gouverneur von Diyarbakir war Mehmet Resit, eines der härtesten Mitglieder der osmanischen Führung, und er hat alle Armenier der Stadt umbringen lassen. Sogar Armenier aus anderen Teilen Anatoliens, die in Umsiedlungszügen an Diyarbakir vorbei getrieben wurden, hat er töten lassen." Als "Schlächter von Diyarbakir" ging der Gouverneur in die Geschichte ein. Und dennoch hielten die Armenier an Diyarbakir fest, erzählt Türkay: "Weil diese Stadt so ein bedeutendes Zentrum für die Armenier ist, sind nach dem Völkermord vereinzelte überlebende Armenier aus den umliegenden Provinzen nach Diyarbakir gekommen. Als 1923 die Türkische Republik gegründet wurde, gab es trotz allem wieder 400 armenische Familien in Diyarbakir. Die Armenier versuchten hier weiterzuleben." Völkermord, Kurdenkrieg und Repressalien Leicht wurde es ihnen nicht gemacht, weder von den Behörden der Türkischen Republik noch von der kurdischen Bevölkerung, inzwischen die Mehrheit in Diyarbakir. Eine Sondersteuer, die Ankara in den 1940er-Jahren auf den Besitz aller nicht-muslimischen Bürger erhob, ruinierte viele Armenier von Diyarbakir und zwang sie zur Auswanderung. Eine nächste Fluchtwelle dann in den 50er- und 60er-Jahren: Die meisten verbliebenen Armenier mussten fliehen, als Ausschreitungen gegen Griechen in Istanbul von der Bevölkerung in Diyarbakir als Vorwand genutzt wurden, sie anzugreifen und ihren Besitz zu plündern. Mitte der 70er-Jahre waren nur noch 15 bis 20 armenische Familien in Diyarbakir, erzählt Gafur Türkay, aber die Surp-Giragos-Kirche blieb offen. "Es gab einen Priester, es gab regelmäßig Gottesdienst, es gab armenisches Leben hier. Bis in den 80er-Jahren der Kurdenkrieg ausbrach – da mussten die Armenier fliehen. Damals blieben nur noch zwei oder drei armenische Familien hier, aber die versteckten sich und verbargen ihre Identität." Gafur Türkay im Hof der Surp-Giragos-Kirche im Jahr 2015 (dpa/ Can Merey) Damals floh auch der letzte Priester. Die Surp-Giragos-Kirche verwahrloste und verfiel. Das Flachdach stürzte ein, und irgendwann stand nur noch das Skelett. Erst 20 Jahre später, als die Kämpfe abgeklungen waren und sich eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts abzeichnete, fassten sich einige armenische Rückkehrer ein Herz und gründeten einen neuen Kirchenvorstand, um Surp Giragos zu restaurieren. Zum krönenden Abschluss setzten sie einen neuen Glockenturm darauf – den ersten Glockenturm seit fast hundert Jahren, wie Türkay erzählt: "Der ursprüngliche Glockenturm wurde 1914 vom Blitz zerstört, und die Gemeinde ließ damals einen neuen Turm bauen, einen besonders schönen, im russischen Stil und etwas größer als vorher. 1916, nach dem Völkermord, ordneten die türkischen Behörden an, den Glockenturm abzureißen, weil er höher sei als die Minarette der Stadt. Die Artillerie hat ihn eine Woche lang beschossen, bis er einstürzte." Wiedereröffnung der Kirche brachte neuen Schwung Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert erklangen deshalb die Glocken von Surp Giragos, als der neue Turm im Herbst 2012 eingeweiht wurde. Ein Signal der Hoffnung und des Aufbruchs war das für die Armenier von Diyarbakir, erzählt Türkay: "Wir haben Gottesdienste gefeiert, die ersten Gottesdienste hier seit den 80er-Jahren. Wir haben Ostern gefeiert, erstmals seit Jahrzehnten, und die ersten kirchlichen Hochzeiten seit Jahrzehnten. Wir haben Taufen gehabt in der Kirche, viele Taufen, aber das waren keine Kinder - das waren erwachsene, islamisierte Armenier, die zum Christentum zurückkehrten und zu ihrer Identität als Armenier." Denn offiziell ist die Zahl armenischer Christen in Diyarbakir noch immer verschwindend gering – nicht mehr als 25 oder 30 Menschen in der Millionenstadt sind amtlich als christliche Armenier registriert. Die meisten Armenier von Diyarbakir tragen den Vermerk "Muslim" im Personalausweis und sind Nachkommen von islamisierten Überlebenden des Völkermordes, sagt Türkay. "Nicht alle bekennen sich zu ihrer armenischen Herkunft. Manche bleiben aus Überzeugung beim Islam. Andere haben einfach Angst, sich als Armenier zu outen – sie fürchten noch immer, dass ihnen etwas zustoßen könnte, wenn sie sagen, dass sie Armenier sind. Aber es gibt inzwischen auch viele Armenier hier, die sich dazu bekennen." Die Surp-Giragos-Kirche spielte eine entscheidende Rolle bei dieser Renaissance armenischen Lebens in Diyarbakir, erzählt Türkay: "Die Restaurierung der Kirche war dafür ganz wichtig. Das fiel ja in die Zeit des kurdischen Friedensprozesses in der Türkei, damals wurde alles einfacher. Es gab keine Anschläge mehr, keine Kämpfe, es war ruhig und friedlich. Und dann hat die wieder eröffnete Kirche großen Schwung in die Gemeinde gebracht. Da kamen auf einmal Menschen zur Kirche, die es noch nie gewagt hatten, sich zu ihrer armenischen Herkunft zu bekennen. Es gab damals ein wahres Aufatmen." Stadtviertel wieder verwüstet Damit ist es vorbei, seit vor drei Jahren wieder Krieg ausbrach in Diyarbakir. Monatelang tobten die Kämpfe zwischen kurdischen Milizen und türkischen Einheiten im Winter 2015/16 in der Altstadt von Diyarbakir. Als sie vorbei waren, lag die Surp-Giragos-Kirche wieder in Trümmern. Das verwüstete Stadtviertel ist bis heute abgesperrt. Gafur Türkay hat die Kirche nur noch ein einziges Mal gesehen. Mit einer Sondergenehmigung durfte er sie besuchen. "Es war ein furchtbarer Schlag, die Kirche zu sehen – sie ist völlig verwüstet und zerstört. Der Anblick hat mich niedergeschmettert. Von unserem ganzen Stadtviertel ist nichts mehr übrig, und die Kirche ist nur noch eine Ruine." Seither ist es vorbei mit der armenischen Renaissance in Diyarbakir. "Seit den Kämpfen haben wir kein armenisches Gemeindeleben mehr - keine Veranstaltungen, keine Treffen und keine Gottesdienste. Alles ist gestoppt, denn wir haben keinen Ort mehr dafür." Sogar enteignet wurde die Kirche nach den Kämpfen vor drei Jahren. Die türkische Regierung verstaatlichte damals kurzerhand das ganze verwüstete Altstadtviertel, um es abzureißen und eine Neubausiedlung darauf zu errichten. Der Kirchenvorstand klagte gegen die Enteignung und bekam vom Verwaltungsgerichtshof recht. "Aber nun muss die Kirche wieder restauriert werden, und wir haben einfach kein Geld mehr dafür. Deshalb bemühen wir uns seit zwei Jahren darum, dass der Staat das übernimmt." Die türkische Regierung sagte der Gemeinde nun zu, die Restaurierung zu bezahlen. Allerdings soll der Wiederaufbau unter staatlicher Federführung geschehen, weshalb der Kirchenvorstand sich um die Ausführung sorgt und die Behörden gebeten hat, ihn zumindest beratend in die Planung einzubeziehen. Vor allem ist noch völlig offen, wann der Wiederaufbau beginnt und wann die Kirche wieder genutzt werden kann. Für die Armenier von Diyarbakir drängt die Zeit, sagt Gafur Türkay: "Es ist schwer für eine Gemeinde ohne Kirche. Wenn die Surp-Giragos-Kirche wiedereröffnet wird, dann können wir wieder zusammenkommen. Wir leben ja weiter hier, aber wir brauchen diese Kirche, um Gemeinde sein zu können."
Von Susanne Güsten
Christen im Osten der Türkei geraten immer wieder zwischen die kurdisch-türkischen Fronten. Ein Symbol dafür: die Zerstörung der Surp-Giragos-Kirche in Diyarbakir. Ein normales Gemeindeleben ist seitdem nicht mehr möglich. Obwohl Anatolien einst Kerngebiet der armenischen Christen war.
"2019-02-18T09:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:38:03.588000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/armenier-in-anatolien-islamisierte-christen-100.html
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Trump ernennt McMaster
McMaster bei seiner Designation durch US-Präsident Trump in dessen Anwesen in Palm Beach. (Susan Walsh / AP / dpa) Trump ernannte McMaster vor Journalisten in seiner Residenz in Palm Beach in Florida. Trump sagte, McMaster habe ein "enormes Talent und enorme Erfahrung". Seine Ernennung wurde nötig, da der bisherige Sicherheitsberater Michael Flynn in der vergangenen Woche im Streit um Angaben zu seinen Kontakten nach Russland zurückgetreten war. Trump kündigte die Personalie im Beisein von McMaster, der in Uniform erschien, sowie dem kommissarischen Amtsinhaber Keith Kellogg an. McMaster sei im Militär "hoch angesehen" und er fühle sich geehrt, ihn nun als Sicherheitsberater zu haben, sagte Trump. Ein Spezialist der Widerstandsbekämpfung McMaster selbst erklärte, er könne es kaum erwarten, dem nationalen Sicherheitsteam beizutreten. "Ich werde alles in meiner Macht Stehende zu tun, um die Interessen des amerikanischen Volkes voranzubringen und zu schützen". McMaster ist ein Spezialist der Widerstandsbekämpfung und war unter anderem im Irak und in Afghanistan tätig. Nach dem Rücktritt von Flynn war der 54-jährige Generalleutnant mit einer Handvoll weiterer Kandidaten als aussichtsreicher Nachfolger gehandelt worden. Keine Reporterfragen zugelassen Trump, McMaster und Kellogg ließen nach der Verkündung der neuen Personalie keine Fragen von Reportern zu. Unbeantwortet blieb etwa die Frage, ob McMasters sein Personal selbst einstellen kann. Vor einigen Tagen war bekannt geworden, dass Trumps Wunschkandidat für das Amt, der frühere Vizeadmiral Robert Harward, den Posten nicht annehmen wollte. Medienberichten zufolge könnte er wegen des Chaos im Weißen Haus sowie deswegen abgelehnt haben, weil er keine Zusage bekam, seine eigenen Leute mitbringen zu dürfen. Grund für Flynns Rückzug in der vergangenen Woche waren Gespräche mit dem russischen Botschafter in Washington, die er geführt hatte, als er noch nicht als Nationaler Sicherheitsberater im Amt war. Später machte er zu diesen Gesprächen falsche Angaben, unter anderem gegenüber dem jetzigen Vize-Präsidenten Mike Pence. (mg,jan)
null
Die USA haben einen neuen Nationalen Sicherheitsberater: Präsident Donald Trump hat Generalleutnant H.R. McMaster zum Nachfolger des zurückgetretenen bisherigen Amtsinhabers Flynn ernannt. McMaster galt während seiner Zeit im Irak und in Afghanistan als Spezialist für "Widerstandsbekämpfung".
"2017-02-20T22:51:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:03.576000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neuer-nationaler-sicherheitsberater-trump-ernennt-mcmaster-100.html
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Tierschützer wollen Kennzeichnung von Hühnerfleisch
Agrarminister Christian Meyer (Bündnis 90/Die Grünen) mit dem Kampagnen-Huhn "Rosa". (Deutschlandradio / Alexander Budde) Auf seinem Demeter-Hof in Wörme hält Hubertus von Hörsten Hühner. Wann immer sie wollen, können die Tiere ins Freie. Wild flatternd baden die Hennen im Staub, aufgeregt wachen die Hähne. Für seine Legehennen scheut von Hörsten weder Mühen noch Kosten. Er will sich abheben von den großen Spielern der Branche. "Wir müssen einen Stall bauen für die Tiere. Und nicht die Tiere danach machen, wie der Stall ist. Das ist doch völlig idiotisch! Wir schneiden die Schnäbel ab, weil unsere Stallungen so was von mistig sind, dass die sich gegenseitig auffressen!" In der sogenannten Massentierhaltung haben die Tiere kaum die Möglichkeit, ihr natürliches Verhalten auszuleben, wissen Bio-Bauern wie von Hörsten. Kannibalismus, Herzbeschwerden sind bekannte Folgen der intensiven Hühner-Haltung mit ihren abnormen Wachstumsraten. Der gewöhnliche Verbraucher erfährt von alldem wenig. Das will Tamsin French ändern. Die Freiland-Bäuerin aus dem britischen Devon ist eine der drei Frontfiguren der Kampagne, die sich abwechselnd in das Hühnerkostüm zwängten. Die Argumente für eine verpflichtende Kennzeichnung von Fleischprodukten liegen auf der Hand, sagt French bei ihrem Zwischenstopp beim Landwirtschaftsminister in Hannover. "Die Verbraucher haben ein Recht zu wissen, was sie da kaufen. Wir wollen, dass man im Supermarkt Antwort auf simple Fragen bekommt, etwa wo das Huhn herkommt und wie es gehalten wurde. Davon würden alle profitieren: Der Verbraucher, der mehr über das Fleisch erfährt, das er verspeist. Und auch wir Erzeuger, denn wir hätten eine größere Chance uns im Markt zu behaupten und über den Preis zu differenzieren." Deutschland produziert nach Frankreich das meiste Geflügelfleisch in der EU. Rund 700 Millionen Tiere werden hierzulande jährlich geschlachtet, der Großteil in Niedersachsen. In einer Länderarbeitsgruppe zusammen mit Baden-Württemberg will Niedersachsens grüner Agrarminister Christian Meyer eine Kennzeichnung von Fleisch prüfen. Bei Hühnereiern habe diese Kennzeichnung bewirkt, dass Verbraucher viel weniger Eier aus Käfighaltung kaufen. "Bei den Eiern hat es gut geklappt, mit 90 Prozent der Verbraucher, die teurere Eier kaufen, die die Käfighaltung links liegen lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass, wenn es eine Klarheit und Unterstützung von Tierschutzorganisationen und Verbrauchern für so eine Kennzeichnung gibt, dass wir damit sukzessive die schlechten Haltungsbedingungen zurückdrängen können und dem Verbraucher ermöglichen, dass was er sich wünscht auch tatsächlich zu kaufen." Ein einheitliches staatliches Tierschutzsiegel hält Meyer für sinnvoll, mit klaren Kriterien, die in allen Bundesländern gelten und staatlich überwacht werden. "Wir haben im Bundesrat die Forderung erhoben, dass auch die verarbeiteten Eiprodukte, also wenn Eier im Kuchen sind oder der Mayonnaise, dass dort die Tierhaltung draufsteht. Das würde die Billig-Eier aus Tierqualanlagen aus dem Ausland sehr stark abwehren. Und der Verbraucher könnte auch dort die gleiche Kaufentscheidung und Wahlfreiheit haben wie bei den losen Eiern." Dafür will auch das Huhn Rosa heute in Brüssel demonstrieren. Die Tierschützer – in Deutschland unterstützt von der Albert Schweitzer Stiftung – dürfen sich auf eine europaweite Umfrage berufen, wonach Acht von zehn Verbrauchern eine verpflichtende Kennzeichnung auch von Fleischprodukten wünschen.
Von Alexander Budde
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"2014-09-08T11:35:00+02:00"
"2020-01-31T14:02:41.826000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/artgerechte-haltung-tierschuetzer-wollen-kennzeichnung-von-100.html
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"Die Opfer sprechen lassen"
Bettina Klein: Zum ersten Mal also ein Jesuit als Papst. Vor der Sendung habe ich mit Pater Klaus Mertes darüber gesprochen, ehemaliger Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, und ich habe ihn zunächst gefragt, weshalb es das eigentlich noch nie zuvor gegeben hat.Klaus Mertes: Ja daran haben wir Jesuiten sowieso nie gedacht, weil der Ordensgründer, der Heilige Ignatius, immer eher ein Interesse daran hatte, dass die Jesuiten kirchliche Ämter nicht einnehmen. Und warum es nie dazu gekommen ist, darüber habe ich auch noch nie nachgedacht, weil es nie ein Thema war.Klein: Was sprach denn oder was spricht denn dagegen, dass Jesuiten hohe Ämter übernehmen?Mertes: Ja gut, das hängt mit dem Grundgedanken des Ordens zusammen, dass innerkirchliche Karrieren von vornherein ausgeschlossen sind.Klein: Ausgeschlossen, aber nicht ganz ausgeschlossen, denn wie wir sehen, darf auch ein Jesuit Bischof und Kardinal werden und eben auch Papst.Mertes: Ja genau. Wenn es der Wunsch des Papstes ist, dass ein bestimmter Jesuit Bischof wird, dann werden sich die Jesuiten auch fügen. Aber der Ordensgründer, der heilige Ignatius, hat immer dann, wenn die damaligen Päpste versuchten, Jesuiten zu Bischöfen zu machen, zuerst einmal Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern.Klein: Und warum wird das heute nicht mehr getan?Mertes: Das wird ja heute noch getan. Es ist immer nur die Frage, wer sich durchsetzt.Klein: Das heißt, die Jesuiten haben versucht zu verhindern, dass einer der ihren Papst wird?Mertes: Nein! Es hat niemals jemand daran gedacht, dass ein Jesuit Papst wird. Das ist ja zwischen den Kardinälen im Konklave ausgemacht worden. Aber immer, wenn ein Jesuit Bischof wird, gibt es seitens des Ordens durchaus, ich sage mal, das Bedenken, das zu sagen, dass eigentlich ein Jesuit nicht Bischof werden sollte. Das kommt auch darin dann zum Ausdruck, dass dann ein Bischof natürlich in dem Moment, wo er nicht mehr Jesuit ist, zum Beispiel auch seine Gehorsamspflicht gegenüber den Oberen des Ordens nicht mehr hat und dass er auch zum Beispiel nicht mehr innerhalb des Ordens in Ämter gewählt werden kann und auch nicht sich an Wahlen, die innerhalb des Ordens stattfinden, beteiligen kann. Er verliert sein aktives und sein passives Wahlrecht im Orden. Es geht hier einfach darum, dass die Ordensgemeinschaft der Jesuiten strukturell sich noch mal unterscheidet von den Strukturen in der Hierarchie.Klein: Das müssen Sie noch mal erklären.Mertes: Na ja, der Jesuitenorden ist eine Gemeinschaft von Priestern und Nichtpriestern, die sich gemeinsam dafür einsetzen, das Evangelium zu verkünden, die aber zugleich in ihrem Leben bezeugen wollen, dass sie nicht an Karrieren interessiert sind und sich auch strukturell davor schützen, an Karrieren interessiert zu sein. Und dieser strukturelle Schutz vor den Eigenbedürfnissen nach Prestige und Ähnlichem, was ja immer gegeben ist in Strukturen, in denen man Karrieren machen kann, das kommt eben darin zum Ausdruck, dass hier dieser Unterschied gemacht wird. Das war für Ignatius seine Weise, dem Wunsch Jesu zu folgen, dass diejenigen, die Jesus eben nachfolgen, eher eine Karriere nach unten als eine nach oben machen sollten. Und das wird durch die Tatsache, dass jetzt ein Jesuit Bischof oder jetzt Papst geworden ist, im Grundsatz nicht gefährdet.Klein: Auf der anderen Seite wird ja dann auch nicht nur in der Kirche argumentiert, das Gute daran, ein Amt inne zu haben, ist: Man kann eben gestalten, man kann eben auch Einfluss im positiven Sinne ausüben.Mertes: Ja!Klein: Was versprechen Sie sich von jemandem, der von den Jesuiten kommt, in diesem Amt?Mertes: Er hat sich ja den Namen Franziskus gewählt und Franziskus war eben genau einer von denen, der ja in einer Vision in San Damiano gehört hat, bau meine Kirche neu auf, und zwar nicht dadurch, dass du Bischof oder Papst wirst, sondern dadurch, dass du arm wirst und als Armer unter den Armen lebst. Und so hat Franziskus die Kirche erneuert und so wollte mutatis mutandis auch Ignatius die Kirche erneuern, und deswegen stimmt die Voraussetzung nicht, dass man nur dann und vor allem dann Kirche verändern kann, wenn man die oberen Posten hat. Da steckt eine bestimmte Vorstellung von Kirche dahinter, die gerade aus der Ordenstradition kritisch gesehen wird.Klein: Ist es vor allem die Zuwendung zu sozialen Fragen, zu den ärmsten Schichten, um die sich ja auch in der Gesellschaft andere Gruppen kümmern, von der Sie sagen würden, das ist sozusagen eine Rolle, die dieser Papst einbringen kann in sein Amt jetzt, aufgrund seiner Tradition, aus der er kommt?Mertes: Ich denke ja. Aufgrund seiner Ordenstradition im allgemeinen, und mit dem Namen Franziskus sagt er ja auch was ganz Deutliches und mit dem Namen Franziskus verbindet sich ja mehr als nur sozusagen ein almosenhaftes Verhältnis zu den Armen, also im Sinne von "ich gebe etwas von den Reichen, das ich habe, den Armen". Sondern es geht ja bei Franziskus in radikalster Weise darum, selbst arm zu werden, um Freundschaften mit Armen zu schließen, und das geht ja nur, wenn man auf Augenhöhe mit ihnen lebt, nicht einfach nur von oben nach unten etwas durchzugeben, sondern selbst in das Milieu der Armen einzusteigen. Und dafür steht natürlich programmatisch dann der Namen Franziskus und auch die Ordenstradition, in der der neue Papst steht.Klein: Was genau darüber hinaus erwarten Sie von ihm?Mertes: Als Papst erwarte ich von ihm, was ich von jedem gegenwärtigen Papst verlangen oder erwarten würde, nämlich Ordnung in die Kurie hineinzubringen. Das scheint mir wirklich ganz entscheidend zu sein. Wir haben in den letzten 30 Jahren eine sich verselbstständigende Kurie, wir haben immer mehr informelle Zirkel, die bestimmen, was die Personalpolitik in der Kirche ist, und da muss meines Erachtens Ordnung und Transparenz geschaffen werden. Und hier ist es wohl auch ein Vorteil des neuen Papstes, dass er eben wirklich von außen kommt und nicht durch Loyalitäten gebunden ist.Klein: Sie, Pater Mertes, waren derjenige, der fast allen voran gearbeitet hat für die Aufklärung der Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen, dafür, dass sie überhaupt ans Tageslicht gekommen sind. Wie muss der neue Papst diesbezüglich, vielleicht sogar im Unterschied zu Benedikt, dem ja immer vorgeworfen wurde, nicht offen genug und nicht offensiv genug damit nach außen zu gehen, wie muss dieser neue Papst für Aufklärung, für Entschädigung, für Prävention in diesem Zusammenhang sorgen?Mertes: Also Benedikt ist offensiver vorgegangen als sein Vorgänger Johannes-Paul II. Das zum einen. Und ich würde sagen, er müsste in der Linie von Benedikt, also seinem Vorgänger, das tun, was Benedikt getan hat, nämlich als allererstes wirklich die Opfer sprechen lassen und ihnen zuhören. Das ist das Entscheidende. Und das heißt, mir wäre ganz entscheidend, dass der neue Papst Franziskus sich eben wirklich mit Opfern trifft und ihnen zuhört. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sich in der Missbrauchsfrage etwas bewegen kann.Klein: Eine Voraussetzung, auf der dann was noch fußen sollte?Mertes: Nur das Erhören der Opfer ermöglicht Prozesse. Das ist ja im letzten Jahr ganz deutlich geworden, als der Papst selbst oder der Vatikan viele Bischöfe aus aller Herren Länder eingeladen hat, bei denen das Thema Missbrauch tausendmal mehr tabuisiert ist als bei uns, und die sich zum ersten Mal Opfer angehört haben und dann kreidebleich dort saßen und sagten, wir hätten uns nie vorstellen können, dass so was tatsächlich existiert, wir haben das immer für antikirchliche Propaganda gehalten. Überhaupt den Schritt in die Aufklärung hineinzumachen, die bittere Wahrheit anzuhören, ohne sie abzuwehren, das ist ja der allererste Schritt, und daraus entstehen dann die Prozesse mit den Fragen, was läuft denn bei uns falsch, dass so etwas übersehen wird, dass so etwas gar vertuscht wird, was sagt das auch noch mal über unser Selbstverständnis aus, an welcher Stelle müssen wir noch mal gucken, was in unserer Sexualmoral nicht stimmt, etc. pp. Das sind doch die Fragen, die sich daraus ergeben. Aber ich möchte meinerseits auch nicht einfach nur vorgreifen, sondern es müssen vor allem die Prozesse beginnen, denn das sind ja Prozesse, die ganz tiefe Veränderungen bei denjenigen hervorrufen, die zuhören. Und diese Prozesse ruft man nicht hervor, wenn man einfach nur von außen Forderungen stellt, sondern das Wichtigste ist und meine Hauptforderung ist, den Opfern zuhören. Das ist das Entscheidende.Klein: Gerade mit Blick auf die Sexualmoral, da gilt er ja als eher theologisch konservativ.Mertes: Ja.Klein: Er hat sich bereits mit der argentinischen Regierung ja angelegt, als es um die Homo-Ehe ging, auch in anderen strittigen Fragen wie Verhütung und Abtreibung nimmt er eher eine konservative Position ein. Also wie berechtigt sind denn die Hoffnungen der Katholiken, dass sich in diesen Fragen etwas ändert?Mertes: Also erstens einmal ist es ja überhaupt gar nicht verwunderlich, dass ein Bischof, der aus der südlichen Halbkugel dieser Welt kommt, anders denkt als wir in unserer westeuropäischen Agenda, wobei ich damit überhaupt nicht leugnen will, dass unsere westeuropäische Agenda nicht von höchster Aktualität und Wichtigkeit sei. Aber das verwundert mich überhaupt nicht, dass er diese Positionen vertritt. Da steht er auch sicherlich für nicht nur den kirchlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Mainstream in den Ländern und Kulturen, aus denen er kommt. Das wäre ja vielleicht noch radikaler geworden, wenn wir einen afrikanischen Papst gehabt hätten.Klein: Der Jesuitenpater Klaus Mertes, ehemaliger Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, zu seinen Erwartungen an den neuen Papst Franziskus.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Mehr auf dradio.de:Der erste Papst aus Lateinamerika - Mit Glückwünschen und Appellen reagiert die Welt auf die Wahl von Papst Franziskus"Camminare, edificare, confessare" - Papst Franziskus verspricht geistliche ErneuerungFranziskus I. aus Argentinien ist neuer Papst - Kardinäle wählen Jorge Mario Kardinal Bergoglio zum neuen KirchenoberhauptMehrzahl des Episkopats waren "Mitläufer" - Lateinamerika-Experte warnt vor falschen Vorwürfen gegen Papst Franziskus
Pater Klaus Mertes im Gespräch mit Bettina Klein
Papst Franziskus solle wieder Ordnung in die Kurie bringen, sagt Pater Klaus Mertes, Jesuit und Leiter des Kollegs St. Blasien. Dass der neue Pontifex "von außen" kommt, könne hierbei von Vorteil sein. Außerdem müssen vor allem den Opfern des Missbrauchsskandals zugehört werden.
"2013-03-15T08:10:00+01:00"
"2020-02-01T16:11:06.987000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-opfer-sprechen-lassen-100.html
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"Das größte Modernisierungsprogramm in der Geschichte unserer Bundesrepublik"
In den Augen von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner leistet das Programm viel: Biodiversität erhalten, Ernährung sichern, Tierwohl voranbringen. (picture alliance/dpa | Annette Riedl) Umwelt- und Klimaschutz machen die Produktionsbedingungen für Landwirte in Deutschland zum Teil schwierig. Dazu gehört unter anderem die neue Düngemittelverordnung. Um die Landwirte bei der Modernisierung ihrer Betriebe zu unterstützen hat die Bundesregierung eine Förderung von einer Milliarde Euro verteilt über die nächsten vier Jahre zugesagt. Wofür diese Mittel eingesetzt werden sollen, erklärt Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU). Tobias Armbrüster: Frau Klöckner, reicht eine Milliarde wirklich aus, um den Zorn der Landwirte zu stillen? Julia Klöckner: Es geht nicht um Zorn, der gestillt werden muss, sondern es geht um die Erreichung von Zielen, nicht um entweder/oder, entweder Klimaschutz oder Erntesicherung, sondern es geht darum, dass wir das größte Programm, Modernisierungsprogramm in der Geschichte unserer Bundesrepublik aufsetzen, um Landwirte in die Situation zu versetzen, dass sie Klimaschutz, Umweltschutz erreichen können. Die Düngeverordnung war und ist notwendig, damit unser Grundwasser geschützt wird, aber es ist auch notwendig, dass Ernten gesichert werden, und wir werden jetzt mit jedem Euro nur Technik fördern, die spürbare Einsparungen an Dünger und auch Pflanzenschutzmittel garantieren, und das wird wissenschaftlich begleitet. Dadurch werden Landwirte in die Lage versetzt, ihre Betriebe zu modernisieren, und das ist Fairness gegenüber den Bauern, denn es geht um Klimaschutz, den die Bauern machen – Bauern für Klimaschutz. "Rund 50 Millionen gehen in Künstliche Intelligenz auf dem Acker" Tobias Armbrüster: Frau Klöckner, in welche Anschaffungen soll dann diese eine Milliarde genau reinfließen? Julia Klöckner: Wir haben drei Programme. Einmal gehen rund 140 Millionen Euro noch mal in mehr Insektenschutz. Da fördern wir ganz klassisch das Anlegen von Blühschneisen, von Hecken, von nachhaltigen Obstbeständen. – Dann gehen rund 50 Millionen in zum Beispiel Künstliche Intelligenz auf dem Acker. Was bedeutet das zum Beispiel? Wir haben auf den Feldern ganz konkret kameragesteuerte Hackgeräte, mechanische Unkrautbekämpfung. - Und dann haben wir über 800 Millionen Euro, das ist ein Technikschub zum Beispiel für Gerätschaften, die ganz klar nur dort präzise Pflanzenschutzmittel ausbringen, wo auch nur Schädlinge sind. Ansonsten werden die Düsen geschlossen. Das sind ganz moderne Techniken, wo wir zum Beispiel die Emissionen bei Wirtschaftsdünger massiv reduzieren, um etwa 30, 40 Prozent. Das ist wirklich ein Schub, was sich sonst Landwirte nicht leisten könnten. "Es geht nicht nur um Gülle" Armbrüster: Frau Klöckner, das heißt, wenn ich das richtig sehe, von der eine Milliarde Euro gehen 800 Millionen in genau diesen Bereich? Das heißt, beim Thema Dünge, Düngemittel und vor allen Dingen Gülle, da ist einer der Hauptschwerpunkte? – Wenn ich mir das ansehe mit der Gülle, ist das Problem ja nicht unbedingt das Ausbringen der Gülle, sondern dass die Gülle so deutlich entsteht, dass es in Deutschland so viel davon gibt auf deutschen Bauernhöfen, und das entsteht natürlich durch die Massentierhaltung. Können Sie dafür denn auch etwas tun mit dieser Bauern-Milliarde? Klöckner: Jetzt haben Sie ein bisschen arg verkürzt was dargestellt, was in der Logik sich schön anhört, aber leider so wissenschaftlich nicht nachvollzuziehen ist. Es geht in Deutschland nicht darum, dass wir zu viel Gülle haben. Der Tierbestand ist massiv kontinuierlich in Deutschland zurückgegangen. Es ist folgendes: Gülle ist ja ein wichtiger Düngebeitrag, ein natürlicher. Es ist ja so, dass zum Beispiel Gülle aus dem Ausland importiert worden ist. Da, glaube ich, müssen wir die Bilanz ordentlich aufmachen. Uns geht es um etwas Anderes. Es wird zum Teil falsch gedüngt und da geht es auch um anderen Dünger, nicht nur um Gülle, sondern es gibt ja auch chemischen Dünger. Wir wollen nicht, dass zum Beispiel zu viel Nitrat oder zu viel schlichtweg ins Grundwasser gelangt. Deshalb gibt es die Düngeverordnung. Passgenauigkeit ist wichtig. Aber es müssen auch Pflanzen ernährt werden. Dazu gibt es gute präzise Techniken. Der zweite Punkt ist: Wir haben in der Tat Hotspots von Tierhaltungen. Durch die Düngeverordnung wird sich da etwas ändern. Übrigens auch durch mein Stallumbauprogramm für tierwohlgerechtere Ställe. Das heißt, die Ställe müssen mehr Platz für Tiere bereithalten, ohne dass der Tierbestand erweitert wird, und das wird auch zum Rückgang, zum Abbau von großen Tierhaltungen führen. Aber am Ende geht es darum, dass Landwirte von ihrer Arbeit leben können und das Fleisch nicht verramscht wird, dass Fleisch keine Lockangebote sind, sondern das mit Wertschätzung und Wertschöpfung auch verbunden ist. Am Ende ist es so: Mit der Anschaffung dieser Technik, die wir haben, wird es den Landwirten ermöglicht, dass sie die politischen, die gesellschaftlich gewollten Ziele für Umwelt-, Klima- und Naturschutz auch erreichen können, ohne dass sie zurückgehen in Zeiten, wo wir Ernten nicht sichern konnten. "Das Problem ist, dass Gülle importiert worden ist" Armbrüster: Frau Klöckner, Sie müssen uns das mit der Gülle noch einmal kurz erklären. Ich habe jetzt verstanden, dass Sie Projekte fördern wollen, dass weniger Gülle auf den Feldern ausgebracht wird. Das ist nötig, damit die Nitratwerte niedrig bleiben und damit das Grundwasser geschützt wird. Aber die Gülle ist ja da. Wie wollen Sie denn den Güllebestand in Deutschland reduzieren, den Güllebestand auf deutschen Bauernhöfen? Klöckner: Der Güllebestand auf deutschen Bauernhöfen ist für ganz Deutschland gesehen in der Quantität ja nicht das Problem, Herr Armbrüster. Das Problem ist, dass zum Beispiel Gülle importiert worden ist aus Holland, von woanders her importiert worden ist, weil aufgrund der geographischen Nähe das möglich war. Wir haben zum Beispiel im Osten von Deutschland kaum Tierhaltung, aber man muss dort natürlich auch Nährstoffe auf die Felder bringen. Es ist aber nicht so, dass die Gülle gleichmäßig in Deutschland verteilt worden ist, weil Sie sie schlecht transportieren können oder ungünstig transportieren können. Es geht zum Beispiel um Techniken der Separierung von Gülle, auch Trennung von der Flüssigkeit. Es geht aber auch am Ende darum, dass sie passgenau aufgebracht wird. Es geht aber auch um Pflanzenschutzmittel, also nicht nur um Gülle, und es geht am Ende darum, Herr Armbrüster, dass das, was da ist, bedarfsgerecht aufgebracht wird, und das heißt nicht automatisch, dass grundsätzlich in Deutschland so viel Gülle produziert wird, sondern die Frage ist doch, müssen wir Gülle aus Holland importieren und selber Probleme importieren, nur weil man Gülle sonst nicht so gut dorthin transportieren kann, wo sie gebraucht wird. Das sind zwei Paar Schuhe, die wir ein bisschen auseinanderhalten müssen. Unabhängig davon brauchen wir einen Umbau der Tierhaltung und die gehen wir an, wie das noch keine Bundesregierung je gemacht hat. Tierwohlkriterien und Produktinformationen Armbrüster: Das müssen Sie uns erklären. Soll Deutschland nicht länger abhängig bleiben, oder die deutsche Landwirtschaft, von der Massentierhaltung? Klöckner: Sie müssten dann erklären, was Sie unter Massentierhaltung verstehen. Es gibt Ökobetriebe, die haben über 10.000 Stück Geflügel. Es gibt ganz kleine konventionelle Betriebe, die haben noch nie den Stall umgebaut, kaum Außenluftkontakt, aber nur ein paar Tiere. Das ist jetzt hier nicht die Frage, ob mehrere Tiere im Stall sind, sondern wie sie gehalten werden, ob sie Auslauf haben, ob sie Frischluftkontakt haben, ob sie mehr Platz haben, wie der Transport ist, wenn überhaupt. Deshalb geht es mir darum, dass wir die Tierwohlkriterien, die europaweit am anspruchsvollsten sind, wie wir sie definiert haben, dass die auch umgesetzt werden, dass das erkennbar ist auf dem Produkt und dass dafür auch mehr gezahlt wird. Wir helfen beim Umbau dieser Ställe mit etwa 300 Millionen Euro jetzt zum Beispiel. Klöckner: Biodiversität erhalten, Ernährung sichern Armbrüster: Können wir dann sagen, wenn diese Bauern-Milliarde aufgebraucht ist in vier Jahren, diese eine Milliarde Euro, wenn die weg ist, wenn die Gelder alle abgerufen wurden, dass es dann solche Betriebe nicht mehr gibt, wie Sie sie gerade geschildert haben, in denen seit Jahren kein Umbau mehr stattgefunden hat, in denen die Tiere unter Zuständen leben wie vor 10 oder 20 Jahren? Klöckner: Sie werfen wieder zwei Sachen durcheinander. Das was wir jetzt gerade machen mit unserem Investitionsprogramm "Bauern für Klimaschutz", da gehen wir an auch das Thema Ackerbau. Da geht es nicht um Tierhaltung, nicht in allen Bereichen, sondern es geht darum, dass Pflanzenschutzmittel so eingesetzt werden, so präzise und so reduziert, dass Biodiversität erhalten wird, aber dennoch unsere Ernährung gesichert wird, weil gegen Schädlinge vorgegangen wird. Und es geht auch darum, dass die Emission zum Beispiel von Gülle reduziert wird, was für unser Klima gut ist. Dann haben wir das andere Programm. Das ist unser Stallumbauprogramm, Herr Armbrüster, das angelegt ist bis 2022 und zusammen kombiniert wird mit den Ergebnissen der Borchert-Kommission, dass wir Ställe umbauen wollen, dass wir mehr Wert und Wertschöpfung für die Produktion auch haben wollen und dass Landwirte auch in Deutschland bleiben. Wir bringen den Tierschutz voran, im Übrigen auch mit einem europäischen Tierwohlkennzeichen, das wir nächste Woche zum Beispiel beim Europäischen Agrarrat in Brüssel behandeln. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julia Klöckner im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Mit einem Fördertopf von rund einer Milliarde Euro sollen Landwirte ihre Betriebe umweltfreundlich modernisieren. Gefördert werden soll "nur Technik, die spürbare Einsparungen an Dünger und auch Pflanzenschutzmittel garantiere", sagte Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) im Dlf.  
"2020-12-10T08:10:00+01:00"
"2020-12-11T11:49:09.131000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/landwirtschaftsministerin-kloeckner-cdu-zur-bauern-100.html
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"Politik nur für schwache EU-Länder"
Jürgen Stark war bis 2012 Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB). (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler) Die EZB müsse auf den Durchschnitt der Finanzentwicklung in Europa achten, sagte Jürgen Stark, früheres Direktoriumsmitglied der EZB, im Deutschlandfunk. Seit geraumer Zeit entstehe jedoch der Eindruck, dass die Zinspolitik der Zentralbank in erster Linie schwachen Euro-Ländern wie Italien und Spanien zugute komme. Für die deutsche Volkswirtschaft sei die Geldpolitik dagegen "nicht notwendigerweise optimal", so Jürgen Stark. Stark fordert Sanierung des Bankensystems Wichtiger sei dagegen, an die Gründe für das geringe Wirtschaftswachstum Europas heranzugehen. Das Problem sei nicht eine fehlende Nachfrage. Es müssten vielmehr Bedingungen für mehr private Investitionen geschaffen werden, sagte der Wirtschaftswissenschaftler im DLF. Durch immer neue Schulden entstehe dagegen kein nachhaltiges Wachstum. Entscheidend sei auch die Sanierung der Bankensysteme. Der hohe Anteil fauler Kredite in Italien und Spanien sei ein klarer Indikator für Strukturprobleme, so Stark. Manche Länder seien allerdings unwillig oder gar unfähig zu Reformen. Stark kritisierte auch, dass erstmals über das Ziel eines niedrigeren Euro-Wechselkurses gesprochen wurde. Bei dem Wechselkurs handele es sich um einen marktgetriebenen Preis. Explizit einen niedrigeren Wechselkurs gegenüber Währungen wie dem US-Dollar vorzugeben, nehme den Druck von Ländern wie Frankreich für notwendige Strukturreformen. Allerdings habe die EZB den Rahmen ihres Mandats ohnehin längst verlassen, so Stark. In Europa wird derzeit heftig um den richtigen Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestritten. In Mailand in Italien findet heute ein informelles Treffen der Finanzminister der Eurogruppe statt, an dem auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble teilnimmt. Das vollständige Interview können Sie hier nachlesen. Christoph Heinemann: Die europäischen Finanzminister kommen heute zu zweitägigen Beratungen in Mailand zusammen, bei denen es um die zuletzt schlechte Entwicklung beim Wirtschaftswachstum und bei der Inflation in Europa geht. Mit dabei EZB-Präsident Mario Draghi, der hat die europäischen Staaten in einer Rede gestern zu mehr Investitionen aufgerufen. Gleichzeitig verteidigte der EZB-Präsident das jüngste Maßnahmenpaket der Europäischen Zentralbank.Super-Mario oder Marionette – am Präsidenten der Europäischen Zentralbank scheiden sich die Geister und auch an Mario Draghis Zinspolitik oder der jüngsten Entscheidung der EZB, bestimmte Wertpapiere von Banken als Sicherheit anzunehmen. Gestern gab Frankreichs Notenbankchef Christian Noyer zu Protokoll, die Europäische Zentralbank müsse auf einen schwächeren Euro hinarbeiten, damit das Inflationsziel von zwei Prozent noch erreicht werden könne. Fachleute begründen das so: Wenn die Inflation zu niedrig ist, dann droht Deflation, also drohen sinkende Preise, womit ein großes Zaudern der Käuferinnen und Käufer ausgelöst werden könnte, weil ja keiner weiß, ob Autos, Kühlschränke, PCs und so weiter nicht doch noch billiger werden. Die Äußerungen aus Frankreich dürften heute auch in Mailand für Gesprächsstoff sorgen. – Bei uns am Telefon jetzt ist der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Stark, von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Guten Morgen. Jürgen Stark: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann. Heinemann: Herr Stark, sollte die EZB den Euro schwächen? Stark: Es war immer eine Übereinkunft unter den Zentralbankern in Europa, dass die Europäische Zentralbank kein Wechselkursziel hat. Dies hat sich offenbar geändert. Zum ersten Mal wird offen über einen niedrigeren Wechselkurs gesprochen und auch die Entscheidungen von der vergangenen Woche vonseiten des EZB-Rates werden mit einer Schwächung des Euro-Wechselkurses begründet. Das ist neu. Das hat es vorher nicht gegeben. Denn der Wechselkurs ist immer als Tabu bezeichnet worden und als ein marktgetriebener Preis.Wenn die Europäische Zentralbank nun über eine Abwertung des Euro versucht, die Inflation anzuheizen, dann ist das eine Sache. Aber es ist letztlich nicht Aufgabe einer Zentralbank, auf diese Art und Weise den Wechselkurs zu beeinflussen. Das soll über den Markt gehen. EZB hat engen Rahmen ihres Mandates verlassen Heinemann: Warum bisher nicht und warum jetzt doch? Stark: Ja, es gibt kein Wechselkursziel in der Europäischen Zentralbank. Die Europäische Zentralbank hat ein binnenwirtschaftliches Stabilitätsziel. Das sind stabile Preise, ein stabiles Preisniveau. Und das ist die Voraussetzung letztlich für die externe Stabilität, ein Beitrag für den Wechselkurs. Der Wechselkurs ist ja ein relativer Preis, ein Preis, der sich am Markt bildet, zum Beispiel gegenüber dem US-Dollar, dass der Euro-Wechselkurs auch bestimmt wird durch Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. Dort haben wir ein etwas stärkeres Wachstum. Wir haben schwaches oder kaum Wachstum in Europa. Wir haben die Erwartung, dass die amerikanische Zentralbank die Zinsen erhöhen wird.Die EZB hat die Zinsen erneut gesenkt und zusätzliche Maßnahmen ergriffen. Das hat den Wechselkurs beeinflusst. Das sind natürlich Elemente oder Faktoren, die sich beim Wechselkurs niederschlagen. Aber explizit ein Wechselkursziel zu haben und zu sagen, wir brauchen einen niedrigeren Wert des Euro gegenüber dem Dollar oder anderen Währungen, das ist eine Politik, die letztlich wiederum den Druck völlig wegnimmt von den Strukturreformen, die notwendig sind insbesondere in Frankreich und Italien. Fehlende Nachfrage ist nicht das Problem Heinemann: Ist das noch Geldpolitik oder schon Finanz- beziehungsweise Wirtschaftspolitik? Stark: Das ist seit längerer Zeit Haushaltspolitik, quasi Fiskalpolitik, und es ist Wirtschaftspolitik. Die EZB hat längst den engen Rahmen ihres Mandates verlassen und betreibt eine andere Politik, die natürlich auch von anderen Zentralbanken betrieben worden ist. Aber dennoch: Im kurzfristigen Bereich mag das einen Erfolg haben. Man muss aber auch über die mittelfristigen Konsequenzen nachdenken und muss an die Gründe herangehen, die Ursachen, warum wir ein derart schwaches wirtschaftliches Wachstum haben. Und das liegt nicht in einer fehlenden Nachfrage. Sicherlich haben wir ein Investitionsproblem in Europa. Aber es müssen die Bedingungen geschaffen werden, dass private Investitionen wieder zum Zuge kommen. Es geht ja nicht darum, dass man nun durch immer mehr Schulden, wie man das auch definiert, dass man durch immer mehr Schulden versucht, die Wirtschaft anzukurbeln. Das wird nicht aufgehen. Das ist kein nachhaltiges Wachstum, was damit geschaffen wird. Heinemann: Operiert die EZB schon jenseits ihres Auftrags? Stark: Das schon seit geraumer Zeit. Heinemann: Also auch des gestatteten? Stark: Das schon seit geraumer Zeit, seitdem sie Staatspapiere bestimmter Länder gekauft hat, seitdem sie eine Garantie gegeben hat, dass die Zinsen für Staatspapiere bestimmter Länder nicht eine gewisse Grenze überschreiten, jetzt auch durch das Schaffen eines neuen Marktes wie Kreditverbriefungen. Das ist nicht Aufgabe einer Zentralbank. Das muss man der Politik oder auf jeden Fall dem Markt überlassen, ob ein solcher Markt wieder entstehen soll. Ich rede von den Asset Backed Securities, von den verbrieften Krediten, die die EZB aufkaufen will, aber den Markt auch beleben will. Das hat nichts mehr mit Geldpolitik im engeren Sinne zu tun. Heinemann: Diese ABS-Papiere genießen ja wegen des breit gestreuten Risikos nicht den besten Ruf. Mario Draghi begründet das damit, dass er die schwache Kreditvergabe beflügeln wird, und das würde doch genau dem Ziel, das Sie eben beschrieben haben, nutzen, nämlich die Konjunktur anzukurbeln. Sanierung der Bankensysteme ist notwendig Stark: Es geht ja in erster Linie darum, die kleinen und mittleren Unternehmen, die offenbar Probleme haben, in Italien und in Spanien und in anderen Ländern an Kredite heranzukommen, denen den Kreditzugang zu erleichtern. Aber der entscheidende Punkt liegt nicht hier bei der Schaffung eines neuen Marktsegmentes am Finanzmarkt, sondern an der Sanierung der Bankensysteme. Wenn Sie sehen, dass der Anteil der faulen Kredite an dem Gesamtvolumen der vergebenen Kredite in Italien 15 Prozent erreicht hat und auch in Spanien bei 15 Prozent liegt, ist dies ein klarer Indikator dafür, dass hier strukturelle Probleme sind, die Sanierung des Bankensektors notwendig ist, um wieder die Kreditvergabe auf den Weg zu bringen. Das kann man nicht übertünchen durch irgendwelche anderen Maßnahmen. Dann muss man an den Kern der Probleme heran. Aber daran scheitert es insbesondere in Italien bis jetzt. Heinemann: Ist Mario Draghi ein Zentralbankpräsident für Südeuropa? Stark: Er ist ein Zentralbankpräsident für das Euro-Gebiet insgesamt. Aber die EZB betreibt seit geraumer Zeit eine differenzierte Geldpolitik, die in erster Linie den Peripherieländern Italien und Spanien zugutekommt. Heinemann: Insofern, als die Länder jetzt am Kapitalmarkt wieder zu erträglichen Bedingungen Geld aufnehmen können. EZB-Interventionen sorgen für Marktverzerrung Stark: Nun, inwieweit dies erträglich ist, zeigen die Zahlen. Wir haben im kurzfristigen Bereich von zwei bis drei Jahren sogar negative Zinsen. Das heißt, durch die Risiken, die diese Länder auf sich gebürdet haben mit sehr hohen Schuldenständen, zum Beispiel in Italien mit 130 Prozent der Wirtschaftsleistung, werden die Risiken des dortigen Haushalts bei den Renditen nicht mehr richtig bepreist. Es gibt eine völlige Verzerrung am Markt durch die Interventionen oder durch die Garantien der Europäischen Zentralbank und irgendwann schlägt das auf. Heinemann: Andererseits, Herr Stark, nach Draghis Ankündigung gab der Euro gegenüber dem Dollar nach und der DAX zog an. Beides war erwünscht. Wo der Mann doch Erfolg hat, muss man das doch auch konstatieren. Niedrige Zinsen sorgen für falsche Effekte Stark: Ja gut. Wenn man ein Wechselkursziel hat und den Euro herunterredet und entsprechend politisch handelt, dann muss man das am Ende dann aus der Perspektive des Handelnden als Erfolg sehen. Je niedriger die Zinsen und je mehr Liquidität in die Märkte gegeben wird, umso mehr zeigen sich bei den Vermögenspreisen Übertreibungen, oder Steigerungen, die nicht rational nachvollziehbar sind. Und wir haben das durchaus bei den Aktienmärkten und wir haben es auch bei den Immobilienmärkten. Diese Liquidität und die niedrigen Zinsen, die wir zur Verfügung haben, die zeigen ihre Effekte. Und wir haben auch Inflation. Wenn wir auch keine Verbraucherpreis-Inflation haben, haben wir Vermögenspreis-Inflation im Augenblick. Heinemann: Herr Stark, das ist alles relativ kompliziert, zumal für den Laien. Wir haben Christian Noyers Äußerung gehört, des französischen Zentralbankchefs. Auch Christine Lagarde, die Direktorin des Internationalen Währungsfonds, unterstützt Mario Draghis Politik, und vermutlich wird das auch der neue oder künftige Währungskommissar Pierre Moscovici tun. Das sind ja alles keine Anfänger. Gibt es da in Frankreich eine vollständig andere Wahrnehmung, oder in Südeuropa, der Geldpolitik und der Aufgaben der EZB? Zentralbanken werden für Konjunkturpolitik eingespannt Stark: Ja. Es zeigen sich jetzt doch die tief greifenden kulturellen Unterschiede in der Geldpolitik und in dem, was man als Stabilitätsorientierung versteht. Die Zentralbanken werden eingespannt für die Konjunkturpolitik, anstelle einer Fiskalpolitik oder mit der Fiskalpolitik zusammen. Das hat es in Zeiten der Deutschen Bundesbank so nicht gegeben. Nun, wir leben jetzt aber in einer anderen Welt mit einer Europäischen Zentralbank, mit einer europäischen Währung, und die Europäische Zentralbank muss auf den Durchschnitt der Entwicklungen in Europa achten. Das heißt, da wir im Moment eine sehr starke Auseinanderentwicklung im Euro-Gebiet auch haben, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, und zum Teil auch, was die Inflationsraten angeht, ist es für die EZB natürlich schwer, den richtigen Weg hier zu finden. Verkrustete Wirtschaftsstrukturen sind das Problem Aber man hat den Eindruck seit längerer Zeit, dass hier in erster Linie für die sehr schwachen Peripherieländer und auch größere Länder eine Geldpolitik verfolgt wird, die nicht notwendigerweise optimal ist für die deutsche Volkswirtschaft. Heinemann: Nun sollte das Geld den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Wenn in manchen Ländern die Hälfte der jungen Leute keinen Job hat, hört der Spaß doch mal irgendwann auf und dann müsste doch nur noch eins zählen, nämlich wie gibt man diesen Menschen schnellst möglichst eine Perspektive. Stark: Ja! Warum gibt es so viele arbeitslose Jugendliche? Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das seit über 20 Jahren besteht. Vor 20 Jahren war die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in Spanien genauso hoch wie heute. Das darf man nicht vergessen und ist nur durch einen Immobilien-Boom überlagert worden. Hier geht es wirklich um Strukturprobleme, die nicht mit mehr Geld gelöst werden können. Allenfalls kann man mit mehr Geld etwas Zeit kaufen. Aber die verkrusteten Wirtschaftsstrukturen in einigen Ländern, die verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten, da muss man ansetzen. Die Politik in manchen Ländern neigt immer dazu, den Sündenbock woanders zu sehen und ja nicht in den eigenen Versäumnissen in der Vergangenheit, sondern dass dann eine Europäische Zentralbank oder ein anderes Land sozusagen den Motor, die Lokomotive spielen soll. Aber das lenkt nur ab von den wirklich tief greifenden Problemen in einigen Ländern. Manche Länder sind wirklich reformunfähig oder sogar unwillig. Das muss man einfach sehen. Das kann man nicht mit sehr viel Geld, sei es von der Zentralbank, sei es über die Europäische Investitionsbank oder andere Quellen, kurzfristig beheben. Hier ist ein langfristiges Konzept notwendig, so schwerwiegend, das im sozialpolitischen Bereich dann auch sein mag. Heinemann: Jürgen Stark, der ehemalige Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank. Herr Stark, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören. Stark: Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jürgen Stark im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die EZB verfolge eine Politik, die vor allem "Peripherieländern" wie Spanien und Italien zugute komme, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Stark. Mit ihrer Fiskal- und Wirtschaftspolitik habe die EZB den Rahmen ihrer Aufgaben längst verlassen, sagte Stark im DLF.
"2014-09-12T08:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:03:22.915000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-zentralbank-politik-nur-fuer-schwache-eu-100.html
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Sekundarschule NRW hat begonnen
Manfred Götzke: Im Gegensatz zum Reli-Unterricht ist die zweite Premiere zum Schulbeginn in NRW die Sekundarschule. Bundesweit eher ein alter Hut, diese Zusammenlegung aus Haupt- und Realschule, die gibt es zum Beispiel schon in Bremen und Berlin. Das Besondere in Nordrhein-Westfalen ist aber die Entstehung. Nach jahrelangen ideologischen Grabenkämpfen hat die CDU letztes Jahr mit Rot-Grün einen Schulfrieden geschlossen. Ja, und dessen Produkt ist die Sekundarschule. Eine dieser 42 neuen Sekundarschulen, die Schule in Jülich, leitet Angelika Lafos. Frau Lafos, Sie fangen heute an einer komplett neuen Schule mit neuer Schulart an. Wie stressig waren die letzten Wochen für Sie?Angelika Lafos: So stressig wie, glaube ich, noch nie in meinem Leben. Ich habe immer gerne viel gearbeitet, aber jetzt hatte ich zwei Schulen. Es ist ja nicht so, dass ich die Sekundarschule Jülich in Ruhe aufbauen konnte mit dem Rücken frei, sondern ich habe noch bis vor den Ferien die Realschule Ratheim als Schulleiterin geleitet. So, und man hat natürlich schon auch den Anspruch, oder wir haben den Anspruch, dass wir das sehr gut vorbereiten wollten für heute, und von daher haben wir die Sache ernst genommen und heftig gearbeitet.Götzke: Sie haben es ja gerade schon angedeutet, das Kollegium setzt sich aus Real- und Hauptschullehrern zusammen mit ja ganz anderen Unterrichtskulturen. Welche Probleme hat es da in den letzten Wochen gegeben oder welche könnte es möglicherweise noch geben?Lafos: Ja, es ist also so, dass wir eben neben Real- und Hauptschullehrern diese neu ausgebildeten Lehrer und Lehrerinnen haben, die zum Teil an der Gesamtschule und am Gymnasium noch ausgebildet wurden. Das heißt, wir haben von allen vier Schultypen unsere verschiedenen unterschiedlichen Erfahrungen hier. Das ist sehr bereichernd, weil sie ja natürlich aus dem alten oder aus dem konventionellen System das mitnehmen wollen in die Sekundarschule, was gut funktioniert hat. Wir müssen uns immer wieder ein bisschen abgleichen. Derjenige, der an der Realschule unterrichtet hat, bringt natürlich eine andere Erfahrung mit als die beiden Kollegen, die von der Hauptschule bei uns sind. Wir müssen halt schauen, wie kriegen wir diese Dinge, dass wir da einen gemeinsamen Ethos entwickeln, ein gemeinsames "So gehen wir". Wir gehen zwar auch individuell, wie die Kinder auch individuell lernen. Aber wir müssen doch eine klare Linie haben. Und das haben wir entwickelt, indem wir, nachdem wir diese Crew fertig hatten, schon vor den Sommerferien und zweimal die Woche nachmittags getroffen haben. Wobei wir immer wieder schauen werden mit externer Begleitung auch, passt es noch, wie kriegen wir was verändert, wie müssen wir es modifizieren?Götzke: Sie habe es ja gerade gesagt: Sie entwickeln sie noch. Wie viel Experiment wird es noch im ersten Schuljahr jetzt geben?Lafos: Ich würde das nicht Experiment nennen, sondern wir nehmen das von den anderen Schultypen mit. Plus die Möglichkeit, alles das, was wir denken, das müsste eigentlich ein bisschen geändert werden. Also wir haben – es gibt Schulen, die arbeiten im 90-Minuten-Rhythmus, das haben wir zum Beispiel übernommen. Es gibt Schulen, die haben freie Lernzeiten. Wir sind eine Ganztagsschule, wir haben auch freie Lernzeiten. Das sind keine Experimente. Natürlich machen wir es hier alle neu in unserer Zusammenstellung. Aber das, was wir machen, gibt es alles auch an anderen Schulen. Aber nicht an einer anderen Schule.Götzke: Ihre Schulform ist ja letztlich Ausdruck eines politischen Kompromisses zwischen zwei schulpolitisch ja ganz unterschiedlichen Lagern, Union und SPD. Merkt man das Ihrer Schule an?Lafos: Wir sind angetreten, damit wir die Kinder individuell fördern und schauen, dass am Ende der Klasse 10 die bestmöglichen Abschlüsse von den Kindern erzielt werden können. Wir brauchen dafür Zeit, oder wir können auch mehr Zeit nehmen als die anderen Schulen, wenn Ihr Kind am Gymnasium angemeldet ist, dann muss es sofort gymnasial sein. Wie können hier ein bisschen mehr schauen. Und das ist aber genau das, was ich auch immer gedacht habe, Mensch, schade, der muss jetzt gehen nach der sechsten Klasse zur Hauptschule. Und eigentlich wissen wir, er hat das Know-how, wir sind aber nicht ganztags an der Realschule gewesen, wir hatten eine gewisse Versetzungsordnung. An der Sekundarschule ist es so, jetzt ist das ganztags, das heißt, ich kann mit dem Kind länger am Tag arbeiten und die Kinder werden bei uns ja auch in der Regel versetzt.Götzke: Der Schlüssel zum individuellen Lernen, jetzt komme ich doch noch mal drauf, sind ja eigentlich kleine Klassen, damit sie jedem Schüler gerecht werden können. Sind die bei Ihnen klein genug?Lafos: An der Sekundarschule Jülich sind sie klein genug, weil wir auf den Punkt genau 125 Kinder haben und damit fünf Klassen bilden konnten. Wir haben also 25er-Klassen.Götzke: Das ist tatsächlich relativ klein. Ja, ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Erfolg. Und vielen Dank für das Interview, Frau Lafos.Lafos: Gerne. Und auch vielen Dank!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Angelika Lafos im Gespräch mit Manfred Götzke
42 neue Sekundarschulen gibt es seit diesem Schuljahr in NRW. Die Schulen sind auch ein politisches Symbol. CDU und SPD hatten zugunsten der neuen Schulform einen Schulfrieden geschlossen.
"2012-08-22T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:21:01.436000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sekundarschule-nrw-hat-begonnen-100.html
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Von Chaos (noch) keine Spur
Mit Fahnen und Transparent stehen streikende Flughafen-Mitarbeiter auf dem Frachthof des Flughafens von Hannover. (dpa/picture-alliance/Holger Hollemann) Hunderte von Flügen gestrichen, Tausende Beschäftigte im Warnstreik, doch von Chaos an deutschen Flughäfen keine Spur. Reisende informierten sich vorab, buchten um und zeigten großenteils Verständnis dafür dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Warnstreiks auf den Luftverkehr ausweiteten. "Ich stehe dahinter, ich unterstütze das auf jeden Fall, damit sie ihre Forderungen durchsetzen können." "Also ich verstehe es schon. Aber die Auswirkungen sind schon groß." "Weil ich heute fliege, finde ich es halt ärgerlich." Seit dem frühen Nachmittag sind die sieben vom Warnstreik betroffenen Flughäfen wieder auf dem Weg zum Normalbetrieb. Reisende atmen auf, wie das Paar, das am Nachmittag noch von Frankfurt am Main nach Bangkok fliegen kann. "Ja, zwei Stunden Verspätung, aber sonst lief alles wie geplant. Kein Stress, wir wussten das vorher, dass wir zwei Stunden warten müssen, und war problemlos." Die Hälfte von 1.300 üblichen Flügen am Rhein-Main-Flughafen fiel aber aus, weil mehr als tausend Frühschicht-Beschäftigte in der Gepäckabfertigung und Flugzeug-Wartung in den Ausstand traten. Mit zwanzig Starts und Landungen stündlich blieb der Airport fast zehn Stunden lang weit unter seiner Kapazität. Bis voller Normalbetrieb erreicht ist, dauert es, prognostiziert Fraport-Sprecher Mike Schweitzer. "Das heißt: Es wird auch weiterhin zu Verzögerungen kommen im Betriebsablauf - über den Tagesverlauf hinaus und (wir) gehen aber davon aus, dass es sich im Lauf des morgigen Tages wieder normalisiert." Die Gewerkschaft Verdi zeigte sich zufrieden über eine Streikbeteiligung von 90 Prozent Claudia Amier, Fraport-Betriebsratschefin: "Das ist natürlich ein tolles Ergebnis und das Signal an die Arbeitgeber für die nächste Verhandlungsrunde." In München fielen 140 Verbindungen aus, in Hamburg 30 Flugpaare, ebenso viele in Berlin-Tegel, dort nur durch die Auswirkungen der Streiks anderswo. Insgesamt strich die Lufthansa 600 Flüge, erreichte aber durch die hohe Zahl von Annullierungen, dass sich die Umläufe schnell wieder normalisieren, weil Maschinen und Crews am richtigen Platz sind. Fraport-Sprecher Mike Schweitzer bezeichnet die Auswirkungen insgesamt als enorm: "Viele Passagiere werden heute nicht von Frankfurt aus reisen können. Insbesondere die internationalen Passagiere sind sehr stark betroffen, durchaus auch Familien, Geschäftsreisende, die im Ausland sitzen, heute nicht nach Frankfurt reisen können, das ist sehr zu bedauern." Die Lufthansa spricht von Millionenschäden und kritisiert den Verdi-Warnstreik als unverhältnismäßig. Mitten im Protestzug von Hunderten von Beschäftigten kontert die Fraport-Betriebsratschefin: "Das ist für uns noch Warnstreik gemäß. Wenn wir richtig streiken, denke ich, wird das mehr Auswirkungen geben, weil wir davon ausgehen, dass da auch eine Feuerwehr hundertprozentig streiken wird - ja letztendlich: Diese Karte wurde noch nicht gezogen", bleibt aber der Trumpf in der Hinterhand, das Drohpotenzial für die dritte Verhandlungsrunde ab kommenden Montag.
Von Anke Petermann
Die Gewerkschaft Verdi hatte Beschäftigte an sieben Flughäfen zu Warnstreiks aufgerufen. Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben. Das könnte sich ändern, wenn auch in der nächsten Verhandlungsrunde mit den Arbeitgebern kein Ergebnis erzielt wird.
"2014-03-27T18:10:00+01:00"
"2020-01-31T13:33:13.910000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/warnstreiks-von-chaos-noch-keine-spur-100.html
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Angriffe auf Geldautomaten und Bankkonten nehmen zu
Onlinebanking mit Smartphone und App (imago / Rüdiger Wölk) Der bislang vermutlich größte Bankraub aller Zeiten - er läuft noch. In einem Film hat die für Internetsicherheit spezialisierte Firma Kaspersky den Bankraub der Carbanak-Bande dokumentiert. Bis zu eine Milliarde Dollar von rund 100 Banken in 30 Ländern hat die Bande von Hackern Schätzungen zufolge geraubt, indem sie reihenweise Bankautomaten dazu gebracht hat, ihr ganzes Geld auszuspucken. "Die waren in dem System drin; die wussten genau, welche IP-Adresse welcher Geldautomat hat und wie ich den Befehl gebe, dass dieser Geldautomat ausgewählt wird. Die haben Geldboten hingeschickt, der Geldbote stand vor dem Automaten und der hat alles Geld ausgespuckt. Dann haben die es in einen Rucksack gepackt und sind weg." Kriminelle fischen Daten ab Sagt Rainer Bock, der bei Kaspersky den Film über die Carbanak-Bande produziert hat. Phishing war das bevorzugte Werkzeug der Bande, kurz gesagt also das Abfischen von Daten, um damit an ihre kriminellen Ziele zu kommen. Sogenannte Trojaner in Mails zu verstecken, um damit an Daten auch von privaten Bankkunden zu kommen, ist eines der Haupteinfallstore für Betrüger beim Banking im Internet. So haben die Mitarbeiter der Cyber-Security-Firma analysiert, dass die Zahl der geblockten Trojaner auf Windows-Geräten sich im ersten Halbjahr dieses Jahres gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt hat. "Das heißt, da wirklich eine Tendenz zu sehen, dass nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität deutlich zunimmt. Und wir erwarten in der zweiten Jahreshälfte nochmal ein Vielfaches dessen. Weil natürlich durch die Ferienzeit, die jetzt zu Ende geht und das ganze Weihnachts- und Vorweihnachtsgeschäft, dass da auch die Cyberkriminellen noch aktiver werden." Betrügerische E-Mails Sagt der Kaspersky-Vertriebschef für Deutschland, Peter Neumeier. Eine beliebte Phishing-Angriffsform sind E-Mails, in denen Kunden aufgefordert werden, aufgrund irgendeines Sicherheitsproblems ihre Bank- oder Kontodaten zu verifizieren. Das sollten Verbraucher tunlichst unterlassen, denn keine Bank verlangt so etwas von ihren Kunden. Doch die Betrugsversuche dieser Art nehmen weiter zu, wie Peter Neumeier beobachtet hat. "Hintergrund ist: Diese Phishing-Mails sind immer besser und professioneller gemacht. Und so fallen da immer noch sehr, sehr viele Menschen auf diese Phishing-Mails rein." Programm-Updates schützen Ein weiteres Einfallstor für Betrüger bilden mittlerweile die zahlreichen mobilen Geräte, mit denen Kunden auch ihre Banküberweisungen und -geschäfte tätigen. Hier bildet Android den Hauptangriffspunkt: 99 Prozent aller mobilen Schädlinge zielen laut den Kaspersky-Experten auf das Google-Betriebssystem. Und auch hier hat sich die Zahl der Angriffe fast verdoppelt. Übrigens war das Einfallstor für die Carbanak-Bande, um an die Programmierung und Steuerung der Geldautomaten zu kommen, eine veraltete Word-Version, die in vielen Banken noch genutzt wurde. Programm-Updates sind daher neben Viren- und Schädlingsbekämpfungsprogrammen die wirkungsvollste Art, sich vor Hackern und Betrügern im Internet zu schützen.
Von Mischa Ehrhardt
Die Hälfte der privaten Bankgeschäfte wird mittlerweile online abgewickelt - und das lässt auch die Zahl der Betrugsversuche steigen. Dafür werden häufig sogenannte Trojaner genutzt, mit denen sich Hacker Zugang zum System verschaffen.
"2019-08-20T13:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:59.407000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/online-banking-angriffe-auf-geldautomaten-und-bankkonten-100.html
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"Die SPD ist handlungsfähig"
Manuela Schwesig (SPD) ist Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und kommissarische SPD-Chefin (dpa/ AA/ Abdulhamid Hosbas ) Silvia Engels: Gestern am späten Nachmittag trafen sich die Spitzen von Union und SPD im Kanzleramt zum ersten Koalitionsausschuss nach der Sommerpause. Auf der Tagesordnung standen offiziell die Mietentwicklung und die Klimapolitik. Daneben ging es auch um die Grundrente und das Konzept von Finanzminister Scholz, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, aber für Spitzenverdiener beizubehalten. Doch hier in diesen Themen gab es keine Bewegung. Mit in der Runde dabei war gestern Manuela Schwesig. Sie ist Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und sie ist eine von den drei Interimsvorsitzenden der SPD, nun am Telefon. Guten Morgen, Frau Schwesig! Manuela Schwesig: Guten Morgen! Engels: Wir haben es gehört: Fortschritte gibt es durchaus in Einzelpunkten. Beginnen wir damit. Die Mietpreisbremse soll verlängert werden. Verstöße des Vermieters sollen dazu führen, dass Geld zurückgezahlt wird. Und dann soll auch die Bremse etwas verschärft werden – dadurch, dass man einen längeren Betrachtungszeitraum wählt. So klar, so gut! Hilfreiche Einzelschritte, aber doch nicht die Antwort auf die Wohnungsnot in den Städten! Schwesig: Das ist ein großer Fortschritt, den wir gestern erzielt haben, denn die Mietpreisbremse zu verlängern und vor allem zu verschärfen und auch weitere Maßnahmen für den ländlichen Raum zu beschließen, darüber wurde lange diskutiert. Das haben wir jetzt zusammen beschlossen und das ist ja nicht ein alleiniges Maßnahmenpaket. Es sind ja schon davor welche beschlossen worden, vor allem das große Thema, auch Geld für den Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen, und die Frage gutes Wohnen, bezahlbares Wohnen und vor allem auch ökologisches Wohnen ist das Thema des nächsten Jahrzehntes, auch eine große soziale Frage, und ich bin froh, dass wir da einen weiteren Schritt vorangekommen sind. "Beschluss trägt SPD-Handschrift" Engels: Aber die SPD wollte ja eigentlich mehr. Sie wollte zum Beispiel, dass bei Immobilienverkäufen künftig der Verkäufer komplett zahlt. Das kommt nun nicht. Außerdem gibt es ja weitergehende SPD-Ideen, in Ballungsräumen zum Beispiel einen kompletten Mietenstopp zu verhängen. Aus Bayern kam ja diese Idee. Warum kann sich die SPD hier nicht mehr durchsetzen? Schwesig: Der Beschluss von gestern, der trägt ganz klar die SPD-Handschrift. Da hat sich ja eher die Union mit vielen Sachen schwergetan. Es ist immer so, dass wir uns einigen müssen. Das ist klar. Wenn die SPD alleine wäre, würden auch mehr gute Vorschläge kommen. Aber es ist nun mal so in der Koalition. Und noch mal: Die ganzen Fortschritte gerade beim Thema Wohnen und Mieten, bezahlbares Wohnen, sind vor allem Themen, die wir vorangebracht haben, und ich finde, gut an diesem Beschluss ist: Es geht nicht alleine nur um die Städte, sondern auch längst um den ländlichen Raum und hier auch Baulücken zu schließen für Familien, die sich zum Beispiel auch im ländlichen Raum entscheiden zu leben, das ist ein wichtiger Punkt. Engels: Sie waren ja gestern in der Runde dabei. Wie steht es denn mit den anderen Themen, Soli-Abschaffung, Klimaschutz, Grundrente? Hier weiß man ja nur, dass eine Einigung nicht da ist. Kriegen Sie das denn jetzt schnell hin, am besten noch vor den Landtagswahlen im Osten? Schwesig: Ich bin sehr zuversichtlich, dass auch diese Themen gelöst werden, auch der Solidaritätszuschlag. Da liegt ein guter Gesetzentwurf von Herrn Scholz vor. Wir wollen den Solidaritätszuschlag in Deutschland abschaffen, aber eben nicht für die zehn Prozent der reichsten Leute. Es ist auch nicht notwendig, dass wir jetzt eine Steuersenkung für Reiche machen. Wir wollen vor allem die kleinen und mittleren Einkommen erreichen. Das ist so beschlossen im Koalitionsvertrag. Deswegen gehe ich auch davon aus, dass die Union da mitmacht. Zum Thema Klima, da haben wir weitere Gespräche vereinbart. Das ist auch notwendig, ein richtiges gutes Klimaschutzgesetz zu machen, was auch die nächsten Jahre trägt. Das ist eine komplexe Aufgabe, da miteinander weiter im Gespräch zu sein und dann was Gutes zu beschließen. Das ist ein wichtiger Punkt. Grundrente ja, da hätte ich mir mehr Dynamik gewünscht. Das ist ganz klar. Die Grundrente ist insbesondere in Ostdeutschland eine absolut soziale Frage. Gerade die Generation derjenigen, die nach der Wende die letzten 30 Jahre den Osten wieder aufgebaut haben, oft für kleine Löhne, geht jetzt in Rente, ist schon in Rente, und es ist wichtig, dass diese Leute, die ihr Leben lang gearbeitet haben, auch mehr haben, als wenn sie nicht gearbeitet haben. Das ist eine totale Gerechtigkeitsfrage und da erwarten wir von der Union, dass wir da auch zu einer guten Einigung kommen. Stefan Müller (CSU): "Die SPD ist in einer schwierigen Situation"Der CSU-Politiker Stefan Müller (CSU) appelliert an die SPD, ihrer Verantwortung als Regierungspartei gerecht zu werden. Eine Flucht aus der Verantwortung habe noch nie zu mehr Zustimmung geführt, sagte er im Dlf. Die Union habe aus Rücksicht ständig Zugeständnisse bei allen für den Herbst geplanten Themen gemacht. "Das muss eine Große Koalition schaffen" Engels: Grundrente - Sie sprechen es an: gerade im Osten wichtig. Aber eben kein Durchbruch. Wie verkaufen Sie das nun der ungeduldigen SPD-Basis, die ja teilweise lieber heute als morgen die Regierung verlassen will? Schwesig: Es geht nicht um Verkaufen. Es geht darum, eine gute Lösung zu bekommen für die Menschen im Land. Der ursprüngliche Entwurf im Koalitionsvertrag würde nur 100.000 Menschen erreichen. Das ist uns zu wenig. Wir wollen mehr Leute erreichen und eine Grundrente, die den Namen verdient. Wir wissen alle, dass die Union da Schwierigkeiten hat, und deshalb ist es einfach wichtig, jetzt weiter im Gespräch zu bleiben, zu verhandeln. Ich sage das ganz klar, auch als ostdeutsche Ministerpräsidentin. Ich erwarte, dass im Jahr, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, die deutsche Einheit auch vollendet wird durch die soziale Einheit und dazu gehört die Grundrente. Das muss eine Große Koalition schaffen. Ich glaube, darüber sind sich alle Beteiligten bewusst. Engels: Einig sind Sie sich ja auch geworden, dass im Oktober Bilanz gezogen werden soll zwischen den Schwarzen und den Roten, wie erfolgreich die Koalition ist. Wird das zur Sollbruchstelle für die SPD, die Koalition zu verlassen? Schwesig: Wir sind ganz klar verabredet, schon seit einiger Zeit im Koalitionsvertrag. Wir machen jetzt eine Halbzeitbilanz. Ich gehe davon aus, dass die auch ganz gut wird, weil ja schon viel erreicht wurde. Aber entscheidend für den Fortbestand der Großen Koalition ist: Gelingt es der Großen Koalition, die großen Zukunftsfragen zu beantworten. Dazu gehört ein gutes Klimaschutzgesetz. Dazu gehört eine gute Grundrente und sicherlich auch andere Themen. Das müssen wir miteinander besprechen. Am Ende kommt es darauf an, was können wir für die Menschen im Land erreichen. "Trotzdem ist die SPD handlungsfähig" Engels: Im Moment muss man ja auch immer die Vergabe des SPD-Parteivorsitzes mitdenken bei allem, was das Koalitionshandeln angeht. Gestern hat sich da noch ein Paar beworben. Die Parteilinke Hilde Mattheis will mit dem Gewerkschaftsfunktionär Dirk Hirschel antreten. Begrüßen Sie das? Schwesig: Wir freuen uns über alle Kandidaturen und vergeben jetzt keine Noten, den finden wir besser oder den nicht. Wir stehen als Parteivorsitzende für ein faires und neutrales Verfahren. Aber die Kandidaturen jedenfalls der letzten Tage und Wochen haben gezeigt, dass da spannende Kandidaturen am Start sind, und es wird ein interessantes Auswahlverfahren. Trotzdem ist die SPD handlungsfähig, denn wir drei kommissarischen Parteivorsitzenden arbeiten auch an Themen jeden Tag und mit einem guten Ergebnis bei Mieten und Wohnen haben wir das gestern ja auch bewiesen. Engels: Es gibt bislang, wenn ich richtig mitgezählt habe, 15 Bewerberinnen und Bewerber, prominente, weniger prominente, rechter, linker Flügel, Frauen, Männer, Paare, Einzelbewerber. Schön und gut, um die Breite der SPD darzustellen. Aber wird das Ganze unübersichtlich? Schwesig: Nein! Ich gehe davon aus, dass das unsere Mitglieder noch überschauen. Wir machen in allen Landesverbänden Regionalkonferenzen, wo sich die Bewerberinnen und Bewerber vorstellen. Und schauen Sie: Vor einigen Tagen haben noch viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen in den Medien gesagt, da passiert ja gar nichts und das bringt ja alles gar nichts. Jetzt sagen wieder alle, das ist zu viel. Man kann es so oder so sehen. Wir haben uns ganz klar dafür entschieden, dass wir Beteiligung der Basis wollen, dass wir ein offenes Verfahren haben, und es ist gut, dass wir jetzt viele Kandidaten aus ganz unterschiedlichen Generationen, aus unterschiedlichen Erfahrungsständen am Start haben. Da kann jedenfalls keiner mehr sagen, er hätte keine Auswahl. "Ich möchte auch bei meiner klaren Aussage bleiben" Engels: Ihr Parteifreund, der niedersächsische Ministerpräsident Weil hat aber bei uns im Interview der Woche das Auswahlverfahren grundsätzlich kritisiert. Es verunsichere die Mitglieder. Hat er recht? Schwesig: Ich glaube, seine Aussage wurde zugespitzt dargestellt. Wir haben ja alle vor einigen Wochen genau dieses Verfahren einstimmig beschlossen und deswegen gehe ich auch davon aus, dass es alle auch weiter so mittragen. Dass natürlich, wenn man sich Zeit nimmt für so etwas, bei dem einen oder anderen auch eine Ungeduld kommt, das gehört einfach dazu. Aber da rate ich zur notwendigen, vielleicht auch norddeutschen Gelassenheit. Wir haben jetzt ein solches Verfahren. Das haben wir auch alle lange genug besprochen und beschlossen. Ich gehe davon aus, dass jetzt auch alle dazu stehen. Entscheidend ist, ist die SPD derzeit handlungsfähig, und das will ich noch mal eindeutig sagen. Das sind wir. Unsere Ministerinnen und Minister sind die treibenden Kräfte in der Großen Koalition. Abschaffung Soli von Finanzminister Scholz, "Gute Kita"-Gesetz von Franziska Giffey, ein guter Vorschlag bei Grundrente von Arbeitsminister Heil, Svenja Schulze, die für ein gutes Klimaschutzgesetz kämpft, Heiko Maas, der für die Außenpolitik unterwegs ist. Da kann wirklich nicht die Rede davon sein, dass bei der SPD irgendwie gerade nichts passiert. Engels: Seit der Kandidatur-Bekanntgabe von Olaf Scholz am Freitag haben wir ja gelernt, dass Absagen für den Parteivorsitz auch schon mal zurückgenommen werden. Wie ist das bei Ihnen? Überlegen Sie nun trotz Ihrer Absage vor einigen Wochen, doch noch mal anzutreten? Schwesig: Nein, ich habe mir das gut überlegt. Ich bin gerade vor zwei Jahren in einer schwierigen Situation, weil ich für den erkrankten Ministerpräsidenten eingesprungen bin, nach Mecklenburg-Vorpommern gegangen und möchte dieses Amt gut ausfüllen. In der Kombination als stellvertretende Parteivorsitzende habe ich auch die Möglichkeit, für meine Partei viel zu tun, und so soll es auch bleiben. Ich habe mir das gut überlegt, habe das am Anfang klar so gesagt, und ich möchte gerne auch bei meiner klaren Aussage bleiben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Manuela Schwesig im Gespräch mit Silvia Engels
Die SPD sei die treibende Kraft innerhalb der Großen Koalition, sagte die SPD-Co-Vorsitzende Manuela Schwesig im Dlf - und nannte in diesem Zusammenhang die Soli-Abschaffung, das "Gute-Kita"-Gesetz und einen Vorschlag zur Grundrente. Es könne nicht die Rede davon sein, dass bei der SPD nichts passiere.
"2019-08-19T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:43.260000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ergebnisse-des-koalitionsausschusses-die-spd-ist-100.html
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Bundesländer erlassen Stallpflicht für Geflügel
Geflügel muss in vielen Bundesländern ab sofort im Stall bleiben. (picture alliance / ZB / Jan Woitas) Martinsgans oder nicht Martinsgans in Zeiten der Vogelgrippe? "Ich habe letzte Woche eine gegessen. Und ich werde nächste Woche auch wieder eine essen, trotz des Virus." Baden-Württembergs CDU-Agrarminister Peter Hauck lässt sich trotz aller Schreckensmeldungen, den Appetit an der Martinsgans nicht vermiesen. Das hat auch damit zu tun, dass er sich über die Beschaffenheit des Erregers informiert hat. "Dieses Vogelgrippe-Virus hat die Eigenschaft, dass es warme Temperaturen nicht mag und ab 23 Grad abstirbt. Deshalb kann man Geflügel unbedenklich essen. Also da brauch man keine Sorgen haben." Bisher keine Gefahr für Menschen Geflügel, gebraten, gegrillt oder gekocht, stelle damit ebenso wenig eine Gefahr dar wie abgekochte Eier. Hinzu kommt: Im Gegensatz zu jenem vor zehn Jahren aufgetauchten H5N1-Virus können sich Menschen nach derzeitigem Kenntnisstand mit dem neuen H5N8-Virus nicht infizieren. Allerdings: Wenn es um die Übertragung auf andere Vögel geht, dann ist der aktuelle H5N8-Virus deutlich aggressiver, so der Biologe Wolfgang Fiedler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee: "Wir sehen wirklich eine sichtbare Sterblichkeit. Das war 2006 nicht so. Es gibt mehr tote Vögel als sonst. Und die Rate derjenigen, die dann positiv ist, ist erheblich höher, um den Faktor 100 höher als das 2006 der Fall war." Grund genug also, um Maßnahmen zu ergreifen, die eine Weiterverbreitung des Erregers verhindern. Baden-Württemberg hat deshalb mit sofortiger Wirkung eine Stallpflicht erlassen, ebenso die Bundesländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Das heißt: Die Tiere dürfen, zunächst bis Ende Januar, landesweit nicht mehr aus dem Stall heraus. Das ist einfacher angeordnet als in der Praxis umgesetzt, weiß auch Baden-Württembergs Agrarminister Peter Hauck: "Was die Stallpflicht angeht, gibt es Tiere, die sich ungern in Ställen halten lassen. Das sind Wasservögel, das sind Enten zum Beispiel – aber die müssen halt durch. Das ist vielleicht nicht besonders artgerecht. Aber: Wenn es ums Überleben geht – und es geht ums Überleben – dann muss man mit ungewöhnlichen Maßnahmen rechnen und muss die auch umsetzen." Trotz Stallpflicht übrigens werden dennoch Eier von angeblich freilaufenden Hühnern in den Supermarktregalen ausliegen – obwohl die Hühner erst mal keinen freien Auslauf haben. Das ist aber nur beim ersten Hinsehen ein Widerspruch, erklärt Landwirtschaftsminister Peter Hauck. Denn wird, wie in seinem Bundesland, die Stallpflicht verfügt, "…dann dürfen die Produkte noch zwölf Wochen lang unter dem Produkt, unter dem sie angepriesen werden, weiter verkauft werden. Sie müssen nicht umetikettiert werden. Also das Freilandei darf ein Freilandei bleiben, auch wenn die Hühner eingesperrt sind in dieser Zeit. Aber noch zwölf Wochen ist Schluss. Und dann müssen sie wieder raus." Besondere Sicherheitsmaßnahmen für Geflügelhalter Erst wenn die Stallpflicht länger als zwölf Wochen bestehen bleibt, müsste demnach der Schriftzug "von freilaufenden Hühnern" auf der Verpackung der Eier gestrichen werden. Zusätzlich zur Stallpflicht in manchen Bundesländern hat das Bundeslandwirtschaftsministerium so genannte "Bio-Sicherheitsmaßnahmen" angeordnet, die alle Geflügelhalter beachten müssen, "dass man also keine Futterangebote im Freien und keine Wasserangebote im Freien machen darf. Dass nur mit besonderen Schutzvorkehrungen in die Ställe hineingegangen werden soll und so weiter. Das gilt jetzt für alle, für kleine und für große Bestände, und zwar bundesweit. Wir müssen alles dazu tun, dass die Ausbreitungswege des Virus begrenzt bleiben." Dazu zählt in Baden-Württemberg auch die Stallpflicht in jedem Zoo und das Verbot großer, überregionaler Geflügelschauen. Doch wird wirklich alles getan, um die Ausbreitung der Geflügelpest zu verhindern? Der Naturschutzbund Deutschland hegt daran Zweifel, mahnt vor allem eine breitere Ursachenforschung an. Bislang gingen die Experten überwiegend davon aus, dass das H5N8-Virus fast ausschließlich über Wildvögel auf Geflügelbestände übertragen werde. Daneben, heißt es vom NABU-Bundesverband, gerate aber in Vergessenheit, dass das HFN8-Virus gerade in jenen Geflügelfarmen im Ausland entstanden sein könnte, in denen die Tiere immer noch sehr dicht gedrängt gehalten werden. In diesem Fall wäre der Erreger ein Produkt extremer Massentierhaltung und könnte nicht über Wildvögel, sondern über den weltweiten Geflügelhandel nach Deutschland gelangt sein. Biologe Wolfgang Fiedler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell hegt eine ähnliche Vermutung: "Grundsätzlich muss man eigentlich fragen: Warum werden einzelne, dieser an sich harmlosen und zur Natur gehörenden Vogelgrippeviren plötzlich so gefährlich wie H5N1 oder jetzt H5N8? Was ist da für eine Geschichte dahinter? Haben damit vielleicht die Massengeflügelhaltungen in Asien zu tun? An dieser Stelle sind wir eigentlich in den letzten zehn Jahren nicht viel weitergekommen. Und ich glaube, dass ist ein Punkt, wo man ganz extrem dran arbeiten muss."
Von Thomas Wagner
Erst Schleswig-Holstein, jetzt Nordrhein-Westfalen: Die Vogelgrippe hat mittlerweile auch den Westen Deutschlands erreicht. Um die weitere Ausbreitung zu verhindern, haben einige Bundesländer mit sofortiger Wirkung eine Stallpflicht erlassen. Der Naturschutzbund Deutschland vermutet jedoch, dass nicht nur Wildvögel für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind.
"2016-11-18T11:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:04:49.254000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausbreitung-der-vogelgrippe-bundeslaender-erlassen-100.html
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Umweltbehörde legt Obamas Klimaschutzpläne auf Eis
Scott Pruitt, Direktor der Umweltbehörde EPA (AP) Obama hatte den Bundesstaaten Vorgaben zur Reduktion von CO-2-Emissionen gemacht und gehofft, auf diesem Wege bis zum Jahr 2030 den Ausstoß von Treibhausgasen um 32 Prozent reduzieren zu können. Das war jedoch bei den Kritikern und Vertretern der Kohlelobby auf heftigen Widerstand gestoßen. Clean Power Plan gecancelt Zu ihnen gehörte seinerzeit auch Scott Pruitt, der heutige Umweltminister. Als Generalstaatsanwalt von Oklahoma hatte er vor zwei Jahren noch Front gegen Obamas Klimapolitik gemacht und insgesamt zwölf Klagen gegen den Clean Power Plan eingereicht. Nun konnte er am Montag dessen Anfang vom Ende verkünden. Pruitt macht in seinem Dekret zur Abschaffung des Clean Power Plans geltend, dass Obama damals im Jahr 2015 seine Kompetenzen weit überschritten habe. Die Auflagen liefen auf eine staatliche Überregulierung hinaus. Immer wieder hatte Pruitt in Interviews und auf Veranstaltungen betont, dass Obamas Klimaschutzgesetze ein Diktat für die Bundesstaaten sei, für Geschäftsinteressen und die Industrie. Allerdings bleibt Pruitt Alternativen schuldig. Wie beim Gesundheitssystem Obamacare, dessen Abschaffung die Republikaner mit ebensolcher Energie verfolgen, gibt es auch beim Klimaschutz jetzt keine konkreten Reformpläne. Statt klare Vorschläge zu unterbreiten, wie die Emissionen künftig gesenkt werden sollen, heißt es dem Papier der Umweltbehörde lediglich, eine neue Regelung werde sorgfältig und unter Beteiligung aller Betroffenen ausgearbeitet. Man werde binnen 60 Tagen "Vorschläge aus der Öffentlichkeit" sammeln. Die EPA ist vom Supreme Court angehalten worden, das Klimaprogramm Obamas nicht einfach abzuschaffen, sondern für einen tragfähigen Ersatz zu sorgen. Einige Bundesstaaten kritisieren Trump-Haltung Das allerdings kann dauern. Es wird damit gerechnet, dass sich das Verfahren möglicherweise über Monate hinzieht. Bis dahin dürften auch die ersten Klagen vorliegen. Unter anderem hat der New Yorker Generalstaatsanwalt Eric Schneiderman eine Klage angekündigt – er hatte die Haltung der Trump-Administration in der Klimapolitik kritisiert und von einer untragbaren Leugnung des Klimawandels gesprochen. Überdies haben bereits mehrere Bundesstaaten ihre eigenen klimapolitischen Ziele festgelegt, die sich an den Vorgaben der Obama-Administration und des Pariser Klimavertrages orientieren oder zum Teil noch darüber hinausgehen. Etliche Staaten wie zum Beispiel Kalifornien oder New York haben bereits wissen lassen, dass sie ihre Auflagen zur Luftreinhaltung nicht mehr zurücknehmen werden. Der Gouverneur von Colorado wurde mit den Worten zitiert: "Wir haben die Luftreinhaltung dramatisch verbessert und wir sparen viel Geld. Welches von beidem mag Donald Trump eigentlich nicht?" Trumps rückwärtsgewandte Kohlepolitik ist auch für die innovative Branche der erneuerbaren Energien ein Ärgernis. Das Geschäft mit Gas-, Windkraft- und Solaranlagen boomt und setzt Wachstumsimpulse frei. Dessen ungeachtet hält Donald Trump an seinem konfrontativen Kurs fest. Dass er just dieser Tage ausgerechnet den früheren Kohle-Lobbyisten Andrew Wheeler zum Stellvertreter Pruitts an der Spitze der Umweltbehörde ernannte, dürfte wohl kein Zufall sein.
Von Thilo Kößler
US-Umweltminister Scott Pruitt hat seine Ankündigung wahr gemacht und seine Unterschrift unter ein Papier gesetzt, das dem Clean Power Plan von Barack Obama ein Ende machen soll. Alternativen bleibt er bisher schuldig - genau die hatte der Supreme Court aber gefordert. Und auch auf Ebene der Bundesstaaten regt sich Widerstand.
"2017-10-11T05:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:55:22.461000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-umweltbehoerde-legt-obamas-klimaschutzplaene-auf-eis-100.html
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DBS-Präsident Beucher sieht Nachholbedarf
Friedhelm Julius Beucher ist seit 2009 Präsident des Deutschen Behindertensportverbands. (IMAGO / Zoonar / IMAGO / Zoonar.com / Joachim Hahne) Für Friedhelm Julius Beucher gibt es kein "sehnlicheres Ziel", als die Paralympics nach Deutschland zu holen. Wenn er sehe, was sich in anderen Ländern der Welt durch Großereignisse verändern kann, erhoffe er sich davon einen Riesenschub für mehr Barrierefreiheit, sagte der Präsident des Deutschen Behintertensportverbands (DBS) im Deutschlandfunk: "Denn da hinkt unser Land noch deutlich hinterher." VdK-Präsidentin Verena Bentele "Sport oft nicht zugänglich und nicht barrierefrei" VdK-Präsidentin Verena Bentele "Sport oft nicht zugänglich und nicht barrierefrei" Der neueste Teilhabebericht der Bundesregierung zeigt, dass mehr als jeder zweite Mensch mit Behinderung nie Sport treibt. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, sieht im Dlf fehlende Barrierefreiheit der Sportstätten und mangelndes Sportangebot für Menschen mit Behinderung als Hauptgrund. "Müssen Sportstätten barrierefrei machen" Laut dem letzten Teihabebericht der Bundesregierung betreibt mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderungen in Deutschland keinen oder nie Sport. "Eine bedenkliche Zahl", findet Beucher, der darin eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung sieht. Allerdings seien auch Investitionen in Barrierefreiheit notwendig - gerade auch, weil Deutschland sich mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet hat. "Wir müssen unsere Sportstätten mit riesigen Schritten barrierefrei machen." IPC-Präsident Parsons"Paralympics? Wir wollen nicht der kleine Bruder sein" 14:17 Minuten18.05.2023 Er sieht aber auch die Vereine in der Pflicht. In einer Umfrage hätten nur sieben Prozent der deutschen Sportvereine angegeben Sport für Menschen mit Behinderung anzubieten: "Das darf nicht sein, da darf man die Menschen mit Behinderung nicht zurücklassen." Während der Pandemie hatte der DBS laut eigenen Angaben 15 Prozent seiner Mitglieder verloren. Beucher hofft nun auf neue Mitglieder - auch weil es wieder mehr Breiten- und Rehasportangebote gebe. Coronakrise Schwierige Zeiten für den Behindertensport Coronakrise Schwierige Zeiten für den Behindertensport Kein Bowling, kein Schwimmen, kein Tischtennis: Corona hat dem Behindertensport hierzulande zugesetzt. Drei Monate Pause war für viele Aktive und die Vereine eine lange Zeit und eine besondere Herausforderung. Viele Inklusionsprojekte lagen auf Eis. Die Verbände fühlen sich im Stich gelassen. Sportangebote für Menschen mit Behinderung "Die Scheu der Vereine muss fallen" In vielen Sportvereinen wird Menschen mit Behinderung kein Angebot gemacht. Dominic Holschbach vom Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Rheinland-Pfalz berät Vereine, die das ändern wollen. Ein niederschwelliges Angebot sei wichtig, sagt der Experte im Dlf. Zentrales Problem Nachwuchsgewinnung Den Para-Sport in Deutschland sieht der DBS-Präsident generell in einer stetigen Weiterentwicklung. Man schneide international gut ab und habe sich in vielen Sportarten bereits für die Spiele in Paris 2024 qualifiziert. Angesprochen auf die vergleichsweise schwache Medaillenausbeute bei den paralympischen Spielen 2021 in Tokio sagte Beucher: "Wir schauen nicht nur auf den Medaillenspiegel." Paralympics 2021 Die vergessenen Spiele? Paralympics 2021 Die vergessenen Spiele? Nach dem ursprünglichen Plan sollten zu diesem Zeitpunkt die Paralympischen Spiele stattfinden. Doch seit „Tokyo 2020“ um ein Jahr verschoben wurde, ist vor allem von den Olympischen Spielen die Rede. Den großen Spielen des Behindertensports könnte ein schlimmes Schicksal drohen. Paralympics "Ein tolles Sprungbrett für Inklusion" Alle zwei Jahre gibt der Berliner Tagesspiegel zu den Paralympischen Spielen die "Paralympics Zeitung" heraus. "Inklusion spielt bei uns eine große Rolle", sagte Chefredakteur Lorenz Maroldt im Dlf. Die Paralympics könnten deshalb auch gesellschaftlich etwas bewegen. Paralympics in den Medien Zwischen Übertreibung und Desinteresse Zum Start der Paralympics berichten die Medien wieder über sportliche Höchstleistungen aus Tokio. Dabei werden die Athletinnen und Athleten teils sogar zu Übermenschen stilisiert. Doch abseits der Großereignisse bekommt der Behindertensport nur wenig Aufmerksamkeit. Die Konkurrenz sei zudem größer geworden. International betrachtet stellt Beucher eine "tolle Entwicklung" im Para-Sport fest. Selbst dort, wo es früher keinen Para-Sport gegeben habe, seien mittlerweile Selbstverständlichkeiten angekommen. Doch Länder wie Aserbaidschan würden sich aktuell noch auf einzelne Sportarten wie Judo oder Kugelstoßen fokussieren - und weniger auf klassische Mannschaftssportarten. Im Medaillenspiegel seien sie dadurch an Deutschland vorbeigezogen. Allerdings sei Deutschland mit mehr als 20 Sportarten auch in der Breite vertreten. Ein zentrales Problem sei jedoch die Nachwuchsgewinnung, da lege man die Hände nicht in den Schoß. Rückkehr russischer und belarussischer Athleten "nicht vertretbar" In die Debatte über eine mögliche Rückkehr russsicher und belarussischer Athletinnen und Athleten in die Sportwelt bringe sich der DBS aktiv ein, sagte Beucher: "Mit unseren Wertevorstellungen ist es nicht vereinbar, dass eine kriegsführende Nation im friedlichen Wettbewerb mit anderen antreten kann." Paralympics 2024Deutscher Behindertensportverband spricht sich gegen Teilnahme russischer und belaussischer Sportler aus ParasportIPC-Präsident Parsons sieht keine schnelle Rückkehr Russlands 03:36 Minuten10.05.2023 Dass es entgegen der Empfehlung des IOC so schnell keine Rückkehr in den Para-Sport geben werde, hatte auch schon Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), im Deutschlanfunk gesagt. Para-SportDer Wunsch nach mehr Sichtbarkeit 06:22 Minuten18.05.2023 Zugänglichkeit in den Para-SportWarum es noch keine Bundesliga im Rollstuhl-Handball gibt 05:54 Minuten18.05.2023 Klassifizierung im Para-SportPara-Schwimmerin Schott: "Fair ist da nichts" 11:52 Minuten18.05.2023
Friedhelm Julius Beucher im Gespräch mit Christian von Stülpnagel
Während der Corona-Pandemie hat der DBS 15 Prozent seiner Mitglieder verloren. Im Dlf gibt sich Präsident Friedhelm Julius Beucher optimistisch, den Trend bald umkehren zu können. Für einen Schub könnten Paralympics in Deutschland sorgen.
"2023-05-18T19:10:00+02:00"
"2023-05-18T17:07:35.104000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/interview-friedhelm-julius-beucher-101-100.html
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Trump kassiert Absagen von Musikstars
Auf der Suche nach Musikern für seine Amtseinführung: Der künftige US-Präsident Donald Trump. (AFP / DON EMMERT) Die Band der US-Marine übt für den Amtswechsel. Es ist die älteste Militärband der USA, sie nennt sich stolz "The President's Own" - die Band des Präsidenten. Michelle Urzynecok spielt Klarinette: "Ich wollte eigentlich schon immer ein Mitglied der 'President's Own' sein, seit ich angefangen habe. Das ist eine große Ehre." Älteste Militärband der USA spielt bei Amtseinführung Die Marines haben ein hartes Auswahlverfahren. Urzynecok hat dreieinhalb Jahre in Berlin gelebt, Deutsch gelernt und an der Hanns-Eisler Musikhochschule studiert. Seit 16 Jahren gehört sie zur Musik-Elitetruppe. Der Amtseid eines Präsidenten ist für sie ein Höhepunkt: "Ich versuche, ob ich das auf Deutsch richtig sagen kann: Das ist ein großer Teil der Geschichte der USA. Dabei zu sein, ist eine große Ehre, wir freuen uns." Immerhin: Auf seine Band kann sich der neue Präsident verlassen. Sie und andere Militärkapellen werden zum Amtswechsel spielen - zur Freude Trumps: "Dabei zu sein, ist eine große Ehre": Michelle Urzynecok, Klarinettistin bei der ältesten Militärband der USA, wird bei Trumps Amtseinführung auftreten. (ARD / Jan Bösche ) "Ich habe einige dieser Bands in den vergangenen Jahren gehört, sie sind unglaublich. Es wird ein sehr eleganter Tag, der 20. wird ganz besonders, sehr schön." Sturm der Entrüstung über Zusage von Musical-Star Jennifer Holliday Ansonsten haben sich Trump und sein Team viele Körbe geholt, bei dem Versuch, Stars für die Feierlichkeiten zu gewinnen. Auf der Liste der Absagen stehen Andrea Bocelli, Elton John oder Celine Dion. Manche sprechen von Terminschwierigkeiten, andere ganz offen davon, dass sie nicht für Trump auftreten wollen. Zuletzt zog der Musical-Star Jennifer Holliday die Zusage zurück - nachdem ein Sturm der Entrüstung auf sie niedergegangen war. Umstimmen ließ sie sich von einem Online-Artikel beim "Daily Beast" über ihre Bedeutung für Schwule und Lesben. Bei MSNBC erklärte sie: "Alle Tweets von Afro-Amerikanern waren direkt gegen mich gerichtet. Schwulen und Lesben ging es um Inhalte, sie beschimpften mich nicht. Außerdem glauben sie an mich, seit 'Dreamgirls'. Sie ernährten mich, auch als Kirchen-Gänger das nicht taten." Countrysänger Toby Keith und Lee Greenwood haben zugesagt Für Trump auf der Bühne stehen nun zum Beispiel die Countrysänger Toby Keith und Lee Greenwood oder die Rockband "3 doors down". Beim Amtseid selbst wird der Chor der Mormonenkirche auftreten - was innerhalb des Chores für Debatten sorgte. Die Nationalhymne singt die 16-jährige Jackie Evancho, bekannt geworden als Teilnehmerin bei "Das Supertalent". Vor vier Jahren sang Beyoncé. Trumps Team sagt, der Mangel an Stars sei kein Problem, sondern gewollt: Es gehe nicht um große Stars. Medien berichten trotzdem genüsslich, das Team habe alles versucht, um große Namen nach Washington zu locken. Für die Musiker der Marine-Band "The President's Own" ist es eine Pflicht, zu spielen. Seit 1801 war die Band bei jeder Amtseinführung dabei. Duane King ist Tambourmajor und wird die Musiker in der Parade anführen: "Es ist unser Auftrag, den Präsidenten mit Musik zu versorgen. Es gibt keine größere Bühne dafür als die Amtseinführung." Ihre Sorge ist mehr, wie das Wetter wird: Bislang ist Regen angesagt.
Von Jan Bösche
Andrea Bocelli, Elton John und Celine Dion: Das Team des designierten US-Präsidenten Donald Trump wollte sie für einen Auftritt bei der Amtseinführung gewinnen und kassierte Absagen. Während manche von Terminschwierigkeiten sprechen, erklären andere offen, nicht für Trump auftreten zu wollen. Sein Team selbst beschreibt den Mangel an Stars als gewollt.
"2017-01-18T11:52:00+01:00"
"2020-01-28T09:29:34.966000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/amtseinfuehrung-des-us-praesidenten-trump-kassiert-absagen-100.html
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Von Peenemünde zum Mond
"10, 9, 8 …." "Das ist ein Nachbau aus den 90er Jahren, sind ein paar Originalteile mit eingebaut worden, aber es ist ein 1:1 Modell, reine äußere Hülle, um zu zeigen, wie das Ding aussah, um das es hier geht". "3,2,1, all engines running!" Ohne das Ding, um das es hier geht, wäre die Menschheit vielleicht nicht auf dem Mond gelandet. Die schwarz-weiße Rakete, 14 Meter hoch, steht es unübersehbar vor dem Historisch-Technischen Museum in Peenemünde. "Das ist das erste Mal, dass ein menschgemachtes Objekt in den Weltall flog, der erste erfolgreiche Testschuss hier hat eine Gipfelhöhe von 84 Kilometern erreicht, auf jeden Fall die erste jemals funktionierende Großrakete der Welt." Erklärt Philipp Aumann, wissenschaftlicher Leiter des Museums. Wenn man so will – beginnt die Geschichte der Mondlandung in Peenemünde. Sie beginnt mit dem "Aggregat 4". So nennen die Wissenschaftler die "Mutter aller Raketen". Bekannt wird sie unter dem Namen "V2". Ab 1943 wird die "Wunderwaffe", die den Krieg entscheiden soll, in Serie hergestellt. Koste es, was es wolle. "Wir reden von einigen tausend ausländischen Zivil-Arbeitern, einigen wenigen hundert Kriegsgefangenen und ungefähr 2000 KZ-Häftlingen hier in Peenemünde. Spätestens ab da reden wir von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Wernher von Braun und die Nazis Die ständige Ausstellung im alten Kraftwerk in Peenemünde erzählt von der Leidensgeschichte der Häftlinge. Und sie erzählt vom "Spiritus Rector" der Wunder-Rakete: Wernher von Braun. Seit 1937 ist er Technischer Direktor der neu gegründeten Heeresversuchsanstalt. Ein junger, ehrgeiziger Wissenschaftler. Schon als Kind bastelt er Feuerwerks-Raketen und schießt sie im Berliner Tiergarten ab. Er will hoch hinaus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er will ins Weltall. Und schließt dafür wie Goethes Faust einen Pakt mit dem Teufel: Die Nazis finanzieren seinen Traum - und sein Team. Auf 25 Quadratkilometern - rund um das kleine Fischerdörfchen Peenemünde - entsteht eine der modernsten Laborlandschaften der damaligen Welt. Ihr Herzstück: Der legendäre Prüfstand VII. "Wir fahren jetzt einmal quer über die Insel, an sich durch die historische Landschaft und dann bis ganz an die Nordspitze der Insel, und das ist dann dieser Prüfstand Nummer VII, von dem aus die Raketen abgeschossen wurden". Das Testgelände für die "V2"-Raketen in Peenemünde ist heute Naturschutzgebiet und unzugänglich für die Öffentlichkeit (Deutschlandradio / Nana Brink) Das Testgelände für die "V2"-Raketen ist heute Naturschutzgebiet, unzugänglich für die Öffentlichkeit. Museumsleiter Philipp Aumann steuert seinen Wagen durch eine Dschungellandschaft. Rechts und links umgestürzte Bäume, Riesenfarne neben überwucherten Bahngleisen. Fast alle 700 Gebäude der alten Versuchsanstalt sind zerstört. Die Baracken der NVA, die das Gelände bis zur Wende nutzte, sind vom Moos zugedeckt. Ab und an ragt ein Mauerrest aus dem dichten Grün. An einer Lichtung stoppt Philipp Aumann. "Das ist die große Werkstatt, in der die Raketen aufgerichtet wurden, komplett zusammenbaut wurden und dann vorbereitet wurden zum Abschuss, Sie sehen, was davon übrig blieb, also nur noch ein Berg von Gerümpel." Im einstigen Abkühlbecken für die Triebwerke blühen heute Seerosen. Nur noch ein paar Meter bis zur Abschussstelle. Am 3. Oktober 1942 schließlich ist Wernher von Braun am Ziel. Besser, die "V2" in der Luft. 84 Kilometer hoch. Im Weltall. Philipp Aumann, wissenschaftlicher Leiter des Historisch-Technischen Museum in Peenemünde, neben der Abschussstelle der V 2-Rakete (Deutschlandradio / Nana Brink) "So, und hier ist die Startstelle! Erkennt man daran, das wir jetzt auf einem gepflastertem Rund, mit Granitkopfsteinpflaster stehen. Beton würde reißen bei dieser enormen Hitze, die beim Start entsteht". Mit 650.000 PS hebt die V2 ab in den Himmel. - Philipp Aumann blickt in die Luft. Es ist still. "Es wächst hier an sich seit 75 Jahren zu, und man sieht schon, wie schnell das menschliche Wollen im Wald verschwindet." Heute steht ein kleiner Gedenkstein auf der kreisrunden Abschussstelle, gut versteckt zwischen hohen Bäumen. Im Sperrgebiet, wie einst. Ein Manko - finden viele Besucher des Museums, die den Prüfstand gern besichtigen würden. Der Ort hat eine magische Anziehungskraft. "Dieses so Kontroverse, auf der einen Seite die Entwicklung von modernster Technologie und zweitens natürlich auch das Missbrauchen der Nazi-Ideologie. Ich habe von Braun persönlich erlebt in den USA, aber dort verehrt man ihn und wenn man die 'Saturn 5'-Rakete sieht und sich auch erinnert an die erste Mondlandung, das hat hier gestartet!" Der "Missile-Man" und seine Nachkriegs-Verklärung Schon im September 1945 fliegt der ehemalige SS-Sturmbannführer Wernher von Braun in die USA, im Gepäck sein Wissen um die "V2". Sein Wissen um den Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen wird in dieser Zeit keine Rolle spielen. Zu wichtig ist der "Missile-Man" für den Aufbruch zum Mond. "Er war ein sehr charismatischer Typ, und das war an sich dann der Ausgangspunkt für seine Nachkriegs-Verklärung." Wernher von Brauns größter Erfolg nach dem Krieg allerdings ist die "Saturn 5"- Träger-Rakete, die am 21. Juli 1969 zum ersten Mal drei Menschen zum Mond schießt. "Ganz klar sind Kontinuitäten da! Es sind Dinge, die in Peenemünde erfunden wurden, die weiter genutzt worden sind, auch in der US-Raketen-Technik und es sind natürlich eben diese Ingenieure, das sind so um die 200, die in die USA gingen und dort nahtlos weiter arbeiteten, und die natürlich darüber natürlich eine klare nachvollziehbare Kontinuität schufen". "Lift-off, we have a lift-off. Lift-off Apollo 11!"
Von Nana Brink
Um seinen Traum vom Weltall zu verwirklichen, schloss Wernher von Braun in den 1930 Jahren einen Pakt mit dem Teufel: Die Nazis finanzierten ihm eine der modernsten Laborlandschaften der Welt. In der Nähe des Fischerdörfchens Peenemünde startete im Oktober 1942 seine A4-Rakete - mit ihr begann die Raumfahrt.
"2019-06-24T07:43:00+02:00"
"2020-01-26T22:58:41.449000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/raketen-technik-von-peenemuende-zum-mond-100.html
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Fürstbischöfe, Mozart und Jedermann
In diesem Jahr feiert Salzburg seine 200-jährige Zugehörigkeit zu Österreich (dpa / picture alliance / Daniel Kalker) Draußen am Rand der Stadt fällt es besonders auf, dass Salzburg doch ein wenig anders ist als das restliche Österreich. Hier ließ vor genau 400 Jahren einer der mächtigen Fürsterzbischöfe ein Lustschloss bauen, mit Wasserspielen im weitläufigen Park. Die trieben nicht nur ein mechanisches Theater an, sondern befeuchteten mitunter auch die ehrwürdigen Gäste mit gezielten Strahlen. Damals wie heute. "Markus Sittikus, der damalige Fürsterzbischof, war Halbitaliener und hat ähnliche Anlagen in Italien gekannt." Ingrid Sonvilla ist die Leiterin des Schlosses Hellbrunn. Sie führt uns durch eine pfiffig-fröhliche, man könnte meinen italienisch-leichte Ausstellung. Aus Anlass des 400. Geburtstags ist sie im Schloss eingerichtet worden: Da schwingt sich etwa ein breites Band mit Noten in eleganten Spiralen bis zur Decke eines herrschaftlichen Raums. In einem anderen kann man bequem auf einem sich drehenden Sofa Platz nehmen und die reich bemalte Decke betrachten, ohne dabei den Kopf verrenken zu müssen: nämlich beim Blick auf ein Display in der Armlehne. Und da hängt auch ein großes Porträt des Gründers von Hellbrunn, Markus Sittikus: In der Hand hält der Fürsterzbischof den unter seiner Regentschaft gebauten Salzburger Dom. Hinter ihm ist auf dem Bild das Schloss zu sehen. "Hellbrunn ist auf der Darstellung weiß und die Dächer sind rot. Es ist erst seit dem 19. Jahrhundert gelb, also wie das von Wien hergeschwappt ist. Und die Dächer rot, könnte eben sein, dass das Tondächer waren, also schon wirklich sehr italienisch beeinflusst." Heute präsentiert sich das Schloss in habsburgischem Schönbrunnergelb und mit grauem Dach. Ein anderes Bild der Ausstellung zeigt den Schlosspark mit dem heute nicht mehr existierenden Erdbeerhügel. Erdbeeren waren vor 400 Jahren gerade erst aus dem Osmanischen Reich in unsere Breiten gekommen. Der Fürsterzbischof von Salzburg hatte sie bereits in seine Gartenlandschaft integriert. Für Ingrid Sonvilla gibt es noch einen weiteren Beweis für die Macht und Bedeutung des Fürsterzbischofs von Salzburg. "In seiner Regierungszeit ist ja die erste Oper nördlich der Alpen aufgeführt worden, nicht im Steintheater, sondern in der Residenz, 1614. Und die Oper ist komponiert worden 1612 von Monteverdi, Orfeo. Und hier die Noten." Italienischer Flair in Salzburg Gegenüber vom Aufführungsort des Orfeo, der Alten Residenz im Zentrum der Stadt Salzburg, liegt das Salzburg Museum. Dort ist noch bis Ende Oktober die Schau "Bischof. Kaiser. Jedermann." zu sehen, die 200 Jahre Salzburg bei Österreich zum Thema hat. Und die laut Museumsdirektor Martin Hochleitner Auskunft über die Besonderheit des einstigen Fürsterzbistums gibt. "Wo also eine absolute Machtkonstellation in der Person des Fürsterzbischofs in der religiös-kirchlichen, aber auch in der historischen Situation bestand. Es war sozusagen hier ein Herrscher, der mit sehr viel Reichtum ausgestattet war – Salz, Goldbergabbau. Und der hier wirklich auch versucht hat, diese Machtkonstellation in der gesamten Anlage der Stadt, der große Residenzplatz zum Beispiel, auch zum Ausdruck zu bringen. Das ist spürbar, das erlebt man, das ist auch das Interessante für die Gäste." Hochleitner spricht die Großzügigkeit der Plätze an, die Salzburg etwas Italienisches verleihen. Imperial ist in Österreich sicherlich auch in Wien, aber eben anders, bedeutungsschwerer und geprägt von den historisierenden Prunkbauten des 19. Jahrhunderts. Deshalb unterscheidet sich diese Zurschaustellung von Macht von jener in Salzburg. "Es ist eine andere Form. Ich finde, dass zum Beispiel auch Gebäudekomplexe wie die Residenzen, alte und neue Residenz, Schloss Mirabell oder auch Hellbrunn – das hat zwar eine unglaubliche Faszination und natürlich ist es repräsentativ gedacht, aber es hat auch eine gewisse spielerische Leichtigkeit. Und das finde ich so spannend. Und vor allem: Es sind dies auch Bauwerke, die nicht im Historismus entstanden sind, sondern eben Epochen zuvor. Und deshalb auch sozusagen in der Zeit entstanden, eine ganz spezielle architektonische Qualität besitzen." Einer muss es besonders gut wissen. Nicht nur, weil er im Salzburgischen wohnt. Er ist ein Nachfahre jener Familie, die Salzburg nach den Fürsterzbischöfen regierte, die Habsburger der österreichischen Monarchie. Für Karl Habsburg, Enkel des letzten österreichischen Kaisers Karl, kommt neben der weltlichen auch die geistliche Bedeutung der Salzburger Fürsterzbischöfe als erste Bischöfe im deutschen Sprachraum zum Tragen. "Darüber hinaus waren die Erzbischöfe danach, auch wenn sie keine unmittelbar weltliche Macht mehr hatten, ja als Primas Germaniae eine sehr hohe Funktion hatten. Und natürlich prägt das auch das Salzburger Stadtbild." Salzburg, die Postkartensilhouette: Spitze und zwiebelige Kirchtürme, Kuppeln – eine Stadt als sakrales Zentrum am Ufer der Salzach. Die Altstadt, deren Bürgerhäuser sich eng nebeneinander an den Mönchsberg zwängen, über dem die Feste Hohensalzburg aus dem 11. Jahrhundert thront. Niedergang der Stadt Mit den napoleonischen Kriegen Anfang des 19. Jahrhunderts war das Ende der geistlich-weltlichen Macht in Salzburg gekommen, das Ende der Ära der Fürsterzbischöfe, die reich geworden waren durch Salz, Kupfer, Gold und Bergkristall, das im alpinen Hinterland gewonnen wurde. Fünfmal wechselten innerhalb weniger Jahre die Herrscher in Salzburg. Der umfangreiche Domschatz verstreute sich über ganz Europa, erzählt Ausstellungskurator Peter Husty. "Jeder hat mitgenommen, was er gebraucht hat, gerne gehabt hat, manchmal unter rationalen Gründen. Also die Österreicher haben gesagt beim zweiten französischen Krieg, die Franzosen rücken vor, wir müssen die Kunstgegenstände nach Wien in Sicherheit bringen. Zurückgekommen sind sie dann nicht mehr. Bis in die 20er-Jahre hinein hat man abtransportiert. 1816 war Salzburg eine totale Provinz, es gab keinen Regenten mehr, die Stadt musste sich erst selbst etablieren. Man zentralisierte damals und hat in die kaiserliche Sammlung übernommen, was gegangen ist." Zur Jubiläumsschau sind zahlreiche Kunstschätze für kurze Zeit wieder nach Salzburg gereist: der Harnisch eines Fürsterzbischofs aus München, eine Reiseflasche aus Florenz, Goldarbeiten aus Paris und Wien. Salzburg war in wenigen Jahren arm an Kunstschätzen geworden. Im Zuge der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress 1815/1816 hatte es aber auch Territorium eingebüßt. Um das abschätzen zu können, lassen wir uns von der Standseilbahn innerhalb von wenigen Sekunden zur Festung Hohensalzburg bringen. Sie bietet hoch über der Stadt einen Blick weit ins Land. Die Burgführerin Christine Walther streckt den Arm aus und zeigt Richtung Norden, wo Salzburg damals verkleinert wurde. "Zum Leidwesen der Salzburger, weil der sogenannte Rupertiwinkel, das ist alles, was da hinausgeht, alles da links von der Salzach dann auch noch, das ist dann alles bei Bayern geblieben, das ist also Tittmoning, Waging, ja, Laufen. Laufen, das ist wirklich ein tragisches Schicksal gewesen, weil sie haben die Bezeichnung "die zerrissene Stadt", wo sie Laufen und Oberndorf haben. Und die auf einmal aus einer Gemeinschaft zerrissen worden sind." Oberndorf: Heimat des Liedes "Stille Nacht" Oberndorf, das ist die Heimat des Liedes "Stille Nacht". Damals, bis 1816, war der Ort die Vorstadt der Schiffsleute am anderen Salzachufer gewesen. Hauptort war Laufen gegenüber, in einer Flussschleife gelegen. Heute verbindet eine mehr als 100 Jahre alte Eisenbrücke die beiden Städte. In der Mitte prangen der österreichische Doppeladler und das Wappen des Königs von Bayern. Wegen des schmalen Stadttors am Laufener Ende staut der Verkehr hier fast den ganzen Tag. Stadtführer Rudolf Pronold stammt aus Laufen. Und man erkennt seinen bayrischen Dialekt sofort. Er erzählt von der Zeit, als das noch nicht so war, weil Laufen und Oberndorf eine ungeteilte Stadt im Fürsterzbistum Salzburg bildeten. "Das war ein gewachsenes Gefüge. Man hat fast den gleichen Dialekt gesprochen. Das ganze Gebiet Waginger See war die Kornkammer von Salzburg, hier wurde Salzburg mit Getreide beliefert. Laufen hatte viel Besitzungen drüben, die Kirche. Laufen war großes Pflegegericht, aber die meisten Gebiete rechts der Salzach, alles verloren. Man war jetzt plötzlich am Rande von Bayern, nichts mehr. Erst nach und nach hat man wieder Gericht bekommen und gewisse Bedeutung als Verwaltungsstadt. Heute gehört das Gebiet, das früher salzburgisch war, sagt man heute: der Rupertiwinkel. Aber nur auf bayrischer Seite, auf österreichischer nicht." Zum Rupertiwinkel gehört das kleine deutsche Eck, das man aus den Verkehrsnachrichten kennt, jenes Gebiet rund um Berchtesgaden, das heute eine Delle in der Grenze zu Salzburg bildet. Die Trennung von Laufen und Oberndorf vor 200 Jahren war für beide Seiten schwer. "Ganz einschneidend war das Ganze auch hier für Oberndorf: Die ganze Verwaltung, Kirche war von Laufen aus. Man hat jetzt eine eigene Kirche machen müssen, einen neuen Friedhof haben sie anlegen müssen, eine neue Schule. Es hat ja nichts gegeben. Und vor allem keine Administration. Die haben ja nicht gewusst, wie man verwaltet. Vorher hat das bayrische Recht gegolten, jetzt das österreichische. Das hat lange, Jahrzehnte, gedauert, bis die eine Verwaltung aufgebaut haben. Vielleicht vergleichbar fast, wenn man liest mit der Berliner Mauer, so war es. Vollkommener Neubeginn für die Leute. Dann war das Land ausgeblutet, hier sind ständig Truppen durchgezogen, französische, österreichische, haben hier Quartier genommen, haben den Leuten alles genommen, haben vergewaltigt. Also eine ganz eine schlimme Zeit war das, keine gute, alte Zeit." Obendrein war das, was vom einst stolzen Salzburg übrig geblieben war unter österreichischer Herrschaft dem Land Ob der Enns, dem heutigen Oberösterreich, zugeschlagen worden, der Hauptstadt Linz unterstellt. Es brauchte die letzten 200 Jahre, damit sich Salzburg wieder behaupten und seine heutige Position erringen konnte, als ein österreichisches Vorzeigeland, mehr noch, wie Karl Habsburg es formuliert: "Ich glaube schon, dass man merkt, dass Salzburg so ein mitteleuropäisches Bindeglied ist."
Von Stefan May
Die Großzügigkeit der Plätze, die Leichtigkeit der Gebäude verleihen der österreichischen Stadt Salzburg etwas Italienisches. Seine Kurfürsten waren mächtige Regenten. Erst vor 200 Jahren kam die Stadt dann zu Österreich. Aber in dieser Zeit des Umbruchs verkam sie zur totalen Provinz - und brauchte lange, um sich davon zu erholen.
"2016-09-18T11:30:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:54.588000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/200-jahre-salzburg-fuerstbischoefe-mozart-und-jedermann-100.html
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Westdeutsche Top-Leichtathleten gestehen Anabolika-Einnahme
Anabolika-Missbrauch scheint auch in der früheren Bundesrepublik weit verbreitet gewesen zu sein. (imago ) Klaus-Peter Hennig war mal ein ziemlich guter Diskuswerfer. Er war mehrmals Deutscher Meister und hat an zwei Olympischen Sommerspielen teilgenommen - 1968 in Mexiko-City und 1972 in München. Doch irgendwann in seiner Karriere geriet Klaus-Peter Hennig in eine Zwickmühle. "Auf der einen Seite will ich selber Leistung, hohe Leistung schaffen, will die Olympiaqualifizierung schaffen. Auf der anderen Seite weiß ich, dass das ohne unterstützende Mittel nicht geht. Das ist ein Dilemma." Der Auswege aus diesem Dilemma hieß für Klaus-Peter Hennig: Anabolika. Mit Unterbrechungen habe er über einen Zeitraum von sieben Jahren Dianabol genommen. Phasenweise morgens, mittags, abends jeweils eine Tablette. An die Pillen ranzukommen war ziemlich unkompliziert. "Wir kriegten ein Rezept und das haben wir eingereicht in der Apotheke. Und die bekam das Geld von der Krankenkasse. So war das, ganz einfach." Anabolika auf Rezept, besorgt in der Apotheke Anabolika auf Rezept des Arztes, besorgt in der Apotheke. Der Ex-Diskuswerfer Hennig ist einer von 121 ehemaligen Top-Leichtathleten aus den 1960 bis 80er Jahren, die Simon Krivec für seine bisher unveröffentlichte Doktorarbeit an der Universität Hamburg befragt hatte. Diese Arbeit liegt dem WDR-Sporthintergrundmagazin "sport inside" vor. 31 Athleten antworten Simon Krivec darin größtenteils anonym, dass sie teilweise massiv viele anabole Steroide genommen hätten - auch, nachdem Anabolika 1970 vom Welt-Leichtathletikverband verboten wurden. "Unfassbar, dass bis heute angenommen wird, dass das nur ein kleiner Teil eingenommen hat!" Mit dieser Verharmlosung will er aufräumen - und auch mit dem Mythos, dass früher nur im Osten, in der DDR, gedopt wurde. Dass es auch im Westen teilweise eine Dopingkultur gab, haben zwar auch schon andere Untersuchungen nahegelegt. Doch die aktuelle Dissertation liefert noch mal neue Erkenntnisse, sagt der renommierte Dopingforscher Gerhard Treutlein. "Es ist toll, wie viel Gesprächspartner, beziehungsweise wie viel Beantworter von Fragebögen Simon Krivec gefunden hat und wie viele Details dann über das Doping bekannt geworden sind - vor allem auch über die Frühzeit des Anabolikadopings in der Bundesrepublik." Kein Staatsdoping in der BRD, eher Missbrauch in Eigenregie Die lieferte sich einen erbitterten sportlichen Zweikampf mit der DDR. Dort wurde per Staatsplan gedopt. Der Anabolikamissbrauch im Westen fand eher in Eigenregie des Sportlers und seines direkten Umfeldes aus Ärzten und Trainern statt, sagt Simon Krivec. Dennoch spricht er von einer Art Duldung im Deutschen Leichtathletikverband und von einem generellen Anabolika-Problem. "Ich habe die Athleten nach ihrem Unrechtsbewusstsein gefragt und alle haben mir zurückgeschrieben, dass sie kein Unrechtsbewusstsein haben, weil eigentlich haben es ja alle gemacht." Auch der Diskuswerfer Klaus-Peter Hennig und der sagt: Die Zwickmühle, Leistung bringen zu wollen und zu wissen, dass man ohne verbotene Mittel vielleicht nicht mithalten kann, die gab es nicht nur in den 60ern, 70ern und 80ern. "Das ist ein Dilemma, in dem wir damals waren, und in dem die Athleten heute eigentlich auch sind."
Von Bastian Rudde
Etliche ehemalige Weltklasse-Leichtathleten aus dem früheren Westdeutschland haben zugegeben, teilweise über Jahre hinweg massiv viele Medikamente zur Leistungssteigerung eingenommen zuhaben. Das geht aus einer bisher unveröffentlichten Dissertation der Universität Hamburg hervor. Eine Dissertation, die ins Herz westdeutscher Leichtathletik trifft und in der die Athleten selbst mit einem Mythos aufräumen.
"2017-03-25T19:12:00+01:00"
"2020-01-28T10:20:39.650000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anabolika-missbrauch-westdeutsche-top-leichtathleten-100.html
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Hoher Privatkonsum bei steigenden Staatsschulden
Neben der boomenden Tourismusindustrie treibt vor allem die gestiegene Kaufbereitschaft der Portugiesen den Aufschwung voran. (imago / Travel-Stock-Image) In Portugal wächst wieder einmal die Kritik an den Ratingagenturen. Nachdem Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s zuletzt die Kreditwürdigkeit Portugals unverändert auf Ramschniveau belassen haben, fühlt sich die portugiesische Regierung missverstanden. Portugiesische Staatsanleihen als Investitionsrisiko Finanzminister Mário Centeno wirft den Agenturen Willkür vor - mit ihren Urteilen sorgten sie dafür, dass portugiesische Staatsanleihen weiterhin als Investitionsrisiko betrachtet würden. Hinter dieser Argumentation mag auch ein Stück Enttäuschung stecken – ramschig fühlt sich die sozialistische Minderheitsregierung überhaupt nicht. Im Gegenteil: Sie ist fest davon überzeugt, dass Portugal die Finanzkrise längst hinter sich gelassen hat – und legt dafür beeindruckende Zahlen vor: Das Haushaltsdefizit lag im vergangenen Jahr bei nur 2 Prozent – der beste Wert in der 42-jährigen Geschichte der portugiesischen Demokratie. Die Arbeitslosigkeit ist innerhalb eines Jahres von über 12 auf nun mehr 10 Prozent zurückgegangen. Und die Wirtschaft soll in diesem Jahr laut Prognose der portugiesischen Staatsbank um 1,8 Prozent wachsen – das wäre der beste Wert seit sieben Jahren. Kredite für Privatkonsum, aber kaum Kredite für Unternehmen Neben der boomenden Tourismusindustrie treibt vor allem die gestiegene Kaufbereitschaft der Portugiesen den Aufschwung voran. Dafür hat auch die Regierung gesorgt: Gehalts- und Rentenkürzungen, die in den Krisenjahren beschlossen worden waren, wurden zurückgenommen. Also alles wieder im Lot – nur die Ratingagenturen liegen falsch? Der Wirtschaftsprofessor João César das Neves von der Katholischen Universität in Lissabon kann das Rating nachvollziehen. Er sieht eine große Gefahr für das Land. Portugal könnte in alte Gewohnheiten zurückzufallen, die für die schwere Finanzkrise der vergangenen Jahre mitverantwortlich waren. Steigende Staatsschulden "Das Land scheint sich gar keine Gedanken mehr zu machen: Schließlich sind wir gerade wieder in einer Konsumphase. Aber nur die Kredite für Privatkonsum und Immobilienkauf steigen, während die Ersparnisse der Familien zurückgehen, Kredite für Unternehmen kaum vergeben werden und die Investitionen sich auf einem historischen Tiefstand befinden. Der Tourismus boomt zwar, aber der Rest der Wirtschaft, der nicht direkt mit dem Konsum zusammenhängt, tut sich schwer." Und noch ein anderer Faktor zeigt, dass Portugal immer noch mit den Folgen der Finanzkrise zu kämpfen hat. Trotz der bewiesenen Haushaltsdisziplin sind nämlich die Staatsschulden im vergangenen Jahr weiter gestiegen und machen mittlerweile 130,6 Prozent der Wirtschaftsleistung aus – das ist nach Griechenland der zweithöchste Wert in der EU. Wirtschafts-Experte: Portugal ruhe sich auf EZB-Unterstützung aus Das Misstrauen gegenüber Portugal zeigt sich auf den Finanzmärkten, wo das Land in den vergangenen Monaten hohe Zinsen für die Refinanzierung seiner Staatsschulden zahlen musste. Die Europäische Zentralbank hat den Kauf der portugiesischen Anleihen zwar seit Jahresbeginn gedrosselt. Doch ohne die Stützkäufe aus Frankfurt lägen die Zinssätze portugiesischer Staatsanleihen wesentlich höher. Aber, so Wirtschaftsprofessor Neves, das Land nutze die Unterstützung der EZB nicht wirklich, sondern ruhe sich darauf aus: "Die EZB betäubt mit ihren Ankäufen praktisch die portugiesische Wirtschaft. Diese Betäubung müssten wir nützen, um einen chirurgischen Eingriff zu tätigen und unsere Wirtschaft neu aufzustellen. Doch wir verwechseln die Betäubung mit der Heilung, frei nach dem Motto: Es tut gerade nicht weh, also ist alles gut. Das Problem kommt dann zurück, wenn wir irgendwann aus der Betäubung aufwachen und nichts hat sich wirklich verändert." Unabhängig von den Urteilen der Ratingagenturen könnte die Beruhigungspille der EZB für Portugal ohnehin bald vorbei sein. Denn sollte die Inflation in der Eurozone weiter anziehen, steht eventuell das gesamte Anleihekaufprogramm zur Disposition.
Von Tilo Wagner
Schlechte Bewertungen von Ratingagenturen sorgen bei Portugals Regierung immer wieder für Verstimmung. Einzig das Urteil der kanadischen DBRS hält das Land bisher über Ramschniveau - und wird darum erneut mit Spannung erwartet. Denn dass Portugals Wirtschaft wächst, hängt vor allem mit dem Privatkonsum zusammen. In anderen Bereichen ist die Lage kritischer.
"2017-04-21T17:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:24:22.145000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugals-wirtschaft-hoher-privatkonsum-bei-steigenden-100.html
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Roma und Tschetschenen unerwünscht
Bialystok gilt in Polen als Hauptstadt der Fremdenfeindlichkeit. Eine Negativ-Statistik, die die Wojewodschaft sehr ernst nimmt, auch wenn andere polnische Regionen nicht weniger Zwischenfälle passieren. Joanna Gawel und Macije Tefelski gehören zu einer eigens geschaffenen Gruppe, die Antidiskriminierungsprogramme ausarbeitet. Die Beamten zeigen Fotos von einem zweisprachigen Ortsschild aus der Grenzregion, auf dem sowohl der polnische als auch der litauische Name steht. Der litauische ist beschmiert. Auf einem anderen Bild ist Jedwabne zu sehen. Die Gedenkstätte für jüdische Opfer, die bei einem polnischen Pogrom 1941 verbrannt wurden. Auf dem Mahnmal prangt ein riesengroßes Hakenkreuz. "Die Minderheiten haben diese Vorfälle als Bedrohung empfunden, deswegen hat der Woiwode 2011 eine Gruppe für die Verbesserung ihrer Sicherheit gründen lassen." Marina und Said Mes-Chior sind Flüchtlinge aus Tschetschenien. Seit 2005 Jahre leben sie in Bialystok, kein Jahr ist ohne Zwischenfälle vergangen. "Eltern wollten ihre Kinder nicht mit unseren spielen oder in der Schule neben unseren sitzen lassen. Unsere Kinder würden nicht gut riechen oder seien schwarz. Dabei waren sie blond. Dauernd hörten wir: Geht zurück, wo ihr herkommt. Wir versuchen bis heute zu verschweigen, dass wir Tschetschenen sind, auf der Straße sprechen wir Polnisch. Wir wollen uns das alles nicht zu Herzen zu nehmen, aber vor allem am Anfang war das leichter gesagt als getan. Wenn man uns zum Beispiel einfach duzte," sagt der Ehemann Said. "Wir haben nicht aufgegeben, aber es war schwer." Der Tschetschene ist 44 Jahre alt, seine Frau 34, beide haben Arbeit, ihre Kinder sind hervorragende Schüler, der älteste macht Abitur, will Chirurg werden. Nach jedem Zwischenfall muss sich der Vater zwingen, ruhig zu bleiben. "Ich fühle mich nicht als Mensch zweiter Klasse und gestatte niemandem, mich dazu zu machen. Niemand erhebt sich über mich und so wie auch ich mich über niemanden erhebe. Aber vor drei Monaten haben sie mein Auto in der Nacht demoliert. Weil wir Tschetschenen sind. Ich habe mich gefragt, was mein Auto damit zu tun hat, aber dann dachte ich: Hol‘s der Teufel, es gibt Schlimmeres." Die tschetschenische Familie wird immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert, dass Tschetschenen Terroristen seien. Ähnlich oder sogar noch stärker werden in Bialystok in Ostpolen Roma abgelehnt. Der Journalist Stanislaw Stankiewicz, selbst Roma, listet gängige Diskriminierungspraktiken auf. "Arbeitgeber wollen keine Roma oder Sinti als Praktikanten nehmen, selbst wenn sie Hochschulausbildung besitzen oder einen Beruf haben. In Poznan soll einem Roma der Zutritt zu einem Restaurant verwehrt worden sein. Roma bekommen oft nicht normale kommunale, sondern Sozialwohnungen. Die befinden sich in Vierteln mit vielen Problem-Familien." Der Roma-Aktivist hält nicht viel von den staatlichen Programmen zum Schutz von Minderheiten. Davon gäbe es viel zu viele. Sie würden meist ohne die Betroffenen erarbeitet, häufig nicht umgesetzt und beschäftigen oft vor allem Nicht-Roma. Stanislaw Stankiewicz ist 70 und gehört dem internationalen Auschwitz-Komitee an, der größte Teil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet. Zwar möchte er die Erinnerung an die Opfer wach halten, doch er ist vorgewarnt. "Wir wurden gefragt, ob wir eine Gedenk-Tafel für Roma wünschen. Aber wir hatten Angst, denn wir wussten ja, was mit dem Mahnmal in Jedwabne geschehen ist." Wichtiger als staatliche Anti-Diskriminierungsprogramme, sagen auch Said und Marina Mes-Chidor aus Tschetschenien, ist, dass die Behörden endlich einschreiten. "Früher passierte es viel häufiger, dass man vor der Wohnungstür Brandsätze gezündet hat, Scheiben eingeschlagen wurden. Seitdem die Polizei etwas unternimmt, ist es viel besser geworden."
Von Sabine Adler
Tschetschenische Flüchtlinge und Roma gelten in Polen vielfach als ungeliebte Einwanderer, die am besten wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten. Die Betroffenen kämpfen gegen Vorurteile und Rassismus.
"2014-01-13T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:21:29.911000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polen-roma-und-tschetschenen-unerwuenscht-100.html
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Klänge vom Feinsten
Wie beim Essen gilt auch bei der Musik: Über Geschmack lässt sich trefflich streiten. (dpa-Zentralbild) Stellen Sie sich vor, Sie besuchen einen Freund und werfen einen Blick auf seine CD-Sammlung. Dort stehen nur sieben Alben, darunter die "Super-Hits der Klassik", Bruce Springsteens "Born in the USA", "The Dark Side of the Moon" von Pink Floyd, "Die schönsten Opern-Arien", "Dave Brubeck’s Greatest Hits", Coldplays "Viva La Vida". Was für einen Geschmack hat der Mann? Einen guten? Einen schlechten? All die CDs in seinem Regal sind "gute" Musik in dem Sinne, dass sie zu den anerkannten Standardwerken im jeweiligen Genre gehören. Sie sind so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner im Kulturbetrieb, man kann mit ihnen nichts falsch machen. Laut Studien mögen die Deutschen mögen vor allem Popmusik. Klassik und Jazz begeistern nur eine Minderheit. Aber die Musik, die wir gut finden, ist nicht unbedingt die Musik, die wir hören. (imago/ Westend61) Vielleicht würden wir auch sagen: Der Freund hat gar keinen Geschmack, jedenfalls keinen sehr besonderen. Von allem etwas, aber sein Interesse scheint sehr oberflächlich zu sein. Kann man so etwas Subjektives wie den Musikgeschmack überhaupt bewerten, nach "gut" und "schlecht" sortieren? Christoph Drösser hat sich auf die Suche nach Experten gemacht, die die Frage beantworten können.
Von Christoph Drösser
Erwarten Sie keine Liste von Musiken, die Sie hören müssen, um sich das Prädikat "guter Geschmack" zu verdienen. Kein ernsthafter Musikexperte glaubt heute noch an einen verbindlichen Kanon der guten Musik. Aber wie lässt sich der Klangsinn schärfen?
"2023-01-24T22:05:00+01:00"
"2023-01-24T11:14:17.078000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klaenge-vom-feinsten-100.html
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"Wir müssen jetzt helfen!"
Einnahmen aus den Heimspieltagen seien für viele Vereine elementar wichtig, sagt Frank Steffel. (picture alliance / APA / Hans Ringhofer) "Nehmen wir eine zweite Bundesligamannschaft im Volleyball, eine zweite Bundesligamannschaft im Handball der Frauen. Die müssen einfach jetzt eine Unterstützung kriegen, sonst sind sie in wenigen Wochen weg." Frank Steffel ist Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Sportausschuss des Deutschen Bundestags und gleichzeitig Präsident des Handballbundesligisten Füchse Berlin. Im Dlf-Interview hat er sich für staatliche Hilfen für Sportvereine ausgesprochen. Seine Pläne betreffen vor allem Sportvereine, die im Zuge der Corona-Krise ausbleibenden Zuschauereinnahmen haben und so in finanzielle Nöte geraten sind. Pauschalbetrag für ausbleibende Einnahmen Steffel betont, dass den Vereinen vor allem die fehlenden Einnahmen aus den Spieltagen fehle. Da sei es egal, ob es sich um Handball, Basketball oder Volleyball handle. Deswegen schlägt der CDU-Politiker vor, die Vereine, die unter mangelnden Zuschauereinnahmen leiden, mit einem Pauschalbetrag zu entschädigen. Gedeckelt werden soll die Zahlung bei 25.000€ pro Veranstaltung. Steffel rechnet vor: Bei einem Eintrittspreis von 5€ und einer Zuschauerzahl von 500€ bekäme ein Verein 2500€ pro Heimspiel. Sollten während der Corona-Zeit insgesamt 5 Heimspiele ausfallen, würde der entsprechende Verein mit 12.500€ unterstützt. Frank Steffel, Bundestagsabgeordneter der CDU (picture alliance / dpa / Gregor Fischer) "Eine Bereicherung ist ausgeschlossen" Obwohl der Beitrag pauschal gezahlt werden solle: Steffel macht deutlich, dass sich der Steuerzahler keine Sorgen machen müsse, dass sich die Vereine die Taschen vollmachen würden. Die Zuschauereinnahmen seien nur ein Bruchteil dessen, was ein funktionierender Verein an einem Heimspieltag einnehmen würde. Verdienen würde an den staatlichen Zuwendungen niemand. Außerdem müsse schnell gehandelt werden, denn es sei mitten in der Saison und das Geld aus den Zuschauereinnahmen falle jetzt weg. Da könne man nicht erst monatelang prüfen. Frank Steffel sagte, es könne nicht sein, dass man allen kleinen und mittleren Betrieben in Deutschland helfe, nur den Sportvereinen nicht. Dabei gehe es gerade nicht um gut verdienende Fußball-Bundesligisten, sondern um den Breiten- und Amateursport.
Frank Steffel im Gespräch mit Marina Schweizer
Weil derzeit alle Sportveranstaltungen ausfallen, leiden vor allem die kleinen und mittleren Vereine unter den fehlenden Zuschauereinnahmen, sagt Frank Steffel (CDU), Mitglied des Sportausschusses im Deutschen Bundestag im Dlf-Interview. Um das auszugleichen, solle es Pauschalbeträge vom Staat geben.
"2020-04-11T19:15:00+02:00"
"2020-04-12T09:19:02.812000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/staatliche-hilfen-fuer-den-sport-wir-muessen-jetzt-helfen-100.html
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"Wir handeln immer nach den gleichen Kriterien"
EU-Währungskommissar Pierre Moscovici (afp / John Thys) Christoph Heinemann: Ist Griechenland finanz- und haushaltspolitisch ein Fass ohne Boden? Pierre Moscovici: Das kann man so nicht sagen. Man muss die Dinge der Reihe nach betrachten: In Griechenland haben Wahlen stattgefunden, die wir berücksichtigen müssen. Das gehört zur Demokratie. Gleichzeitig müssen wir strikt darauf achten, dass die eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden. Griechenland muss seine Verpflichtungen gegenüber den europäischen Partnern und dem Internationalen Währungsfonds zwingend halten. Die Reformen, die die griechische Regierung auf den Weg bringen will, müssen finanziert sein. Es ist nicht die Zeit, um über Schulden zu sprechen. Darüber wird zu gegebener Zeit gesprochen. Aber mir ist wichtig zu sagen, dass es da nicht um eine Verringerung der Schulden geht, also kein Haircut. Unsere Staaten und Steuerzahler sind von den griechischen Schulden betroffen. Schulden sind da, um zurückgezahlt zu werden. Und um sie zurückzahlen zu können, müssen ein Haushaltsüberschuss und Wachstum erzielt werden. Heinemann: Muss der Verlängerung dieses Programms ein neues Programm folgen? Moscovici: Wir werden sehen, wie das weitergeht. Nur müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Wir haben uns mit einiger Anstrengung aber auch konstruktiv auf ein erstes Abkommen verständigt, und damit eine einheitliche Sprachregelung, mit der die parlamentarischen Verfahren – etwa im Bundestag – zum Abschluss gebracht werden können. Das haben wir in drei Treffen der Eurogruppe erreicht - plus einer Telefonkonferenz, an der mein Freund, Ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble, sehr kraftvoll teilgenommen hat. Und er hat dies am Schluss als Ausgangspunkt bewertet, der ausreicht, um weiterzukommen. Nicht mehr und nicht weniger. Heinemann: Der griechische Finanzminister spricht weiterhin von einem Schuldenschnitt. Hat die griechische Regierung die Bedingungen für die Verlängerung des Hilfsprogramms nicht verstanden? Moscovici: Vielleicht spielen dabei innenpolitische Erwägungen in Griechenland eine Rolle. Ich halte mich an die Verpflichtungen, die im europäischen Rahmen eingegangen wurden. Was ich weiß ist: In der Eurogruppe war das kein Thema. Heinemann: Wieso weist man Griechenland nicht den Weg aus der Eurozone? Moscovici: Wir alle haben ein Interesse daran, dass Griechenland in der Eurozone bleibt. In Griechenland wurde Europa und der europäische Geist gegründet. Europa ist eine Person der griechischen Mythologie, daran sollte man sich erinnern. Außerdem sollten wir uns um die Einheit der Eurozone bemühen. Denn: Wenn ein Land, welches auch immer, ausscheidet, wird sich die Frage stellen, wer verlässt sie als nächster. Und das wird den Populismus wesentlich beflügeln. Wir müssen uns für die Eurozone einsetzen, sie ist eine Zone der Stabilität, der Verantwortung und der Solidarität. Wenn die Staaten gegenüber den Partnern Verpflichtungen eingegangen sind, müssen diese eingehalten werden. Pacta sunt servanda. Das muss unsre Regel sein. Heinemann: Apropos pacta sunt servanda. Die Europäische Kommission hat Frankreich einen neuen Aufschub für die Einhaltung der Haushaltskriterien eingeräumt. Wieso haben die letzten beiden Verlängerungen nicht gereicht? Moscovici: Zum einen wegen objektiver Kriterien, wie dem schwachen Wachstum der französischen Wirtschaft. Aber ich verstehe schon, was Sie sagen wollen. Ich bin europäischer Kommissar und ich bin Franzose. Aber ich handle nicht als Freund Frankreichs. Nicht subjektiv oder mit Winkelzügen. Heinemann: Dieser Verdacht besteht allerdings in Deutschland … Moscovici: Das verstehe ich, deshalb möchte ich möglichst deutlich darauf antworten: Die Entscheidungen, die getroffen wurden, sind keine persönlichen. Es sind Entscheidungen des Kollegiums der Kommissare. Sie sind einstimmig getroffen worden. Unter dem entsprechenden Dokument steht meine Unterschrift, aber auch die des Vizepräsidenten Dombrovskis, der einer anderen Partei als ich angehört, der europäischen Volkspartei, der konservativen Partei, der auch CDU und CSU angehören. Und um es klar zu sagen: Es ist keine für Frankreich angenehme Entscheidung. Frankreich muss sich sehr anstrengen. Für 2015 muss der Haushalt nachgebessert werden, allein vier Milliarden Euro für dieses Jahr. Das ist gar nicht so einfach. Und wir werden die Strukturreformen in Frankreich sehr viel aufmerksamer beobachten. Bis April muss Frankreich einen detaillierten und langfristigen Plan vorlegen. Auch meine deutschen Freunde befürworteten keineswegs Sanktionen gegen Frankreich - zu Recht. Sanktionen sind immer ein Ausdruck des Scheiterns. Besser ist es, ein Land von der Notwendigkeit von Veränderungen zu überzeugen. Und als Franzose und als Kommissar weiß ich, wie dringend sich Frankreich verändern und reformieren muss. Heinemann: Und warum ist es so schwer, Frankreich zu reformieren? Moscovici: Das ist eine lange Geschichte. Ich möchte aber in diesem deutschen Radiosender sagen, dass Frankreich und Deutschland über eine gemeinsame Geschichte verfügen. Beide sind die wichtigsten Länder der Eurozone. Man sollte die Schwierigkeiten der französischen Wirtschaft berücksichtigen und auch das Problem des Rechtsextremismus in Frankreich, das mich beunruhigt, aber auch meine deutschen Freunde. Ich spreche darüber häufig mit Sigmar Gabriel und Wolfgang Schäuble. Ich weiß, wie sehr sie das beunruhigt. Die Antwort ist nicht das French-Bashing, die billige Kritik. Vielmehr muss man Schwierigkeiten klar anpacken, aber auch die Stärken des Landes sehen. Und gemeinsam weitergehen: Frankreich und Deutschland. Heinemann: Gibt es in Deutschland zu viel French-Bashing, wird zu viel auf Frankreich eingedroschen? Moscovici: Nein, aber es gibt sehr kritische und fordernde Blicke. Das kann man alles machen, nur sollte der Blick immer ein klarer und freundschaftlicher sein. Und umgekehrt die französischen Blicke auf Deutschland ebenso. Heinemann: Verhält sich die Kommission Portugal und Irland gegenüber nicht sehr unnachgiebig, während Frankreich ein Aufschub nach dem anderen gewährt wird? Moscovici: Nein, und diesen Gedanken sollte man auch unterlassen. Es gibt nicht zweierlei Maß. Keine unterschiedliche Behandlung. Heinemann: … der Großen und der Kleinen … Moscovici: Nein, wir handeln immer nach den gleichen Kriterien. Immer. Und das sind die des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Übrigens ist die Entscheidung nach einer langen und guten Diskussion einstimmig gefallen. Und sie ist gerecht, da sie auf objektiven Grundlagen beruht.
Pierre Moscovici im Gespräch mit Christoph Heinemann
EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici hat den Verdacht zurückgewiesen, er habe für Frankreich die Fristverlängerung zur Einhaltung der Defizitkriterien durchgesetzt. Die Entscheidung sei im Kollegium der Kommissare getroffen worden, sagte er im Deutschlandfunk.
"2015-02-27T08:00:00+01:00"
"2020-01-30T12:23:52.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-haushalt-wir-handeln-immer-nach-den-gleichen-100.html
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Syrien und die Ohnmacht der EU
Der Westen wirft Russland vor, in Aleppo Krankenhäuser und einen Hilfskonvoi der Vereinten Nationen angegriffen zu haben. (AFP / THAER MOHAMMED) Das Problem dürfte der EU bekannt vorkommen: Ähnlich wie in der Ukraine zerbrechen sich die Europäer einmal mehr den Kopf darüber, wie man Russland Einhalt gebieten kann. Diesmal geht es um Syrien. Und um die Frage, wie man Moskau davon abhalten kann, weiter die Truppen von Machthaber Assad mit Bombenangriffen zu unterstützen, die keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen: Der Westen wirft Russland vor, in Aleppo zuletzt nicht nur bewusst Krankenhäuser, sondern auch einen Hilfskonvoi der Vereinten Nationen angegriffen zu haben. Das Problem: Die EU hat nur wenige Druckmittel. "Es gibt keine militärische Lösung für den Konflikt in Syrien. Daher wäre es nicht hinnehmbar, diplomatischen Raum preiszugeben," erklärte kürzlich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Die also unbedingt dafür wirbt, unermüdlich weiter Wege auszuloten, die zurück an den Verhandlungstisch führen könnten. Mogherini plädiert für Verhandlungen Im Büro der EU-Außenbeauftragten hält man wenig von der Idee, Russland wegen seines Verhaltens in Syrien mit Sanktionen zu strafen. Und auch der ehemalige EU-Botschafter in Syrien, Marc Pierini fürchtet, wie er im ARD-Hörfunk-Interview erklärt, Strafmaßnahmen könnten die Friedensgespräche gefährden: "Es könnte den diplomatischen Prozess zum Entgleisen bringen. Russland könnte es als Ausrede benutzen, um genau das zu tun. Für Moskau steht diplomatisch in Syrien so viel auf dem Spiel, dass Russland vielleicht eher die Sanktionen aushält als seinen Kurs zu ändern." Schweden hatte offen Strafmaßnahmen gegen Moskau wegen der Luftangriffe von Aleppo gefordert. Und nun wächst der Druck stark, denn auch die deutsche Kanzlerin will Medienberichten zufolge auf dem EU-Gipfel diese Woche dafür werben, auf die wegen der Ukraine-Krise ohnehin bestehenden Sanktionen noch draufzusatteln. EU uneins über Sanktionen gegen Russland Auch die Außenminister der USA und Großbritanniens, Kerry und Johnson, stellten gestern klar, dass man neue Maßnahmen erwäge. Das dürfte eine schwierige Debatte geben, denn innerhalb der Europäischen Union gibt es durchaus Gegner eines härteren Moskau-Kurses. Unüberhörbar laut war jedoch zuletzt der Chor derjenigen geworden, die eine Untersuchung wegen möglicher russischer Kriegsverbrechen in Aleppo forderten. Dazu gehörte auch der britische Außenminister Boris Johnson, der zudem zu Demonstrationen gegen Moskau aufrief: "Natürlich würde ich gerne Proteste vor der russischen Botschaft sehen. Wo ist denn diese 'Stoppt-diesen-Krieg-Koalition' jetzt?" Ein Zitat, das in Moskau wütende Reaktionen ausgelöst hatte. Nun jedenfalls muss sich die Europäische Union abermals über die richtige Dosierung von Druck und Dialog gegenüber Russland verständigen. Was nicht einfach sei, wie der ehemalige EU-Botschafter in Syrien, Pierini zugibt: "Der Grund, warum auch die US-Versuche, sich mit Russland zu verständigen, so oft scheitern, liegt nicht nur in Syrien: Es ist Teil eines 'Großen Spiels', das Moskau spielt, wozu auch etwa die Stationierung von Atomraketen in Kaliningrad gehört. Russland will klarstellen: Wir sind zurück, wir sind stark, wir können militärisch jede Menge Probleme verursachen." EU fehlen die Druckmittel gegenüber Russland Besonders viele Hebel, um auf Moskau einzuwirken, haben die EU und die USA aus Sicht des Experten, der nun als Gastprofessor für die Ideenfabrik Carnegie Europe arbeitet, nicht. Außer der Diplomatie: Es wäre derzeit deshalb schon viel, wenn man sich auch Sicherheits-Korridore für Hilfstransporte einigen könnte, meint Pierini, Möglicherweise wird innerhalb der EU nun auch deshalb über neue Russland-Sanktionen nachgedacht, weil man sich damit aus einer Situation befreien will, in der die Europäer einigermaßen ohnmächtig erscheinen. Eins scheint bei all dem immer klarer zu werden: Eine mögliche Lockerung der bestehenden Sanktionen wegen der Ukraine-Krise scheint unter diesen Umständen kaum möglich. Vor Kurzem hatte man darüber auf EU-Seite tatsächlich noch nachgedacht.
Von Kai Küstner
Sanktionen oder Verhandlungen? Beim heutigen Treffen in Luxemburg beraten die EU-Außenminister darüber, wie Russland davon abgehalten werden kann, das syrische Regime zu unterstützen. Der EU fehlen allerdings die Druckmittel.
"2016-10-17T05:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:59:54.110000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-aussenministertreffen-syrien-und-die-ohnmacht-der-eu-100.html
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Erstmals Tote bei Protesten in Kiew
Die Gewalt in Kiew nimmt zu; Demonstranten warfen Brandbomben auf die Sicherheitskräfte. (AFP / SERGEI SUPINSKY) In der Ukraine sind bei den Protesten gegen die Regierung zum ersten Mal Menschen getötet worden. Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass in der Hauptstadt Kiew zwei Menschen erschossen wurden. Die genauen Umstände sind unklar. Die Gegner von Präsident Janukowitsch erklärten, Scharfschützen der Polizei hätten auf die Demonstranten gezielt. Ein dritter Oppositioneller soll nach Angaben von Regierungsgegnern auf der Flucht vor der Polizei aus großer Höhe in den Tod gestürzt sein. Im Zentrum von Kiew ertönten "Mörder"-Rufe, als sich die Nachricht über die Toten herumsprach. Der ukrainische Ministerpräsident Mikola Asarow gab den Demonstranten die Schuld für die zunehmende Gewalt: "Terroristen vom Maidan haben Dutzende Menschen umzingelt und geschlagen. Ich stelle offiziell fest, dass es sich um Kriminelle handelt, die sich für ihre Taten werden verantworten müssen." Osteuropa-Experte: Regierung schüchter Demonstranten ein Der Osteuropa-Experte Wilfried Jilge sagte im Deutschlandfunk, die ukrainische Regierung versuche verdeckt die Demonstranten einzuschüchtern. Tausende Schlägertrupps seien auf der Straße, um scheinbar ohne Auftrag der offiziellen Stellen Gewalt anzuwenden. Von der EU forderte er eine "breit gefächerte, intensive Diplomatie" zur Lösung des Konflikts. Zu den erneuten Zusammenstößen kam es, als die Sicherheitskräfte ein Lager der Opposition unter Einsatz von Tränengas auflösen wollten. Augenzeugen zufolge wehrten sich die Demonstranten jedoch mit Brandbomben. Die Polizei soll daraufhin Schlagstöcke eingesetzt und Kanister mit giftigen Chemikalien beschlagnahmt haben. Mehrere Oppositionelle kamen in Untersuchungshaft, weil sie Polizisten angegriffen haben sollen. Darauf steht in der Ukraine jahrelange Haft. Ashton und Steinmeier äußern sich besorgt Die EU-Außenbeauftragte Ashton forderte ein sofortiges Ende der Gewalt. "Ich verurteile strengstens die gewaltsame Eskalation der Geschehnisse in Kiew in der vergangenen Nacht, die zu Todesfällen führten", erklärte Ashton in Brüssel. Die Vorkommnisse seien "Grund für extreme Besorgnis". Sie verurteilte auch Angriffe auf Journalisten sowie mögliche Entführungen von Menschen in der Ukraine. Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier äußerte sich besorgt über die Entwicklung in der Ukraine. Er sagte, er "verstehe eine frustrierte Opposition, die seit Tagen und Wochen spürt, dass sich nichts bewegt". Zugleich betonte er: "Gewalt ist keine Lösung. Das sagen wir für beide Seiten." An die Adresse von Präsident Viktor Janukowitsch sagte er: "Es kann nicht angehen, dass die Antwort der Führung in der Ukraine eine gewalttätige sein wird und dabei weitere Menschen zu Schaden kommen." Die Regierungsgegner protestieren seit Wochen gegen den pro-russischen Kurs von Präsident Janukowitsch. Er hatte es auf Druck von Russland im November abgelehnt, sich stärker an die EU zu binden. Seine Gegner befürworten dagegen einen pro-europäischen Kurs. Zwar erklärte sich Janukowitsch zu Verhandlungen mit der Opposition bereit, bisher ist es dazu jedoch nicht gekommen.
null
Nach tagelangen Auseinandersetzungen eskaliert in der Ukraine die Gewalt: Die Behörden bestätigen, dass zwei Menschen getötet wurden. Die Regierung von Präsident Janukowitsch gibt den Demonstranten die Schuld und nennt sie "Terroristen".
"2014-01-22T11:29:00+01:00"
"2020-01-31T13:22:47.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-der-ukraine-erstmals-tote-bei-protesten-in-kiew-100.html
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"Europa ist heute so schwach wie noch nie"
Das Beharren auf einer Obergrenze bei der Flüchtlingsaufnahme sei keine Rechthaberei, sagte Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) im DLF. (picture-alliance / dpa / Matthias Balk) Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zuletzt erneut eine Obergrenze bei der Flüchtlingsaufnahme ausgeschlossen. "Ich verstehe es nicht", betonte in diesem Zusammenhang der bayerische Finanzminister Markus Söder. Er beharrte im Interview der Woche weiterhin auf die Einführung einer solchen Obergrenze. Diese Forderung der CSU sei ein klares Signal der Glaubwürdigkeit an konservative Wähler, dass die Union Zuwanderung begrenzen wolle. "Wenn man sagt: Wir können das Ganze nicht machen, weil doch Flüchtlingsbewegungen viel stärker werden könnten, dann suggeriert man den Deutschen, dass es völlig unklar ist, ob sich der Zustand des Jahres 2015 nochmal wiederholen wird." Das Interview in voller Länge: Watzke: Herr Söder, Sie haben sich neulich publikumswirksam impfen lassen gegen Grippe. War es eine Schluckimpfung oder Nadel? Söder: Nein, es war die harte Tour, es war eine richtige Nadel. Man hat es gemerkt, aber es gab keine nachhaltige Wirkung. Watzke: Sie sind ja Sticheleien auch gewohnt und Sie sticheln selber auch ganz gerne. Umso überraschender finde ich, dass man in letzter Zeit von Ihnen fast keine Sticheleien hört. Ein Beispiel: Der bayerische Ministerpräsident, Horst Seehofer, ist vor einigen Tagen am Rednerpult zusammengesackt – bereits zum dritten Mal in diesem Jahr –, man hat von Ihnen dazu gar nichts gehört. Söder: Was sollte man dazu sagen? Es war ja wohl nur eine vorübergehende Sache. Und ich habe ihn jetzt die Woche erlebt: Stark und kräftig wie eh und je. Watzke: Wie wichtig ist einwandfreie Gesundheit in einem hohen Staatsamt? Söder: Also, ich freue mich immer, wenn ich selber fit bin. Aber es ist wie immer, da gibt es mal Zeiten, wo man ein wenig erkältet ist, da gibt es Zeiten, wo man sich besser und schlechter fühlt. Wenn einen Journalisten weniger mit schwierigen Fragen quälen würden, würde es dem Gesundheits- und Psychozustand der Politiker generell noch deutlich bessergehen. "Wie immer hängt alles mit allem zusammen" Watzke: In den nächsten 21 Monaten werden Sie gequält werden von Journalisten mit Wahlfragen. Zwei wichtige Wahlen stehen an: Die Bundestagswahl im nächsten Jahr und dann die bayerische Landtagswahl. Welche Wahl ist wichtiger für Sie? Söder: Ja, beide sind ganz entscheidend und beide hängen auch miteinander zusammen. Natürlich ist die Wahl für Deutschland eine Richtungsbestimmung – das ist ja ganz klar. Für die CSU und für jemanden, der in Bayern lebt, ist die Landtagswahl aber genauso wichtig. Der Ausgang der einen Wahl, der Bundestagswahl, beeinflusst natürlich auch die andere Wahl, die Landtagswahl. Trotzdem sind es noch zwei verschiedene Dinge. In einem Fall geht es ja tatsächlich um Deutschland und ich glaube auch, um das alles überragende Thema der Flüchtlingspolitik, das, denke ich, wird das Leitthema, das Leitmotiv dieser Wahl sein. Und bei der Landtagswahl geht es dann eher darum, ob Bayern seinen exklusiven Kurs des Stärksten und – ja –, glaube ich, auch lebensfreundlichsten Bundeslandes in Deutschland weiter fortsetzen kann. Also, es sind zwei verschiedene Dinge, aber wie immer hängt alles mit allem zusammen. Watzke: In die Bundestagswahl geht die Union mit der Spitzenkandidatin Angela Merkel. Sie, Herr Söder, haben lange gezögert, Merkel als gemeinsame Kandidatin der Schwesterparteien auszurufen. Sie haben sogar Parteikollegen kritisiert, die aus Ihrer Sicht zu Merkel-freundlich waren oder sich zu früh für Merkel entschieden haben. Werden Sie sich im Wahlkampf mal beim Plakatieren eines Merkel-Poster fotografieren lassen? Söder: Also, erstens einmal war ja das eine Frage des Respekts. Denn, wenn die Bundeskanzlerin selbst noch gar nicht erklärt hat, sie kandidiert wieder, kann man doch nicht im vorauseilenden Gehorsam das sozusagen schon verkünden, obwohl sie selber noch gar nicht gesagt hat, ob sie es wirklich macht. Deswegen war die Zeitachse eine Frage des Respekts. Zweitens einmal, natürlich haben wir gesagt, Angela Merkel ist eine international hochangesehene Kanzlerin und war auch ganz klar die einzige Kandidatin – deswegen wird sie ja von der Union auch letztlich unterstützt –, nur, es gibt auch einige Punkte, die wir anders sehen und die für uns offen sind. Zum Beispiel das Thema der Obergrenze, zum Beispiel das Thema der Zuwanderungspolitik, aber auch der Frage der Steuerpolitik oder der niedrigen Zinsen in Europa, die unseren deutschen Sparern wirklich Vieles auffressen an dem, was sie sich hart erarbeitet haben. Und es war immer so, dass die CDU/CSU zwar in eine gemeinsame Richtung gehen, aber dass das Tempo und auch die Akzente natürlich unterschiedlich sind. Und wir haben beim Thema der Zuwanderung, der kulturellen Integration, der kulturellen Stabilität eine deutlich klarere Position. Und das ist eigentlich ehrlicherweise sogar von Nutzen der Gesamtunion. Und deswegen haben wir gesagt: Mit Respekt nehmen wir die Entscheidung zur Kenntnis, aber nicht mit Euphorie. Denn diese Fragen, um die es geht, die sind von so großer Bedeutung, die müssen auch noch diskutiert und gelöst werden. Watzke: Ich will gleich mal auf die Obergrenze zu sprechen kommen. Die Kanzlerin hat wenige Tage vor dem CDU-Parteitag in Essen gesagt: 'Obergrenze, nicht mit mir.' War das nötig? Söder: Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es deswegen nicht, weil die Obergrenze ein klares Signal der Glaubwürdigkeit ist, wenn man Zuwanderung begrenzen will. Wenn man sagt: Wir können das Ganze nicht machen, weil doch Flüchtlingsbewegungen viel stärker werden könnten, dann suggeriert man den Deutschen, dass es völlig unklar ist, ob sich der Zustand des Jahres 2015 nochmal wiederholen wird. Und eigentlich dachte ich, dass wir alle Eines wissen: Noch einmal ein solcher Akt wie 2015 kann nicht gehen. Wir haben bis heute noch eine Fülle von Fragen, die sich aus diesem Ereignis ergeben haben, nicht gelöst. Nach wie vor gibt es Tausende von Menschen, die offenkundig nicht auffindbar sind zwischen der Erstregistrierung, als sie ins Land gekommen sind, und dem heutigen Stand und heutigen Status. Nach wie vor spüren wir, dass die kulturelle Integration das absolut dominante Thema sein wird. Und wenn man sagt, Deutschland soll bleiben wie es ist, gibt es viele Leute, die die Frage stellen: Ist denn Deutschland noch so wie es war? Und deswegen ist die Obergrenze nicht das einzige Thema. Aber sie steht quasi für die Glaubwürdigkeit, ob man diese Herausforderung, dieses Land in seiner kulturellen Haptik auch tatsächlich weiter in der Zukunft zu halten, steht die Obergrenze da fest. Und wir sind da tief überzeugt davon, dass das jetzt nicht nur so eine Banalität ist zwischen CDU/CSU, es ist auch keine Rechthaberei oder so was oder so eine typische Spinnerei der CSU, wo sie sich durchsetzen will, sondern da geht es wirklich ins Eingemachte, auch in das mentale Gewissen eines Volkes. Und deswegen bleiben wir dabei, kämpfen dafür und werden auch alles versuchen, das mit dem Begriff oder auch mit den Maßnahmen, die zu dem Ergebnis des Begriffes führen, auch in Wahlprogrammen, aber auch in der politischen Realität zu verankern. "Kaum mehr möglich, eine sinnvolle Integration zu gewährleisten" Watzke: Die Zuwanderungszahlen steigen wieder, gehen auf die 20.000 pro Monat zu. Wenn sie so bleiben würden in den nächsten Monaten, wird die 200.000er Marke im Jahr 2017 überschritten. Für den Wahlkampf der Unions-Schwestern kein gutes Omen, oder? Söder: Ja, man darf das nicht nur unter den Gesichtspunkt stellen, welche Partei profitiert davon, sondern man muss sagen: Was bedeutet das fürs Land. Und klar ist doch, bei steigenden Flüchtlingszahlen ist es doch jetzt kaum mehr möglich, eine sinnvolle Integration zu gewährleisten. Der Freistaat Bayern muss für diese Integrationsherausforderung für die nächsten Jahre und für die letzten zwei neun Milliarden Euro bereitstellen. Wenn sie die Situation haben, dass wir über die finanziellen Maßnahmen reden, die wir aufwenden müssen für die Betreuung unbegleiteter Minderjähriger und sie feststellen, dass der Staat für einen unbegleiteten Minderjährigen aufgrund der Rechtssituation 5.000 bis 6.000 Euro im Monat aufwenden muss und sie sehen, worüber manche Rentnerin und Rentner in Deutschland klagen, über das was sie nach einer lebenslangen Leistung an Geld bekommen, der muss wissen, dass Integration so nicht stattfinden kann, wenn es derartige Gerechtigkeitsdifferenzen gibt in unserem Land. Und ganz ehrlich, Monat für Monat decken Polizei, Verfassungsschutz auch mit Unterstützung der amerikanischen Geheimdienste mögliche Attentäter in Deutschland auf, die über Flüchtlingsrouten gekommen sind oder hier dann entsprechend radikalisiert werden. Also, zu glauben, dass das Thema die Deutschen nicht bewegt, das ist ein fataler Irrtum. Und nur zu glauben, man müsse die Menschen etwas besser aufklären, halte ich für einen ebensolchen Fehler, denn das bedeutet nach dem Motto: 'Ihr habt es nur nicht verstanden, wie gut das doch alles ist' im Gegenteil, die Bürger spüren sehr genau, dass sich Veränderungen ergeben. Und daraus erwarten sie sich auch eine Konzeption, eine Lösung, eine Antwort. "Ich halte Begriffe wie 'die Etablierten' und 'postfaktisch' für sehr unglücklich" Watzke: Aber der Grat zwischen Antwort geben und Panik machen ist schmal. Söder: Keiner macht Panik. Aber schauen Sie, wenn sie Probleme ausblenden, negieren, dann werden sie keine Chance haben. Der grundlegende Konflikt, der immer über das Wort "etabliert" genannt wird, der ist so nicht richtig. Ich halte Begriffe wie "die Etablierten" und "postfaktisch" für sehr unglückliche Begriffe. Denn damit wird suggeriert, dass es Leute gibt, die unten stehen oder Leute gibt, die nur nach Gefühlen gehen und gar keine Ahnung von der Realität hätten. Wenn Politik es nicht schafft, die Sorgen der Bürger zu den eigenen Sorgen der Politik zu machen, dann tritt oft da eine Spaltung ein zwischen Regierenden und Regierten, und das ist dann letztlich ein schwerer Fehler der Demokratie. Watzke: Sie sprechen Trump an, das postfaktische Zeitalter. Ihr Chef hat Trump gelobt, er hat ihn gleich nach Bayern eingeladen und gesagt, man kann von Donald Trump, dem nächsten amerikanischen Präsidenten, viel lernen, vor allem sprachlich. Stimmt Sie ihm zu? Söder: Ich weiß nicht, ob man das alles eins zu eins übertragen kann, aber ein paar Dinge kann man annehmen. Also, die amerikanische Wahl ist nicht unsere. Und die Situation ist auch anders, weil wir wirtschaftlich anders dastehen als große Teile der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber klar ist doch, wenn Politik nicht in der Lage ist, das auszusprechen, was die Menschen denken und dann eine Lösung dafür zu finden, dann versagt sie doch in ihrer Kernaufgabe. Mich stört das auch manchmal, wenn es denn immer so heißt: Ja, das sei alles nur populistisch und so. Das zeigt nämlich, also die, die immer gerne sagen, alle anderen sind Populisten, sind die, die in der Regel nicht in der Lage sind, eine klare Antwort auf ein klares Problem zu formulieren. Eines gilt aber auch noch, über das ich mich in Deutschland wundere: Wenn in China ein Premier in einem kommunistischen Parteiverfahren ernannt wird, dann gratulieren wir brav, wenn in Amerika jemand gewählt wird, demokratisch, dann sind wir völlig geschockt. Und, mal neben bei bemerkt, ohne die amerikanischen Geheimdienste und die amerikanische Unterstützung, wäre manches Terrorproblem in Europa größer. "Ich habe Respekt vor der amerikanischen Demokratie" Watzke: Aber verteidigen Sie da nicht einen Mann, der eindeutig rassistische Aussagen im Wahlkampf gemacht hat? Söder: Ich verteidige niemand und ich lobe keinen – warum sollte ich das auch. Ehrlicherweise ist das ja auch nicht meine Entscheidung, sondern die Amerikaner entscheiden das, und es würde mich übrigens wahnsinnig stören. Das gibt es ja öfter, dass auch Berliner versuchen uns zu erklären, wie wir in Bayern zu wählen haben, aber dass das die bayerischen Bürger entscheiden. Bei der Bundestagswahl entscheiden die Deutschen und jetzt nicht andere aus der Welt – das ist übrigens Demokratie. Ich habe Respekt vor der amerikanischen Demokratie. Die ist überraschenderweise älter als die deutsche und deutlich erfolgreicher als die deutsche – insofern einfach Respekt davor zu haben. Und da finde ich auch Vieles furchtbar, was da im Einzelfall geäußert wurde. Aber wenn ich ehrlich bin, wenn ich Manches höre, was auf Links-Parteitagen stattfindet, was von der AfD kommt oder was auch mal von anderen Grünenpolitikern manchmal geäußert wird, könnte ich mich auch total ärgern und könnte auch das übel finden. Aber das ist dann in Deutschland, das ist was Anderes. "Jetzt ist die Berliner Republik schon schwierig, aber eine Wiener Republik möchte ich nicht." Watzke: Da sind wir gleich im nächsten Wahlkampf, der gleich an der südlichen Grenze Deutschlands oder Bayerns stattfindet. Heute wählt Österreich einen neuen Staatspräsidenten. Hoffentlich wissen wir heute Abend das Ergebnis – bei den Österreichern weiß man es ja nicht ganz genau. Söder: Stimmt. Watzke: Wer wäre Ihnen lieber? Van der Bellen oder Hofer? Söder: Da ich den Wahlkampf nicht so genau kenne, kann ich es nicht so beurteilen. Ich habe so den Eindruck, dass diese beiden Kandidaten das Ergebnis eines langen Prozesses sind und den ich in Deutschland auch befürchte. Nämlich, dass sich die großen Parteien in der Großen Koalition so lange angenähert haben und angekuschelt haben, dass sie gar keine unterschiedlichen Parteien sind, sondern in der Wahrnehmung der Bürger eher Varianten ein und derselben Regierungsstruktur. Und da das Thema "Flüchtlinge" wieder zu einer Repolitisierung geführt hat, zu einem Mehr an Demokratie, weil jetzt plötzlich Nichtwähler, die sich früher ausgeklinkt haben, plötzlich neues politisches Bewusstsein haben – was uns übrigens eigentlich auch in Deutschland freuen sollte, dass wieder mehr Menschen Interessen haben an der Demokratie. Es gibt den ein oder anderen Profi, den stört das, weil er sagt: 'Was beteiligen sich plötzlich wieder Bürger an der Demokratie' – ich finde es gut. Aber, wenn du keinen Unterschied mehr hast, dann werden diejenigen gewählt, die die klare Alternative sind. Und in Österreich sind das zum Beispiel die Grünen mit einer klaren Position in der Flüchtlingsfrage, mit unbegrenzter Zuwanderung, Multi-Multi und Ähnlichem mehr und auf der anderen Seite dann eine Gruppierung, die rechts von Mitte steht und zwar sehr, sehr weit rechts von der Mitte, in dem Fall die FPÖ. Und darum müssen wir in Deutschland auch sehr aufpassen, dass wir nicht ähnliche Prozesse bekommen. Jetzt ist die Berliner Republik schon schwierig, aber eine Wiener Republik möchte ich nicht. Watzke: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit dem bayerischen Finanzminister, Markus Söder. Wir sprechen über Wahlkampf in Österreich, aber es geht auch um Wahlkampf in Deutschland. In wenigen Tagen ist CDU-Parteitag. Angela Merkel hat schon deutlich gemacht, dass sie eher einen harmonischen Wahlkampf führen möchte. Sie hat gesagt, sie möchte das Land einen. Die CSU dagegen hat bei ihrem Parteitag gesagt, 'gegen Linksfront und politischen Islam kämpfen'. Kuscheln oder kämpfen? Asymmetrische Demobilisierung gegen Attacke? Söder: Also, zunächst einmal nennt sich das ja Wahlkampf und nicht Wahl-Kaffeekränzchen. Die Bundeskanzlerin hat schon erfolgreiche Wahlkämpfe geführt, auch mit dann klaren Standpunkten. Ich glaube, es hat sich aber Eines geändert: Genauso, wie wir es in Österreich erlebt haben, dass auch quasi Große Koalitionen ganz bewusst auch sozusagen links und rechts der Mitte an Bewusstsein und an Ideen bringen, so ist es da auch. Klar ist doch, die Grünen verabschieden sich aus der Mitte und wandern nach links. Dass jemand wie Trittin Herrn Kretschmann als Demagoge bezeichnet, ist ja geradezu absurd. Allein das Sprechtempo von Herrn Kretschmann ist ja nun alles andere als demagogisch. Und deswegen ist auch klar, dass die Grünen ganz nach links gehen. Und auch jeder der meint, dass Herr Kretschmann reicht für die Grünen, hat gesehen, dass das nicht geht. Jeder, der mit Kretschmann koalieren will, landet am Ende in der Regierung mit Herrn Hofreiter. Und da ist ganz klar, das ist für jemanden vernünftig Bürgerlichen nun wirklich keine echte Option. Deswegen gibt es auf der linken Seite eine neue Struktur, die sich ergibt und für die Union natürlich auf ganz rechts außen genauso. Darum wird man diesen Wahlkampf auf der einen Seite sicherlich mit dem klar notwendigen Bewusstsein der internationalen Rolle Deutschlands gewinnen können – ja, natürlich –, aber allein das wird nicht reichen, sondern man muss sich mit den Sorgen der Leute auseinandersetzen. Das sind finanzielle Sorgen – denken Sie an die Sparerinnen und Sparer wegen der europäischen Zinspolitik –, aber eben auch wegen der Flüchtlingsfrage. Watzke: Nun geht Herr Seehofer in den Wahlkampf mit der klaren Ansage: Wenn es keine Obergrenze in einer möglichen Koalitionsvereinbarung gibt, dann gibt es auch keine Koalition mit der CSU. Also, dann eine Große Koalition ohne CSU. Ist das klug? Söder: Ja, natürlich. Das bleibt auch so. Wir haben ja bis zum Wahltag noch eine Menge Zeit. Ich glaube auch, dass die Wählerinnen und Wähler genau diese Position honorieren werden. Man darf übrigens nicht vergessen, dass immer durch die Wahlergebnisse sich auch Entscheidungen für Koalitionen eindeutig vorbereiten. Denn wenn die Wähler diese Position unterstützen – wovon ich sehr ausgehe, das deckt sich auch mit persönlichem Empfinden, aber auch mit dem, was man Freunden, Bekannten, in Netzwerken, die man hat, so hört –, dann wird es am Ende sogar eine Position sein, die die anderen gerne übernehmen von uns. "Europa ist so zerstritten wie noch nie" Watzke: Das Problem ist aber doch eher, dass Horst Seehofer gar nicht mehr glaubwürdig ist mit diesen Aussagen. Wenn man mal auf die CSU-Homepage schaut, dann sind da viele Posts, die sagen: Horst Seehofer ist als bayerischer Löwe brüllend gestartet und mittlerweile zum Bettvorleger der Kanzlerin geworden, der gegen Angela Merkel verloren hat in der Obergrenzen-Frage. Hat Horst Seehofer noch die Glaubwürdigkeit jetzt zu sagen: Wir werden keine Koalition abschließen, ohne den Begriff "Obergrenze"? Söder: Klar, er ist ja Parteivorsitzender der CSU, führt uns auch in diesen Wahlkampf und kann das deswegen jetzt auch klar formulieren. Übrigens auch, weil es keine persönliche Auffassung ist allein, sondern von einer ganz breiten Mehrheit – Parteitag, Fraktionen, Parteivorstand – auch getragen wird. Schauen Sie, das ist doch hier nicht eine persönliche Frage, ob jetzt Horst Seehofer oder Angela Merkel Recht bekommen. Mir persönlich ist das wurscht, wer da Recht bekäme. Die Frage ist: Was ist notwendig fürs Volk und für unser Land? Und auch übrigens für Europa. Klar ist doch, dass Europa Schaden darunter gelitten hat, dass wir als Deutsche am Anfang die Grenzen unbegrenzt geöffnet haben und damit auch die osteuropäischen Länder vor eine noch schwierigere Situation gestellt haben, als wir das selbst empfunden haben. Es kann doch keiner heute sagen: Europa ist besonders geeint. Europa ist heute so schwach wie noch nie. Europa ist so zerstritten wie noch nie. Europa ist auch gar nicht in der Lage, auf die Herausforderungen einheitlich zu reagieren, wenn man dann regelmäßig hört: 'Jetzt kommt die neue Chance für Europa'. Es ist ja selbst bei Deutschland so, dass wir froh sind, wenn alle Flieger und alle Hubschrauber, die im Einsatz sind, vielleicht doch funktionieren würden. Das heißt – verstehen Sie –, ich bin der festen Überzeugung, dass das, was wir sagen und formulieren, jetzt nicht als Contra zur CDU gesehen wird, sondern das ist einfach eine ganz historische Aufgabe. Die SPD hat einen schweren Fehler gemacht, dass sie Wähler links der Mitte dauerhaft ignoriert hatte. Dadurch hat sich dann Linkspartei ergeben und früher schon die Grünen. Das Ergebnis ist übrigens, dass zig neue Vorsitzende ... und da ist es auch, ehrlich gesagt, wurscht, wer Spitzenkandidat der SPD ist. Also, mir persönlich ist es völlig wurscht, ob jetzt Gabriel, Kraft, Scholz – völlig egal, wer da antritt –, Oppermann. Egal, wer da antritt, wird kein größeres Ergebnis erzielen, weil die SPD keine strukturelle Bindekraft mehr ins Volk hat, in ihrer alten Stärke. Und die Union darf jetzt nicht den Fehler begehen, einfach zu sagen: 'AfD-Wähler, verlorene Wähler, egal, brauchen wir nicht, ist uns wurscht, wir setzen auf eine rein kleiner werdende Wählerstruktur in der Mitte allein.' Das wäre ein Fehler. Die Union muss immer Mitte-Mitte-rechts auf demokratischen Sektor sein. Watzke: Dann wird es Ihnen aber nicht gefallen, wie das CDU-Präsidium sich bei dem jetzt kommenden CDU-Parteitag zusammensetzen wird. Da geht ein Mann wie Stanislaw Tillich, der Sächsische Ministerpräsident, der in keiner Kabinettsdisziplin unter Merkel eingebunden ist, raus. Und reinkommen der Innenminister de Maizière, mit dem die CSU nicht immer glücklich ist, und Monika Grütters. Söder: Ja, also ich glaube, die Frage, wer jetzt im CDU-Präsidium nochmal nachrückt, bewegt den deutschen Kurs in der Flüchtlingsfrage nur bedingt. Also, wir haben jetzt in der Frage der Zusammenarbeit bei der Inneren Sicherheit im letzten Jahr erlebt, dass fast alles, was wir vorgeschlagen haben, am Ende so gekommen ist und immer auch wieder sich in Vernunft durchgesetzt hat. Und umgekehrt kann ich sagen, mein Freund Jens Spahn beispielweise, der ist ins CDU-Präsidium reingewählt worden, obwohl es die Parteitagsregie eigentlich gar nicht wollte und man deswegen, soweit ich weiß, sogar einen Posten mehr geschaffen hat, um das auf die Reihe zu kriegen. "Manch einer denkt, es kommt nur auf den Stil an" Watzke: Jens Spahn, den nennen manche "den Markus Söder der CDU" oder soll ich vielleicht eher sagen, Sie sind "der Jens Spahn der CSU"? Sie beiden verstehen sich gut, oder? Söder: Ja, aber ich glaube, man würde uns beide jetzt schwer überfordern, würde man solche Begriffspärchen an der Stelle definieren. Dafür gibt es auch Vieles, was bei uns beiden anders ist. Aber wir kennen uns aus der Jungen Union. Das ist ja das, was viele unterschätzen, wenn man lange in der JU war – ich war ja acht Jahre Landesvorsitzender und damit auch deutschlandweit sehr aktiv und mit den Nordrhein-Westfalen gibt es eine enge Verbindung –, dann kennt man sich und schätzt sich. Und ich schätze beim Jens, dass er den Mut hat, auch mal Dinge zu formulieren. Und gerade in der Flüchtlingsfrage macht er das ja letztlich wir wir auch, in einem vernünftigen Ton, aber natürlich mit inhaltlicher Konsequenz. Manch einer denkt, es kommt nur auf den Stil an – da glaube ich, dass das allein nicht funktioniert. Also, Stil ist wichtig, aber Stil ist hohl. Watzke: Das sagt jemand, dem viele vorwerfen, er sei vor allem Stil und kein Inhalt. Trifft Sie das, wenn der Ministerpräsident beispielsweise sagt, allein Förderbescheide verteilen, das sei noch keine gute Politik? Söder: Also, wissen Sie, was in internen Sitzungen gesagt wird und dann daraus kolportiert wird, muss man nicht immer eins zu ein als Wahrheit nehmen. Wir haben uns dann nachher wieder in einem sehr, sehr guten Gespräch ausgetauscht. Watzke: Das heißt auch, die Gerüchte, dass bei dem Zehn-Augen-Gespräch, dass es sozusagen als Versöhnung danach gab, dass Ihnen da der Kopf gewaschen worden sein, das stimmt so auch nicht? Söder: Also, ich wasche mir meinen Kopf regelmäßig selbst, im Zweifelsfall dürfte da bestenfalls meine Frau ran, aber sonst macht das niemand. Ich finde das aber jetzt wieder mal so typisch: Da gibt es ein Gespräch, keiner der Beteiligten sagt was anderes und irgendein Verschwörungstheoretiker erklärt dann, dass er genau wüsste, was dabei war, hat aber nicht einmal einen Beleg. Also, ich finde, die Kirche im Dorf lassen, da gibt es Wichtigeres. Wir haben uns da gut ausgesprochen. Und es gilt übrigens: Seehofer und ich sind nicht immer einer Meinung, aber wenn es ernst wird und wenn es wesentlich wird, dann stehen wir immer gut zusammen. Zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage, da, glaube ich, stehen wir da sehr, sehr eng beieinander. Watzke: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit dem bayerischen Finanzminister und Franken, Markus Söder. Wir sind in Nürnberg, Italien ist nicht weit und es ist ein spannendes Wochenende, weil auch in Italien kann sich heute Abend die Zukunft der EU entscheiden, wenn Matteo Renzi, der Italienische Ministerpräsident mit seinem Verfassungsreferendum nicht durchkommt. Was passiert dann? Söder: Dann ist er nicht durchgekommen mit dem Verfassungsreferendum. Brexit - "Wir haben deutlich ein Weniger an Nordsee und ein deutliches Mehr an Mittelmeer in Europa" Watzke: Aber der bayerische Finanzminister, der auch zum Beispiel Chef der BayernLB ist, die in Italien stark investiert ist, dem kann das nicht ganz gleichgültig sein. Söder: Also, erstens einmal ist Italien in vieler Hinsicht ein Sonderfall. Erstens einmal geht es dem Land wirtschaftlich blendend, nur dem Staat geht es schlecht. Es gibt kein Land der Welt, bei dem das so ist. Die Italiener sind vermögend, die italienischen Unternehmen funktionieren, nur der Staat und die ihm angeschlossenen Banken haben ein Problem. Da habe ich jetzt wirklich keine große Panik, ich denke, das wird in irgendeiner Form laufen. Das größere Problem ist tatsächlich die italienische Bankenstruktur. Nur – das darf man nicht vergessen –, nach dem Brexit kommt schon eine Herausforderung auf uns zu: Weniger Großbritannien. Großbritannien fehlt uns nämlich, denn wir haben deutlich ein Weniger an Nordsee und ein deutliches Mehr an Mittelmeer in Europa. Und das wird für die Fragen, wenn sie an Griechenland, wenn sie an die Finanzpolitik denken, ein großes Thema werden. Weil ich befürchte, dass viele der südeuropäischen Länder eine Änderung wollen der bisherigen Euro-Politik und es sehr, sehr gerne hätten – übrigens wie die SPD in Deutschland –, dass wir Schulden vergemeinschaften, dass wir Sparpolitik lockern. Es kann am Ende nicht sein, dass die deutschen Sparer nicht nur über null Zinsen diesen Transfer bezahlen, sondern der Staat sogar noch einspringen muss. Und darum ist für mich weniger die Frage der Verfassungsreform entscheidend als wie geht es weiter mit den ganzen Finanzfragen. "Die Zinspolitik muss sich ändern, um wieder Zug in die Reformbemühungen Südeuropas zu bekommen" Watzke: Aber da gibt es ja einen Mann an der Spitze der EZB – Mario Draghi –, der ... Söder: ... Italiener ist, wenn wir schon beim Thema sind. Watzke: ... für viele Italiener, glaube ich, die heute abstimmen, sozusagen die Versicherung ist, dass es so ganz so schlimm nicht werden kann, wenn man sich beispielsweise gegen eine neue Struktur und gegen ein neues Italien mit weniger häufigen Regierungswechseln beispielweise entscheidet. Wie sehen Sie denn die Rolle von Draghi? Söder: Also, zwiespältig. Draghi hat zu Beginn der Eurokrise große Verdienste erworben, weil er nämlich in dem Zeitpunkt, wo die Staaten sich sehr schwer taten, schnelle Entscheidungen zu treffen, die Märkte beruhigt und damit auch den Euro stabilisiert hat. Und das Modell "niedrigere Zinsen" dosiert anzuwenden, war wie eine Art Aspirin – ja –, das half, über die Probleme hinwegzukommen. Jetzt hat sich aus diesem Medikament aber ein schleichendes Gift entwickelt. Ergebnis ist nämlich, dass die Schuldnerstaaten in Südeuropa eben keine Reformen gemacht haben, auf die lange Bank geschoben haben – es kam ja billiges Geld aus Europa –, dass die Finanzmärkte aufgebläht wurden, nicht die Realwirtschaften in diesen südlichen Ländern. Und dass de facto durch die Nullzinspolitik nicht nur Sparkassen und Genossenschaftsbanken, also die kleineren Banken, die regionalen, in Deutschland unter Druck kommen, sondern dass für die Sparer de facto ein Großteil nicht nur des Sparguthabens sich nicht vermehrt, sondern auch Rentenversicherungen, Lebensversicherungen in existenzieller Form betroffen sind. Und da kommt dann schon der Punkt: Wenn der deutsche Staat sogar dann noch daran verdient, weil er durch die niedrigen Zinsen sehr entlastet wird, das ist ja geradezu absurd. Wenn Sie heute dem deutschen Staat Geld leihen, indem Sie Bundesanleihen kaufen, dann müssen Sie eine Strafe dafür bezahlen. Das ist ja eine völlig absurde Situation. Und darum muss die Zinspolitik sich ändern, um wieder Zug in die Reformbemühungen Südeuropas zu bekommen, um mehr Geld in die Realwirtschaft zu bekommen, aber vor allen Dingen um den Sparerinnen und Sparern in Deutschland mehr zu geben. Und wenn Draghi dann nur empfiehlt, die Deutschen sollen halt nicht sparen, sondern besser spekulieren, dann ist das nicht die Philosophie, die die Deutschen wollen. Watzke: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit Bayerns Finanzminister, Markus Söder, der auf dem Weg hierher im Fahrstuhl steckengeblieben ist – zum ersten Mal in Ihrem Leben. Ist ein blödes Gefühl, wenn man auf dem Weg nach oben plötzlich nicht mehr weiterkommt, oder? Söder: Also, erstens einmal, es war ganz typisch, ich bin ja mit einem Sozi gefahren, ja. Es war der Fahrstuhl des Oberbürgermeisters aus Fürth, von der SPD, ich hätte mir gleich denken können, dass man da steckenbleibt. Es war, ehrlich gesagt, ganz lustig, wir haben uns recht gut unterhalten. Und wie immer bei solchen Dingern, es hat nicht lange gedauert und der Weg nach oben ging weiter. Watzke: Es ist ja symbolhaft, es ist in Fürth passiert. Ist es nicht ironisch, dass einer der wichtigsten Konkurrenten für Sie, bei der Frage der Nachfolge, ein Mittelfranke ist, Bayerns Innenminister, Joachim Herrmann. Wenn der der neue CSU-Vorsitzende wird, wenn der Plan so aufgeht, den Horst Seehofer scheinbar verfolgt, dann ist für sie aufgrund des Regionalproporzes plötzlich kein Platz mehr frei. Söder: Wenn die Hörer jetzt genau zugehört haben, dann haben Sie ungefähr fünf oder sechs Konjunktive gemacht, ja. Also, wenn der Herr Watzke jetzt rausgeht und ein Meteorit fällt runter und fällt ihm auf den Kopf, wäre das nicht ärgerlich, weil dann kann er nicht Intendant vom Deutschlandfunk oder Deutschlandradio werden? Das wäre dann übrigens sehr ärgerlich für Sie. Aber wissen Sie, auf diese Konjunktiv-Spekulationsgeschichten – ich gebe zu, ich habe gerne früher Akte X geguckt und so was –, aber lassen wir Spekulation bei Akte X, die reale Politik ist immer ein bisschen anders. "Ende des ersten Quartals bringen wir unsere Personalentscheidungen auch vor" Watzke: Und wenn man nach Berlin geht, dann nur als Ministerpräsident Bayerns und CSU-Vorsitzender. Söder: Wir haben einen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten in einer Person übrigens, der in Bayern sitzt und der das sehr, sehr erfolgreich macht. Horst Seehofer hat gesagt – und das ist auch verabredet mit mir und mit viele anderen –, dass wir Ende des ersten Quartals unsere Personalentscheidungen auch vorbringen und dann diskutieren. Und deswegen sage ich, führen wir dasselbe Interview noch einmal Ende des ersten Quartals, dann wissen wir die Antworten darauf. Watzke: Es ist Weihnachtszeit, morgen findet das berühmte Weihnachtsessen des Ministerpräsidenten mit den Journalisten statt. Vor fünf Jahren hat Horst Seehofer da plötzlich von Schmutzeleien gesprochen und er meinte Sie. Glauben Sie, dass er dieses Mal beim Weihnachtsabend "Ihr Kinderlein kommet" oder "Oh du Fröhliche" singen wird? Söder: Klar ist, dass ich morgen bei der Weihnachtsfeier dabei sein werde. Und dann höre ich auch immer direkt, was passiert und muss mich nicht auf hochseriöse, anständige und wirklich tiefgebildete und nichts böse meinende Journalisten verlassen. Watzke: Ich danke Ihnen, Herr Söder. Das war das "Interview der Woche" im Deutschlandfunk, heute mit dem bayerischen Finanzminister und Mittelfranken, Markus Söder. Danke Ihnen. Söder: Danke. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Söder im Gespräch mit Michael Watzke
Europa habe durch Deutschlands Grenzöffnung für die Flüchtlinge im vergangenen Jahr Schaden genommen, sagte der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) im Deutschlandfunk. Europa sei zudem so zerstritten wie noch nie und nicht in der Lage, mit einer Stimme auf Herausforderungen zu reagieren.
"2016-12-04T11:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:04.262000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/csu-politiker-soeder-europa-ist-heute-so-schwach-wie-noch-100.html
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Jedes Land muss andere Hürden meistern
Spricht man mit Vertretern der 47 Staaten, die am Bologna-Prozess teilnehmen, wird eines klar: Jedes Land hat eigene Probleme bei der Umsetzung, kaum eine Reform kann mit der anderen verglichen werden. In Deutschland zum Beispiel beklagen Fachleute, dass die Studenten zu wenig ins Ausland gehen, weil zu wenig Zeit bleibt. In Lettland scheitert die Mobilität dagegen nicht am engen Stundenplan, sondern am Geld."Wir sind kein reiches Land – und Auslandsaufenthalte kosten Geld. Deshalb ist die Zahl der Studenten, die ins Ausland geht, sehr klein."Das sagt Andrejs Rauhvargers, Generalsekretär der lettischen Rektorenkonferenz. Die Hochschulen ermuntern die Studenten auch nicht, ins Ausland zu gehen. Denn gute Fachkräfte werden gebraucht, um die Wirtschaft zu stabilisieren:"Wer nach dem Bachelor ins Ausland geht, kommt vielleicht zurück. Wer aber direkt in einem anderen Land mit dem Studium beginnt, wird nicht mehr nach Lettland zurückkommen."Ganz anders ist die Situation in Luxemburg. Die einzige Universität des Landes wurde 2003 gegründet – als der Bologna-Prozess schon lief. Uni-Rektor Rolf Tarrach, hatte deshalb keine großen Probleme, Studiengänge ins Leben zu rufen, die all das beinhalten, was von den Bologna-Reformern gefordert wird. Zum Beispiel gehen alle Studenten ins Ausland."Alle unsere Bachelor-Studenten müssen mindestens ein Semester im Ausland studieren, dann haben wir die Vielsprachigkeit, wir nutzen Englisch, Französisch und Deutsch, normalerweise immer zwei Sprachen in jedem Bachelor, in manchen sogar drei, im Master-Niveau wieder zweisprachig, und dann haben wir viel auf Englisch. Also, viele der Sachen, viele der Bologna-Ideen sind schon dabei."Rolf Tarrach kennt aber auch die Probleme in anderen Ländern. Er lehrt an der Universität in Barcelona und spürt oft den Unmut der Studenten:"In Spanien war das Problem, da gibt es jedes Mal, wenn die Regierung etwas machen wollte, was nicht sehr populär war, dann haben sie immer gesagt: Das ist das Bologna-System. Das hat dazu geführt, dass die Studenten radikal anti Bologna sind."Beobachtet wird der Bologna-Prozess auch von zahlreichen Vertretern außerhalb von Europa. Zum Beispiel von Mohammed Al-Ohali, stellvertretender Bildungsminister von Saudi-Arabien. Denn nicht nur der europäische Bildungsraum wächst zusammen, sondern es entstehen zunehmend Kooperationen zwischen Hochschulen auf der ganzen Welt."Die Hochschulsysteme verändern sich weltweit, und bei den Reformen gibt es viele Ähnlichkeiten. Darin gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Asien, Europa, den Vereinigten Staaten, Afrika, Südamerika oder Australien. Für uns ist es wichtig zu sehen, wie die Menschen mit diesen Veränderungen umgehen. Gleichzeitig stellen wir vor, welche Ziele wir erreicht haben, und so können wir internationale Programme ins Leben rufen, von denen beide Seiten profitieren."Der Bologna-Prozess findet also Beachtung auf der ganzen Welt. Dabei ist er noch längst nicht abgeschlossen. Bis 2020 haben die Hochschulen Zeit, die Bologna-Ziele umzusetzen. Aber auch danach wird uns die Studienreform noch weiter beschäftigen, vermutet Rolf Tarrach, der Rektor der Universität in Luxemburg."Universitäten sind ungeheuer konservative Systeme. (...) Die wollen sich nicht ändern. Und deswegen muss man sehr viel Geduld haben."Mehr zum Thema bei dradio.de:Der Grünen-Politiker Kai Gehring kritisiert die europäische Bildungsreform(Interview)Wert deutscher Studienpunkte im Ausland -Stand der Bologna-Reform in Europa (Campus & Karriere)Europäischer Hochschulraum bleibt mehr Wunsch als Wirklichkeit -EU zieht Bilanz nach 13 Jahren Bologna-Prozess (Campus & Karriere)Bildungsfreie Zone Bachelor -Studentenvertreter Rekewitz kritisiert Bolognareform als zu verschult (Campus & Karriere)
Von Britta Mersch
Gemeinsame Ziele im Bologna-Prozess zu definieren, ist gar nicht so einfach. Das stellen zurzeit die Vertreter von 47 Staaten bei einem Treffen in Bukarest fest. Bis die Hochschulen 2020 den Prozess abgeschlossen haben sollen, steht jedes Land vor ganz eigenen Herausforderungen.
"2012-04-27T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:40:52.200000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jedes-land-muss-andere-huerden-meistern-100.html
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RKI aktualisiert Liste der Coronavirus-Risikogebiete
Coronatest-Kontrollen am Flughafen (dpa / picture alliance / Christian Charisius) Seit Donnerstag, dem 3. März 2022, gelten keine Länder mehr als Hochrisikogebiete. Egal aus welchem Staat man nach Deutschland einreist, bestehen also keine Quarantänepflichten mehr. Grundsätzlich gilt bei einer Einreise nach Deutschland aber weiterhin die 3G-Regel. Ds heißt: Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss einen negativen Test vorweisen können. Diese Nachweispflicht gilt nun ab dem Alter von zwölf statt ab sechs Jahren. Künftig werden Länder nur noch dann als Hochrisikogebiete eingestuft, wenn dort Virusvarianten grassieren, die "besorgniserregendere Eigenschaften" besitzen als die hierzulande dominierende Omikron-Variante. Welcher ausländische Staat in die Liste der Virusvarianten- oder Hochrisikogebiete aufgenommen wird, entscheiden Experten aus dem Auswärtigem Amt sowie aus den Bundesministerien für Gesundheit und Inneres. Die vollständige Liste wird anschließend auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts veröffentlicht. HochrisikogebieteVirusvariantengebieteTest- und Nachweisregeln Hochrisikogebiete Als Hochrisikogebiete werden Länder oder Gebiete ausgewiesen, in denen nach Einschätzung der genannten Experten "ein besonders hohes" Risiko besteht, sich mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 anzustecken. Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden diese Kriterien näher erläutert. Dazu zählen zum Beispiel: eine regelmäßige 7-Tage-Inzidenz von deutlich über 100 eine hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit der Corona-Infektionen viele Krankenhausaufenthalte wegen COVID-19 und/oder eine hohe Rate an positiven Tests bei einer geringen Anzahl an Tests Zwischenzeitlich standen etwa drei Viertel der rund 200 Staaten weltweit auf der Liste der Hochrisikogebiete. Derzeit ist die Liste leer. Virusvariantengebiete Als Virusvariantengebiete werden Länder oder Regionen ausgewiesen, in denen verbreitet eine Variante (= Mutation) des Coronavirus SARS-CoV-2 auftritt, die nicht zum gleichen Zeitpunkt in Deutschland verbreitet ist und von der angenommen wird, dass von ihr ein besonderes Risiko ausgeht. Ein solches Risiko kann beispielsweise sein, dass die Virusvariante zu schweren Krankheitsverläufen führen kann und/oder dass die Immunität nach einer Impfung oder Genesung durch die Variante abgeschwächt ist. Zuletzt waren Großbritannien und mehrere afrikanische Staaten als Virusvariantengebiete eingestuft, weil dort die Omikron-Variante grassierte. Inzwischen hat sie sich jedoch auch in Deutschland stark ausgebreitet. Deshalb weist das Auswärtige Amt derzeit keine Virusvariantengebiete mehr aus. Test- und Nachweisregeln Personen müssen bei einer Einreise nach Deutschland grundsätzlich den Nachweis erbringen können, dass sie negativ auf das Coronavirus getestet, vollständig dagegen geimpft oder von einer Covid-19-Erkrankung genesen sind. Diese Nachweispflicht gilt für alle Personen ab zwölf Jahren - unabhängig davon mit welchem Verkehrsmittel sie nach Deutschland gekommen sind und aus welchem Land sie kommen. Die Nachweispflicht gilt also nicht nur dann, wenn man sich vor der Einreise in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet aufgehalten hat. Bei vorherigem Aufenthalt in einem Hochrisiko- oder Virusvariantengebiet werden allerdings zusätzlich spezielle Anmelde-, Nachweis- und Quarantänepflichten wirksam. Diese lassen sich auf der Webseite der Bundesregierung zur Digitalen Einreiseanmeldung nachlesen. Nach Eingabe des Reiseorts werden die jeweils geltenden Vorschriften angezeigt. Je nach Impfstatus gelten unterschiedliche Ausnahmen. Bei Einreise aus Virusvariantengebieten gilt – vorbehaltlich sehr eng begrenzter Ausnahmen – außerdem ein Beförderungsverbot für den Personenverkehr per Zug, Bus, Schiff und Flug direkt aus diesen Ländern.
null
Robert Koch-Institut und Auswärtiges Amt beobachten fortwährend das Infektionsgeschehen weltweit. Abhängig davon können Staaten als Hochrisiko- oder Virusvariantengebiete eingestuft werden - mit Konsequenzen für die Einreise nach Deutschland. Hier der aktuelle Stand.
"2022-03-04T14:57:00+01:00"
"2021-11-12T22:48:36.990000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rki-aktualisiert-liste-der-coronavirus-risikogebiete-1016.html
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Autozulieferer Capricorn macht das Rennen
"Es gibt weißen Rauch, der Nürburgring hat einen neuen Investor." Und der heißt Capricorn und ist ein mittelständischer Autozulieferer mit rund 300 Mitarbeitern und einem Werk am Nürburgring. 77 Millionen Euro Kaufpreis sowie eine Zusage für 25 Millionen zusätzliche Investitionen für die weitere Entwicklung des Nürburgrings gaben den Ausschlag. Neuer starker Mann am Ring wird Robertino Wild sein, der Eigentümer der Capricorn-Gruppe. Er hat selbst Rennsporterfahrung, etwa als Sieger der Ferrari Challenge 2000. Für Motorsportfreunde hatte Wild heute eine gute Nachricht. Er will auch in die Strecken selbst investieren: "Zur Verbesserung der Nordschleife und der Grand Prix-Strecke. Durch die Investitionen, die dort in der Vergangenheit getroffen worden sind, kam es dort zu einem Investitionsstau. Die muss man jetzt anschauen und muss möglichst zeitnah versuchen, die Rennstrecken wieder auf einen Stand zu bringen, der dem internationalen, dem weltweiten Standard entspricht." Das klingt vielversprechend – doch nach der Pleite des Nürburgrings vor zwei Jahren wollen viele in der Eifel erst handfeste Taten sehen, bevor sie wieder an eine Zukunft der Rennstrecke glauben.
Von Ludger Fittkau
Die Formel 1 soll weiter in der Eifel starten. Der Nürburgring hat fast zwei Jahre nach der Insolvenz einen Käufer. Die Sanierer gaben den Zuschlag an den Düsseldorfer Autozulieferer Capricorn. Dieser will den überdimensionierten Freizeitpark dezimieren.
"2014-03-11T22:58:00+01:00"
"2020-01-31T13:30:21.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/insolventer-nuerburgring-autozulieferer-capricorn-macht-das-100.html
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Heiliger Gral des deutschen Hip-Hop
Max Herre auf dem Festival Lollapalooza in Berlin 2016 (Sophia Kembowski/dpa ) "Das war sie also, die letzte Klappe meines Films, der als Interviewreihe angefangen hatte, und der als Höllentrip enden sollte" sagt Sékou Neblett alias Sékou The Ambassador, ehemaliges Mitglied der Rap-Formation Freundeskreis, zu Beginn von "Blacktape". "Um das zu verstehen, muss ich früher anfangen - mit Hip-Hop." In den ersten 10 Minuten rollt zunächst eine kurze Geschichte des deutschen HipHop ab: MTV-Altstar Steve Blame tritt auf, Protagonisten des Genres wie Thomas D, Afrob, Max Herre, Eko Fresh oder Samy Deluxe verleihen der Geschichte eine realistischen Anstrich, eben "street credibility". "Irgendwann Mitte der 80er ist ein Typ bei einem Jam in den Barracks oder Hip-Hop-Konzert auf die Bühne. Vermummt. - Rappt auf Deutsch! - Aber so heftig, dass es Anarchie war. - Und der hat aber so krass geflowt und so 'ne miese Technik gehabt. - Und die konnten das nicht akzeptieren, dass ein Deutscher kam und ihre ureigene amerikanische Kultur komplett entwurzelt hat und denen vor die Füße geworfen hat." Und dann kippt der Film ins Fiktive - durch die Einführung eines mysteriösen Urvaters des deutschen HipHop. "Eine geheimnisvolle Nachricht, ein verschollenes Tape. Ein anonymer Oldschool-Rapper, vielleicht der erste überhaupt, der auf Deutsch gerappt hat. Wer ist Ti Gon? Ist er der Urknall des deutschen Hip-Hops? Ich muss rausfinden, was dahintersteckt", sagt Sékou Neblett im Film. Wurzeln des Hip Hop Es kommt, wie es kommen muss: In dem Moment, wo sich eine Bewegung ihrer Wurzeln bewusst wird, beginnt sie zu graben. Verschiedene Lager beanspruchen die Ursprünge für sich. In diesem Fall sind die Antagonisten in der epischen Schlacht zwischen Gut und Böse bzw. Indie und Major: Der Mitinitiator der Berliner Hip-Hop-Szene Marcus Staiger - "Geile Scheiße!" - und Neffi Temur, A&R beim Mediengiganten Universal Music. Diesen Konflikt machen sich Sékou Neblett und sein Co-Autor Falk Schacht zunutze. Falk Schacht: "Erzähl' Staiger, dass Neffi nach Tigon sucht. Dann dreht Staiger durch." Da kommt es sehr gelegen, dass Tigon plötzlich beginnt, Nachrichten an Staiger zu schicken. Das Filmteam folgt seinen Spuren. "Plötzlich geht’s ab!" Eine Station: das US-Konsulat. Dort berichtet man, dass in den USA Kinder mit deutschen Hip-Hop-Texten Deutsch lernen. "In America, they deal with the lyrics of Bushido?", fragt Staiger. "Well, I don't know about Bushido, but I know there in the schools the kids especially like the lyrics of the Fantastischen Vier", sagt die Frau aus dem Konulat. Falk: "But that's very oldschool." Wettrennen um den "Heiligen Gral" Die Jagd wird - befeuert von dem Wettrennen zwischen Staiger und Neffi Temur um den "Heiligen Gral des deutschen Hip-Hop" - immer bizarrer. Die Gemüter erhitzen sich. Und Selbstdarsteller Marcus Staiger entwickelt sich zum Zentrum des Films - für den Filmemacher Sékou Neblett ein echter Glücksgriff. "Hast Du ihm das gesagt?", fragt Steiger. Falk: "Was denn?" Staiger: "Dass wir hier sind wegen Tigon." Falk: "Alles gut bei dir?" Staiger: "Gib' mir mal dein Handy bitte. Gib' mir auch mal dein Handy. Wir legen das jetzt einfach hier in den Kühlschrank, ich hab' jetzt keinen Bock mehr." Staiger: "Ich möchte auf Nummer sicher gehen." Falk: "Es ist im Koffer." Staiger: "Ich weiß nicht, wo dein Koffer ist, Mann!" Als die Crew in dieser Stimmung in ein unterirdisches Labyrinth einsteigt, bekommt der Film sogar einen Anstrich von "Blair Witch Project". Andererseits entbehrt "Blacktape" auch nicht satirischer Selbstironie - zumindest als "Kleines Fernsehspiel" im ZDF: Staiger: "Träum’ weiter von deiner Anstellung bei ZDF Kultur als Hip-Hop-Attaché!" Falk: "Bist du jetzt endgültig durchgedreht, Staiger?" Staiger: "Nee, aber ich mein', was ist denn das?" Eko Fresh: "Ey, du bist so'n Sturkopf! (singt) Underground forever … Nein, 'rich forever' ist besser." Zum Showdown treten auf dem groß angekündigten Revival-Konzert die Protagonisten des deutschen Hip-Hops als Tigon verkleidet auf. Der Urvater bleibt ein Mysterium und die Anfänge des Genres im Dunklen. "Am Ende kamen für Tigon Freunde und Feinde zusammen. Und wir setzten dem deutschen Hip-Hop ein fettes Denkmal. Golden-Era-Style." Teils verworrener Plot Sékou Neblett hat extrem viel Aufwand betrieben, um "Blacktape" möglichst authentisch aussehen zu lassen. Und darin liegt schließlich der Unterhaltungswert solcher Mockumentarys: in der Diskrepanz zwischen einem historischen Subtext und einer fiktionalen und möglichst hanebüchenen Geschichte. An manchen Stellen erinnert "Blacktape" allerdings stark an die bekannteste Mockumentary der letzten 15 Jahre - die ARTE-Produktion "Kubrick, Nixon und der Mann im Mond", die ebenfalls zahm beginnt, um sich dann in einen zunehmend verworrenen Plot zu steigern. An manchen Stellen wird "Blacktape" allerdings nur noch von eingefleischten Hip-Hop-Fans verstanden. Dennoch: Hut ab vor soviel Einsatz! Falk: "Und warum ist mein Handy im Kühlschrank?" - "Ja, das finde ich auch."
Von Ralf Bei der Kellen
Lange hat es gedauert, doch nach drei Jahrzehnten Rap in Deutschland war es schließlich an der Zeit, dem Hip-Hop seine eigene Mockumentary zu geben. Entstanden ist ein Who's Who der Szene. Der Unterhaltungswert entsteht aus der Diskrepanz zwischen Fakten und einer hanebüchenen, fiktionalen Geschichte.
"2016-12-05T15:05:00+01:00"
"2020-01-29T19:07:15.515000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mockumentary-blacktape-heiliger-gral-des-deutschen-hip-hop-100.html
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Touristen bei Terrorangriff getötet
Nach dem Anschlag auf das Nationalmuseum in Tunis ist noch unklar, ob sich unter den mindestens 21 Todesopfern auch Deutsche befinden. Dies könne nicht ausgeschlossen werden, aber es gebe noch keine Gewissheit, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Berlin. Er nannte die Tat einen "feigen Angriff auf uns alle". Die tunesische Regierung hatte zuvor mitgeteilt, dass bei dem Anschlag 17 ausländische Touristen getötet worden seien, darunter Urlauber aus Deutschland, Polen, Spanien und Italien. Nach Angaben des Regierungschefs Habib Essid eröffneten zwei oder drei bewaffnete Männer zunächst das Feuer auf Menschen auf dem Platz vor dem Museum. Anschließend stürmten sie in das Gebäude. Angreifer getötet Auch die zwei Angreifer sind tot: Ein Sondereinsatzkommando erschoss sie bei einem Feuergefecht in dem Museum. Zuvor hatten die Polizisten den Großteil der Museumsbesucher in Sicherheit gebracht. Im nahegelegenen Parlament wurde der Betrieb eingestellt. Die Abgeordneten wurden aufgerufen, sich in der Versammlungshalle zu treffen, wie Vertreter von Parteien mitteilten. Der Polizeischutz um das Parlament wurde verstärkt. Ministerpräsident Essid sagte, die Angreifer hätten den Tourismus und damit die Wirtschaft Tunesiens treffen wollen. Die Attacke sei eine Reaktion auf die jüngsten Erfolge der tunesischen Sicherheitskräfte gegen den Terror. EU macht IS-Miliz verantwortlich Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini machte die IS-Terrormiliz für den Anschlag verantwortlich. Die Europäische Union werde Tunesien mit aller Kraft im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen. Im Urlaubsland Tunesien begann Ende 2010 der Arabische Frühling, der zum Sturz des Langzeitherrschers Zine el Abidine Ben Ali führte. Als bislang einziges arabisches Land gelang Tunesien ein geregelter Übergang in eine Demokratie. Mit dem Sturz Ben Alis gewannen jedoch auch islamistische Kräfte im Land neue Stärke. (mg/tj)
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In Tunesien hat der Terror die Hauptstadt Tunis erreicht: Bewaffnete Angreifer haben im Bardo-Museum im Stadtzentrum mindestens 19 Menschen getötet - darunter 17 Touristen.
"2015-03-18T14:10:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:09.289000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tunesien-touristen-bei-terrorangriff-getoetet-100.html
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Europäische Länder verschärfen Sicherheitsvorkehrungen
Britische Polizisten bewachen die französische Botschaft in London. (AFP / DANIEL LEAL-OLIVAS) In Deutschland verstärkte die Polizei die Kontrollen an der Grenze zu Frankreich. Auch an den Flughäfen wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Ähnliche Maßnahmen kündigten die Regierungen in Belgien, Spanien, Tschechien und weiteren Ländern an. Italiens Innenminister Angelino Alfano ließ auch die Züge auf der Verbindung über Ventimiglia zwischen den beiden Ländern stärker kontrollieren. In London erklärte Bürgermeister Sadiq Khan, die britische Hauptstadt überprüfe die Sicherheitsvorkehrungen. In Frankreich hatte Präsident François Hollande bereits am frühen Morgen eine Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere drei Monate angekündigt. Er war nach den Pariser Anschlägen vom 13. November 2015 verhängt worden und sollte eigentlich Ende Juli auslaufen. Bislang gibt es allerdings noch keinerlei Hinweise auf eine Verbindung des Täters zum internationalen Terrorismus. Präsident Hollande sagte jedoch, der "terroristische Charakter der Tat kann nicht bestritten werden". Und er fügte hinzu: "Ganz Frankreich ist vom Terrorismus bedroht." Auch Bundesinnenminister Thomas De Maizière geht von einem Akt des Terrors aus. Ermittler untersuchen den LKW in Nizza. (AFP / Anne-Christine Poujoulat) Wahrscheinlich wurden bei dem Anschlag auch drei Deutsche getötet: Die Lehrerin einer Berliner Schule und zwei ihrer Schülerinnen werden vermisst. Sie waren Teilnehmer einer Kursfahrt nach Nizza. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller erklärte am Brandenburger Tor: "Wir müssen leider davon ausgehen, das Berliner unter den Opfern sind." Ein Team des deutschen Generalkonsulats in Marseille reiste nach Nizza, um gegebenenfalls betroffenen Bundesbürgern Beistand zu leisten. Nach Angaben des US-Außenministeriums sind mindestens zwei US-Amerikaner unter den Toten. Auch Menschen aus Russland, der Schweiz, Armenien, Tunesien und der Ukraine kamen Angaben zufolge ums Leben. Premierminister Manuel Valls rief nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts am Vormittag in Paris eine dreitägige Staatstrauer aus. Sie soll am Samstag beginnen und bis Montag dauern. An allen öffentlichen Gebäuden in Frankreich wehen die Fahnen auf Halbmast. Hollande und Valls landeten inzwischen in Nizza, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Die Fahnen von Frankreich und Deutschland wehen in Nürnberg, der Partnerstadt Nizzas, auf Halbmast. (dpa / Daniel Karmann) Auch in Deutschland wurde eine bundesweite Trauerbeflaggung angeordnet. Bundespräsident Joachim Gauck erklärte, ein Angriff auf Frankreich sei ein Angriff auf die gesamte Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator, wo sie am Asem-Gipfel teilnimmt, Deutschland stehe im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite Frankreichs. Bestürzung auch in den USA: Präsident Barack Obama betonte ebenfalls, sein Land stehe in Solidarität und Partnerschaft an der Seite seines ältesten Allierten Frankreich. Botschaften der Trauer und des Beistandes kamen auch aus vielen anderen Staaten. Die Kirchen äußerten sich erschüttert. Papst Franziskus twitterte, er bete für die Opfer und ihre Familien. Gestern am späten Abend hatte ein Mann einen Lastwagen über eine Strecke von rund zwei Kilometern in Menschenmengen gesteuert, die dort das Feuerwerk zum Abschluss des Nationalfeiertages verfolgten. Ein deutscher Journalist filmte den Lastwagen vom Balkon seines Hotels aus. Neben den 84 Toten gab es auch mehrere hundert Verletzte. Die Polizei erschoss den Fahrer. Er wurde inzwischen als ein 31-jähriger Franzose mit tunesischen Wurzeln identifiziert, der in der südfranzösischen Hafenstadt lebte. Er ist den Behörden als Kleinkrimineller bekannt gewesen, fiel aber nicht als politisch radikalisiert auf. Seine Wohnung wird derzeit untersucht. (mg/jcs)
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Nach dem Anschlag in Nizza mit mindestens 84 Toten reagieren die Staaten in Europa und verschärfen ihre Sicherheitsvorkehrungen. Bei dem Attentat kamen vermutlich auch drei Deutsche aus Berlin ums Leben.
"2016-07-15T12:53:00+02:00"
"2020-01-29T18:41:19.862000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anschlag-in-nizza-europaeische-laender-verschaerfen-100.html
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Ein Sport, zwei Welten
Deutschlands Torfrau Almuth Schult beim Länderspiel gegen Japan 2019 (photoarena / Thomas Eisenhuth / imago) Im Jahr 2017 befragte die Profivereinigung FIFPro weltweit 3.600 Spitzenspielerinnen. Ihr durchschnittliches Monatsgehalt: 540 Euro. Nur 18 Prozent von ihnen stuften sich als professionell ein. Die Wolfsburger Torhüterin Almuth Schult spielt seit sieben Jahren für das deutsche Nationalteam. Ihr Kollege Manuel Neuer gehört seit 2009 zur Auswahl des DFB. Trotzdem lernten sich beide erst im vergangenen März kennen. Per Zufall in einem Hotel in Wolfsburg, im Rahmen eines Männerländerspiels. Almuth Schult sagt: "Er wusste auch Bescheid, wer ich bin, wo ich spiele, dass wir Champions League gespielt haben und so weiter. Also es ist nicht so, dass es bei ihm nicht ankommt. Und er sagte selber, es ist schade, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen. Wir sind beide seit Jahren in der Nationalmannschaft als Torhüter und wir haben uns vorher noch nie gesehen." Torhüterin Almuth Schult (Blaschke/Dlf) Almuth Schult schätzt das Umfeld des Nationalteams, die Betreuung und Reisebedingungen. Aber die Entwicklung bei den Prämien stagniere. Schult kann es nachvollziehen, dass es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Aber muss der so groß ausfallen? 2016 wollte der DFB jedem männlichen Nationalspieler 300.000 Euro zahlen, wenn die Mannschaft den Titel geholt hätte. Frauenfußball ist kaum im Fernsehen präsent Bei den Frauen wären ein Jahr später 37.500 Euro geflossen. Der Unterschied ist viermal so hoch wie die durchschnittliche Einkommenslücke in Deutschland zwischen Männern und Frauen. Die Journalistin Alina Schwermer berichtet für die taz über Frauenfußball. Sie sagt: "Frauenfußball ist etwas, was nicht von selber kommt. Sondern wo du wahnsinnig viel reinstecken musst, damit es funktioniert. Dass ist in Deutschland nicht passiert auf ganz verschiedenen Ebenen. Man hat es halt so schleifen lassen. Und um regelmäßig zu einem Frauenverein zu gehen, brauche ich eine Bindung und brauche ich eine durchgehende Erzählung. Und diese Erzählung, glaube ich, wird in Deutschland nicht geschaffen. Das liegt zum einen daran, dass es fast überhaupt nicht im Fernsehen präsent ist. Es liegt auch daran, dass jetzt noch weniger Spielerinnen prominent sind als in der Zeit vor 2011." Alina Schwermer (taz) berichtet über Frauenfußball (Blaschke/Dlf) 2011 fand in Deutschland die Frauen-WM statt. Seitdem haben viele Nationen aufgeholt, zum Beispiel Spanien. Dort hat die erste Frauenliga ein Energieunternehmen als Hauptsponsor gewonnen. Und sie verkaufte ihre Fernsehrechte für drei Millionen Euro pro Saison. Die Ligen in Spanien und England gehen strategischer vor Das Spiel zwischen Atlético Madrid und dem FC Barcelona verfolgten im Stadion 60.000 Zuschauer, vor dem Fernseher 400.000. Etliche Mädchen meldeten sich in Vereinen an. Auch in England legte der Verband einen Wachstumsplan vor. Mit einem Ligasponsor und mit einer besseren Abstimmung zwischen Männern und Frauen, was Trainingsbedingungen oder Anstoßzeiten angeht. Alina Schwermer. "Wenn du die Frauenabteilung hast und wenn du in der WSL spielst, also der Women Super League, dann müssen jetzt zum Beispiel deine Frauen Profis sein. Also die müssen von Frauenfußball leben können. Was schon mal ein relativ krasser Unterschied ist zu anderen Ländern. Warum sagt man nicht zum Beispiel: Wenn ich einen Männerverein in der Bundesliga haben will, dann bin ich verpflichtet, eine Frauenabteilung zu haben, warum nicht? Das kann man ja über Lizenzen regeln. Von oben her müsste der DFB viel stärker die Vereine in die Pflicht nehmen." In den USA und Skandinavien erstritten Spielerinnen mehr Geld Den Maßstab setzt aktuell Olympique Lyon aus dem WM-Gastgeberland Frankreich, mit sechs Champions-League-Siegen in zehn Jahren. In Deutschland dominieren der VfL Wolfsburg und der FC Bayern – mit einstelligen Millionenbudgets. Klubs wie Borussia Dortmund, Schalke 04 oder Hertha BSC halten sich aus dem professionellen Frauenfußball fern. Reihe: Frauen im Fußball (EyeEm / Flusi Man) In den USA haben sich die Frauen nicht weiter vertrösten lassen. Dort klagten Nationalspielerinnen gegen ihren Verband wegen "finanzieller Diskriminierung". Auch in Australien oder Skandinavien gab es Kampagnen. Im Oktober 2017 hat in Norwegen der erste Fußballverband die Zahlungen für Nationalspieler und -Spielerinnen angeglichen. Der ehemalige Profi Tom Fodstad ist im norwegischen Verband für Sponsoren und Marketing zuständig. Er sagt: "Wir haben mit den Nationalspielern gesprochen. Und sie waren sofort bereit, auf einen kleinen Teil ihrer Zahlungen zu verzichten. So konnten wir die Prämien angleichen. Doch die Basis für diesen Schritt wurde früher geschaffen. Der norwegische Verband hat schon vor Jahrzehnten um weibliche Mitglieder geworben. In unserem Präsidium sind seit langem mehrere Frauen vertreten. Wir sollten nicht nur auf die Prämien achten, zum Beispiel bei unseren Jugendteams. Ob Trainingslager oder Testturniere, wir schaffen für Frauen und Männer die gleichen Bedingungen." Tom Fodstad, Ex-Profi und im norwegischen Verband für Sponsoren und Marketing zuständig (Blaschke/Dlf) Beim Deutschen Fußball-Bund heißt es, eine finanzielle Umverteilung zwischen Männern und Frauen sei verbandsrechtlich kompliziert. Außerdem suchte der Verband lange vergeblich nach einem Hauptsponsor für seine Fußballerinnen. Uefa und Fifa stimmen sich zu selten ab Nun bei der WM wird die Fifa 26 Millionen Euro an Prämien ausschütten, etwa doppelt so viel wie beim vergangenen Turnier, aber immer noch wesentlich weniger als bei den Männern: Da hatte im vergangenen Jahr allein Weltmeister Frankreich 32 Millionen Euro erhalten. Die Wolfsburger Torhüterin Almuth Schult über die Verbände Uefa und Fifa. "Ich glaube, dass sie noch besser zusammenarbeiten können. Es ist eine sehr ungünstige Konstellation, dass ein EM-Qualifikationsspiel der Männer und ein WM-Spiel der Frauen auf einen Tag gelegt werden, auch von den gleichen Nationen. Das lenkt einfach von dem Event ab, der die Weltmeisterschaft für uns als Frauenfußball ist." Almuth Schult und ihre Kolleginnen wollen sich beim DFB und in der Bundesliga für eine Lohnannäherung einsetzen. Noch ist der Weg weit, wie eine internationale Erhebung nahelegt. Nach dem "Global Sports Salaries Survey" verdienen Spielerinnen in der Bundesliga durchschnittlich 39.000 Euro pro Saison. Bei den Männern sind es 48.000 Euro – allerdings pro Spiel.
Von Ronny Blaschke
„Angriff oder Verteidigung“, so heißt unsere neue Serie über Frauen im Fußball. Der Anlass: die Weltmeisterschaft in Frankreich. Dabei werden eklatante Unterschiede zum Männerfußball deutlich. Etwa der Gender Pay Gap, die Einkommenslücke zwischen Spielern und Spielerinnen, die extrem hoch ist.
"2019-05-25T19:46:00+02:00"
"2020-01-26T22:53:58.832000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauen-im-fussball-2-ein-sport-zwei-welten-100.html
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"Bereitschaft, Ausreden hinzunehmen, hat es jahrzehntelang gegeben"
"Arbeit macht frei" - ein Tor des ehemaligen KZ Sachsenhausen (Deutschlandradio / Ronny Arnold) Zwei mögliche Prozesse gegen ehemalige Mitarbeiter in deutschen Konzentrationslagern werden zur Zeit geprüft: Beim Landgericht Itzehoe gegen eine 95-jährige ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof, beim Landgericht Neuruppin gegen einen 100-jährigen ehemaligen SS-Wachmann des Lagers Sachsenhausen. Der geschäftsführende Vizepräsident des Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, wirft der deutschen Justiz nun "Versagen" vor, weil beide Verfahren erst jetzt vor die Gerichte kämen. Es habe jahrzehntelange Versäumnisse gegeben, dabei habe sich mit dem Fall John Demjanjuk, einstiger Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, in der deutschen Rechtsprechung die Auffassung durchgesetzt, dass, wer im Dienst des NS-Systems war, auch von der Massenvernichtung gewusst haben muss. Komplizierte und schwierige Aufarbeitung "In der Tat ist die Geschichte des Umgangs, des justiziellen Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen eine komplizierte, schwierige und eine, die von vielen Versäumnissen geprägt ist. Diese Versäumnisse liegen eigentlich vor allem in den mittleren Jahren der alten Bundesrepublik", so der Historiker Norbert Frei, der sich in mehreren Publikationen mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen beschäftigt hat. "Aber richtig ist auch, dass es insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr wohl eine Fülle von Verfahren und Prozessen gegeben hat, und dass man nicht so ganz einfach sagen kann, es sei alles nur ein Versagen gewesen." Ausreden wurden bereitwillig akzeptiert Es habe nach 1945 lange gedauert, die Argumentation der Täter, sie selbst seien bei Befehlsverweigerung der Lebensgefahr ausgesetzt gewesen, als falsch zu entlarven. "Das ist eine Ausrede gewesen, die erst durch die Geschichtsschreibung, durch die Historiker in einem mühseligen Prozess dann auch nicht mehr länger gegolten hat. Die Bereitschaft, solche Ausreden hinzunehmen, die hat es jahrzehntelang gegeben", erklärt Frei. Deswegen habe es auch lange gedauert, bis in der Justiz ein Perspektivwechsel stattgefunden habe. Kaum noch Zeitzeugen Solange es noch letzte Zeitzeugen gebe, dürfe die Aufarbeitung vor den Gerichten nicht aufhören, meint der Historiker. "Sie sind aus meiner Sicht ein wichtiges Signal, auch in einer Zeit, in der die Bedrohung von rechts außen zunimmt und in der Rassismus und Antisemitismus grassieren. Die Prozesse zeigen den sehr alt gewordenen Überlebenden, wie unsere Gesellschaft insgesamt in dieser späten Stunde eben auch vor Gericht durch Aufklärung den Verbrechen und dem Unrecht der NS-Zeit immer noch begegnen kann. Und muss."
Norbert Frei im Gespräch mit Maja Ellmenreich
Das Internationale Auschwitz Komitee wirft der deutschen Justiz jahrzehntelange Versäumnisse in der Verfolgung von NS-Verbrechern vor. Der Historiker Norbert Frei stimmt nur teilweise zu. Es habe Versäumnisse gegeben, aber von Versagen könne man nicht sprechen, sagte er im Dlf.
"2021-02-16T17:35:00+01:00"
"2021-02-17T12:17:28.340000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ns-prozesse-bereitschaft-ausreden-hinzunehmen-hat-es-100.html
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Die Radioschlacht um Nachkriegsdeutschland
Das Radio wurde auch in der Nachkriegszeit intensiv als Propagandamedium benutzt. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann) "Da sind wir also, liebe Hörer! Und wir begrüßen Sie! Nicht mit einer feierlichen Eröffnungsansprache, seien Sie unbesorgt. Obwohl uns ein bisschen feierlich zumute ist, bei dieser ersten Begegnung." So begrüßte der damalige RIAS-Gründungintendant Franz Wallner-Basté die Hörerinnen und Hörer am 07. Februar 1946. Anfangs sendete man noch über Drahtfunk, hieß noch "DIAS", und setzte auch noch nicht so sehr auf eine bunte Programmfarbe, womit man den Sender späterhin assoziierte. Unterhaltung, leichte Musik - all das kam erst später, erläutert die Historikerin Petra Galle, die eine Dissertation über den RIAS verfasst hat: "Man hat ganz klar versucht, ein Programm mit Bildungsinhalten, Wort und ernste musik-lastig, aufzubauen. Unterhaltungskultur ist massiv gefördert worden ab 1948, und hat dann auch die Farbe des RIAS wesentlich mitgeprägt." "RIAS Berlin – eine freie Stimme der freien Welt" Der RIAS war einer der bedeutendsten Hörfunksender im Nachkriegsdeutschland, hatte er doch einen großen Einfluss auf die Meinung der Hörerschaft, nicht nur in Berlin - er sendete weit in den Ostteil Deutschlands hinein. Anfangs, so Petra Galle, sei es hauptsächlich um das Anknüpfen an demokratische Traditionen gegangen und das Aufklären über nationalsozialistische Verbrechen. Und doch gab es seitens der amerikanischen Militäradministration Eingriffe ins Programm, analysiert Petra Galle: "Allerdings kam es zu Auswüchsen politischer Art, 1948/49. Auch zu Hetzsendungen. Das ist nicht von allen mitgetragen worden, da gab es auch Unruhe im Funkhaus selbst, aber ab der Blockade 1948 muss man davon ausgehen, dass die Zustimmung so groß war, dass eine eingreifende Kontrolle mal stattgefunden hat, aber nicht die Regel gewesen ist, weil es nicht notwendig war." Die Amerikaner waren die einzige westliche Besatzungsmacht, die recht offen auch auf Propaganda setzte, die Briten und Franzosen gingen subtiler vor. Die Franzosen wollten beispielsweise unbedingt Frankreich als Kulturnation präsentieren - was sich in einer Vielzahl von Konzerten, Lesungen und anderen Sendungen niederschlug. Subtile Propaganda im Westen, offene Propaganda im Osten In der britischen Besatzungszone setzte man auf eine zentrale Einheit, den NWDR, dem Nachfolger von Radio Hamburg, aus dem später der NDR und WDR werden sollte. Die Briten organisierten den neuen Rundfunk nach dem Vorbild der BBC. Nachrichten, Information und eine plurale Meinungsbildung waren den Briten das Wichtigste. Und doch: Auch wenn es nicht so schien, so war die Mischung aus populärer Musik, manchmal auch Avantgarde-Musik und aktueller Information eine subtile Propaganda, und zwar für die Integration der Bundesrepublik in die NATO und in die westliche Staatengemeinschaft. Man wollte anti-totalitäre, humane Werte vermitteln. Im Osten Deutschlands war die Propaganda deutlich weniger subtil, die Radioprogramme waren zentralistisch dem staatlichen Rundfunkkommittee unterstellt. In der Propaganda-Schlacht des Kalten Krieges gründete man in der DDR 1960 sogar zwei geheime Radioprogramme: 1956 den "Freiheitssender 904": "Der Freiheitssender 904 gibt jetzt das Wort der trotz Verbots kämpfenden kommunistischen Partei Deutschlands...". Und später, 1960, ein geheimes Soldatenradio namens "Soldatensender 935". "Hier ist der deutsche Soldatensender auf Mittelwelle 935 Kilohertz…" Höhepunkt der Propagandaschlacht in den 60er Jahren Die Programme richteten sich an westdeutsche Jugendliche und Armeeangehörige. Mittels viel westlicher Musik sollte die Meinungsbildung der jungen Hörer beeinflusst werden – und immer wieder wurden propagandistische Botschaften eingeflochten. Beide Sender, sowohl der "Freiheitssender", als auch der "Soldatensender" erweckten den Eindruck, als seien sie westdeutsche Untergrundradios. Wie viele Hörer das glaubten, und wie viele überhaupt einschalteten, ist nicht überliefert. Doch die Propagandaschlacht veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte: Anfang der siebziger Jahre beendete die DDR das Experiment der beiden Propagandasender und stellte die Programme ein.
von Michael Meyer
Nicht nur Adolf Hitler sah im Radio das ideale Beeinflussungsmedium. Auch im Nachkriegsdeutschland wurde das Radio von verschiedensten Interessengruppen zur Einflussnahme auf die Bevölkerung benutzt - was in den 60er Jahren zu einer regelrechten Radio-Propagandaschlacht zwischen Ost und West führte.
"2018-05-01T15:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:21.706000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radio-und-propaganda-die-radioschlacht-um-100.html
90,800
Boom der Wohnmobile durch Corona
In Coronazeiten sind Wohnmobile besonders beliebt (imago/penofoto) "Gerade am Wochenende ist es ganz schlimm: Freitag, Samstag, Sonntag – da kriegt man fast keinen Platz!" Sigi Blickle aus Albstadt hat aber trotzdem noch einen gekriegt - gerade noch, für ihr Reisemobil auf einem Wohnmobil-Standplatz oberhalb von Überlingen am Bodensee. Gerade in Zeiten, in denen die Angst vor die Angst vor der Infektion mit dem Coronavirus umgeht, ist für sie und, wie der große Andrang zeigt, für viele andere das Fahren mit dem Wohnmobil die beste Reisemöglichkeit: "Das ist ja wie das Zuhause. Man kann sich da aus dem Weg gehen. Man ist die zwei Meter auf jeden Fall weg. Das finde ich besser als in einem Hotel oder so." "Wir haben unsere Toilette. Wir können also ohne dass wir öffentliche Baderäume benutzen, uns selber hier versorgen. Das ist eigentlich schon wichtig", ergänzt Ruth Bock, Wohnmobil-Reisende aus Schwäbisch Hall. Ein Stück mehr Sicherheit im rollenden Eigenheim Reisen in Coronazeiten mit dem Wohnmobil - viele, die sich dafür entscheiden, erhoffen sich ein Stück mehr Sicherheit im rollenden Eigenheim. Und das spürt die Branche. "Der Mai 2020 war der bisher erfolgreichste Monat in der Geschichte mit über 10.000 neu zugelassenen Fahrzeugen in der Branche - und ein Plus über alle Kategorien von 16 Prozent. Bei den Reisemobilen waren es sogar um die 30 Prozent im Vergleichszeitraum zum Vorjahr. Das macht klar: Camping ist in aller Munde und im absoluten Trend in Zeiten von Corona", sagt Frank Heinrichsen, Marketingchef bei der Hymer GmbH und Co.KG, einer Unternehmenstochter der zur amerikanischen Thor-Industries gehörenden Erwin Hymer Group Bad Waldsee. Letztere gilt mit einem Jahresumsatz von über zwei Milliarden Euro als einer der größten europäischen Wohnmobilhersteller. Und Frank Heinrichsen weiß: Nicht nur die guten Hygienebedingungen im eigenen Wohnmobil haben den Boom verursacht, sondern auch die Flexibilität in der Auswahl des Reiseziels, falls über Nacht eine Region zum Risikogebiet erklärt werden sollte. "Das heißt, ich kann auf etwaige Reisebestimmungen ganz flexibel reagieren und mir das Ziel meines Urlaubs auch spontan auswählen." "Dass wir sagen können: Wir gehen nicht mehr in den Terminplan. Wir schauen im Internet: Wo ist schönes Wetter? Wann ist schönes Wetter? Und dann gehen wir los." "Ich finde, dass man sehr schöne Orte in sehr kurzer Zeit anschauen kann. Das finde ich das A und O. Und man kann immer sagen. Übermorgen gehen wir wieder weiter: Da gefällt es mir nicht." Billig ist der Wohnmobil-Urlaub nicht Auch außerhalb aller Corona-Problematik schätzen Wohnmobil-Fans wie Ruth Bock und Roland Kaiser die große Flexibilität des Reisens. Heute hier, morgen dort – das funktioniert bei Hotel- oder Cluburlauben so nicht. Allerdings: Billig ist das Urlauben mit dem Wohnmobil nicht. "Der Einstiegspreis bei einem kleinen Wohnmobil liegt bei so 50.000, 60.000 Euro." "So ein Fahrzeug braucht, ein gutes gebrauchtes Fahrzeug, da haben wir aber auch noch 75.000 bezahlt." Bei ganz luxuriöser Ausstattung kann es beim Neukauf auf gerne mal in Sechsstellige gehen. Und auch Mieten in Hochsaisonzeiten hat seinen Preis: Ein Wohnmobil für eine vierköpfige Familie für zwei Wochen kann da schnell mal die 2000-Euro-Grenze überschreiten. Der Beliebtheit der Wohnmobile tut das keinen Abbruch – trotz langer Lieferzeiten von zum Teil über einem Jahr – kein Wunder bei der derzeitigen Nachfrage. Ein Drittel aller Wohnmobil-Camper sind über 60 Jahre alt. Allerdings: Frank Heinrichsen von Hymer Bad Waldsee mag durchaus eine Verjüngung der Kundschaft erkennen: "Für uns bei Hymer stellen wir schon fest, dass wir junge Kunden bei unseren Händlern finden, vor allem aber viele Neueinsteiger. Und das sind sehr positive Signale, die uns optimistisch für die nächsten Monate stimmen"
Von Thomas Wagner
Im Coronajahr 2020 sind Wohnmobile besonders beliebt. Denn reisen und trotzdem im eigenen Bett schlafen, unter die eigene Dusche gehen – das geht halt nur im Wohnmobil. Und so meldet die Branche seit dem Frühjahr steigende Verkaufszahlen.
"2020-07-09T13:35:00+02:00"
"2020-07-10T10:03:02.567000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eigenheime-auf-raedern-boom-der-wohnmobile-durch-corona-100.html
90,801
Staatsanwaltschaft stärkt Ex-Präsident Keller
Ex-DFB-Präsident Keller: Steht in einer juristischen Auseinandersetzung mit Kommunikationsberater Diekmann. (IMAGO / Sven Simon) Die Frankfurter Strafbehörde hat jetzt eine Klage des früheren DFB-Beraters Kurt Diekmann gegen den damaligen Präsidenten Fritz Keller und dessen Büroleiter Samy Hamama eingestellt. Diekmann warf den beiden Verstöße gegen das Geschäftsgeheimnis vor, weil sie sich im DFB Zugang zu den Abrechnungen des Kommunikationsberaters verschafft hatten. Eine Rechnung tauchte später im ZDF auf. Die Staatsanwälte sehen keinen Verstoß darin, dass der Präsident Rechnungen sehen wollte: Vielmehr habe das Vorgehen Kellers und Hamamas zur Aufdeckung einer möglichen Straftat geführt. Es werde ja seit Monaten zu Diekmanns DFB-Vertrag wegen des Verdachts auf Untreue ermittelt. Vermutung: Kampagne gegen bestimmte DFB-Funktionäre Im Beschluss steht zudem Richtungsweisendes für weitere Verfahren. Denn die Behörde betrachtet die Anzeige Diekmanns als eine Instrumentalisierung der Straf-Justiz. Sie erklärt: "Man möchte meinen, unliebsame Funktionäre oder Führungskräfte des DFB sollten öffentlichkeitswirksam strafrechtlich angeprangert und dadurch aus dem Weg geschafft werden." Das ist der vorherrschende Verdacht. Diese Feststellung zertrümmert die Argumentation der früheren DFB-Spitze um Vize Rainer Koch, Schatzmeister Stephan Osnabrügge und Generalsekretär Friedrich Curtius, die Diekmanns mit 372.000 Euro bezahlte Tätigkeit stets als mediale Begleitung im Umgang mit einem Marketingpartner verkauften. Keller kündigt rechtliche Schritte gegen Diekmann an Der DFB teilte dazu mit, er habe sich an diesem Strafverfahren nicht beteiligt, auch habe der Agent als Privatperson geklagt. Das erstaunt. Denn Diekmanns Anzeige basierte auf Informationen, die ihm aus der DFB-Spitze zugespielt worden waren. Auch begehrte der Verband in diesem Fall sogar selbst wiederholt Akteneinsicht als "geschädigter Zeuge". Zudem übersandte der DFB den Behörden interne Akten und bot weitere an. Die kritischen Bewertungen der Staatsanwaltschaft weist der DFB als "nicht näher begründet" zurück – und verteidigt damit nun sogar die Position des Anzeigenstellers, der ja angeblich nur als Privatperson agierte. Der DFB sieht keinen Anlass, der Sache nachzugehen. Doch der nächste Ärger rollt schon an: Keller und Hamama kündigten am Montag juristische Schritte gegen Diekmann und Auftraggeber an. Nachzugehen sei der Frage, inwieweit der DFB geschädigt worden sei – auch dieses Thema warf die Staatsanwaltschaft in ihrem Beschluss auf.
Von Thomas Kistner
In den Machtkämpfen beim Deutschen Fußball-Bund soll zeitweise auch ein Kommunikationsberater namens Kurt Diekmann eine gewichtige Rolle gespielt haben, honoriert mit hunderttausenden Euros. Im Zusammenhang mit ihm hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt jetzt eine Entscheidung getroffen.
"2022-09-19T22:50:00+02:00"
"2022-09-19T21:56:31.649000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-zu-kommunikationsberater-diekman-beim-dfb-100.html
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Kita-Engpässe in NRW
Es ist Mittagszeit in der Kindergruppe "Kunterbunte Runde" in Essen. Wegen der Ferienzeit sind statt der üblichen neun nur drei Kinder da. Nebeneinander sitzen Alexander, Antonia und Elisa in ihren Kinderstühlchen und bekommen ihr jeweiliges Essen von ihrer Tagesmutter Stefanie Josch verabreicht. Den Vormittag hat die kleine Gruppe auf dem Spielplatz verbracht, deshalb hängen bei Alexander die Augenlider schon auf Halbmast. Wenn das Wetter zu schlecht ist, um rauszugehen, gibt es im oberen Stockwerk drei große Räume zum Toben, zum Spielen und zum Kuscheln."Der eine macht eine Sprachförderung, der andere bastelt, der andere – Bewegung, manche Kinder finden sich selber, spielen miteinander. Manchmal beobachten wir nur und begleiten, gucken eben, was können wir eben von den Räumlichkeiten so bieten, dass die Kinder alle gut versorgt sind."Stefanie Josch arbeitet zusammen mit einer Geschäftspartnerin in einem Tagesmutterverbund. Gemeinsam haben sie eine weitere Teilzeitkraft eingestellt. Das Team umfasst also eine Tagesmutter, eine Heilpädagogin und eine Kinderkrankenschwester. Das bietet sowohl für sie selbst als auch für die Kinder viele Vorteile, erklärt Karin Anhalt."Gemeinsam können wir reflektieren, wir können Angebote planen. Wir können uns mit dem Mittagessen und mit den Vorbereitungen abwechseln. Die Kinder können Bezugspersonen wählen, haben noch einmal mehr Ansprechpartner, haben unterschiedliche Angebote, wir ergänzen uns gut."Um halb acht morgens werden die ersten Kinder gebracht, um halb sechs abends werden die Letzten abgeholt. Wird es wegen einer Konferenz oder eines Geschäftstermins der Eltern einmal später, ist das für die Tagesmütter kein Problem. Es sollte aber die Ausnahme bleiben. Eine solche Betreuung ist natürlich bei Eltern sehr begehrt. Der "Verband alleinerziehender Mütter und Väter" vermittelt in Essen neben der Kunterbunten Runde noch 70 weitere Tagesmütter. Es sei kein Problem, sofort einen Betreuungsplatz zu bekommen, sagt eine Sprecherin. Wünsche könnten allerdings nicht immer berücksichtigt werden. Auch Verena, die Mutter der kleinen Elisa ist froh, ihre Tochter so gut untergebracht zu wissen. Ihre Suche bei anderen Sozialverbänden war zuvor wenig erfolgreich."Ich hatte mir mehrere Tagesmütter angeguckt und das waren sehr dramatische Zustände, wie ich fand. Zum Beispiel gab es auch Hunde oder Katzen und der Hund – da saß die Betreuerin direkt daneben, sodass ich schon Angst hatte, wenn die den Raum verlässt, dass halt irgendwas mit dem Hund passiert."Schon während ihrer Schwangerschaft hat die Juristin, die gerade für ihr zweites Staatsexamen büffelt, angefangen, nach einem Betreuungsplatz zu suchen. Erst im dritten Anlauf wurde sie fündig. Immerhin hatte sie eine Auswahl. Der Kita-Zweckverband des Bistums Essen gibt an, dass die Nachfrage nach U3-Betreuungsplätzen das Angebot deutlich übersteigt. Manche Kinder warten so lange, dass sie schließlich in das reguläre Ü3-Betreuungsangebot aufgenommen werden. Kommunen und Sozialverbände in Nordrhein-Westfalen arbeiten mit Hochdruck daran, mehr Erzieherinnen auszubilden und mehr Kitaplätze zu schaffen, sagt Klaus Schäfer, Staatssekretär des Landesministeriums für Kinder, Jugend, Kultur und Sport."Wir haben 28,1 Prozent an Tagesmüttern jetzt erreicht und insoweit gehe ich davon aus, dass auch die Kindertagespflege einen ganz, ganz wichtigen Beitrag liefert. Zumal die Kindertagespflege für bestimmte Elternkreise sehr attraktiv ist, weil sie viel flexibler reagieren kann, als eine Kindertagesstätte."1,4 Milliarden Euro will die NRW-Landesregierung bis 2018 ausgeben, um die Unter-Dreijährigen-Betreuung auszubauen. Auch die "Kunterbunte Runde" in Essen hat davon schon profitiert, erzählt Karin Anhalt."Einmal gibt es Gelder für Materialkosten, es gibt für Ausbau/ Umbau, wenn man jetzt Räume angemietet hat, dass man in Ausstattung investiert. Und da kann jede Tagesmutter Gelder beantragen, die dann meistens bewilligt werden. Wir haben das auch schon gemacht und dadurch unsere Räume erheblich aufgewertet."Die NRW-Landesregierung ist zuversichtlich, ab dem kommenden August jedem Kind einen Betreuungsplatz anbieten zu können. Die Frauen aus der Kunterbunten Runde sind gespannt, inwieweit sich ihre Arbeit dadurch verändern wird.
Von Andrea Groß
1,4 Milliarden Euro will die NRW-Landesregierung bis 2018 ausgeben, um die Unter-Dreijährigen-Betreuung auszubauen. Eine Alternative bieten Tagesmütter. Hier ist der Anteil in NRW auf über 28 Prozent gestiegen. Tagesmütter haben viele Vorteile, wie ein Beispiel aus Essen zeigt.
"2012-08-02T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:19:18.729000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kita-engpaesse-in-nrw-100.html
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Versteckte Klauseln in Riester-Verträgen
Aus drei Quellen speisen sich die Überschüsse von Versicherungen: Die Kapitalerträge könnten höher als kalkuliert ausfallen. Die Risiken könnten niedriger sein als gedacht. Und die meist üppig kalkulierten Kosten auch. Um die Beteiligung der Versicherten an Überschüssen, die aus niedrigeren Kosten herrühren, geht es im aktuellen Fall: Gibt es diese Überschüsse, müssen sie zu 50 Prozent an die Versicherten ausgeschüttet werden. Doch die Allianz-Lebensversicherung, so der Vorwurf von Verbraucherzentrale Hamburg und Bund der Versicherten, habe einen Weg gefunden, einkommensschwache und kinderreiche Inhaber eines staatlich geförderten Riester-Vertrages die Beteiligung an Kostenüberschüssen vorzuenthalten. Rechtsanwalt Joachim Bluhm arbeitet für die Verbraucherzentrale Hamburg: "Die Älteren, die Ärmeren und die Kinderreichen machen mindestens 50 Prozent aller Riesterrente-Versicherten de Allianz aus. Und die sind von einer Beteiligung an den Kostenüberschüssen ausgenommen nach bisheriger Vertragslage. Und das greifen wir an." Denn die Allianz hat festgelegt, nur der werde an Kostenüberschüssen beteiligt, der ein sogenanntes "Garantiekapital" von 40.000 Euro erreicht hat. Dieses Kapital erwächst nur aus den Sparleistungen der Kunden, nicht aus Zinsen und Zuschüssen. Wer wenig verdiene, also nur kleine Beiträge zahle, könne diese Summe nie erreichen, argumentieren die Kläger. Kinderreiche, die nur wegen der staatlichen Kinderzulage riesterten, auch nicht. Und Ältere, die spät einen Vertrag abschlössen, kämen auch nicht auf dieses "Garantiekapital". Warum die Allianz diese Grenze eingeführt hat, erklärt Allianz-Sprecher Udo Rössler so: "Wir sind nach den gesetzlichen Anforderungen gehalten, die Beteiligung nach einem verursachungsorientierten Verfahren zu machen. Und da die Verträge mit niedrigen Beiträgen nicht oder nur unwesentlich zu den Kostenüberschüssen beitragen, ist es verursachungsorientiert, diese Verträge nicht an den Kostenüberschüssen zu beteiligen." Verbraucherzentrale rechnet damit, Recht zu bekommen Die Kläger, Bund der Versicherten und Verbraucherzentrale Hamburg, rechnen nach dem bisherigen Prozessverlauf damit, heute Recht zu bekommen. Sie wollen eine uneingeschränkte Überschussbeteiligung. Zumindest müssten die umworbenen Versicherten vollständig informiert werden. Man dürfe ihnen nicht an einer Stelle des Versicherungsvertrages etwas versprechen, was an anderer Stelle wieder einkassiert werde. Das halten sie der Allianz nämlich auch vor: Sie verspreche etwas, was nach mehreren Verweisen in den Tiefen der Versicherungsbedingungen und des Geschäftsberichts wieder zurückgeholt werde. Zur Größenordnung der Kostenüberschussbeteiligung sagt Allianz-Sprecher Rössler: "Die Kostenüberschussbeteiligung trägt nur geringfügig zur gesamten Überschussbeteiligung eines Vertrags bei. Bei einem 20-jährigen Vertrag mit einem Garantiekapital von 40.000 Euro erhöht sich die Ablaufleistung in etwa um 500 Euro." Was tun, wenn das Urteil heute so kommt, wie es die Verbraucherschützer erwarten? Rechtsanwalt Joachim Bluhm: "Diejenigen, die nun aber bereits einen Vertrag bei der Allianz haben, sind gut beraten, die Allianz auf das Thema anzusprechen und zu sagen, sie erwarten eine uneingeschränkte Beteiligung auch an den Kostenüberschüssen. Dies auch dann, wenn das sogenannte Garantiekapital ihres Vertrags unter 40.000 Euro liegt." Die rechtliche Vertragslage ändere sich mit dem Urteil zunächst nicht. Dazu müsse es erst Rechtskraft erlangen.
Von Michael Braun
Das Oberlandesgericht Stuttgart muss darüber entscheiden, wie viel Kleingedrucktes in einem Riester-Rentenvertrag stehen darf. Konkret klagt die Verbraucherzentrale Hamburg gegen die Allianz, weil deren Verträge Klauseln enthalten, die Familien und Ältere benachteiligen.
"2014-01-23T00:00:00+01:00"
"2020-01-31T13:22:57.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rentenversicherung-versteckte-klauseln-in-riester-vertraegen-100.html
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Kleine Geschenke vollenden die Schöpfung
Purim-Fest in den Straßen von Tel Aviv: einander beschenken, um die Gemeinschaft zu stärken, gehört dazu (imago / Sergey Orlov) "Das wichtigste an Geschenken scheint mir zu sein, dass sie darauf ausgerichtet sind, eine Beziehung herzustellen. Zwischen dem, der gibt und dem der beschenkt wird", sagt Ulrike Offenberg, liberale Rabbinerin an der Gemeinde im niedersächsischen Hameln. "An den Geschenken ist ablesbar, wie wichtig der andere einem ist. Wie wichtig er wirklich einem ist. Oder ob es bei den Geschenken nicht viel mehr um einen selbst geht." In der jüdischen Tradition gibt es nach Ansicht von Offenberg nur wenige Festtage, an denen etwas geschenkt wird: Zum Beispiel zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana. Dann werden die Schöpfung und der Bund Gottes mit seinem Volk Israel gefeiert. Oder zum Pessach-Fest, bei dem des Auszugs der Israeliten aus Ägypten gedacht wurde. Geschenke gabs auch. Die Rabbinerin erzählt: "Da wurden die Kinder früher neu eingekleidet. …Ansonsten gab es eine Kultur des Schenkens zu Chanukka im Dezember – fällt ja meistens in dieselbe Zeit wie Weihnachten." Weihnachten weckt Erwartungen Chanukka ist das jüdische Lichterfest. Es sollte an die Errichtung des Zweiten Tempels erinnern. Aber unter dem Eindruck des Konsumrummels um Weihnachten herum, werde auch in jüdischen Familien diskutiert, was und wieviel man schenken darf. Denn auch jüdische Kinder hätten inzwischen enorme Erwartungen, dass sie nun beschenkt werden müssten, sagt die Rabbinerin. "Oder auch die Eltern oder Großeltern denken, man müsse die Kinder auch jetzt überhäufen mit Geschenken. Weil überall die ganze Kultur in den Geschäften, überall trillern Weihnachtslieder überall. Alles ist schon seit Frühherbst geschmückt für weihnachtliches Schenken. Und damit jüdische Kinder nicht das Gefühl haben, sie müssten da auf etwas verzichten oder sie müssten etwas entbehren, hat sich da eine Konkurrenzkultur ein bisschen entwickelt." Das Chanukka-Fest beginnt in diesem Jahr am 22. Dezember. Aber das Fest hat mit Schenken nicht wirklich was zu tun, meint die Rabbinerin: "Chanukka wird gefeiert in Erinnerung an den Makkabäer-Aufstand. Der also siegreich war und der den Tempel zurückerobert hat in Jerusalem. Und dass man eben wieder den Tempelgottesdienst führen konnte. Es ist also ein Fest der Bewahrung der Kultur." Essbares für Freunde Ein Fest, in dem es wirklich um das Schenken an sich geht, im Judentum geht, das ist Purim. Purim heißt übersetzt "Schicksal". An diesen Tagen erinnern sich jüdische Gemeinschaften an die Errettung ihres Volkes im Perserreich ein paar Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung. Da gab es einen Ministerpräsidenten namens Haman, der beschlossen hatte, alle Juden des Reiches zu ermorden. "Aus Ärger darüber, dass ein Jude sich vor ihm nicht verbeugt hat. Weil er gesagt hat, wir knien nicht vor Menschen nieder, sondern nur vor Gott. Das hat ihn empfindlich gekränkt und daraufhin wollte er alle Juden umbringen lassen. Das ist vereitelt worden mithilfe der mutigen Königin Esther, die auch eine Jüdin war. Und später nach dem Sieg über die Bedränger wurde dann ein Fest festgelegt für die künftige Zeiten. Was eben mit Freude begangen werden soll. Und man soll einander Geschenke schicken." Einander beschenken, um die Gemeinschaft zu stärken. Solche Rituale begegnen einem immer wieder in der jüdischen Religion. "Es ist da sogar eine Mizwa - also ein Gebot, zu schenken. Einmal gibt es "Mischloach Manot" – da soll man essbare Dinge an Freunde, Verwandte, Bekannte schicken. Das sollen Lebensmittel sein, die man auch sofort essen kann. Zum Beispiel ist es dann üblich, Haman-Taschen oder Kuchen oder irgendwelche dieser Leckereien, die purimspezifisch sind, zu schenken. Im Judentum habe man die bitteren Geschichten gerne umgewandelt in etwas Fröhliches und Süßes. Die Haman-Taschen zum Beispiel sind mit Mohn oder Datteln gefüllt. Die Rabbinerin sagt: "Das ist einfach so eine Legende, sie erinnern an die schmutzigen, dreckigen Ohren des Herzfe indes Haman. Aber sie schmecken sehr lecker!" Gabe für die Armen ist keine Wohltat, sondern Pflicht Gerechtigkeit und Fürsorge ist früh Thema in der jüdischen Kultur. Schon die Propheten forderten das immer wieder ein. Für Purim gibt es noch ein weiteres Gebot. Ulrike Offenberg: "Und das heißt: Mattanot La’ewjonim. Also Geschenke an die Armen. Das heißt, man ist verpflichtet, an mindestens zwei Leute Geschenke zu geben - möglichst in Geldform. Damit die sich eine Festtagsmahlzeit an dem Tag leisten können, mindestens. Zu den Geschenken ist man verpflichtet. Das heißt: Man ist da gar kein Wohltäter, sondern man kommt nur einer Pflicht nach." Im Judentum nennt man diese Pflicht Zedaka. Im Islam heißt es Zakat. Und es bezeichnet eine besondere Form der Wohltätigkeit. "Zedaka ist eher so etwas wie "umverteilende Gerechtigkeit". Dass heisst, wenn man jemand, der bedürftiger ist, etwas gibt, man stellt damit nur Gottes Gerechtigkeit wieder her." Die Gerechtigkeit Gottes wiederherstellen. Was das bedeutet, darüber haben sich jüdische Philosophen und Rabbis abgearbeitet und den Kopf zerbrochen. Der Mensch wird als Helfer Gottes in dessen Schöpfung gesehen. Geschenke zeigen, dass jemand diese Rolle ernstnimmt. Da geht es nicht um Krawatte und Socken auf dem Gabentisch, sondern um ganz Praktisches: Ein Fahrrad bezahlen, das der jüdischen Gast-Studentin gestohlen wurde. Oder um einen besonderen Rollstuhl, damit ein Behinderter weiter am Leben teilnehmen kann. Oder auch um eine Aufmerksamkeit, für den, der plötzlich allein ist. Ein solches Geschenk ist kein Almosen, keine herablassende Gabe - es zeugt davon, dass man sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist. Kreislauf der Gerechtigkeit Und irgendwann – das ist ein Zyklus, ein Kreislauf – irgendwann kommt diese Gerechtigkeit auch wieder zu einem zurück. Das lässt sich schwer übersetzen, dieses Konzept von Zedaka ins Deutsche. Der jüdische Glaube vereinigt im Verständnis von Zedaka beide Konzepte von Wohltätigkeit und Gerechtigkeit. Offenberg sagt: "Eigentlich der höchste Grad des Schenkens, wenn es nicht um Geburtstagsgeschenke geht, sondern um Geschenke von umverteilender Gerechtigkeit, ist das Geschenk, wo der Gebende oder die Gebende anonym bleibt. Unbekannt ist. Und der Empfänger durch diese Gabe in den Stand gesetzt wird, sich selbst zu unterhalten. Und künftig nicht mehr auf Geschenke angewiesen zu sein." Anonyme Spenden als Form der Fürsorge. Kategorie: selbstloses Schenken. In den jüdischen Gemeinden hatte sich das etabliert. Man sammelte Spenden ein und verteilte sie dann an Bedürftige aus der Gemeinde. Heute machen das auch große Verbände. Zum Beispiel die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Die Professionalisierung des Schenkens. Für das Schenken in der Familie gilt eher: Auch ein kleines Geschenk kann die große Schöpfung vollenden.
Von Mechthild Klein
Im Judentum gibt es kein Fest, das so wie Weihnachten einen Kaufrausch auslöst. Geschenke sollen der Gerechtigkeit dienen. Krawatten und Socken kommen selten auf den Gabentisch, Praktisches schon. Wenn jemandem das Rad geklaut wurde, gilt es als gerecht, ein neues zu schenken.
"2019-12-16T09:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:23:22.645000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geben-und-nehmen-in-den-religionen-judentum-kleine-100.html
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Gauland weist Kritik an Höcke zurück
Gauland: Es gab nie ein Amtsenthebungsverfahren gegen Höcke (Imago / IPON) Die AfD-Vorsitzenden Frauke Petry und Jörg Meuthen waren in einer E-Mail an die Parteimitglieder auf Distanz zu Höcke gegangen und hatten dessen Auftreten kritisiert. Gauland betonte, mit dem Schreiben sei Höcke nicht in die Schranken gewiesen worden, sondern Petry habe lediglich eine innerparteiliche Diskussion darüber anstoßen wollen, wie man Wähler am besten anspreche. Der Vorsitzende der AfD in Brandenburg sagte weiter: "Björn Höcke hat manche Bilder, die sehr national-romantisch sind, die man im 19. Jahrhundert gefunden hat, und das mag einige Leute stören, aber das hat überhaupt nichts mit der braunen Vergangenheit zu tun." Von daher sehe er nicht, warum man Höcke Vorwürfe machen müsse. Während seines Auftritts in der ARD-Talkshow "Günther Jauch" habe Höcke nichts gesagt, was dem Programm der AfD widerspreche, sagte Gauland weiter. Aber er sei trotzdem nicht ganz glücklich, wie sich sein Parteikollege dort verhalten habe. Mit dem Herausziehen der Deutschlandfahne habe Höcke die Grenzen des guten Geschmacks überschritten. Das Interview in voller Länge: Thielko Grieß: Björn Höcke ist Landeschef der Alternative für Deutschland in Thüringen. Er sitzt seit gut einem Jahr im Landesparlament in Erfurt. Die AfD stellt eine Fraktion, er ist Fraktionschef. Björn Höcke ist einer, der markig auftritt, zum Beispiel in Talkshows im Fernsehen am vergangenen Sonntag bei Günther Jauch, der mittwochs seit einiger Zeit zu Demonstrationen in Erfurt lädt, dort gegen die Asylpolitik der Großen Koalition wettert, der sich gelegentlich auch auf Luther beruft, eine vieltausendjährige europäische Geschichte beschwört, die er in Gefahr sieht, und zum Beispiel so klingt: O-Ton Björn Höcke: "Der Syrer, der zu uns kommt, der hat noch sein Syrien. Der Afghane, der zu uns kommt, der hat noch sein Afghanistan. Und der Senegalese, der zu uns kommt, der hat noch seinen Senegal. Wenn wir unser Deutschland verloren haben, dann haben wir keine Heimat mehr!" Grieß: Die Bundesvorsitzende der AfD, Frauke Petry, hat nun versucht, in einer Mail und in einem Gespräch Björn Höcke ein wenig in die Schranken zu weisen. Sein Stil und seine Wortwahl seien nicht geeignet, die AfD weiter als eine seriöse Partei ohne extremistische Neigungen erscheinen zu lassen. Am Telefon begrüße ich den stellvertretenden Bundesvorsitzenden und den Brandenburger Landeschef, Alexander Gauland. Guten Morgen, Herr Gauland. Alexander Gauland: Ja, guten Morgen. Grieß: Ist Björn Höcke der beste Rhetoriker der AfD? Gauland: Das weiß ich nicht. Das müssen diejenigen beurteilen, die auf solchen Kundgebungen sind. Grieß: Aber Sie waren ja auch schon mal da? Gauland: Ja. Ich glaube, er ist ein sehr guter Rhetoriker. Aber ich will nicht behaupten, dass er der Beste ist. Wir haben viele gute Redner. Grieß: Macht er Dinge falsch in seiner Rhetorik? Überspitzt er zu sehr? Rückt er die AfD zu sehr in die rechte Ecke, zu sehr an die NPD heran? Gauland: Das sehe ich nicht. Jeder von uns spricht anders, tritt anders auf, hat andere Bilder. Björn Höcke hat manche Bilder, die sehr national-romantisch sind, die man im 19. Jahrhundert gefunden hat, und das mag einige Leute stören. Aber das hat überhaupt nichts mit der braunen Vergangenheit zu tun und von daher kann ich nicht finden, dass wir ihm da irgendwelche Vorwürfe machen müssten. "Ich glaube nicht, dass Frauke Petry ihn in die Schranken gewiesen hat" Grieß: Das Beschwören der tausendjährigen deutschen Geschichte, der mehrtausendjährigen europäischen Geschichte, das ist ein Stil, den manche stört, sagen Sie. Stört Sie das auch persönlich? Gauland: Ich habe in Halle auch von dem über tausendjährigen Halle gesprochen. Ich benutze das Wort selten, aber das kann man mal benutzen, hat aber auch nichts mit dem Tausendjährigen Reich zu tun, auf das Sie hier ansprechen wollen. Grieß: Das weiß ich noch gar nicht, ob ich darauf ansprechen wollte. Ich habe mich zunächst einmal an Ihre Formulierung angelehnt. Nun hat Björn Höcke ja eine Mail bekommen von der Bundeschefin Frauke Petry und es ist wohl auch mit ihm telefoniert worden. Warum muss man ihn denn dann überhaupt sozusagen in die Schranken weisen? Gauland: Ich glaube nicht, dass Frauke Petry ihn in die Schranken gewiesen hat, sondern ich glaube, dass sie eine Diskussion innerparteilich eröffnet hat, die allerdings sofort nach draußen gedrungen ist. So ist das heutzutage. Und eine innerparteiliche Diskussion darüber, wie sich jemand ausdrückt und welche Menschen wir ansprechen wollen, das ist bestimmt richtig und gut. Ich hätte mir gewünscht, dass es innerparteilich geblieben wäre und nicht jetzt ein Thema der Medien ist. Grieß: Es ist berichtet worden darüber, dass es heute, am Freitag, noch einen Beschluss geben soll in der AfD, der Alleingänge wie die von Björn Höcke künftig verhindern soll. Stimmt das? Gauland: Nein, das stimmt nicht. Ich kenne die Tagesordnung und da wird das Thema zwar angesprochen. Aber was heißt Alleingänge verhindern? Wir alle sind ununterbrochen unterwegs in der Republik und reden, ohne dass es irgendwelche Beschlüsse vorher gibt, und das wird auch weiter so bleiben. Grieß: Alleingang könnte man das nennen nach Art der Wortwahl und des Stils, was Björn Höcke am vergangenen Sonntag bei Günther Jauch gezeigt hat. Gauland: Ob man das Alleingang nennen kann, weiß ich nicht. Aber ich bin auch mit einigem nicht ganz glücklich, wie er sich bei Günther Jauch aufgeführt hat. Aber auch das ist ein Problem, das wahrscheinlich jeder von uns individuell anders löst. Er hat bei Günther Jauch nichts gesagt, was jenseits des Programms oder der Vorstellungen der AfD liegen würde, aber er hat, sagen wir mal vorsichtig, mit einigen Dingen wie dem Rausziehen der Deutschlandfahne meiner Ansicht nach eine Grenze des guten Geschmacks überschritten und das hätte ich nicht gemacht. Aber das hat immer noch nichts mit den Inhalten zu tun, die alle richtig und korrekt waren im Sinne der AfD. Grieß: Es gab mal den Beginn eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Björn Höcke. Was ist daraus geworden? Gauland: Es gab nie ein Amtsenthebungsverfahren. Ja, es gab mal einen Beschluss. Der sollte durchgedrückt werden. Aber das war noch in der Zeit vor dem Essener Parteitag, dass er bestimmte Aufgaben nicht mehr wahrnehmen sollte. Das haben wir eingestellt nach dem Essener Parteitag. "Solche Demonstrationen sind wichtig" Grieß: Herr Gauland, Pegida demonstriert montags in Dresden. Björn Höcke lässt demonstrieren mittwochs in Erfurt. Für Sie in Potsdam wäre zum Beispiel noch der Dienstag frei. Gauland: Ich halte nichts von solchen Demonstrationen an irgendeinem Tag. Wir werden in Cottbus demonstrieren am 4. 11. oder 2. 11., weiß ich im Moment gar nicht. Ich bin im Moment weit weg. Aber auch wir werden in Brandenburg demonstrieren. Wir hatten schon eine, wenn auch kleinere Demonstration vor dem Landtag. Ja, solche Demonstrationen sind wichtig, richtig, und das macht Björn Höcke auch richtig, denn wir können und wollen nicht vor Asylbewerberheimen demonstrieren, aber wir müssen ganz deutlich machen, dass diese Asylpolitik völlig falsch ist, und wir müssen die Regierenden angreifen, denn dazu sind wir von unseren Wählern verpflichtet. Grieß: Deutschland braucht eine Obergrenze bei Asylverfahren? Gauland: Das haben wir ja ganz deutlich gesagt. Das Asylrecht ist nur in Deutschland ein individuelles subjektives Recht. Das wird sich nicht mehr halten lassen. In allen Ländern der Welt ist das anders. Nirgendwo gibt es ein solches subjektives Recht und wir müssen zurück zu diesen völkerrechtlichen Regeln, die in Australien, den USA, Großbritannien, Frankreich gelten, und von daher glaube ich, dass das in der Tat die langen Asylverfahren kürzen würde. Grieß: Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Alternative für Deutschland, Alexander Gauland. Ich bedanke mich für das Gespräch. Gauland: Ja, danke. Auf Wiederhören! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alexander Gauland im Gespräch mit Thielko Grieß
Der stellvertretende AfD-Parteivorsitzende Alexander Gauland verteidigt den thüringischen Landeschef Björn Höcke gegen Kritik. Dieser habe manchmal Bilder, die sehr "national-romantisch" seien. Das könne einige Menschen stören, habe aber "überhaupt nichts mit der braunen Vergangenheit zu tun", sagte Gauland im DLF.
"2015-10-23T06:50:00+02:00"
"2020-01-30T13:05:35.682000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/afd-gauland-weist-kritik-an-hoecke-zurueck-100.html
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Welche Dosis macht das Gift?
Die Politik versucht, die Schädlichkeit von Umweltgiften mit Grenzwerten zu minimieren. Reicht das? (imago stock&people) Die Dosis macht das Gift. Es gibt Hinweise, die das Gegenteil dieser vermeintlich gesicherten Aussage nahelegen, nämlich dass Umweltchemikalien auch in kaum nachweisbaren Spuren den Einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes schädigen. Bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten uns all die Gifte, rechnet eine Studie des US-Amerikaners Philippe Grandjean vor. Andererseits steigen in Deutschland Lebenserwartung und Wirtschaftsleistung seit Jahren an. Wie passt beides zusammen? Welche Gifte sind in welcher Konzentration tatsächlich fatal für sich entwickelnde Gehirne? Welche führen zu Unfruchtbarkeit und welche triggern Krebs? Wer nach Antworten sucht, stößt auf eine unübersichtliche Landschaft, in der bösartige Giftzwerge und gutmütige Scheinriesen umherziehen. Im Medizinstudium Anfang der Siebziger in Kopenhagen hörte Philippe Grandjean nichts über giftige Chemikalien. Weit weg, in Japan, hatte eine Chemiefabrik da schon jahrzehntelang quecksilberhaltige Abwässer einfach in einen Fluss geleitet. Minamata ist zum Begriff geworden für einen der größten Umweltskandale. "Davon erfuhr ich nur, weil mein Bruder bei der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm war. Ich saß vor dem Fernseher, meinen Bruder habe ich nicht entdeckt. Aber es gab Bilder von einer Demonstration. Patienten aus Japan wollten zeigen, dass Umweltgifte tödlich sein können, dass sie schreckliche Krankheiten auslösen. Diese Leute waren aus Minamata und litten an einer Vergiftung mit Methylquecksilber. Das hat mich sehr bewegt." Seit 1972 hat sich viel getan. Nicht nur für das hochgifte Quecksilber wurden strenge Regeln beschlossen. Aber Philippe Grandjean ist immer noch nicht zufrieden. Im Gegenteil: "Bei Blei konnten wir es zum ersten Mal nachweisen, dann bei Quecksilber aus Fisch, dann bei den PCBs und bei Pestiziden. Langsam wurde uns bewusst: diese Substanzen schädigen die Gehirnentwicklung. Als wir dem nachgingen, sahen wie die Effekte bei niedrigeren und immer niedrigeren Konzentrationen. Das gilt wohl für sehr viele Chemikalien." Schädigungen auch unterhalb der Grenzwerte Schwermetalle in der Nahrung, giftige Chemikalien auf der Haut, dicker Smog - klar ist das gesundheitsschädlich und manchmal tödlich. Deshalb gibt es Grenzwerte. Und Grenzwerte haben viel bewirkt, keine Frage, Aber gerade weil zum Beispiel die Luft sauberer geworden ist, sehen wir die subtilen Effekte. Im Niedrigdosisbereich sind sehr viel mehr Frauen, Männer, Kinder betroffen, als von den großen Giftkatastrophen. "In den Bereichen auch unterhalb der europäischen Grenzwerte sehen wir ganz klare Zusammenhänge zwischen der Luftqualität und vorzeitiger Sterblichkeit, Herzinfarkten, Schlaganfällen, mit Einschränkungen der Atemfunktion, mit einer Einschränkung des Lungenwachstums bei Kindern." Das ist Barbara Hoffmann. Sie ist Mitglied der Kommission Umweltmedizin beim Bundesgesundheitsministerium. Auch dort stehen die Niedrigdosis-Effekte immer häufiger auf der Tagesordnung. Bleibelastung senkt IQ Als der angehende Umweltmediziner Philippe Grandjean die Bilder der Menschen mit Quecksilbervergiftung aus der Japanischen Stadt Minamata sah, hat das nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen: "Ich fragte mich, warum erfahre ich davon nichts an der Uni? Ich habe mich selbst weitergebildet und dann noch in der Ausbildung meinen ersten Artikel über Bleivergiftungen geschrieben." Bleivergiftungen sind eigentlich ein alter Hut. Schon der griechische Arzt Dioskurides nutzte Blei zwar als Heilmittel, warnte aber auch: "Blei lässt den Geist schwinden." Das traf vor allem Arbeiter, die mit Blei zu tun hatten. 1904 wurden dann die ersten Vergiftungen bei Kindern durch bleihaltige Farbe dokumentiert. Trotzdem wurde immer mehr Blei verarbeitet. In den 1970ern dann die ersten Verbote. Die Bleibelastung ging deutlich zurück. Ein großer Erfolg der Umweltgesetzgebung. Aber das Schwermetall war in der Welt: als weiße Bleifarbe an alten Fenstern, in Wasserrohren in manchen Altbauten, vor allem aber fein verteilt in vielen Böden, weltweit und auch in Deutschland. Nicht nur Erdbeeren enthalten Spuren von Blei. Unerheblich, könnte man meinen, aber Philippe Grandjean und andere Forscher konnten zeigen, dass es bei Blei keine verlässlichen Grenzwerte gibt. "Die einzige sichere Konzentration von Blei liegt bei Null. Auch winzige Mengen sind toxisch." Akute Symptome fehlen und trotzdem schädigt das Schwermetall bei Erwachsenen auf Dauer das Herz-Kreislaufsystem. Laut einer aktuellen Studie lassen sich in den USA jedes Jahr 400.000 Sterbefälle der niedrigschwelligen Bleibelastung zuschreiben. Phillipe Grandjean konzentriert sich in seiner Forschung auf die Hirnentwicklung bei Kindern. Dabei hat er beobachtet: Je höher die Bleikonzentration im Blut, desto schlechter schneiden sie im Durchschnitt in Intelligenztests ab. Besonders irritierend: Wenn man sich den Zusammenhang ansieht, dann steigt die Kurve gerade am Anfang steil an. Ein Großteil der Effekte tritt also schon bei ganz kleinen Konzentrationen von Blei auf. "Man kann sagen, das ist eine stille Pandemie, es gibt keine neuen Diagnosen, die Kinder entwickeln aber weniger Talente, als sie sonst gehabt hätten. Nach unseren Berechnungen ist Blei nach wie vor die Nummer eins unter den Chemikalien, die das Gehirn von Feten und Kindern schädigen. Wir müssen die Bleibelastung noch weiter senken." 2017 hat eine Studie ermittelt, wie viel Blei Kinder in den Niederlanden zu sich nehmen und welchen Einfluss das auf ihren IQ haben wird. "Bei den bis zu Siebenjährigen führen die beobachteten Konzentrationen zu einem Absinken des IQ-Werts um 1,7 Punkte." Vor allem in Farben und Lacken der Spielwaren können Schwermetalle enthalten sein (dpa / Matthias Bein) Wirtschaftliche Auswirkungen Niemand bemerkt, ob ein bestimmtes Kind 1,7 IQ-Punkte mehr oder weniger erreicht, und trotzdem kann die Belastung über die Jahre Auswirkungen haben. Philippe Grandjean hat nicht nur Blei untersucht: "Kinder, die kurz vor und nach der Geburt Substanzen ausgesetzt sind wie Blei, Quecksilber über Fisch, Pestizide und so weiter, die werden einen etwas geringeren IQ erreichen. Sie werden nicht so hohe Schulabschlüsse bekommen und weniger gut verdienen." Niemand weiß, welches Potenzial dieses Mädchen oder dieser Junge gehabt hätten. Erst große Vergleichsstudien zeigen: Auf der Ebene der Gesellschaft gibt es hier ein relevantes Problem - das nach Meinung von Philippe Grandjean weder von den Regierungsbehörden noch von der Politik ernst genug genommen wird. Deshalb hat sich der Umweltmediziner mit Wirtschaftswissenschaftlern zusammengetan und seine Sorgen in Cent und Euro umrechnen lassen. "Ökonomen können den Verlust eines IQ-Punkts in einen Einkommensverlust übersetzen. Hier geht es um Milliarden von Euro jedes Jahr, verursacht durch den IQ-Verlust, weil junge Deutsche mit diesen Giften im Körper geboren werden. Ohne Daten keine Einschränkungen Kleine Effekte können sich summieren. Dabei hat Europa doch eigentlich einen Sicherheitsschirm zur Bewertung und Kontrolle gefährlicher Substanzen: REACH. Zuständig in Deutschland ist das Bundesinstitut für Risikobewertung. "Wir können uns nicht um alle registrierten Stoffe kümmern. 20.000 Stoffe sind registriert. Wir sind dafür zuständig, die besonders problematischen herauszufiltern, uns zu denen ein Bild zu machen und dann zu prüfen, ob Maßnahmen nötig sind, die wir dann vorschlagen können." Agnes Schulte, Leiterin der Fachgruppe Chemikaliensicherheit, arbeitet sich mit ihren Kollegen aus ganz Europa durch ein Datengebirge. Denn das Grundprinzip der Chemikalienrichtlinie lautet: no Data - no market, ohne Sicherheitsdaten keine Vermarktung. Bei Blei liegen die Daten vor. Es ist klar: Einen sicheren Grenzwert gibt es nicht, hier kommt es darauf an, die Belastung der Verbraucher Schritt für Schritt zu reduzieren. "Da kann man natürlich unter REACH etwas machen und hat natürlich auch schon ganz viel gemacht. Da gab es in den letzten Jahren eine Beschränkung, die Blei für die Verwendung in Modeschmuck und Schmuck vorgesehen hat. Das ist längst umgesetzt worden von der EU-Kommission." Nächstes Jahr wird wohl auch bleihaltige Jagdmunition in Feuchtgebieten verboten. "Der Punkt ist aber natürlich, man kann nicht hingehen und einen Stoff generell verbieten für alle Verwendung. Es muss erst einmal der Nachweis über ein annehmbares Risiko vorliegen und ich muss genau identifizieren, wo dieses Risiko herkommt. Also wenn ich nicht weiß, woher mein Eintrag stammt, kann ich jetzt nicht berechtigt jede Verwendung verbieten. Das ist nicht möglich." Ohne Daten keine Einschränkungen. Die Hersteller prüfen die Gefährlichkeit von Chemikalien in Tierversuchen und zwar in einer hohen, einer mittleren und einer niedrigen Dosis. Die muss so gewählt werden, dass bei den Mäusen oder Ratten keine gesundheitlichen Probleme auftreten. Das ist nach Ansicht von Agnes Schulte der wichtigste Schutz vor unerwarteten Wirkungen bei kleinen Konzentrationen. "Wenn wir Studien haben, die eine Dosis ohne Effekt zeigen, dann habe ich da jetzt nichts übersehen, sagen wir mal so." Andererseits: Tierversuche bilden nicht das ganze Gefährdungspotenzial ab. "Sie können natürlich keine Aussagen machen zu Effekten, die Sie nicht untersuchen. Ein Test an Ratten wird nie eine Studie zu verschiedensten kognitiven Leistungen beim Kind ersetzen. Das können wir natürlich einfach nicht. Das geht nicht." Kombinierte Grenzwerte für Weichmacher Das Bundesinstitut für Risikobewertung sichtet neben den Industriestudien deshalb auch breit die wissenschaftliche Literatur. Das ist alles andere als einfach. Beispiel Phthalate. Diese Substanzen stehen in Verdacht, hormonähnliche Wirkung zu haben und dadurch zum Beispiel Übergewicht und die Zuckerkrankheit zu begünstigen. Agnes Schulte betont hier, dass man all die unterschiedlichen Stoffe nicht über einen Kamm scheren darf. Die Industrie verwendet eine große Vielfalt an Phthalaten als Weichmacher in Kunststoffen. Bei den Analysen hat sich Agnes Schulte erst einmal auf das Phthalat konzentriert, von dem in Europa am meisten produziert wird. "Und das, was wir zu diesem Stoff gefunden haben, war, dass er ausreichend geprüft war und wir haben auch keine gefährlichen Stoffeigenschaften identifizieren können, somit auch kein Risiko für den Verbraucher identifizieren können. Der Verbraucher möchte ja auch viele Produkte haben, dann denke ich, es ist auch gut, wenn wir wissen, dass diese Stoffe sicher sind für den Verbraucher." Gerade für das wichtigste Phthalat gab REACH also Entwarnung. Es gibt aber eine Gruppe von vier anderen Phthalaten, die das Hormonsystem tatsächlich durcheinanderbringen. Und weil sie alle die Zellen auf die gleiche Weise stören, verstärken sich ihre Effekte sogar gegenseitig. Darauf wird die EU jetzt mit einem kombinierten Grenzwert reagieren. "Also das ist das Prinzip, was man anwendet, um sicherzustellen, dass nicht ein einzelnes Phthalat darüber geht oder mehrere gemeinsame eben den Grenzwert überschreiten." Mit der Strategie der kombinierten Grenzwerte will REACH die Wechselwirkung von Chemikalien in den Griff bekommen. Das sind gute Ansätze, findet Philippe Grandjean, sie gehen ihm aber nicht weit genug. "Ich muss anmerken, dass wir für die Zulassung neuer oder breit eingesetzter Chemikalien nicht einmal nach Tests fragen, die eine Giftwirkung auf das sich entwickelnde Gehirn erkennen könnten. Wir prüfen das einfach nicht. Und so sind viele Pestizide zugelassen worden, die sich später als schädlich für die Gehirnentwicklung herausgestellt haben." Es dauert lange, bis sich die Schäden verlässlich nachweisen lassen. Zeit, in der Kinder und Erwachsene den Substanzen weiter ausgesetzt sind. Schon bei einem Verdacht mit Verboten zu reagieren ist aber unter REACH nicht vorgesehen: ohne Daten keine Einschränkung. Und die Datenlage ist eben oft alles andere als eindeutig. "Das Problem mit Effekten im Niedrigdosisbereich ist ja auch, dass sie dann mehrere Studien haben, die alle unterschiedliche Niedrigdosiseffekte haben, dann fragen Sie sich: Ist da eine ausreichende Beweiskraft da zu sagen, dass dieser einzelne Niedrigdosiseffekt, dass das ein robuster Effekt ist, den sie jetzt regulieren sollen? Also der stellt sich für uns immer. Und das ist häufig nicht der Fall." Luftschadstoffe verringern Produktivität am Arbeitsplatz REACH ist vor allem für die Kontrolle von Industriechemikalien zuständig. Es gibt aber noch viel mehr Substanzen, die auch in kleinen Dosen ungesund sind. Bestes Beispiel: Luftschadstoffe. "Viele Forschungsprojekte zeigen, es gibt jenseits von Krankenhausaufenthalten und Sterbefällen auch Einflüsse auf die Produktivität am Arbeitsplatz. Also die Leute fühlen sich wohl genug, um zur Arbeit zu gehen. Es geht ihnen nicht so schlecht, dass sie sich dort krank fühlen, aber ihre Produktivität sinkt." Umwelt, Gesundheit und Ökonomie hängen eng zusammen, davon ist Mathew Neidell überzeugt. Und das nicht erst, wenn der Smog so dick ist, dass man kaum die nächste Straßenecke erkennt. Der Wirtschaftswissenschaftler ist von seiner Universität in New York zu den Obstpflückern nach Kalifornien gereist. An Tagen mit hohen Ozonwerten ernten sie etwa fünf Prozent weniger Beeren oder Trauben. Das fällt ihnen auf den Plantagen kaum auf. Aber am Abend haben sie weniger verdient, denn in den Betrieben wird nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach Kilo Obst bezahlt. "Wir halten das für einen beachtlichen Effekt. Diese Leute verdienen oft kaum den Mindestlohn. Wenn ihr Einkommen um fünf Prozent sinkt, dann fällt ihnen das auf." Bodennahes Ozon entsteht zum Beispiel, wenn UV Strahlung auf Stickoxide trifft. Das Gas ist reaktiv, die Halbwertszeit kurz, deshalb spielt es in Innenräumen kaum eine Rolle. Dafür sorgt in Werkhallen und Büros der Feinstaub für Probleme und das selbst in kleinen Konzentrationen. Mathew Neidell kann das mit Statistiken aus Callcentern in Indien belegen. "Da gibt es ähnliche Muster. Sobald die Verschmutzung anstieg, wurden weniger Anrufe angenommen, die Leute machten mehr Pausen. Aber wir haben auch gesehen, wie ihre Produktivität sank." Sogar die Banker an der New Yorker Börse verdienen weniger, wenn die Luft nicht so frisch ist. Es gibt inzwischen also genug Daten zu den Niedrigdosiseffekten. Und doch bleibt der Statistik-Experte Walter Krämer vom RWI- Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung in Essen skeptisch. "Die Epidemiologie ist da ein bisschen unter Beschuss geraten. Denn um einen kleinen Effekt zu isolieren, muss man natürlich alle anderen kleinen Effekte konstant halten oder muss man raus rechnen. Und das ist eine sehr, sehr schwierige Kunst, sodass sehr oft Scheineffekte entdeckt werden, die gar nicht existieren." Die Luftqualität hat Auswirkungen auf die Produktivität am Arbeitsplatz (imago) Krämer rät zur Zurückhaltung, gerade weil die Diskussion auch eine wichtige psychologische Dimension hat. Risikowahrnehmung und Bedrohung klaffen auseinander "Sobald von einem Risiko in der Öffentlichkeit gesprochen wird, existiert es auch im Bewusstsein der Leute. Auf jeden Fall sagt das Bauchgefühl dann den Leuten: Jeder Todesfall ist zu viel." Thorsten Pachur beschäftigt sich am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit der Wahrnehmung von Risiken und stellt immer wieder fest: Die Wahrnehmung eines Risikos und die tatsächliche Bedrohungslage klaffen häufig auseinander. Giftzwerge blähen sich auf zu Scheinriesen. Und neue Gefahren gelten den Menschen dabei als besonders gefährlich. "Insbesondere sind es auch Gefahren, die sie nicht selber kontrollieren können, und wenn sie wahrnehmen, dass sie einer gewissen Gefahr quasi schutzlos ausgeliefert sind und beispielsweise nichts - nicht direkt zumindest - gegen die Gefährdung durch die Umweltverschmutzung tun können, dann fühlen sie sich einem gewissen Risiko ausgesetzt und empfinden das eben auch subjektiv mit ihrem Gefühl, mit ihrem Bauchgefühl als risikoreich." Der Griff zur Zigarette oder der Fallschirmspringer sind im Grunde bekannt und vor allem: Jeder entscheidet für sich selbst. "Was man aus dem Umgang von Menschen mit Risiko weiß ist, dass selbst wenn die Gefahr sehr, sehr, sehr klein ist, also hier beispielsweise die Wahrscheinlichkeit 0,00001 Prozent ist, machen die Leute sich viel mehr Sorgen, als wenn die Gefährdung tatsächlich Null ist. Und die Leute sind bereit, sehr große Geldbeträge auch zu zahlen, um eben so ein Risiko vollkommen zu reduzieren." "Aber das ist ja irrational, weil Null Risiko gibt es ja praktisch nie?" "Korrekt. Aber das hat damit zu tun, dass es überhaupt solche kulturellen Errungenschaften gibt wie Medien, da hören wir von Risiken, die uns möglicherweise, sehr wahrscheinlich im Alltag nie begegnet wären. Und das führt dann eben auch zu einer gewissen Verzerrung." Belastung vorgeschädigter Personen Aus einer Vielzahl von psychologischen Gründen starrt die menschliche Wahrnehmung wie mit einer Lupe auf die Niedrigdosiseffekte. Sind die Sorgen also irrational? Schließlich geht es den Menschen in Deutschland im Durchschnitt ziemlich gut! Das stimmt, nur einigen eben nicht, und die kommen in die Sprechstunde von Annette Peters. "Aus meiner Sicht kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass manches, was wir hier diskutieren, Luxusprobleme sind. Aber die Perspektive ändert sich möglicherweise, wenn man Asthmatiker ist oder wenn man sozusagen schon unter einer Vorerkrankung leidet. Von seinem Lebensstil her alles richtig macht, aber trotzdem immer wieder Symptome hat. Das heißt, wir haben ja eigentlich die Vorstellung, dass wir alle Personen in der Bevölkerung schützen. Und von daher, denke ich, ist es letztlich kein Luxusproblem." Die Direktorin des Institutes für Epidemiologie am Helmholzzentrum München kennt natürlich die Unsicherheiten großer Studien. Deshalb versucht sie, die Zusammenhänge im Detail zu klären. "Wir haben Freiwillige eingeladen, ein Messgerät mit nach Hause zu nehmen, ihre Aktivitäten aufzuschreiben und die Personen waren so toll, dass sie praktisch das bis zu siebenmal gemacht haben, weil wir das eben nicht nur einmal machen wollten, die Schadstoffe zu Hause messen und im Verkehr sondern auch wiederholt. Und wir haben dann zum Beispiel gesehen, dass in der Tat eine hohe Belastung zu ultrafeinen Partikeln, also zu verkehrsabhängigen Partikeln, den Herzrhythmus verändert. Nicht so, dass es bei einer gesunden Person wirklich schädlich sein kann, aber doch so, dass möglicherweise eine Person, die ein starkes Risiko für Herzrhythmusstörungen hat, da eben auch eine klinisch relevante Arhythmie ausgelöst werden könnte." "Das sind jetzt ja Effekte, die noch unterhalb dieses Levels einer wirklichen Krankheit stattfinden, die sich auch gar nicht unbedingt zum Herzinfarkt weiterentwickeln. Geht es im Grunde eher um, sagen wir mal, Befindlichkeitsstörungen?" "Aus unserer Sicht sind diese Effekte sehr wohl relevant, wenn man sich überlegt, dass im Prinzip die gesamte Bevölkerung zum Teil in diesem Niedrigdosisbereich Umweltschadstoffen ausgesetzt ist." Asthmatiker können schon durch niedrige Schadstoffbelastung beeinträchtigt werden (dpa / PA Wire / Peter Byrne) Grenzwerte schützen nicht effektiv vor Gesundheitsfolgen Die Belastungen betreffen im Grunde alle Menschen und sie werden auch nicht an einigen wenigen Tage mit Inversionswetterlage erreicht, sondern im Alltag, im ganz normalen Leben, Tag für Tag, Jahr für Jahr. So erklärt sich Barbara Hoffmann, dass diese kleine, aber chronische Dauerbelastung unterhalb der Grenzwerte Folgen hat. Barbara Hoffmann forscht an der Universität Düsseldorf und ist stellvertretende Vorsitzende der Kommission Umweltmedizin, die das Bundesgesundheitsministeriums berät. Sie sagt: Sowohl Politik als auch Forschung müssen reagieren. "Insbesondere für die chronischen Effekte brauchen wir ganz andere Studiendesigns, da müssen wir über viele Jahre hinweg große Bevölkerungsgruppen beobachten und schauen, vergleichen, inwieweit diejenigen, die in stärker verschmutzten Gegenden leben, welche Krankheiten, wie viele Krankheiten die über einen langen Zeitraum entwickeln und die dann vergleichen mit anderen Menschen, die in sauberer Luft leben. Also Studien müssen sehr groß sein, mit vielen tausenden Probanden und wir müssen die auch über viele Jahre beobachten." "Und gibt es da schon erste Ergebnisse, dass zum Beispiel meinetwegen Stickoxide besonders problematisch sind oder Feinstaub oder Ozon, dass es da klare Schuldige gibt, die man auch angehen könnte?" "Ja das gibt es schon. Wir wissen schon seit langem, dass der Feinstaub die Mortalität, also die Sterblichkeit erhöht und viele Krankheiten auslöst, auch im Niedrigdosisbereich. Aus der bisherigen Evidenz kann man sagen: Wir kennen bisher keinen Wert, unterhalb dem Feinstaub ungefährlich wäre. In Europa ist der Grenzwert zur Zeit bei 25 µg/Kubikmeter, die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt einen Wert von 10 µg/Kubikmeter, aber selbst unterhalb dieser 10 µg können wir Gesundheitseffekte auf die Mortalität und auch auf das Eintreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen erkennen. Und was wir bisher sehen, ist, dass die Wirkung pro Mikrogramm in dem unteren Bereich, also bei niedrigeren Belastungen, sogar stärker ist als im höheren Bereich. Also speziell so in den Dosisbereich, in dem wir uns jetzt befinden, bringt jedes Mikrogramm pro Kubikmeter Abnahme der Luftverschmutzung einen noch größeren Gesundheitsgewinn." "Heißt das, dass man die Grenzwerte im Grunde nach unten anpassen muss? Ich meine, es werden die geltenden Grenzwerte sowieso schon nicht immer erreicht." "Ja, das heißt, dass die Grenzwerte, so wie wir sie zur Zeit in Europa haben, die Bevölkerung nicht effektiv vor den Gesundheitsfolgen der Luftverschmutzung schützen. Und deswegen sollten die Grenzwerte auch abgesenkt werden." Annette Peters: "Was bedeutet, dass man in gewisser Weise auch eine gesellschaftliche Debatte braucht: Wie viel Gesundheit und wie viel saubere Umwelt können wir uns leisten? Weil es eben diese bequeme Vorstellung, es gibt ein Level, darüber ist es ganz schlimm und da drunter ist es ganz unschädlich, nicht gibt. Und das scheint so zu sein, dass je genauer man hinschaut, dies für eine ganze Menge von Umweltschadstoffen gilt. Unterschiedliche Einschätzungen des Risikos Auch wenn Umweltgifte in unserer Wahrnehmung oft überbewertet werden, so bleiben sie doch, was sie sind: Gifte. Annette Peters ist überzeugt: Die Forschung allein kann nicht entscheiden, wie mit den Scheinriesen und Giftzwergen umzugehen ist. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage und entsprechend viele Meinungen gibt es auch. Philippe Grandjean etwa würde bereits bei einem ersten Verdacht Beschränkungen erlassen. "Das ist vielleicht ein bisschen hart, wenn zum Beispiel ein Pestizid erst als neurotoxisch gilt und sich später als unproblematisch erweist. Aber wenn es um den Schutz der Gehirnentwicklung geht, halte ich so ein Vorsorgeprinzip für wichtiger als einen Preisvorteil beim Gemüseanbau durch diese Chemikalien." Sagt Philippe Grandjean, der die Niedrigdosiseffekte von Blei und Pestiziden zu hohen gesellschaftlichen Folgekosten hochgerechnet hat. Deutlich zurückhaltender ist da der Statistiker Walter Krämer. "Angenommen es wäre wirklich so, ich will es gar nicht abstreiten, dass Blei im Trinkwasser den IQ um einen Punkt senkt weltweit, dann ist das volkswirtschaftlich ein riesiger Verlust, und da würde sich jede Investition lohnen, Bleirohre durch andere zu ersetzen. Das will ich gar nicht abstreiten. Aber dann muss ich immer wieder darauf verweisen, dass beide Indikatoren, sowohl unsere Gesundheit - gemessen durch den einzigen wahren Indikator, der das wirklich misst, nämlich die Lebenserwartung - wie auch die Wirtschaftsleistung - gemessen durch den einzigen Indikator dafür, nämlich das Sozialprodukt - beide seit Jahren in Deutschland stark steigt, sodass diese ganzen Ängste eigentlich an den Haaren herbeigezogen sind." Krämer schlägt vor, als erstes die bekannten großen Risiken anzugehen, zum Beispiel die Straßen sicherer zu machen. Er blickt auf die steigende Lebenserwartung und rät zur Gelassenheit. "In gewissem Maße ist eine hohe Mortalität an Stickoxidbelastung ein positives Qualitätsmerkmal, weil die Leute an anderen Dingen nicht gestorben sind." Es geht darum, abzuwägen: Welche Einschränkungen im Verkehr sind akzeptabel, um die Feinstaubbelastung und damit die Häufigkeit von Herzkreislaufleiden weiter zu senken? Würde es sich lohnen, Lebensmittel aus anderen Ländern mit bleiarmen Böden zu importieren, um die geistige Entwicklung der Kinder ein wenig zu verbessern? Es ist aufwendig und teuer, niedrige, eher diffuse Belastungen weiter zu senken. Aber diese Kosten könnten mehr als aufgewogen werden durch den Gewinn an Gesundheit und Produktivität. Allerdings fallen Kosten und Einsparungen nur selten an ein und derselben Stelle an und so bewertet jeder die Giftzwerge aus seiner Warte. Epidemiologen wie Barbara Hoffmann: "Also einfach Augen zu machen und denken, es wird schon nichts ausmachen, ist sicherlich nicht der richtige Weg." Ökonomen wie Matthew Neidell: "Es ist vermutlich eine gute Idee, Schadstoffkonzentrationen zu senken. Aber man kann gleichzeitig noch sehr viel mehr tun, um das menschliche Kapital zu stärken. Die Gesellschaft könnte in bessere Schulen investieren, das sind sehr wichtige Maßnahmen." Chemikerinnen wie Agnes Schulte: "Es gibt eine ganze Palette von Stoffen, die jetzt drastisch geregelt sind und beschränkt worden sind auch für den Verbraucher oder für die Verbrauchverwendung, da hat sich schon sehr Vieles getan." Und Umweltmediziner wie Philippe Grandjean, dessen Mission in den 70er-Jahren begann, und noch lange nicht beendet ist: "Ich bin überzeugt, die menschliche Intelligenz wird Wege finden, uns so zu organisieren, dass wir uns nicht gegenseitig zwingen, Stickoxide einzuatmen, Feinstaub, polyzyklische Kohlenwasserstoffe oder giftige Metalle. Es kann gelingen, ich bin optimistisch."
Von Volkart Wildermuth
Feinstaub macht krank, genauso wie Blei oder Weichmacher im Trinkwasser. Grenzwerte sollen schützen, aber es häufen sich Berichte, wonach auch geringste Konzentrationen noch Schaden anrichten. Was ist dran an den Vorwürfen?
"2018-07-29T16:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:58:37.067000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umweltgifte-welche-dosis-macht-das-gift-100.html
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Der Arabische Frühling macht Riad Angst
Über Facebook hält Insaf Haidar die Öffentlichkeit auf dem Laufenden. Die Ehefrau des im saudi-arabischen Jeddah inhaftierten Onlineaktivisten Raif Badawi informiert ihre Leser über die jüngsten Solidaritätsaktionen oder die neusten Entwicklungen im Fall ihres Mannes:"Wie das Gerichtsverfahren gegen meinen Mann weiterlaufen wird, ist unklar. Das Strafgericht hat das Verfahren an das Kassationsgericht verwiesen. Ich habe kein Vertrauen in die saudi-arabische Justiz. Ein Richter, der am Verfahren beteiligt war, hatte ein Pamphlet mitunterschrieben, in dem er Raif beschuldigt vom Islam abgefallen zu sein. Wir wissen, nicht ob mein Mann auch des Abfalls vom Glauben beschuldigt wird oder nicht."Seit Juni letzten Jahres befindet sich Raif Badawi in Haft. Die Staatsanwaltschaft in Jeddah beschuldigt den 29-Jährigen gegen das Online-Gesetz verstoßen zu haben. Auf der Website "Liberale Saudi Arabier", die Badawi gegründet hat, sollen Inhalte veröffentlicht worden sein, die den Islam beleidigt haben und religiöse Würdenträger lächerlich gemacht haben sollen. Ein Beispiel für die Argumentation der Behörden ist Badawis Artikel über den Valentinstag. Darin gratuliert er den Völkern der Erde zum Fest der Liebe und den Menschen in Saudi Arabien zur Tugend, die vom Amt für religiöse Angelegenheiten eisern bewacht wird und dafür sorgt, dass die Menschen ins Paradies eingehen. Diese sarkastische Bemerkung wird von der Staatsanwaltschaft als Beleidigung islamischer Symbole interpretiert. Im Falle einer Verurteilung erwarten Badawi fünf Jahre Haft und eine hohe Geldstrafe. Wenn der Aktivist allerdings auch des Abfalls vom Glauben angeklagt wird, dann droht ihm die Todesstrafe.Der Fall Raif Badawi ist kein Einzelfall in Saudi Arabien. Der junge Journalist Hamza Kashgari sitzt seit über einem Jahr im Gefängnis, wegen angeblicher Beleidigung des Propheten Mohamed. Der 60-jährige Schriftsteller Turki Al-Hamad ist seit Ende letzten Jahres in Haft. Er soll sich über Twitter kritisch gegenüber dem Islam und dem Königshaus geäußert haben. Das arabische Netzwerk für Informationen über Menschenrechte stellt in ihrem jüngsten Bericht eine rapide Verschlechterung der Meinungsfreiheit im Königreich fest. Mohamed Shehada vom Arabischen Netzwerk in Kairo:"Nach dem Arabischen Frühling haben die Herrscher in Riad offenbar Angst um ihre Macht. In der arabischen Welt ist Saudi Arabien der Staat, der am meisten Websites sperren lässt. Auch gab es in den letzten Jahren eine Reihe von Gesetzen und Dekreten, die dem Informationsministerium und andere Behörden immer mehr Vollmachten in die Hände gegeben haben. Parallel dazu erleben wir eine rasante Entwicklung des Internets in Saudi Arabien. Viele wissen Twitter, Youtube und Facebook gut zu nutzen. Mehr Rechte für Frauen, für die schiitische Minderheit im Osten des Landes oder Solidarität mit den politischen Gefangenen – diese Themen werden in den sozialen Netzwerken debattiert. Aber die Behörden reagieren erbarmungslos."Ein Beispiel ist die Journalistin Iman Al Qahtani. Über Twitter berichtete sie regelmäßig über die Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der Vereinigung für zivile und politische Rechte in Saudi Arabien. Über 70.000 folgten Al Qahtanis Einträge. Anfang April machte die Journalistin ihren letzten Tweet. Den Druck, den die Behörden gegen sie ausübten, der auch vor ihrer Familie nicht haltmachte, wurde zu groß.In Saudi Arabien regiert ein absolutistisches Königshaus in Allianz mit islamischen Gelehrten, die eine fundamentalistische Richtung des Islam vertreten. Nennenswerte politische Reformen gab es in den letzten Jahrzehnten nicht. Das Internet ist trotz Zensur für viele Saudi Arabier die einzige Möglichkeit ihre Meinung öffentlich zu machen. Fast die Hälfte der 28 Millionen Einwohner des Königreiches sind online. Aber die Aktivisten, die sich kritisch gegenüber ihrer Gesellschaft äußern, müssen nicht nur die Willkür der Behörden im Land fürchten. Insaf Haidar, die Frau des inhaftierten Raif Badawi, berichtet von starkem sozialen Druck:"Weil mein Mann liberale Ansichten vertritt, die meine Familie ablehnt, hat sie bei Gericht eine Klage auf Zwangsscheidung eingereicht. Auch die Familie meines Mannes machen Probleme. Bei Gericht klagen sie auf das Sorgerecht unserer Kinder, damit sie, wie sie sagt, in einer islamischen Umgebung aufwachsen."Insaf Haidar hat Saudi Arabien verlassen. Von Beirut aus verfolgt sie das Gerichtsverfahren gegen ihren Mann.
Von Mona Naggar
Der Fall Raif Badawi ist symptomatisch für die Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit im Königreich. Badawi wurde letzten Sommer wegen Veröffentlichungen im Internet verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, auf seiner Facebook-Seite und seiner Internetpräsenz den Islam beleidigt zu haben.
"2013-04-27T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:16:04.857000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-arabische-fruehling-macht-riad-angst-100.html
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+++ Die Entwicklungen vom 16. bis 24. September +++
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Deutschen aufgefordert, ihr Wahlrecht heute zu nutzen. (dpa/Bernd von Jutrczenka) Freitag, 24. September +++ Auf Wahlkampf-Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen und Bayern haben die Parteien noch einmal um Stimmen geworben. Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz trat zusammen mit den Parteivorsitzenden Esken und Walter-Borjans in Köln auf. Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Laschet, machte zusammen mit der scheidenden Amtsinhaberin Merkel und CSU-Chef Söder noch einmal Wahlkampf in München. Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Baerbock, kam mit dem Co-Vorsitzenden Habeck nach Düsseldorf. Zuvor hatte sie in Köln an einer Demonstration von Fridays for Future teilgenommen. +++ Der Deutschlandfunk lädt am Wahlabend zu einer offenen Diskussionsrunde auf Twitter ein. Im Bereich "Twitter Spaces" können Nutzerinnen und Nutzer mit den Berichterstattern aus dem Hauptstadtstudio sprechen. Los geht es am Sonntag um 22 Uhr, wenn die Hochrechnungen hoffentlich schon etwas Klarheit gebracht haben werden. +++ Die EU wirft Russland vor der Bundestagswahl gezielte Cyberangriffe vor. In einer Erklärung der 27 Mitgliedsstaaten ist von bösartigen Aktivitäten die Rede, die sich gegen Abgeordnete, Regierungsbeamte, Politiker sowie Vertreter der Presse und der Zivilgesellschaft richteten. Die Angreifer würden dabei auf Computersysteme und persönliche Konten zugreifen und Daten stehlen. Wegen der Kampagne unter dem Namen "Ghostwriter" hatte vor rund zwei Wochen bereits der Generalbundesanwalt Ermittlungen aufgenommen. Das russische Außenministerium wies die Vorwürfe zurück. +++ Der Grünen-Co-Vorsitzende Habeck hat in der vergangenen Nacht die Hungerstreikenden und ihre Unterstützer im Regierungsviertel besucht. In dem Gespräch seien Positionen zum Klimaschutz und zu Möglichkeiten aktueller Klimapolitik ausgetauscht worden, sagte eine Sprecherin der Hungerstreikenden dem Evangelischen Pressedienst. Die Streikenden hatten eigentlich ein Gespräch mit den drei Kanzlerkandidat*innen gefordert und dafür ein Ultimatum bis gestern Abend gesetzt, das erfüllt verstrich. Sechs der ursprünglich sieben Hungerstreikenden beendeten ihren Streik daraufhin. Andere, die später hinzugekommen sind, wollen weiter streiken. Mehrere Klimaaktivisten haben ihren Hungerstreik im Berliner Regierungsviertel beendet. (dpa/Paul Zinken) +++ Der Parteienforscher Jürgen Falter erwartet, dass die gestrige "Schlussrunde" der Spitzenvertreterinnen und -vertreter in der Wählerschaft allenfalls "kleinere Bewegungen" auslösen wird. Keiner der Diskutanten habe großartig punkten können, sagte der Senior-Forschungsprofessor der Universität Mainz im Deutschlandfunk. Möglich sei aber, dass die in Umfragen derzeit zurückliegende Union noch zur SPD aufschließe. Falter begründete seine Einschätzung damit, dass CDU und CSU sich in einem "Schweigespiraletum" befänden. Einigen Wahlberechtigten sei es bisher nicht opportun erschienen, sich als CDU-Anhänger zu erkennen zu geben. Das könnte sich, so Falter, in der Wahlkabine ändern. +++ Auf die Behörde von Bundeswahlleiter Thiel hat es erneut einen Hackerangriff gegeben. Unbekannte hätten mittels einer Software versucht, Zugriff auf Server und Dateisysteme zu bekommen, berichtete das Magazin "Business Insider". Ein Sprecher des Bundeswahlleiters sagte, die schnelle Identifizierung des Schadens zeige, dass die Sicherheitssysteme funktionierten. Erst Ende August hatte es laut "Business Insider" einen Angriff auf die Internetseite des Bundeswahlleiters gegeben. Damals war die Internetseite minutenlang nur eingeschränkt erreichbar. +++ Sollte der Bundestag nach der Wahl am Sonntag wie erwartet deutlich mehr Abgeordnete zählen, dann werden zunächst nicht allen eigene Büros zur Verfügung stehen. Denn der Bau eines neuen Abgeordneten-Gebäudes wird voraussichtlich erst zum Jahresende abgeschlossen. Ein Sprecher der Bundestagsverwaltung sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, nach der Bundestagswahl 2017 hätten die Fraktionen ihren neuen Abgeordneten provisorische Gemeinschaftsbüros angeboten. Damit sei diesmal wieder zu rechnen. Die konstituierende Sitzung des Bundestages ist für den 26. Oktober geplant. Fraktionssitzungen finden schon in der kommenden Woche statt. +++ Zwei Tage vor der Bundestagswahl beenden die Kanzlerkandidaten von SPD, Union und Grünen heute offiziell den Wahlkampf. SPD-Bewerber Scholz und Grünen-Kandidatin Baerbock kommen dafür in das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen. Unionskanzlerkandidat Laschet (CDU) wird in Bayern erwartet. Die offiziellen Abschlussveranstaltungen von AfD und Linken finden in Berlin. Samstag ist in Düsseldorf der offizielle bundesweite Wahlkampfabschluss der FDP. Auch Scholz und Laschet werden morgen noch Termine bestreiten. Donnerstag, 23. September +++ In der letzten Fernsehdebatte vor der Bundestagswahl mit den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien ist unter anderem der Mord in Idar-Oberstein thematisiert worden. Unions-Kanzlerkandidat Laschet forderte in der Debatte bei ARD und ZDF ein härteres Vorgehen gegen Hass im Internet. Die Radikalisierung beginne im Netz. Ähnlich äußerte sich Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock. Sie sprach sich zudem für eine Verschärfung des Waffenrechts in Deutschland aus. SPD-Kanzlerkandidat Scholz kündigte an, er wolle nach der Wahl einen neuen Anlauf für das sogenannte Wehrhafte-Demokratie-Gesetz nehmen. Es sei am Widerstand der Unions-Fraktion gescheitert. FDP-Spitzenkandidat Lindner meinte, die Sicherheitsbehörden müssten besser zusammenarbeiteten. Zudem mangele es an Digitalisierung. Linken-Spitzenkandidatin Wissler plädierte dagegen für die Auflösung des Verfassungsschutzes. Schon bei den NSU-Morden sei er eher Teil des Problems als der Lösung gewesen. CDU-Chef Söder warf der AfD mit Blick auf den Vorfall in Idar-Oberstein vor, diese stimuliere radikalisierte sogenannte Querdenker. Im Gegenzug kritisierte AfD-Spitzenkandidatin Weidel die Corona-Maßnahmen der Regierung als grundgesetzwidrig. Sie müssten umgehend zurückgenommen werden. Die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien treffen bei ARD und ZDF aufeinander. (picture alliance/dpa/AFP-POOL | Tobias Schwarz) +++ Der türkische Islamverband Ditib hat die Mitglieder seiner Moscheegemeinden zur Teilnahme an der Bundestagswahl am Sonntag aufgerufen. Demokratie lebe von der Beteiligung aller, heißt es in dem in Köln veröffentlichten Aufruf der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion. Dies gelte für gesellschaftliche Teilhabe genauso wie für die politische Partizipation. Eine Beteiligung an den Wahlen sei für Muslime wichtig, um für gesellschaftliche Probleme Lösungen herbeizuführen, hieß es. Auch wenn die Bedürfnisse von Muslimen oder Migranten in den Wahlprogrammen kaum Niederschlag fänden, seien Themen wie Islamfeindlichkeit, Übergriffe auf Migranten, Muslime und Moscheen sowie Chancengleichheit im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor akut. +++ Ein Postmitarbeiter in Schleswig-Holstein soll bis zu 700 Wahlbenachrichtigungen für die Bundestagswahl nicht zugestellt haben. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Mannes in Schleswig fanden die Ermittler neben den Wahlbenachrichtigungen weitere Kisten mit nicht zugestellten Briefen, wie die Polizei in Flensburg mitteilte. Die Deutsche Post AG hatte Anfang September bei der Kriminalpolizei Strafanzeige gegen den Mann gestellt, nachdem in internen Ermittlungen der Post bekannt wurde, dass er hunderte Wahlbenachrichtigungen in den Ortschaften Borgwedel und Stexwig nicht zugestellt hatte. Die Wahlbenachrichtigungen wurden mittlerweile ausgeliefert. +++ SPD-Vize Kühnert erwartet, dass ohne eine Befragung ihrer Mitglieder die SPD in keine neue Bundesregierung eintreten werde. "Die umfassende Mitgliederbeteiligung rund um Fragen der Koalitionsbildung ist ein Erfolg, die SPD hat hier Maßstäbe gesetzt", sagt Kühnert der "Rheinischen Post". "Ich gehe davon aus, dass das auch so bleibt. Wir sind nämlich eine Mitmachpartei." 2019 durften die rund 400.000 Mitglieder nach dem Rücktritt von Andrea Nahles über eine Doppelspitze abstimmen. Eine Einbeziehung der Mitglieder, um überhaupt Sondierungsgespräche oder Koalitionsverhandlungen zu führen, hält Kühnert für überflüssig: "Dafür hat der gewählte Parteivorstand mit Sicherheit den nötigen Vertrauensvorschuss." Zugleich äußerte er sich skeptisch zu einer möglichen Ampelkoalition. Dabei zweifelte er die Verlässlichkeit des FDP-Chefs offen an: "Christian Lindner ist ein Luftikus". 28.11.2020, Berlin: Kevin Kühnert, der scheidende Bundesvorsitzende der Jusos, spricht beim Online-Bundeskongress der Jungsozialisten (Jusos) im Willy-Brandt-Haus. (Kay Nietfeld / dpa) +++ Für die meisten Wähler sind die Würfel schon gefallen: Wenige Tage vor der Bundestagswahl haben sich knapp drei Viertel der Wahlberechtigten in Deutschland nach eigenen Angaben bereits für eine Partei entschieden. Das geht aus einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov hervor. Mittwoch, 22. September +++ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Minister*innen ihrer Regierung haben in den vergangenen vier Jahren fast 112 Stunden miteinander verbracht. So lange dauerten in der Summe die Kabinettssitzungen dieser Legislaturperiode, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer nach der letzten Sitzung vor der Bundestagswahl in Berlin mitteilte. Demnach dauerten die insgesamt 158 Treffen der Regierungsmitglieder im Durchschnitt 42 Minuten: Die längste Sitzung ging erst nach einer Stunde und 50 Minuten zu Ende, die kürzeste war nach nur neun Minuten erledigt. In dieser Zeit wurden insgesamt 488 Gesetzentwürfe und 237 Verordnungen auf den Weg gebracht. Mit der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Parlaments endet offiziell die Amtszeit von Merkel und den übrigen Ressortchefs. Bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt das bisherige Kabinett geschäftsführend im Amt. +++ Nach der Bundestagswahl sieht CSU-Generalsekretär Markus Blume die Union vor einer grundlegenden Reform. "Bei einem schlechten Wahlergebnis müssen die notwendigen Erkenntnisse und Erneuerungen in den Blick genommen werden. Wir als CSU haben das in der Vergangenheit schon getan - und ich denke, es ist insgesamt noch mal notwendig", sagte er den Sendern RTL und ntv. Generell erwarte er ein knappes Wahlergebnis. "Uns war immer klar, es wird ein Wimpernschlag-Finale", sagte Blume. Nur als stärkste Kraft habe die Union einen klaren Regierungsauftrag. CDU und CSU hätten daher kein anderes Ziel, als den Wahlsieg. +++ Der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach lehnt das mögliche Aus der Lohnersatzleistung für ungeimpfte Beschäftigte ab, die wegen Corona in Quarantäne müssen. Eine solche Regelung würde nur dazu führen, dass sich die betroffenen Menschen gar nicht erst in Quarantäne begäben, sagte Lauterbach der "Rheinischen Post". Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern beraten heute über ein einheitliches Vorgehen beim finanziellen Ausgleich für eine behördlich angeordnete Quarantäne. +++ Bundeswahlleiter Georg Thiel hat Kritik an der Briefwahl zurückgewiesen. "Briefwahl ist genau so sicher wie der Urnengang", sagte Thiel im ZDF-Morgenmagazin. Die Möglichkeit der Briefwahl bestehe in Deutschland seit 1957. "Seitdem haben wir eigentlich keine größeren Vorfälle gehabt, die das Ergebnis der gesamten Wahl irgendwie beeinträchtigt hätten." Thiel betonte, die Auszählung der Briefwahlstimmen bei der Bundestagswahl starte wie die Auszählung der Urnenwahlstimmen am Sonntag ab 18.00 Uhr. Das geschehe transparent, jeder könne es sich in den Wahllokalen ansehen. Dienstag, 21. September +++ Nach der Veröffentlichung eines neuen CDU-Wahlwerbespots wird Kritik laut. In dem Video ist in einer kurzen Sequenz zu sehen, wie bei einer Wahlkampfveranstaltung von Kanzlerkandidat Laschet in Erfurt ein Mann auf die Bühne sprang, dem Laschet das Mikrofon überließ. Der Mann ohne Mundschutz beklagte sich über Corona-Maßnahmen. Wie sich herausstellte, ist er Anhänger der "Querdenker"-Szene. Dazu ist zu hören: "Erst denken, dann reden. Auch mit denen, die eine kritische Haltung haben. Ja, gerade mit denen." In der CDU heißt es, bei den Mitgliedern komme das Video sehr gut an. Politiker*innen anderer Parteien aber sehen das anders. Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen etwa schrieb auf Twitter, das Video sei "ein Hohn für alle, die mit Solidarität und Engagement gegen das Virus kämpfen". Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), kritisierte in einem Tweet, die CDU biedere sich bei den "Querdenkern" an und fische am rechten Rand. Die stellvertretende Parteivorsitzende der Linken, Martina Renner, schreibt auf Twitter zu dem Wahlkampf-Clip: "Ohne Anstand, ohne Haltung und ohne Pietät". Kritik kommt auch vom früheren Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock. Er zeigte sich entsetzt, dass die CDU "nach demfürchterlichen Terror-Mord von Idar-Oberstein" an dem Werbespot festhalte. Am Samstag hatte dort ein Maskengegner einen Tankstellen-Angestellten erschossen. +++ Die umstrittenen Plakate der rechtsextremen Kleinstpartei "Der III. Weg" in Zwickau müssen nun doch abgehängt werden. Das sächsische Oberverwaltungsgericht Bautzen gab einer Beschwerde der Stadt statt. Zur Begründung hieß es, die Wahlplakate mit dem Slogan "Hängt die Grünen!" erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung. Das Plakatmotiv sei geeignet, den öffentlichen Frieden durch Aufstacheln zum Hass sowie durch einen Angriff auf die Menschenwürde der Parteimitglieder zu stören. Das Verwaltungsgericht Chemnitz in Sachsen hatte zuvor entschieden, dass die Plakate trotz eines Verbots der Stadt Zwickau hängen bleiben dürfen, allerdings nur mit 100 Metern Abstand zu Plakaten der Grünen. An dem Urteil gab es bundesweit Kritik. +++ Wenige Tage vor der Bundestagswahl gibt Bundeskanzlerin Merkel (CDU) erneut ihre Zurückhaltung auf und greift in den Wahlkampf ihrer Partei ein. In ihrem Wahlkreis in Stralsund will sie am Abend an einer Kundgebung mit Unionskanzlerkandidat Laschet (CDU) teil, der in Umfragen hinter dem SPD-Bewerber Scholz liegt. Laschet sagte, er verspreche sich von Merkels Engagement "Rückendeckung". Sie ist bisher erst einmal im Wahlkampf mit Laschet aufgetreten - Mitte August in Berlin. Seit ihrem Rücktritt vom CDU-Vorsitz nimmt sie nur noch wenige Parteitermine wahr. +++ Der Deutsche Gewerkschaftsbund will heute - fünf Tage vor der Bundestagswahl - mit einem bundesweiten Aktionstag für eine sichere Rente werben. Gewerkschafter wollen Pendler und Passanten in mehr als 200 Orten auf Bahnhöfen und Marktplätzen über das Rententhema informieren und Frühstückstüten verteilen. Die Bundestagswahl müsse zu einer Abstimmung über langfristig tragfähige, gerechte und nachhaltige Politik werden, heißt es beim Gewerkschaftsbund. Voraussetzung für eine sichere Rente ist nach Überzeugung des DGB ein Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde und eine stärkere Tarifbindung bei den Gehältern. +++ Die Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten, die sich seit drei Wochen im Berliner Regierungsviertel im Hungerstreik befinden, drohen damit, ihren Protest zu verschärfen. Sollte das gewünschte Gespräch mit Kanzlerkandidatin Baerbock (Grüne) und ihren Konkurrenten Laschet (Union) und Scholz (SPD) nicht zustande kommen, will ein Teil der Gruppe auch die Aufnahme von Flüssigkeit verweigern. Das kündigte ein Unterstützerteam an. Die Hungerstreikenden fordern, dass sich Scholz, Laschet und Baerbock noch vor der Bundestagswahl - nämlich diesen Donnerstag - in der Öffentlichkeit mit ihnen treffen und über mehr Engagement im Klimaschutz reden. Alle drei lehnen das ab und bieten ein Gespräch nach der Wahl an. Montag, 20. September +++ Das Landgericht München I hat der rechtsextremen Partei "Der III. Weg" kurz vor der Bundestagswahl per einstweiliger Verfügung das Aufhängen von Wahlplakaten mit der Aufschrift "Hängt die Grünen" untersagt. Die Entscheidung gilt bundesweit, wie eine Gerichtssprecherin sagte. Begründet wurde das Verbot unter anderem damit, dass der Slogan als Aufforderung zu einer Straftat zu verstehen ist. Die Plakate der Splitterpartei müssen nun abgehängt werden. +++ Kinder und Jugendliche würden bei der Bundestagswahl mehrheitlich für die Grünen stimmen. Nach dem Ergebnis der U18-Wahl kommt die Partei auf rund 21 Prozent der Stimmen. Die SPD folgt mit 19,2 Prozent auf dem zweiten Platz. CDU und CSU bekamen von den Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren 16,9 Prozent, die FDP erhielt zwölf Prozent und die Linke siebeneinhalb Prozent. Die AfD käme auf 5,8 Prozent und damit auf ähnlich viele Stimmen wie die Tierschutzpartei. U18-Wahlen gibt es immer neun Tage vor einem offiziellen Wahltermin. +++ Die Staatsanwaltschaft Konstanz hat das Strafverfahren gegen AfD-Bundestagsfraktionschefin Weidel wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Parteiengesetz eingestellt. Es bestehe kein hinreichender Tatverdacht, teilte die Behörde mit. Ermittelt worden war wegen einer Spende aus der Schweiz an den AfD-Verband in Weidels baden-württembergischem Wahlkreis kurz vor der Bundestagswahl 2017. Ein Schweizer Unternehmen hatte damals 132.000 Euro in kleinen Tranchen an den AfD-Kreisverband Bodensee überwiesen. Parteispenden aus Nicht-EU-Staaten von mehr als tausend Euro sind illegal. Der Kreisverband zahlte das Geld zurück, allerdings erst Monate nach dem Eingang auf das Konto. Die Staatsanwaltschaft ermittelte seit drei Jahren. +++ Briefwähler sollten ihren Stimmzettel für die Bundestagswahl spätestens am Mittwoch abschicken, damit dieser sicher rechtzeitig ankommt. Darauf macht Landeswahlleiter Wolfgang Schellen aufmerksam. Wer die Unterlagen bis dahin nicht in den Briefkasten geworfen hat, kann sie noch bis Sonntag, 18 Uhr, direkt beim Wahlamt am Wohnort abgeben. Diese Frist sollten die Wähler und Wählerinnen allerdings nicht verpassen. "Wahlbriefe, die bei der Gemeinde nicht bis zum 26. September 2021 um 18 Uhr eingehen, werden bei der Auszählung nicht berücksichtigt", mahnte der Landeswahlleiter. +++ Die CDU hat ein 15-Punkte-Programm für gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land sowie in Ost und West vorgestellt. Uner anderem verspricht die Union, gegen den drohenden Mangel an Haus- und Fachärzten in ländlichen Regionen vorgehen. Man wolle zusammen mit den Ländern 5000 zusätzliche Studienplätze für Humanmedizin schaffen und dies mit einer Erhöhung der Landarztquote bei der Studienplatzvergabe verbinden. Um den ländlichen Raum zu stärken und der Wohnungsknappheit in den großen Städten zu begegnen, will die Union die Pendlerpauschale erhöhen. Zudem sollten in diesem Zusammenhang Investitionen in Schiene und Straße gefördert werden. +++ Der juristische Streit zwischen Bundeswahlleiter Georg Thiel und dem Meinungsforschungsinstitut Forsa um die sogenannte Sonntagsfrage dauert an. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel kündigte eine Entscheidung für Mitte dieser Woche an. Zuvor hatte das Verwaltungsgericht Wiesbaden zu Gunsten von Forsa entschieden, dagegen legte der Bundeswahlleiter Beschwerde beim VGH ein. Umstritten ist die Frage, ob Meinungsforschungsinstitute Umfragen veröffentlichen dürfen, in die Antworten von Briefwählern einfließen. Aus Sicht des Bundeswahlleiters stellt die Veröffentlichung von Umfragen vor Ablauf der Wahlzeit einen Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz dar, "wenn Briefwählerinnen und Briefwählern nicht nur nach ihrer Wahlabsicht, sondern nach ihrer Wahlentscheidung gefragt werden", wie es in einer Mitteilung heißt. +++ Eine Woche vor der Bundestagswahl haben sich die Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Laschet und Scholz, sowie die Kandidatin der Grünen, Baerbock, einen letzten Schlagabtausch im Fernsehen geliefert. Breiten Raum in der Debatte nahmen die Themen Soziales und Klimaschutz ein. Scholz und Baerbock warben für die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Laschet plädierte stattdessen dafür, dass für die Festlegung des Mindestlohns weiter die Tarifparteien zuständig sein sollten. Der Unions-Kandidat lehnte es erneut ab, den Kohleausstieg vorzuziehen. Die Kohleverstromung werde ohnehin durch den steigenden CO2-Preis schon vorher unrentabel. Scholz mahnte mehr Einsatz für leistungsfähige Netze und erneuerbare Energien an. Baerbock warf Union und SPD vor, sie hätten in den vergangenen Jahren eine entschiedene Klimapolitik verhindert. Zur Frage möglicher Koalitionen betonte Scholz erneut, er wolle eine Regierung gemeinsam mit den Grünen bilden. Laschet wiederholte seine Warnung vor einem Bündnis unter Einschluss der Linkspartei. Bundestagswahlkampf - Drittes TV-Triell (dpa) Die wichtigsten Aussagen haben wir hier für Sie zusammengefasst. Die Chronologie des Triells können Sie hier nachlesen. Sonntag, 19. September +++ Eine Woche vor der Bundestagswahl haben sich die Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Laschet und Scholz, sowie die Kanzlerkandidatin der Grünen, Baerbock, ihre dritte und letzte gemeinsame TV-Debatte geliefert. +++ FDP und Grüne haben in Berlin Parteitage abgehalten. FDP-Chef Lindner warb mit Blick auf den Klimaschutz für moderne Technologien. Er sprach sich gegen eine Politik aus, die Verbote und Verzicht durchsetzen wolle. Man dürfe nicht Moralweltmeister sein, wenn andere Staaten dem deutschen Beispiel folgen sollten. Auch seine Stellvertreterin Beer sagte, statt Menschen unter Druck zu setzen, müsse man Raum für Möglichkeiten und Angebote schaffen. Eine Festlegung auf mögliche Koalitionen lehnte die FDP ab. Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock forderte einen Aufbruch für soziale Gerechtigkeit. Sie betonte, dieses Thema dürfe nicht gegen das Thema Klimaschutz ausgespielt werden. Zudem sagte die Grünen-Ko-Vorsitzende, es brauche einen politischen Neuanfang. Die Wahl entscheide über die letzte Regierung, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen könne. Baden-Württembergs Regierungschef Kretschmann bezeichnete Warnungen vor einer "grünen Gefahr" und vor Verboten als "riesengroßen Stuss". Er empfahl seiner Partei, sich von dieser "künstlichen Debatte" nicht irritieren zu lassen. +++ Die Co-Chefin der Linken und Spitzenkandidatin, Wissler, hat SPD und Grüne aufgefordert, offen für eine linke Koalition nach der Bundestagswahl zu sein. "SPD und Grüne müssen überlegen, wie ernst ihnen ihr eigenes Wahlprogramm ist", sagte Wissler dem Nachrichtenportal watson. "Es ist ja klar, dass es zwischen uns große Unterschiede gibt, aber die gibt es zwischen SPD/Grünen und Union/FDP auch, wenn man sich die Programme anschaut", sagte Wissler. Die Kanzlerkandidaten Scholz (SPD) und Baerbock (Grüne) müssten sich nun überlegen, "ob sie lieber Kompromisse nach rechts machen als nach links". +++ Zwei Teilnehmerinnen des Klima-Hungerstreiks vor dem Reichstagsgebäude in Berlin müssen ihren Hungerstreik beenden. Einer 19-Jährigen, die einen Tag im Krankenhaus verbringen musste, gehe es inzwischen den Umständen entsprechend gut, teilte die Gruppe mit. Eine 18-Jährige habe nach dem Zusammenbruch der anderen Aktivistin die psychischen Strapazen nicht mehr tragen können. Ein 27-Jähriger, der inzwischen bereits zweimal im Krankenhaus behandelt werden musste, will den Hungerstreik demnach aber fortsetzen. Die Gruppe junger Menschen hatte Ende August mit ihrem Hungerstreik begonnen. Sie fordert ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Laschet und Scholz, und der Kandidatin der Grünen, Baerbock, vor der Bundestagswahl. Jugendliche im Klimacamp vor dem Reichstag (dpa) +++ Kanzleramtschef Braun hat vor einer langen Phase der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl gewarnt. "Natürlich wird die bisherige Regierung weiter im Amt sein und kann auf Krisen und Herausforderungen reagieren", sagte der CDU-Politiker in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters. "Aber eine geschäftsführende Regierung kann nicht mehr politisch gestalten, weil es ein Zurückhaltungsgebot gibt. Ich warne also vor einer verlorenen Zeit durch eine sehr lange Regierungsbildung", betonte er. Man könne schon verlangen, dass sich Parteien nach dem Wählervotum am 26. September schnell dazu bekennen, was ihre favorisierten Koalitionen sind – "damit man nicht endlos Zeit in Sondierungen verliert". Hintergrund ist die Erwartung, dass es nach der Wahl mehrere Koalitionsoptionen geben könnte. +++ Mehrere prominente Politikerinnen und Politiker der CDU müssen einem Bericht zufolge bei der Bundestagswahl um ihre Direktmandate bangen. Wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtet, liegen unter anderem Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, Wirtschaftsminister Altmaier und Landwirtschaftsministerin Klöckner in ihren Wahlkreisen in aktuellen Projektionen nicht auf Platz eins. Sie beruft sich auf Datenerhebungen der Analysefirmen Wahlkreisprognose und Election. Betroffen sind auch CDU-Generalsekretär Ziemiak, Kulturstaatsministerin Grütters, die Integrationsbeauftragte Widmann-Mauz, der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Middelberg, und der CDU-Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern, Amthor. Grund sei die allgemeine Schwäche der Union in den Umfragen, schrieb die Zeitung. +++ Eine Woche vor der Bundestagswahl ist besonders in den Großstädten bereits ein deutlich höherer Anteil der Briefwähler*innen zu beobachten. Die Städte Frankfurt am Main und Bremen verschickten laut einer Umfrage der "Welt am Sonntag" doppelt so viele Briefwahlunterlagen wie zum gleichen Zeitpunkt vor der vergangenen Bundestagswahl. Auch in weiteren Großstädten wie Düsseldorf, München und Berlin beantragten demnach bedeutend mehr Menschen Briefwahl. Angaben der Wahlleiter der Bundesländer bestätigen die Entwicklung. Laut "Welt" liegt der Anteil der Briefwähler in Rheinland-Pfalz schon jetzt bei 41 Prozent. In Nordrhein-Westfalen beantragten bislang 29,5 Prozent der Wahlberechtigten die Wahl per Brief. 2017 waren es zum selben Zeitpunkt 17 Prozent. +++ FDP und Grüne halten noch einmal Parteitage ab. In Berlin will sich der Spitzenkandidat der Freien Demokraten, Lindner, zum Kurs seiner Partei in möglichen Koalitionsverhandlungen äußern. Dazu sollen die Delegierten den traditionellen "Wahlaufruf" beschließen. Die FDP-Spitze hatte bereits eine Absage an höhere Steuern und ein Nein zur Aufweichung der Schuldenbremse zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung gemacht. Ebenfalls in der Hauptstadt versammeln sich die Grünen zu ihrem "Länderrat" genannten Treffen. Der Leitantrag des Vorstands steht unter der Überschrift "Ein Sozialpakt für klimagerechten Wohlstand". Es wird erwartet, dass neben Ko-Parteichef Habeck insbesondere Kanzlerkandidatin Baerbock für eine möglichst breite Zustimmung werben wird. Samstag, 18. September +++ Unionskanzlerkandidat Laschet hat mit deutlichen Worten vor einem Wahlsieg der SPD gewarnt. Eine Regierung mit Parteichefin Esken und Parteivize Kühnert wäre ein Angriff auf Deutschlands Wohlstand, sagte der CDU-Chef der "Neuen Zürcher Zeitung". Die Sozialdemokraten setzten wie andere auf Steuererhöhungen und Vorgaben. Das aber würde Deutschland für Investitionen und Arbeitsplätze unattraktiv machen und wäre Gift, besonders für den heimischen Mittelstand, führte Laschet aus. Er glaube indes an Innovation durch Freiräume. Die "falsche Haltung" der SPD setze sich auch in der Klimapolitik fort. Der Satz von Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock, Verbote lösten Innovationen aus, hätte auch von den Sozialdemokraten kommen. Der Wahlwerbespot der CDU sei "ein männliches Weiterdenken von Angela Merkel", meint der Drehbuchautor Stefan Stuckmann. (CDU / Screenshot via YouTube 18.9.2021) +++ Nach Ansicht von CSU-Spitzenkandidat Alexander Dobrindt ist die SPD in der Verantwortung, eine Regierung zu bilden, sollte die Union nicht stärkste Kraft werden. Der Regierungsauftrag gehe an die stärkste Fraktion im Bundestag, sagte Dobrindt dem "Spiegel". Ihm fehle die Fantasie für eine Regierung unter Führung einer zweitplatzierten Union. Mit Blick auf die zu erwartenden Verluste für die Union fordert Dobrindt Konsequenzen nach der Wahl, selbst wenn sie doch noch auf Platz eins landen sollte. Die Union könne nicht zufrieden sein, wenn sie unter 30 Prozent lande. +++ Bei der derzeit laufenden Briefwahl hat es nach Angaben der zuständigen Behörde bislang keine signifikanten Unregelmäßigkeiten gegeben. Bundeswahlleiter Thiel sagte dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland", zwar habe es vereinzelt Fälle gegeben, bei denen beispielsweise Stimmzettel unvollständig bedruckt gewesen seien und somit etwa ein Kreis neben einem Parteinamen gefehlt habe. Solche Vorkommnisse hätten aber keinen Einfluss auf das Ergebnis der Bundestagswahl am 26. September, da bereits abgegebene Stimmen in solchen Fällen ihre Gültigkeit behielten. +++ Brandenburgs Ministerpräsident Woidke führt die gestiegenen Umfragewerte für die SPD auf den Kandidaten, auf die Einigkeit in der Partei und auf die Themen im Wahlkampf zurück. Olaf Scholz sei ein Kanzlerkandidat mit großer Erfahrung und die Partei stehe hinter ihm. Außerdem beschäftigten die Menschen die Themen der SPD: "Es geht um sichere Rente, einen Mindestlohn von 12 Euro und um klimaneutrale Wirtschaft." +++ Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Söder hat sich gegen einen Wiedereinstieg in die Energiegewinnung aus Atomkraft ausgesprochen. Er sagte im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks, dies wäre ein Schritt zurück. Man sei - Zitat - "doch nicht schlecht unterwegs bei den erneuerbaren Energien", obgleich in diesem Bereich noch mehr geschehen müsse. Sie können das gesamte Interview mit Markus Söder am Sonntag ab 11.05 Uhr hören. Oder hier - auch zum Lesen! Freitag, 17. September +++ Der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zur Bundestagswahl ist seit dem 3. September mehr als 15,7 Millionen Mal genutzt worden, teilte die Bundeszentrale in Bonn mit. Zur Bundestagswahl 2017 wurde er insgesamt 15,69 Millionen Mal durchgespielt. Er bleibt noch über eine Woche online. In 38 Thesen können sich alle Interessierten über die Wahlprogramme der politischen Parteien informieren. Der Deutsche Kulturrat hatte kritisiert, dass darunter keine Fragen zum Thema Kultur seien. +++ CSU-Chef Söder sieht eine Trendwende zugunsten der Union, glaubt aber nicht mehr an ein Ergebnis von CDU und CSU bei der Bundestagswahl von mehr als 30 Prozent. Ziel müsse es sein, Nummer eins vor der SPD zu werden, sagt er im Interview der Woche des Deutschlandfunks. "Man muss jetzt realistisch sein und kleinere Brötchen backen", fügt er auf die Frage nach einem möglichen Ergebnis auch über 30 Prozent hinzu. +++ Im Streit um die sogenannte Sonntagsfrage von Meinungsforschern hat der Bundeswahlleiter Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden eingelegt. Das Gericht hatte gestern entschieden, dass es zulässig ist, bei veröffentlichten Wahlumfragen auch Angaben von Briefwählern einzubeziehen. Damit bekam das Meinungsforschungsinstitut Forsa recht. Das Institut fragt regelmäßig zufällig ausgesuchte Bürger, wen sie wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Forsa fragt dabei auch, ob jemand schon per Brief gewählt hat und wenn ja, welche Partei. Dieses Vorgehen hält Bundeswahlleiter Thiel für einen Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz. Er stößt sich daran, dass Briefwähler nicht nur nach ihrer Wahlabsicht, sondern nach ihrer Wahlentscheidung gefragt werden. +++ Bundeskanzlerin Merkel (CDU) wird diesmal per Briefwahl bei der Bundstagswahl abstimmen. Das sagt Regierungssprecher Seibert in Berlin. Wegen der Corona-Pandemie wird erwartet, dass der Anteil der Briefwähler in diesem Jahr besonders hoch ist. Ob dies auch der Grund für die Entscheidung Merkels ist, sagte Seibert nicht. +++ FDP-Chef Christian Lindner geht im Falle eines Dreierbündnisses nach der Wahl davon aus, dass es zwei Vize-Kanzlerinnen oder Vize-Kanzler geben wird. Bei einer Konstellation mit mehreren Parteien müsse sich jede einbringen können, sagte Lindner "Bild Live". "Über 70 Prozent der Menschen werden nicht die Partei gewählt haben, die später den Kanzler stellt." Seine Schlussfolgerung: Nicht der Kanzler sei entscheidend, sondern die Koalition. Zwei Vizekanzler sollten aber nicht zu einem weiteren Ausbau der Ministerialbürokratie führen. Und doch müssten die Aufgaben der Koordination erfüllt werden. Das niedersächsische Justizministerium hat sich in die Debatte um die Spezialeinheit FIU eingeschaltet und den verspäteten Durchsuchungsstart im Finanzministerium verteidigt. Im Raum stand der Vorwurf, die Ermittlungen sollten im Wahlkampf ein schlechtes Licht auf SPD-Kanzlerkandidat Scholz werfen. Eine Zusammenfassung der Argumente. +++ Unions-Kanzlerkandidat Laschet hat für den Fall seines Wahlsiegs die Schaffung eines Digitalministeriums angekündigt. Dieses solle die Kompetenzen bündeln und die Digitalisierung auf allen Ebenen des Landes messbar vorantreiben, sagte er der "Rheinischen Post". Zudem würde unter seiner Führung ein nationaler Sicherheitsrat im Kanzleramt eingerichtet, der eine bessere Vernetzung innerer und äußerer Sicherheitsanliegen ermögliche. +++ Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock hat sich für E-Autos, regionale Produkte und den Mut für einen klimaneutralen Umbau der Wirtschaft eingesetzt. In der ZDF-Sendung "Klartext" sagte sie, sie würde dafür sorgen, dass die nächste Bundesregierung die Bildung einer transatlantischen Allianz für Klimaneutralität zwischen Europa und den USA vorantreibe. Zudem würden die Grünen den Ausbau der Windenergie forcieren mit dem Ziel, dafür bundesweit zwei Prozent der Landesfläche zu nutzen. Im Norden und Osten sei dieses Ziel fast erreicht, andernorts noch nicht. Donnerstag, 16. September +++ Bundeswahlleiter Thiel hat im Streit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa um Wahlumfragen eine juristische Niederlage erlitten. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden entschied nach Angaben von Forsa, dass es zulässig ist, bei veröffentlichten Wahlumfragen auch Angaben von Briefwählern einzubeziehen. Thiel sah darin einen Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz und hatte Forsa sowie anderen Instituten mit Bußgeldern gedroht. Dagegen hatte Forsa geklagt und nun Recht bekommen. In der Urteilsbegründung des Gerichts heißt es, die freie Bildung des Wählerwillens werde durch die Veröffentlichung von Umfragen unter Einbeziehung von Briefwählern nicht beeinträchtigt. Ein bußgeldbewehrtes Verbot verletzte daher sowohl die Handlungsfreiheit der Wahlforschungsinstitute als auch die freie Berichterstattung der Medien. +++ Die Spitzenkandidaten der Linken, Bartsch und Wissler, schlagen beim Streitthema Nato weichere Töne mit Blick auf kommende Koalitionsverhandlungen an. "Wir werden nach der Wahl sicher nicht sagen: Bevor wir überhaupt sondieren, muss Deutschland aus der Nato austreten. So funktioniert Politik nicht", sagte Bartsch in einem Interview mit dem Portal Web.de. Die Linke fordere nicht den Austritt Deutschlands aus der Nato und mache diesen nicht zur Bedingung für eine Koalition, sagte Wissler im Inforadio des RBB. +++ Eineinhalb Wochen vor der Bundestagswahl hat die FDP Bedingungen für eine mögliche Regierungsbeteiligung nach der Wahl genannt. "Wir schließen aus: höhere Steuern, wir schließen aus: ein Aufweichen der Schuldenbremse", sagte FDP-Chef Lindner in Berlin. Ausgeschlossen sei zudem eine Politik, "die auf Enteignungen setzt" und die "im Zentrum Verbote hat - also linke Politik". FDP-Generalsekretär Wissing fügte bei der gemeinsamen Pressekonferenz zu einem vom Präsidium beschlossenen vierseiteigen "Wahlaufruf" hinzu, seine Partei wolle "Klimaschutz durch Innovation" sowie durch "Erfinden statt Verbieten". "Staatlicher Dirigismus" sei der falsche Weg, stattdessen müsse es mehr Freiheit für Forschung und Entwicklung geben. In dem "Wahlaufruf" fasst die FDP die wichtigsten Ziele aus ihrem umfassenden Wahlprogramm zusammen. +++ Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Fratzscher, hat die Bundestagswahl als wegweisend für die kommenden Jahrzehnte bezeichnet. "Wir haben einen riesigen Reformstau", sagte er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Die Wahl am 26. September sei die wichtigste seit 1990. Deutschland stehe vor einem wichtigen Wendepunkt in vier zentralen Zukunftsfragen: beim Klimaschutz, bei digitaler Transformation, der wirtschaftlichen Transformation und im globalen Wettbewerb mit China und den USA. "Und außerdem beim Thema soziale Polarisierung, die durch die Pandemie massiv zugenommen hat. Dies sind gigantische Herausforderungen für alle Generationen. Man muss vorsichtig sein mit Superlativen, aber jetzt entscheidet sich, wohin Deutschland in den nächsten 50 Jahren steuert." +++ SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat sich zuversichtlich gezeigt, die FDP nach der Bundestagswahl zusammen mit den Grünen für eine Ampel-Koalition gewinnen zu können. "Ich bin ein erfahrener Verhandlungsführer und weiß, das zu Ihrer Beruhigung, worauf es ankommt", sagte Scholz auf eine entsprechende Frage in einem Interview mit dem "Handelsblatt". Die Liberalen stehen einem solchen Bündnis bislang skeptisch gegenüber. +++ Unions-Kanzlerkandidat Laschet hat sich in der ARD-Sendung "Wahlarena" Fragen von Bürgerinnen und Bürgern gestellt. Es müsse alles getan werden, um in den kommenden Jahren beim Klimaschutz "Tempo" zu machen, sagte Laschet auf kritische Fragen zum Kurs der Union. Es gehe um ein "klimaneutrales Industrieland". Die Frage sei, wie ein solcher Strukturwandel gelingen könne. Es müsse Klimaneutralität entstehen, aber auch die soziale Frage mitbeantwortet werden. Zudem sprach Laschet sich gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung aus. Er werde ein Bundeskanzler sein, der sich "mit jedem anlegt, der Rassismus predigt oder andere wegen ihrer Herkunft bekämpft", sagte Laschet. Er wünsche sich auch eine Bundesregierung, in der sich Vielfalt widerspiegele. Hier können Sie einen Beitrag aus den "Informationen am Morgen" mit einer Zusammenfassung der "Wahlarena" mit Laschet hören. Am 6. und 7. September hatten sich bereits Laschets Gegenkandidaten Scholz (SPD) und Baerbock (Grüne) den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern gestellt. Die Entwicklungen bis zum 15. September finden Sie hier. Die Wahlprogramme der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien CDU und CSU: "Gemeinsam für ein modernes Deutschland" - unsere Zusammenfassung finden Sie hier.Bündnis'90/Die Grünen: "Deutschland. Alles ist drin" - die Positionen der Partei in Kernfragen haben wir hier für Sie zusammengefasst.SPD: "Zukunftsprogramm" - was drin steht, haben wir hier aufgeschrieben.FDP: "Nie gab es mehr zu tun" - die Zusammenfassung unserer Redaktion gibt es hier. AfD: "Programm für Deutschland" - hier haben wir die Kernpositionen aus dem Programm zusammengefasst.Die Linke: "Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit" - zur Zusammenfassung geht es hier. Aber auch viele "nicht etablierte" Parteien treten zur Bundestagswahl an. Der Bundeswahlausschuss hat insgesamt 44 politische Vereinigungen als Parteien anerkannt. 43 Vereinigungen wurde die Zulassung versagt, weil nach Ansicht des Gremiums rechtliche Voraussetzungen fehlten. Qual der Wahl Sich im Dickicht der Wahlprogramme zurechtzufinden ist mühsam. Seit 2002 entwickelt die Bundeszentrale für politische Bildung deshalb zu Bundes- und Landtagswahlen den sogenannten Wahl-O-Mat. Es handelt sich dabei um ein Frage-und-Antwort-Tool. 38 Thesen können mit "stimme zu", "stimme nicht zu", "neutral" oder "These überspringen" beantwortet werden. Der Wahl-O-Mat errechnet dann, welche zur Wahl zugelassene Partei der eigenen politischen Position am nächsten steht. Der Wahl-O-Mat für die Bundestagswahl 2021 wird am 2. September veröffentlicht. Die Kanzlerkandidatin und ihre männlichen Konkurrenten Als einzige Frau geht Annalena Baerbock für die Grünen ins Rennen. Ihre Kür zur Kanzlerkandidatin - die 40-Jährige setzte sich parteiintern gegen den Ko-Vorsitzenden Robert Habeck durch - wurde gerade von vielen jüngeren Menschen, die den Grünen nahestehen, mit Begeisterung aufgenommen. Baerbock machte jedoch Fehler, die ihre Umfragewerte sinken ließen. Hier finden Sie ein Porträt der Politikerin. Außerdem ordnen wir ein, was hinter den gegen Baerbock erhobenen Plagiatsvorwürfen steckt. Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock (picture alliance | dpa | Kay Nietfeld ) Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat sich als Kanzlerkandidat der Union durchgesetzt - allerdings nach einem Wettstreit mit CSU-Chef Markus Söder, der auch in den eigenen Reihen als beschädigend für die Union empfunden wurde. Laschet regiert seit 2017 als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Wegen seines Handelns in der Corona-Krise und nach der Flutkatastrophe im Juli bekam er viel schlechte Presse. Zudem wurde auch ihm Plagiat vorgeworfen. Der unterlegene Bewerber um die Kanzlerkandidatur, Bayerns Ministerpräsident Söder, ließ es sich daraufhin nicht nehmen, "mehr Tempo und mehr Power" im Wahlkampf zu fordern. Hier haben wir zusammengefasst, wofür Armin Laschet steht. Der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet (CDU) (picture alliance / Flashpic | Jens Krick) Dass Olaf Scholz für die SPD die Kanzlerkandidatur übernimmt, war unumstritten. Die Sozialdemokraten waren die ersten, die ihren Spitzenkandidaten gekürt haben. Schon im August 2020 wurde er von der Parteispitze vorgeschlagen und auf einem Parteitag im Mai bestätigt. Nüchtern, sachlich, hanseatisch - so wird Scholz oft beschrieben. Für einen Sozialdemokraten vertritt er eher konservative Positionen, was ihm gelegentlich Schwierigkeiten mit dem linken Flügel einbringt. Der Kanzlerkandidat der SPD, Bundesfinanzminister Olaf Scholz (picture alliance / Andreas Franke) Auf der Internetseite des Bundeswahlleiters finden Sie aktuelle Mitteilungen bezüglich der Organisation der Bundestagswahl. #Bundestagswahl2021 #btw21 #btw2021 #Bundestag #Wahl2021
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+++ Die Entwicklungen vom 16. bis 24. September +++
"2021-09-26T00:00:00+02:00"
"2021-09-27T09:41:29.734000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zur-bundestagswahl-die-entwicklungen-vom-16-bis-100.html
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"Enorme Fortschritte von Albanien und Nordmazedonien"
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärte, man bräuche sichere rechtsstaatliche Bedingungen in den Westbalkan-Ländern (Imago) Christoph Heinemann: In Posen, polnisch Poznan, tagt seit gestern die Westbalkan-Konferenz. Dieses Format wurde 2014 von Deutschland ins Leben gerufen und soll die Balkanländer an eine künftige Mitgliedschaft in der EU heranführen. Zu den Teilnehmerstaaten zählen Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und das Kosovo sowie zehn EU-Länder. Bei der Unterstützung der Balkanstaaten spielen auch sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen der EU eine Rolle. Angela Merkel wird heute in Posen erwartet. Bis gestern wurde Deutschland bei dieser Konferenz von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vertreten, den wir vor einer Stunde in Helsinki erreicht haben. Die Begrüßung haben Sie gerade schon gehört und hören Sie jetzt noch einmal. – Guten Morgen, Herr Altmaier! Peter Altmaier: Guten Morgen, Herr Heinemann. Heinemann: Ist die EU gegenwärtig in der Lage, neue Länder aufzunehmen? Altmaier: Das ist die falsche Frage. Die Frage ist, ob die EU in der Lage ist, Stabilität in Europa mit voranzubringen, anderen Ländern zu helfen, sich an die Standards unseres Binnenmarktes anzugleichen, und dadurch, durch Handel und Annäherung, auch Chancen für die deutsche und für die europäische Wirtschaft zu eröffnen. Das ist eindeutig ja, und gerade jetzt, wo eine neue EU-Kommission gebildet wird, wo sich vieles in Brüssel neu sortiert, ist es wichtig, dass wir die bewährten Formate fortsetzen. Dieser Prozess ist von Deutschland initiiert worden vor fünf Jahren. Er hat große Erfolge in den letzten Monaten und Jahren gebracht und deshalb muss er fortgesetzt werden. Heinemann: Aber die EU muss Länder auch integrieren können. Insofern ist es vielleicht doch die richtige Frage. Ist die EU in der Lage, Länder aufzunehmen? Altmaier: Die Reihenfolge, Herr Heinemann, ist eine ganz andere. Wir haben mit einer Reihe von Westbalkan-Staaten Beitrittsverhandlungen begonnen, und die Frage, ob und wann diese Staaten der EU beitreten können, hängt in erster Linie davon ab, ob und wann diese Verhandlungen erfolgreich beendet sind. Es gibt keinen politischen Rabatt. Es müssen bei allen Beitrittsverhandlungen immer große Anforderungen erfüllt werden von den Ländern, die beitreten wollen, und die Europäische Union muss sich selbstverständlich ihrerseits die Frage stellen, wie sie selbst vorbereitet ist. Aber dieser Prozess, der seit vielen Jahren läuft, der geht erst einmal weiter, und die europäischen Institutionen haben sich dazu mehrfach klar positioniert. "Nationalismus ist die falsche Herangehensweise" Heinemann: Serbien ist zum Beispiel sehr stark von Nationalismus geprägt. Benötigt die EU mehr Nationalisten? Altmaier: Nein! Aber die EU muss dazu beitragen, dass die Ethnien und die Bevölkerungsgruppen in der Region sich stärker miteinander versöhnen, damit Spannungen abgebaut werden, damit wirtschaftlicher Aufschwung möglich wird. Wir haben mit Serbien unseren bilateralen Handel in den letzten vier, fünf Jahren fast verdoppelt, ebenso mit dem Kosovo und mit Mazedonien, mit Nordmazedonien, und wenn ich beispielsweise im Oktober neben Kroatien auch Serbien besuchen werde, wird genau das meine Botschaft sein. Nationalismus ist die falsche Herangehensweise. Wir brauchen in allen Westbalkan-Ländern im Übrigen nicht nur Toleranz; wir brauchen sichere rechtsstaatliche Bedingungen. Wir brauchen unabhängige Gerichte. Es muss die Korruption bekämpft werden. Darüber reden wir unter Freunden. Und die Notwendigkeit, dies zu tun, die ergab sich auch im Vorgriff auf die Osterweiterung vor 15 Jahren. Die ergab sich bei anderer Gelegenheit und es geht darum, dass die Europäische Union an ihrer Südostgrenze mit dazu beiträgt, dass Stabilität besteht. Heinemann: Herr Altmaier, Sie haben davon gesprochen, dass die Länder des Westbalkans in den EU-Binnenmarkt einbezogen werden sollten. Warum reicht das nicht aus? Warum muss es eine Mitgliedschaft sein? Altmaier: Noch einmal: Die Europäische Union hat ja in vielen Fällen Beitrittsanträge erhalten von anderen Staaten um sie herum. In manchen Fällen wird über diese Anträge verhandelt und geredet; in anderen Fällen wie der Türkei zum Beispiel liegen die Verhandlungen seit Jahren auf Eis. Und es gibt wiederum andere Fälle, in denen wir mit den Staaten nicht verhandeln, obwohl sie dies möchten. Das sind Entscheidungen, die treffen die Staats- und Regierungschefs und der Ministerrat der Europäischen Union, die Mitgliedsstaaten gemeinsam mit der Europäischen Kommission, und selbstverständlich muss immer wieder überprüft werden, wo wir stehen, wie die Fortschritte sind. Das wird Aufgabe der neuen EU-Kommission sein und das sollten wir in Ruhe abwarten. Europäische Union muss mit einer Stimme sprechen Heinemann: Nun hat Polens Außenminister Czaputowicz sich gegen ein Hinauszögern des Beginns von EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien ausgesprochen. Sollte man da auch rasch loslegen? Altmaier: Noch einmal: Ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe als Wirtschaftsminister ist, Empfehlungen zu geben über Entscheidungen, die auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs letzten Endes vorbereitet werden und von der Kommission als Ganzes getroffen werden. Die Europäische Union muss mit einer Stimme handeln; das wird zurecht von uns erwartet. Als Wirtschaftsminister möchte ich allerdings, dass es in all diesen Ländern eine stabile wirtschaftliche Entwicklung gibt, und egal wann und unter welchen Voraussetzungen ein Beitritt vielleicht irgendwann stattfindet, muss sichergestellt sein, dass die Menschen in der Region eine Perspektive haben auf einen bescheidenen Wohlstand, auf Teilhabe am Wirtschaftswachstum, auf Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze. Deshalb arbeiten wir auch sehr eng zusammen mit diesen Ländern. Wir haben zum Beispiel eine Einkaufskonferenz organisiert. Wir haben einen Digitalgipfel ins Leben gerufen, der dazu geführt hat, dass ehemals verfeindete Länder jetzt ein Roaming-Abkommen geschlossen haben. Wir bilden junge mittelständische Unternehmen aus im Bereich der beruflichen Bildung. Das sind konkrete Schritte. Die politischen Entscheidungen, die fallen andernorts. Dafür interessiert sich auch der Deutsche Bundestag und seine Fraktionen, und das ist in Frankreich oder Italien ganz genauso. Heinemann: Dann gezielt die Frage an den Bundeswirtschaftsminister: Sind Albanien und Nordmazedonien wirtschaftlich fit für die EU? Altmaier: Nein. Das ist im Augenblick eine Frage, die man sicherlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Ja beantworten kann. Allerdings sehen wir, dass diese Länder enorme Fortschritte gemacht haben. Die Wirtschaft in diesen Ländern ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen und die Annäherung an das, was wir europäischer Binnenmarkt nennen, hat stattgefunden. Allerdings sie hat noch nicht ein Niveau erreicht, wo der Bundeswirtschaftsminister sagen könnte, das ist jetzt das Ziel, das wir uns gesetzt haben. "Es ist keine gezielte Strategie gegen US-Unternehmen" Heinemann: Herr Altmaier, Frankreich, Polen und Deutschland bilden zusammen das sogenannte Weimarer Dreieck und schlagen nun in einem gemeinsamen Papier vor, die Wettbewerbspolitik der EU zu modernisieren. Ein Ziel: Kleine junge Unternehmen vor großen Technologiekonzernen schützen. Was schwebt Ihnen vor? Altmaier: Ja. Erst einmal ist es so, dass wir die Wirtschaftsdebatte stärker in den Mittelpunkt rücken müssen. Ich habe dafür eine Industriestrategie vorgelegt. Da haben wir gemeinsam mit Frankreich bereits vor einigen Monaten ein Manifest veröffentlicht. Ein wichtiger Bereich aus diesem Manifest, nämlich die Wettbewerbspolitik, die haben wir jetzt gemeinsam mit Polen zu einer Initiative ausgearbeitet. Wir wollen erreichen, dass das Wettbewerbsrecht modernisiert wird, dass junge Unternehmen, Startups, die im Normalfall eigentlich keine Chance hätten, weil der Markt schon von den großen Internetunternehmen Google, Amazon, Microsoft, Apple erobert worden ist, dass wir diesen Unternehmen eine Chance geben. Dafür haben wir in Deutschland eine Kommission "Wettbewerbsrecht 4.0" eingesetzt. Wir wollen aber auch, dass beim europäischen Wettbewerb, bei den Wettbewerbsentscheidungen künftig stärker globale Aspekte, globaler Wettbewerb berücksichtigt werden können. Das ist eine Initiative, die zeigt erstens: Polen, Deutschland, Frankreich sind gemeinsam handlungsfähig. Zweitens: Wettbewerbspolitik ist wichtig für Arbeitsplätze. Und drittens: Es geht nicht um einen grundlegenden Politikwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung der bestehenden Rechtsnormen im Hinblick auf das, was andere Länder im Rahmen der Globalisierung vorhaben und auch umsetzen. Heinemann: Sie haben Google, Amazon, Apple und Microsoft genannt. Ist das eine gezielte Strategie gegen US-Unternehmen? Altmaier: Nein, es ist keine gezielte Strategie gegen US-Unternehmen. Aber im Zeitalter der Digitalisierung werden große Internet-Plattformen in Zukunft immer wichtiger, weil Händler beispielsweise kaum eine Chance haben, ihre Waren global zu vermarkten, wenn sie nicht auf einer dieser Plattformen gelistet sind. Wir sind der Auffassung, dass es auch dort wie anderswo nach Möglichkeit keine Monopole geben soll, dass Wettbewerb gewährleistet sein muss, fairer Wettbewerb, und natürlich, dass Europa aufholen muss bei der Digitalisierung. Wir müssen einfach besser werden. Wir müssen erreichen, dass sich solche Unternehmen auch in Europa bilden, und das war das Ziel unserer Besprechungen. Und dass wir da einig geworden sind, erhöht unsere Chancen signifikant, dass wir auch zu einer gemeinsamen europäischen Industriestrategie noch in diesem Jahr oder Anfang nächsten Jahres spätestens kommen können. "Ich glaube, das versteht jeder Bürger in Deutschland" Heinemann: Haben Sie das Papier schon an Ursula von der Leyen geschickt? Altmaier: Ich glaube, dass Ursula von der Leyen sehr viele Papiere von ganz vielen Leuten im Augenblick erhält. Ich bin hier in Helsinki und gestern in Polen überall auch angesprochen worden und es überwiegt eindeutig in Europa die Erleichterung, dass diese schwierige Führungskrise gelöst worden ist. Ich finde es schade, dass Manfred Weber und Frans Timmermans in dieser Weise in den Mittelpunkt gerückt wurden, ohne dass sie am Ende dieses Amt bekommen konnten, aber wir haben ein überzeugendes Personalpaket. Es werden große Hoffnungen auf Ursula von der Leyen gesetzt und ich würde mir wünschen, dass wir auch in Deutschland fähig und imstande wären, sie gemeinsam und geschlossen zu unterstützen, nicht nur CDU/CSU, sondern auch SPD, Grüne und FDP. Heinemann: Wären Sie gern EU-Kommissionspräsident geworden? Altmaier: Auf theoretische Fragen pflege ich, keine Antworten zu geben. Heinemann: Die war ganz konkret! Altmaier: Wir haben als CDU/CSU ganz konkret Manfred Weber unterstützt und als deutlich wurde, dass es für ihn leider keine Chance gab, aber für Ursula von der Leyen, haben wir genauso entschlossen diese Chance wahrgenommen. Ich glaube, das versteht jeder Bürger in Deutschland. Es geht darum, dass wir europäische und deutsche Interessen unter einen Hut bringen, und das ist auch mein wichtigstes Anliegen, seit ich Politik mache. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Altmaier im Gespräch mit Christoph Heinemann
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat die Annäherung von Albanien und Nordmazedonien an den EU-Binnenmarkt begrüßt. Allerdings seien noch nicht alle nötigen Ziele erreicht, um für eine EU-Mitgliedschaft in Frage zu kommen, sagte Altmaier anlässlich der Westbalkan-Konferenz im Dlf.
"2019-07-05T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:35.872000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/westbalkan-laender-und-die-eu-enorme-fortschritte-von-100.html
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Wurmkur gegen Arthritis
Bei Athritis richtet sich unser Immunsystem gegen uns selbst. Makrophagen wie diese attackieren dann Knorpelzellen in den Gelenken. (picture alliance / Robba) Wenn ein Mensch eine rheumatoide Arthritis entwickelt, richten sich die Zellen seines Immunsystems gegen die Knorpelzellen in den Gelenken. Dieser Angriff kann so heftig sein, dass die Gelenke ganz zerstört werden. Warum das Abwehrsystem bei manchen Menschen verrücktspielt und den Körper angreift, ist noch nicht in allen Einzelheiten geklärt. Doch schon seit einigen Jahren verdichten sich die Hinweise, dass genau diejenigen Zellen des Immunsystems entgleisen, die sich normalerweise auch gegen Parasiteninfektionen wehren. Der Gedanke lag daher nah, das fehlgeleitete Immunsystem von Arthritispatienten mithilfe von Würmern umzupolen. Genau das ist Aline Bozec und ihre Kollegen vom Universitätsklinikum Erlangen nun gelungen. Wenn auch nur bei Mäusen, die ebenfalls eine Arthritis entwickeln können. "Wir haben die Tiere mit einem Parasiten infiziert und gesehen, dass sich anschließend in ihren Gelenken bestimmte Immunzellen, so genannte 'eosinophile Granulozyten', ansammelten, die die Mäuse vor dem Ausbruch der Krankheit schützten. Diese Zellen sind also in der Lage, die Entzündungen in den Gelenken zu verhindern, indem sie die Immunantwort verändern. Und das hat zur Linderung der Symptome geführt." Dass die Forscher diese Zellen vermehrt in den Gelenken der Mäuse finden, spricht dafür, dass die Wurminfektion das Immunsystem quasi umgepolt hat. Normalerweise erhalten Makrophagen, auch Fresszellen genannt, bei einer Arthritis vom Immunsystem den Befehl, die Gelenke anzugreifen. Doch die eingewanderten eosinophilen Granulozyten hinderten die Makrophagen daran, das Knorpelgewebe zu attackieren. Nun hoffen die Forscher, auch das Immunsystem von Menschen mit Arthritis mithilfe von Parasiten wieder auf Kurs bringen zu können. "Unsere Ergebnisse sind zwar vorläufig, doch wir denken, dass das auch bei Menschen funktioniert. Wir finden bei Arthritis Patienten ganz ähnliche Immunzellen in den Gelenken und haben bei ihnen ebenfalls vermehrt eosinophilen Granulozyten entdeckt." Dass Menschen mit Arthritis zukünftig mit Würmern infiziert werden, um ihre Symptome zu lindern, kann sich Aline Bozec zwar nicht vorstellen. Doch es wäre es denkbar, charakteristische Moleküle eines Parasiten einzusetzen, meint die Forscherin. Ähnlich wie bei einer aktiven Impfung, bei der Menschen abgetötete Erreger gespritzt werden, um sie gegen eine Krankheit zu immunisieren. "Ich möchte Patienten dringend davon abraten, sich selbst mit Würmern zu infizieren. Zuerst müssen wir zeigen, dass das auch beim Menschen funktioniert. Dann wäre es aber denkbar, dass wir einen nicht-infektiösen Parasiten nehmen oder einzelne Moleküle eines solchen Wurms. Das könnte ausreichen, um in Patienten eine entsprechende Immunreaktion auszulösen." Ganz ähnliche Studien an Patienten laufen bereits. Am Immanuel Krankenhaus in Berlin können sich Arthritispatienten seit 2013 im Rahmen einer Pilotstudie mit den Eiern des Schweinepeitschenwurms behandeln lassen. Das ist ein Parasit, der normalerweise nur Schweine befällt. Auch an Menschen mit Multipler Sklerose, ebenfalls eine Autoimmunkrankheit, wurden diese Würmer bereits getestet. Zwar gibt es für diese Untersuchungen noch keine Ergebnisse. Doch Andreas Krause, der die Arthritisstudie in Berlin leitet, war bei Studienbeginn zuversichtlich, dass die Wurmkur seinen Patienten hilft. "Es gibt Einzelbeobachtungen, wo diese Therapieprinzip beim Menschen schon positive Effekte auf das entzündliche Gelenkrheuma gezeigt haben, also auf die Rheumatoide Arthritis. Und es gibt positive Tierversuche, die zwar nur einen begrenzten Übertragungseffekt auf den Menschen haben, aber sie zeigen, dass dieses Therapiekonzept funktionieren könnte."
Von Christine Westerhaus
Weil wir zu sauber leben und nur in sehr seltenen Fällen von Parasiten infiziert werden, ist die körpereigene Abwehr unterfordert. Wir reagiert auf harmlose Dinge wie Pollen oder körpereigene Zellen mit Allergien oder Autoimmunerkrankungen. Nun haben Forscher bei Mäusen nachgewiesen, dass diese nicht an der Autoimmunerkrankung Arthritis erkranken, wenn sie von bestimmten Würmern infiziert wurden.
"2016-06-08T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:34:01.112000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hygienehypothese-wurmkur-gegen-arthritis-100.html
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"Wollüsterey" und Gattenliebe
Denkmal des Reformators Martin Luther mit der Stadtkirche im Hintergrund in der Lutherstadt Wittenberg (dpa / picture alliance / Peter Endig) Als sich am 15. Juni 1525 Martin Luther in Wittenberg mit Katharina von Bora verehelicht, verliert sein sonst so geduldiger Mitstreiter Philipp Melanchthon die Fassung: "Unerwarteter Weise hat Luther die Bora geheiratet, ohne auch nur einen seiner Freunde vorher über seine Absicht zu unterrichten. Ich glaube, der Vorfall ist folgendermaßen zu erklären: Der Mann ist überaus leicht zu verführen, und so haben ihn die Nonnen, die ihm auf alle Weise nachstellten, umgarnt. Vielleicht hat dieser häufige Verkehr mit den Nonnen ihn, obgleich er ein edler und wackerer Mann ist, verweichlicht und das Feuer bei ihm auflodern lassen." Dabei hatte Luther noch im November 1524 geschrieben: "Bei der Gesinnung, die ich gehabt habe und noch habe, wird es nicht geschehen, dass ich heirate. Nicht, dass ich mein Fleisch und Geschlecht nicht spüre – ich bin weder Holz noch Stein, aber mein Sinn steht der Ehe fern." Ordensfrauen wiederum – wie Katharina von Bora ihren Klöstern entlaufen – konnten gar nicht anders, als sich zu verheiraten. Wo hätten sie unterkommen, wie sich ernähren sollen? Viele von ihnen entstammten dem verarmten Landadel und waren von ihren Eltern nicht aus religiösen, sondern aus ganz pragmatischen Gründen in Klöstern untergebracht worden. Katharina flieht in der Osternacht 1523 mit elf weiteren Nonnen aus einem Zisterzienserinnenkloster. Für Luther ist sie, man muss es so ausdrücken, dritte Wahl. Zwei andere Ordensfrauen hatten ihn lieber doch nicht geheiratet, und auch Katharina wäre lieber mit einem Nürnberger Patriziersohn die Ehe eingegangen. Doch dessen Eltern wehren sich gegen das mitgiftlose Adelsfräulein. So bleibt der Katharina der Martin und dem Martin die Katharina. Das ist keine Konstellation, die man als 'Liebesheirat' bezeichnen möchte. Und doch wird aus dieser Vernunftehe eine Liebesgeschichte, die Geschichte einer über die Jahre aus wechselseitiger Achtung emporwachsenden ehelichen Liebe. Zu den anrührendsten Äußerungen, die von Luther, dem raubeinigen Tribun der Reformation, überliefert sind, gehört eine Bemerkung aus seinen Tischreden: "Das erste Jahr der Ehe macht einem seltsame Gedanken. Denn wenn man am Tische sitzt, denkt man: Vorher war ich allein, nun bin ich zu zweit. Wenn man im Bette erwacht, sieht man ein Paar Zöpfe neben sich liegen, welche man früher nicht sah." Doch Luther wäre nicht Luther, würde er diesem sanftmütigen Staunen über die Zöpfe neben sich auf dem Kopfkissen nicht sofort hinterher poltern: "Ebenso verursachen die Frauen ihren Männern, wenn diese auch noch so sehr beschäftigt sind, viele unnötige Störungen." Und wenn erst noch Kinder dazu kommen! "Das sind die Nöte der Ehe. Wir fürchten uns alle vor dem Eigensinn der Frauen, vor dem Geschrei der Kinder, vor den Sorgen und vor schlechten Nachbarn." Gleichwohl gehört für Luther die Ehe zu den Lebenspflichten, auch wenn eine die männliche Freiheit verteidigende Vernunft noch so sehr vor ihr warnt. In Luthers Traktat "Vom ehelichen Leben" heißt es: "Wenn die natürliche Vernunft das eheliche Leben ansieht, so rümpft sie die Nase und spricht: 'Ach, soll ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nacht wachen, seines Schreiens warten, seinen Grind heilen, danach das Weib pflegen, sie ernähren, arbeiten, hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was denn mehr an Unlust und Mühe der Ehestand lehrt. Ei, soll ich so gefangen sein?'" Wie stark sie in Luther spricht, die Stimme dieser "natürlichen Vernunft", das ist nicht zu überhören. Aber es ist nicht die einzige Stimme, die in ihm spricht: "Was sagt aber der christliche Glaube hierzu? 'Ach Gott, weil ich gewiss bin, dass du mich als einen Mann geschaffen und von meinem Leib das Kind gezeugt hast, so weiß ich auch gewiss, dass dir's aufs allerbeste gefällt, und bekenne dir, dass ich nicht würdig bin, dass ich das Kindlein wiege, noch seine Windel wasche, noch sein oder seiner Mutter warte. Ach wie gerne will ich solches tun, und wenn's noch geringer und verachteter wäre.'" Das Eheleben wird geradezu zum Ehedienst. Kein Mann darf sich ihm entziehen, es sei denn, er wäre zur Keuschheit geboren. Und das sind die wenigsten. Das "auflodernde Feuer", von dem Melanchthon etwas erschrocken spricht, es brennt in allen. Dennoch will auch der zarte Melanchthon, gerade 150 Zentimeter groß, zunächst lieber mit seinen Büchern allein bleiben. Luther aber meint, der Kollege studiere zu viel und esse zu wenig. Melanchthon brauche eine Frau, die ihn daran erinnere, dass ein Mann, sogar wenn er ein großer Gelehrter sei, nicht nur einen Kopf habe, sondern auch einen Bauch. Und so drängt Luther den Kampfgefährten in die Ehe, und zwar schon 1520, fünf Jahre vor seiner eigenen Hochzeit. Luthers unaufhörliches Predigen für die Ehe im Allgemeinen und sein Einsatz für die Priesterehe im Besonderen bedeutet aber keineswegs eine Aufwertung des Leiblichen. Luther erinnert unermüdlich an das, was Paulus über das sündige Fleisch des Menschen lehrt. Der eheliche Verkehr ist für ihn nur das kleinere Übel: Besser als "die stumme Sünde" der Onanie, gesünder als das Herumhuren in Bordellen und anständiger als die "Wollüsterey" in fremden Ehebetten. Alles in allem ist der Mensch nach dem Sündenfall und nach der Vertreibung aus dem Paradies mit seiner Lust geschlagen wie mit einem Fluch. Und die Ehe ist eine Notlösung, die gewissermaßen institutionalisierte Zähmung der Sinnlichkeit: "Denn nun ist die Liebe nicht mehr rein, denn wiewohl ein ehelich Gemahl das andere haben will, so sucht doch auch ein jeglicher seine Lust an dem andern, und das fälscht diese Liebe. Deshalb ist der eheliche Stand nun nicht mehr rein und ohne Sünde, und die fleischliche Anfechtung ist so groß und wütend geworden, dass der eheliche Stand nun hinfort gleich einem Spital der Siechen ist, auf dass sie nicht in schwerere Sünde fallen." Die Fortpflanzung ist also Pflicht, der Geschlechtsverkehr aber dennoch Sünde. Wie nun verhält sich der Schöpfer zu dieser Zwangslage seines Geschöpfs? Luther nimmt an, dass Gott gewissermaßen ein Auge zudrückt. "Gleichwie die eheliche Pflicht nicht ohne Sünde geschieht, und doch Gott solchem Werk um der Notwendigkeit willen durch die Finger sieht, weil es nicht anders sein kann." Der Mensch soll sich fortpflanzen, und dafür ist die 'Sünde' der Sexualität nun einmal unvermeidlich. Eine frohe und freie Bejahung menschlicher Sinnlichkeit klingt anders. Vielleicht so wie in diesem von einem anonymen Verfasser stammenden Lied: "Im Maien, im Maien, hört man die Hahnen kreien. Freu dich du schönes Bauernmaidel, wir wollen Haber saien." Haber saien, also Hafer säen, heißt es in diesem Lied, das von jungen Leuten handelt, die der Hafer sticht. Ludwig Senfl, ein Zeitgenosse Luthers, hat den anonymen Text vertont. In der zweiten Strophe heißt es: "Pumb, Maidlein pumb! Ich freu mich dein ganz umb und umb. Wo ich freundlich zu dir kumm, hinter dem Ofen umb und umb. Freu dich du schönes Bauernmaidel. Ich kumm, ich kumm, ich kumm!" Während sich in Senfls deftigem Lied die Bauernmaid freuen soll, wird in Luthers strenger Sexualmoral das Weib aufgefordert, seine eheliche Pflicht zu erfüllen. "Wo nun eins sich sperrt und nicht will, da nimmt und raubet es seinen Leib, den es gegeben hat dem andern; das ist wider die Ehe, und die Ehe ist zerrissen. Darum muss hier weltliche Obrigkeit das Weib zwingen oder umbringen." Haben wir recht gehört? "Umbringen!" Das ist nicht etwa eine Entgleisung oder eine nicht ganz wörtlich zu nehmende Übertreibung. Es ist die tatsächliche Auffassung eines Mannes, der nicht nur das Weltliche und das Religiöse voneinander scheidet, sondern auch den Geist vom Fleisch, die Seele vom Leib, das himmlische Heil vom irdischen Glück. Die Keuschheit vor der Ehe und die Sexualpflicht in ihr werden der Kontrolle der weltlichen Obrigkeit unterstellt. Der evangelische Pfarrer gibt bloß seinen Segen dazu. Aber nur im übertragenen Sinn. Denn Luther spricht der Ehe die sakramentale Würde ab, die ihr, beginnend im 12. Jahrhundert, von der römisch-katholischen Kirche nach und nach zugeschrieben worden war – bis zur endgültigen Bekräftigung auf dem Trienter Konzil in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Wie immer in wichtigen Glaubensfragen beruft Luther sich dabei auf die Bibel, in der nirgends von einer besonderen Heiligkeit der Ehe die Rede sei. So wenig wie von einer Pflicht der Priester zur Ehelosigkeit. Auch Pfarrer seien Männer, unterliegen also der "Schwachheit", wie Luther den Sexualtrieb bezeichnet. Das ist jedoch nicht der einzige Grund, warum auch der Pfarrer eine Frau braucht: "Es kann niemals ein Pfarrer eines Weibes ermangeln, nicht allein der Schwachheit, sondern vielmehr des Haushaltes halber." Die bis zur Unmenschlichkeit reichende Härte, zu der Luther bei Grundsatzfragen in der Lage ist, zeigt sich besonders in seiner Haltung zum biblischen Fluch, den ein erzürnter Gott über Eva, die 'Verführerin', verhängt hat. In Luthers Übersetzung: "Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst. Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären, und dein Wille soll deinem Mann unterworfen sein, und er soll dein Herr sein." Luther bekräftigt dieses Zorneswort aus der Genesis, und zwar in einer selbst für seine Zeit unerhört brutalen Weise: "Also soll man ein Weib trösten und stärken in Kindesnöten, nicht mit Sankt Margareten Legenden ..." ... die Heilige Margareta galt als Schutzpatronin der Schwangeren. "... nicht mit Sankt Margareten Legenden und anderem närrischen Weiberwerk, sondern man soll sagen: 'Gedenk, dass du ein Weib bist, und dies Werk Gott an dir gefällt, tröste dich seines Willens fröhlich und lass ihm sein Recht an dir. Gib das Kind her und tu dazu mit aller Macht. Stirbst du darüber, so fahr hin, wohl dir, denn du stirbst im edlen Werk und Gehorsam Gottes.'" An einer anderen Stelle seiner Abhandlung – oder sollte man sagen: seiner Kampfschrift "Vom ehelichen Leben?" – äußert er mitleidige Verachtung für kinderlose Frauen und fordert erneut die weibliche Bereitschaft zum Opfertod im Kindbett: "Daher man auch sieht, wie schwach und ungesund die unfruchtbaren Weiber sind; die aber fruchtbar sind, sind gesünder, reinlicher und lustiger. Ob sie sich aber auch müde und zuletzt tottragen, das schadet nicht, lass sie sich nur tottragen, sie sind drum da." Ein Federstrich auf dem Papier ist schnell getan, ein Wort von der Kanzel rasch gesprochen. Doch selbst Luther, der große theologische Eiferer, ist – Gott sei Dank – auch nur ein Alltagsmann und besorgter Gatte. Als eine Bekannte der Familie im Kindbett stirbt, hadert er mit seinem Herrgott, wie es nur jemand wagen darf, der auf vertrautem Fuß mit ihm steht: "Es muss die größte Traurigkeit sein, wenn zwei fromme Eheleute, die wohl mit einander umgehen, sich lieb und wert gehalten haben, leiblich voneinander scheiden müssen. Unser Herrgott ist der größte Ehebrecher, der selbige fügt zusammen und scheidet auch wieder voneinander. Wie unbeständig ist doch unser Leben! Ach, es muss wehe tun, wenn Eheleute, die sich lieb haben, so geschieden werden." Wenn aber die Frau die Geburt überlebt, so Luther, soll sie den Kindern eine gute Mutter, dem Mann eine gehorsame Gefährtin und dem Haushalt eine sparsame Vorsteherin sein. Wenn das gelingt, kann sich Luther auch schon mal zu einem Lob der Frau hinreißen lassen. "Frauen reden über die Dinge des Haushalts mit großer Liebe und außerordentlicher Beredsamkeit, und zwar so, dass sie sogar Cicero in den Schatten stellen." Dieses Lob wird aber sofort zum Tadel, wenn die Frauen ihre von Gott und Luther gezogenen Grenzen überschreiten: "Wenn sie über ihre Haushaltsfragen hinaus über öffentliche Angelegenheit reden, so taugt das nichts. Denn wenn es ihnen auch an Worten nicht fehlt, so fehlt es ihnen doch am richtigen Verständnis für die Sache." Haus und Familie sind zugleich Bannkreis der Frau und Fundament des gesamten menschlichen Lebens. Darin liege Wesen und Wert der Ehe, keineswegs bloß im Kindergebären. "Stellt euch vor, es gäbe das weibliche Geschlecht nicht. Das Haus und was zum Haushalt gehört, würde zusammenstürzen, die Staaten und die Gemeinden gingen zugrunde. Die Welt kann also ohne Frauen nicht bestehen, sogar wenn die Männer die Kinder selbst auf die Welt bringen könnten." Selbst wenn die Männer die Kinder selbst auf die Welt bringen könnten, bräuchten sie immer noch Frauen, die den Abwasch machen. So ließe sich diese Haltung sarkastisch zusammenzufassen. Die Frauen haben gegen diesen Gehorsamsdienst nah am Mann schon immer aufbegehrt, was ihnen den Vorwurf weiblicher Herrschsucht einbringt. Luther argwöhnt: "Ich glaube, dass die Weiber die beiden Strafen, nämlich Schmerz und Kümmernis, wenn sie schwanger gehen, eher und lieber, ja auch williger und geduldiger leiden wollten, denn dass sie sollen den Männern untertan und gehorsam sein; so gerne herrschen und regieren die Weiber von Natur, ihrer ersten Mutter Eva nach." Luther hat bekanntlich damit kokettiert, seine Katharina als "Herrn Käthe" zu bezeichnen, im Sinne von "mein Herr, die Käthe". Ganz ähnlich, wie noch heute mancher Gatte die Gattin als "Chefin" zu titulieren pflegt. Doch wie es um die eheliche Machtbalance in jedem Einzelfall auch immer bestellt sein mag, mit Eva aus der Mannesrippe und der schrecklichen Erkenntnis, dass man nackt ist, fing alles an: die ganze lange Unheilsgeschichte der Menschheit mit Mord und Totschlag, Frauenraub und Eheintrigen, Erbschleicherei und Bruderkrieg, Sodom und Gomorrha. Und immer schlagen die 'Weiber' der Eva nach und alle Töchter ihren Müttern. Deshalb rät Luther: "Wenn man heiraten will, soll man nicht nach dem Vater, sondern nach dem Leumund der Mutter des jungen Mädchens fragen. Warum? Weil das Bier im allgemeinen nach dem Fass riecht." Der wenig charmante Vergleich stammt unmittelbar aus Luthers Alltag. Katharina weiß: Wenn sie ihrem Doktor stets eine Kanne selbst gebrauten Biers vorsetzt, ist er glücklich. Wie sie überhaupt eine tüchtige Hausfrau ist, und außerdem eine geschäftstüchtige Vermögensverwalterin, die sie nach der Geschlechterlehre ihres Mannes gar nicht sein dürfte. Jedenfalls mehrt sie den Familienbesitz, kauft Äcker und Weinberge, während Luther lediglich die Goldpokale, die ihm von reichen Anhängern verehrt werden, in den Schrank stellt. Immerhin ist er fair genug, in seinem Testament zu verfügen, dass diese Pokale und auch ein ansehnlicher Teil des übrigen Besitzes nach seinem Tod zunächst Katharina zufallen, nicht den Kindern. Nachdem Luther im Februar 1546 stirbt, dick gefüttert, aber erschöpft vom ewigen Schreiben, Predigen und Organisieren der Reformation, gibt die Witwe in einem Brief noch einmal eine bewegende Liebeserklärung ab: "Denn wer wollte nicht billig betrübt und bekümmert sein um einen solchen teuren Mann, als mein lieber Herr gewesen ist, der nicht allein einer Stadt oder einigen Ländern, sondern der ganzen Welt viel gedient hat. Deshalb ich wahrlich so sehr betrübt bin, dass ich mein großes Herzeleid keinem Menschen sagen kann und nicht weiß, wie mir zu Sinn und zu Mut ist. Ich kann weder essen noch trinken, auch dazu nicht schlafen."
Von Bruno Preisendörfer
"Mein Sinn steht der Ehe fern", schrieb Martin Luther, als er noch Mönch war. Dann heiratete er Katharina von Bora, die entlaufene Ordensfrau. Wenn der Reformator über die Ehe schrieb, dann manchmal anrührend, meist aber raubeinig und direkt. Warum war für Luther die Fortpflanzung Pflicht, warum der Geschlechtsverkehr dennoch Sünde – und warum nannte der derbe Patron seine Frau "Herr Käthe"?
"2015-10-14T20:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:04:07.762000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ehe-als-lebenspflicht-bei-luther-wolluesterey-und-100.html
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Ukrainische Kampfpilotin Sawtschenko vor Gericht
Die ukrainische Pilotin Nadeschda Sawtschenko während einer Anhörung vor Gericht. (Imago / ITAR-Tass / Vyacheslav Prokofyev) Der Prozess gegen die ukrainische Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko findet fernab von Moskau in der kleinen südrussischen Stadt Donezk statt, nicht zu verwechseln mit der Separatistenhochburg Donezk in der Ostukraine. Den Antrag der Verteidigung, den Prozess nach Moskau zu verlegen, hatte das Gericht abgelehnt. Sawtschenko drohen bis zu 25 Jahre Haft. Russland wirft ihr vor, sie habe während der Kämpfe im Donbass im Juni 2014 den Aufenthaltsort einer Gruppe von Zivilisten ermittelt und die Koordinaten telefonisch an das ukrainische Militär weitergegeben. Das Militär habe daraufhin Artilleriefeuer eröffnet und zwei Mitarbeiter des russischen Fernsehens getötet. Wladimir Markin, Sprecher der russischen Ermittlungsbehörde: "Es wurden unwiderlegbare, ich wiederhole: unwiderlegbare Beweise dafür gesammelt, dass Sawtschenko direkt an den Verbrechen beteiligt war." Die Verteidigung will dagegen Beweise dafür haben, dass Sawtschenko zu dem betreffenden Zeitpunkt bereits in Gefangenschaft der Separatisten war, die Daten also gar nicht weitergegeben haben kann. Ihre Anwälte sagen, Sawtschenko sei nach Russland entführt worden. Die Anklage hingegen wirft der 34-Jährigen vor, sie habe die Grenze nach Russland illegal passiert. Sawtschenko nimmt kein Blatt vor den Mund Der Prozess ist hoch politisch. Die Partei Bjut der ukrainischen Politikerin Julia Timoschenko setzte Sawtschenko im Herbst letzten Jahres zur Parlamentswahl in der Ukraine an die Spitze ihrer Parteiliste. Sawtschenko wurde in Abwesenheit gewählt, den Sitz in der Rada konnte sie freilich nie wahrnehmen. Außerdem ist Sawtschenko Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Deshalb müsse sie Immunität genießen, argumentieren ihre Verteidiger. Sawtschenko, die vor Gericht meist Kleidung mit ukrainischem Muster trägt und zu den russischen Richtern meist Ukrainisch spricht, nahm bei bisherigen Gerichtsterminen kein Blatt vor den Mund. Im Frühjahr sagte sie: "Ich wundere mich sehr und will eine Frage stellen: Ist der russische Präsident dumm oder ein Lump? Wenn er selbst wirklich glaubt, dass die Menschen in Russland gut leben, ist er dumm. Aber wenn sein Ziel ist, dass die Russen selbst glauben, dass sie gut leben, dann ist er ein Lump." Der Prozess gegen Nadeschda Sawtschenko ist bei Weitem nicht der einzige gegen ukrainische Staatsbürger in Russland. Ende August wurde der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilt - wegen angeblicher Gründung einer Terrorgruppe auf der Krim. Gleichfalls im August fiel außerdem das Urteil gegen den estnischen Grenzpolizisten Eston Kohver. Ein Gericht im nordwestrussischen Pskow verurteilte den Esten zu 15 Jahren Haft wegen angeblicher Spionage, illegalen Waffenbesitzes und unrechtmäßigen Grenzübertritts. Kohver war vor einem Jahr im estnisch-russischen Grenzgebiet verhaftet worden. Die EU-Außenbeauftragte sprach von einer Entführung und fordert Kohvers Freilassung. Auch die estnische Regierung protestiert. Paul Teesalu, politischer Direktor im Außenministerium Estlands: "Eston Kohver war mit der Prävention grenzüberschreitender Kriminalität befasst. Er wurde während seiner Dienstausübung entführt. Das ist ein Verstoß gegen internationales Recht." Estnische Regierung will Druck auf Russland ausüben Kohvers derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Eine Anfrage des estnischen Außenministeriums bei den russischen Behörden blieb bisher unbeantwortet. Kohver hat das Urteil gegen ihn nicht angefochten. Dazu Paul Teesalu vom estnischen Außenministerium: "Das war seine eigene Entscheidung. Er hatte wohl keine Hoffnungen, überhaupt einen freien und fairen Prozess zu bekommen." Die estnische Regierung wolle weiter Druck auf Russland ausüben, um den Beamten freizubekommen. Auch das eine Parallele zum Fall Sawtschenko, in dem gleichfalls wohl nur politischer Druck helfen könne, wie der Verteidiger der ukrainischen Pilotin, Ilja Nowikow, meint. Denn eine Verurteilung Sawtschenkos stehe eigentlich schon fest. "Es ist unerheblich, ob sie 20 oder 25 Jahre bekommt - wir müssen dafür kämpfen, dass sie frei kommt. Und das geht nur auf diplomatischer Ebene und mit politischem Druck. Deshalb wird unsere Arbeit erst nach dem Urteil richtig losgehen."
Von Gesine Dornblüth
In Russland beginnt heute der Prozess gegen die ukrainische Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko. Sie soll indirekt für die Tötung zweier Mitarbeiter des russischen Fernsehens verantwortlich sein. Es ist ein hoch politischer Prozess - und nicht der einzige in Russland in den letzten Wochen.
"2015-09-22T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:00:51.527000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/prozessauftakt-in-russland-ukrainische-kampfpilotin-100.html
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"Ein Reformtempo, das niemand vermutet hätte"
Mit Abiy Ahmed in eine bessere Zukunft? Viele setzen große Hoffnungen auf Äthiopiens neuen Premierminister. (AFP / Habtab Gebru) Jubel auf den Straßen in den Hauptstädten Äthiopiens und Eritreas: Die Stimmung sei sehr, sehr herzlich gewesen, als Eritreas Präsident Isaias Afwerki an diesem Wochenende in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba eintraf, um die eritreische Botschaft wieder zu eröffnen, erklärte Ostafrika-Korrespondentin Linda Staude. Afwerki erwiderte damit den Eritrea-Besuch des neuen äthiopischen Premiers Abiy Ahmed von vergangenem Wochenende. Nach Jahrzehnten des Kriegs und der Feindschaft hat Äthiopiens neuer Premier eine Zeitenwende herbeigeführt. Anfang Juli unterzeichneten Äthiopien und das 1991 abgespaltene Eritrea einen Friedens- und Freundschaftsvertrag. Damit hätte vor vier Monaten noch niemand gerechnet. Das hat auch praktische Auswirkungen: Es gibt wieder Telefonverbindungen zwischen beiden Ländern, Flugverbindungen sind geplant. Wer ist der neue Mann, der das Land umkrempelt? Doch wer ist der 41-jährige ehemalige Grenzsoldat Abiy Ahmed, der nach vielen Jahren nun einen internationalen Schiedsspruch über die Grenzziehung zum Nachbarn anerkannt und einen Truppenabzug angeordnet hat? Während in Addis Abeba die Friedensgespräche laufen, tragen Fans in Washington D.C. T-Shirts mit Abiy-Ahmed-Porträts (AFP / Brendan Smialowski) Ein wichtiges Symbol sei, "dass er einer anderen Volksgruppe angehört" als die viel kritisierten bisherigen Staatslenker, sagte Linda Staude, nämlich den Oromo, die sich bislang marginalisiert gefühlt hätten. "Das ist schon eine Sensation gewesen." Abiy Ahmed setzt dringend nötige Wirtschaftsreformen um, unter anderem die Privatisierung von Staatsbetrieben, um mehr Arbeitsplätze in dem 100-Millionen-Einwohner-Land zu schaffen. "Äthiopien hatte diese Reformen bitter nötig", sagte Staude. "Der neue Mann musste etwas tun. Er hat allerdings dabei ein Reformtempo vorgelegt, das niemand vermutet hätte und das eigentlich bis heute für Überraschung sorgt." Und von wem droht ihm Gegenwind? Der neue Premier müsste mit gewaltbereiten Gegnern seiner Reformen rechnen, sagte Ostafrika-Korrespondentin Staude. Im Juni hatte es einen Handgranaten-Anschlag auf eine Kundgebung in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba gegeben. Auch gebe es unbestätigte Gerüchte über Unruhen hinter den Kulissen, da Abiy Ahmed unter den alten Regierungsgarden aufzuräumen gedenke, sagte Linda Staude. Abiy Ahmeds Vorgänger im Amt Hailemariam Desalegn war nach langen und blutig niedergeschlagenen Protesten gegen die Regierung zurückgetreten. Äthiopiens Premier Abiy Ahmed (l.) nimmt Eritreas Außenminister Osman Saleh Mohammed (r.) zu Friedensgesprächen in Addis Abeba in Empfang (AFP / Yonas Tadesse) Abiy Ahmed wolle aber vor allem die äthiopischen Volksgruppen miteinander versöhnen. Im Süden des Landes sind Hunderttausende Menschen auf der Flucht vor Kämpfen rivalisierender Bevölkerungsgruppen. Hilfsorgansiationen warnen vor einer humanitären Krise. Viele Menschen hätten nichts als ihr nacktes Überleben gerettet und müssten ohne Versorgung mit Essen und Wasser unter freiem Himmel übernachten, berichtet die Internationale Organisation für Migration der UN. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes geht es bei den Auseinandersetzungen um Landbesitz. (may/AP/afp/dpa)
Linda Staude im Gespräch mit Britta Fecke
Frieden mit Eritrea, Wirtschaftsreformen, Durchsetzung demokratischer Standards - unter dem neuen Premier Abiy Ahmed erlebt Äthiopien seit April eine Zeitenwende. Er lege ein beachtliches Tempo vor, sagte Ostafrika-Korrespondentin Linda Staude im Dlf.
"2018-07-14T13:30:00+02:00"
"2020-01-27T18:01:48.879000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aethiopiens-neuer-premier-abiy-ahmed-ein-reformtempo-das-100.html
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"Dann muss eben ein anderer entscheiden"
Hartmut Möllring (CDU), Minister für Wirtschaft und Wissenschaft des Landes Sachsen-Anhalt. (picture alliance / dpa / Jens Wolf) Manfred Götzke: Forschung und Lehre sind frei - so steht es im Grundgesetz, und seit den 70er-Jahren haben die Länder dieses Grundrecht auf freie Forschung auch ausbuchstabiert, und zwar so: Autonomie der Hochschulen - die Unis und FHs können selbst entscheiden, was sie mit ihrem Etat machen, welche Fakultäten sie ausbauen und welche sie schließen. Hartmut Möllring, der Wissenschaftsminister in Sachsen-Anhalt, der will an diesem Grundsatz jetzt allerdings rütteln. Er will im Ringen um Einsparungen die beiden Unis des Landes notfalls entmachten und selbst Uni-Institute dichtmachen. Herr Möllring, welches Problem haben Sie mit der Hochschulautonomie? Hartmut Möllring: Ich hab überhaupt gar kein Problem mit der Hochschulautonomie. Ich halte das für einen ganz wichtigen Teil unserer Forschung und Lehre, und deshalb setze ich ja darauf, dass die Hochschulen auch selber ihre Konzepte erarbeiten. Da sind sie auch auf einem guten Weg. Götzke: Dennoch wollen Sie ja zur Not Uni-Institute, Hochschulinstitute selbst schließen können. Möllring: Ja gut, irgendwann muss eine Entscheidung getroffen werden, und wenn die Selbstverwaltungsorganisationen nicht in der Lage sind, eine Entscheidung zu treffen, was gäbe es denn dann für ein Chaos? Dann wäre Geld da, und jeder greift auf das Geld zu, und wenn es alle ist, ist es vorbei? So kann man ja keine Strukturpolitik machen, da bin ich mir mit den Rektoren der Universitäten auch völlig einig, und das ist auch logisch, dass eben Budgets, die vorhanden sind, müssen vernünftig verteilt werden, und am besten durch die Autonomie der Hochschulen. Götzke: Dennoch sagen Sie ja, wenn das mit der Autonomie nicht greift, dann greift am Ende der Minister durch. Wie viel ist Autonomie dann wert? Möllring: Wenn Autonomie nicht funktioniert - ich verstehe Ihre Frage nicht. Ich habe es Ihnen doch eben deutlich erklärt. Es ist so: Wenn ein begrenztes Mittel an Geld da ist, und das ist an allen Hochschulen dieser Welt so, das muss nach vernünftigen Maßstäben verteilt werden, und das macht die Uni am besten selber. Aber wenn die Uni keine Entscheidung treffen würde, was ich nicht erwarte, dann muss eben jemand anders die Entscheidung treffen, entweder das Ministerium oder der Landtag. Götzke: Wer blockiert denn an den Hochschulen? Möllring: Na ja, es ist natürlich immer schwierig, wenn Entscheidungen, Strukturentscheidungen getroffen werden, die gar nicht unbedingt finanzielle Gründe haben müssen, sind diejenigen, die davon betroffen sind, immer am wenigsten begeistert. Das ist ja auch eine ganz menschliche Reaktion. Trotzdem müssen Entscheidungen getroffen werden, auch wenn sie unbequem sind. Aber wenn man aus Bequemlichkeit keine Entscheidungen trifft, dann muss eben jemand anders die Entscheidung treffen. Aber das ist überall auf der Welt so. Götzke: Sie sagen Bequemlichkeit. Aber sie haben es ja auch ein bisschen gerade angedeutet, dass Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter nicht dazu geneigt sind, sich selbst wegzurationalisieren. Möllring: Ja, deshalb müssen die Gremien ja vernünftige Entscheidungen treffen. Es sind ja nicht nur die Betroffenen in diesen Gremien, sondern man ist ja in diese Gremien gewählt worden, um das Wohl der gesamten Hochschule zu fördern und darüber zu entscheiden. Und das ist in der Politik so, das ist in Vereinen so, das ist an den Hochschulen so, das ist überall so, dass Entscheidungen getroffen werden müssen, die das Gesamtwohl im Interesse haben, und dann müssen das in den Hochschulen auch. Aber ich hab auch gar keinen Zweifel, dass das so geschehen wird. Götzke: Warum dann dieser Vorschlag? Möllring: Der Vorschlag ist das Normalste der Welt, dass dort, wo keine Entscheidungen getroffen werden können oder keine getroffen werden wollen, jemand anders die Entscheidung treffen muss. Aber das ist jetzt nichts Revolutionäres. Götzke: Die Gewerkschaft Ver.di, die wirft Ihnen vor, sie wollten die Rektoren aus der Schusslinie nehmen, um die Kürzungsvorhaben an den Hochschulen durchzusetzen. Möllring: Ja gut, das ist die Pflicht von Ver.di, natürlich eine andere Meinung zu haben als ich, und der Spruch, wer nicht hören will, muss fühlen, das ist nun wirklich Pädagogik des letzten Jahrhunderts, darum geht es mir gar nicht. Auch Ver.di muss ein Interesse daran haben, dass die Arbeitsplätze hoch qualifiziert sind, wo ihre Mitglieder arbeiten, und das ist eben gut, wenn die Universitäten gut aufgestellt sind. Und da arbeiten wir gemeinsam dran, und deshalb verstehe ich die ganze Aufregung nicht. Ich bin überzeugt, dass die Universitäten in eigener Verantwortung die richtigen Entscheidungen treffen. Götzke: Wie sinnvoll ist es denn, in Ihrem Bundesland, das auf Forschung und Entwicklung - Sie haben es gerade selbst gesagt - angewiesen ist, wie sinnvoll ist es da, den Hochschuletat um fünf Millionen Euro zu kürzen? Möllring: Der Hochschuletat ist in diesem Jahr so hoch wie noch nie in diesem Land. Er wird auch im nächsten Jahr deutlich noch mal höher sein. Es ist richtig, dass ein Konsolidierungsbeitrag entnommen wird. Dafür wird auf anderer Seite auch Geld zugeführt. Und dieses muss nur sinnvoll verteilt werden. Es geht nicht nach der Gießkannenmethode oder nach der Rasenmähermethode, ob sie es positiv oder negativ sehen, sondern es muss strukturell verantwortbar gehandelt werden. Dafür sind die Hochschulgremien da. Ich bin überzeugt, die werden ihre Aufgabe erfüllen. Und das müssen wir jetzt abwarten. Allerdings, wenn diese Aufgabe nicht erfüllt werden sollte - wovon ich allerdings nicht ausgehe - dann muss eben jemand anders entscheiden. Götzke: Zur Not muss jemand anders entscheiden: der Minister. Das sagt Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Hartmut Möllring. Danke schön! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hartmut Möllring im Gespräch mit Manfred Götzke
Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Hartmut Möllring will einzelne Forschungsinstitute zur Not selbst schließen, wenn die Universitäten sich nicht zu Strukturreformen durchringen könnten. Wo die Autonomie nicht funktioniere, müsse die Politik Entscheidungen treffen, sagte Möllring im DLF.
"2014-06-20T14:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:48:19.634000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hochschulfinanzierung-dann-muss-eben-ein-anderer-entscheiden-100.html
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"Ich möchte in dieser Zeit nicht Gott sein"
Mascha Kaléko (B0329_Röhnert) Einer ist da, der mich denkt.Der mich atmet. Der mich lenkt.Der mich schafft und meine Welt.Der mich trägt und der mich hält.Wer ist dieser Irgendwer? Ist er ich? Und bin ich Er?Was weiß der Fisch von Religion?Das fragte ich mich immer schon?Denn was da fleucht in Berg und TalSingt schmetternd seinen Dankchoral;Sogar im Sumpf die Kröten,Sie scheinen fromm zu beten.Jedoch kein Fisch - ob Hecht ob Salm -Singt kein Hosianna, keinen Psalm!Es scheint: die IchthyologieKennt keine Fisch-Theologie.Mascha Kaléko "Das ist überhaupt ein wunderbares Phänomen, wie eine Autorin, die längst vergessen war, wirklich eine unglaubliche Reichweite und auch Tiefenwirkung bei ganz, ganz vielen Menschen hat, die sich sonst keinen Lyrikband im Buchhandel kaufen würden. Ich glaube, es sind ganz viele Dinge, die da zusammenkommen. Es ist diese schöne, einfache Sprache. Das ist Lyrik auf einem hohen Niveau, die aber gut nachzuvollziehen und zu verstehen ist. Die also nicht im Avantgarde-Gefängnis bleibt." Sagt Johann Hinrich Claussen, Theologe und Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "Das zweite ist, dass sie ganz intensive Empfindungen so vorstellt, dass viele Menschen sie nachempfinden können: Liebesgedichte, Trost-Gedichte, Gedichte über Einsamkeit, Verzweiflung, Resignation, aber eben auch Gedichte, in denen Religiöses anklingt in einer solchen Weise, dass viele Menschen das für sich aufnehmen können." Ich habe mit Engeln und Teufeln gerungengenährt von der Flamme, geleitet vom Licht,und selbst das Unmögliche ist mir gelungen,aber das Mögliche schaffe ich nicht. Mascha Kaléko wird am 7. Juni 1907 im galizischen Chrzanów als erstes Kind einer jüdischen Familie geboren. Heute gehört der Ort zu Polen, damals war er Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Der Vater Fischel Engel ist russischer Staatsbürger, die Mutter Rozalia stammt aus Mähren in Österreich. Ihre Kindheit beschreibt Mascha später in dem Gedicht "Anno Zwounddreißig". In einer historischen Rundfunkaufnahme aus dem Jahr 1963 liest sie es hier selbst: Ich bin als Emigrantenkind geborenIn einer kleinen, klatschbeflissnen Stadt,Die eine Kirche, zwei bis drei DoktorenUnd eine große Irrenanstalt hat.Mein meistgesprochnes Wort als Kind war »Nein«.Ich war kein einwandfreies Mutterglück.Und denke ich an jene Zeit zurück -Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein. "Ein Vaterkind, der Ferne zugetan" Als Mascha sieben ist, emigriert die Familie 1914 nach Deutschland. Viele osteuropäische Juden verlassen damals aus Angst vor Armut und Verfolgung ihre Heimat. Das empfindsame Kind leidet unter dem Verlust der vertrauten Umgebung. Die Familie zieht erst nach Frankfurt, dann nach Marburg und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Berlin. Drei Ortswechsel in zehn Jahren lassen in Mascha ein Gefühl von Verlassenheit und Heimatlosigkeit entstehen, das sie ein Leben lang begleiten wird. Ein Fremdling bin ich damals schon gewesen,ein Vaterkind, der Ferne zugetan. Berlin nach dem Ersten Weltkrieg - von Unruhen und Armut geprägt (imago images / Kharbine-Tapabor ) In Berlin hält Maschas streng orthodoxer Vater die Familie mit verschiedenen Arbeiten in der jüdischen Gemeinde über Wasser. Das Leben im Berlin der Nachkriegszeit ist hart: politische Unruhen, Streiks, Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Mascha würde gerne studieren, aber der Vater ist dagegen. Sie beginnt eine Lehre als Bürokraft im "Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands". Der sture Acht-Stundentag im Büro ist für sie grausam. Mascha belegt an der Universität Abendkurse in Philosophie und schreibt erste Gedichte. Die 19-Jährige "Kontoristin" lernt den Philologen Saul Kaléko kennen und heiratet 1926. "Witzig, geistreich, schnell" Nach der Währungsreform steigt Berlin wirtschaftlich und kulturell zum Zentrum Deutschlands auf. Doch die Arbeitslosigkeit ist hoch und die politische Lage angespannt. In dieser Zeit beginnen die sogenannten Goldenen Berliner Jahre - ein Tanz auf dem Vulkan mit Vergnügungsveranstaltungen und einer Hochblüte der Kultur. Im "Romanischen Café" - in der Nähe der Gedächtniskirche - treffen sich Schauspieler und Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler und Kurt Tucholsky. Hierhin zieht es nach Büroschluss auch Mascha Kaléko. Schnell findet die attraktive junge Frau Anschluss an die Bohème-Szene. 1929 erscheinen ihre ersten Gedichte. Die renommierte Vossische Zeitung und andere Magazine wie "Tempo" oder der "Simplicissimus" drucken ihre Verse schon bald regelmäßig. Mein erster Beitrag zur mittelgroßen Unsterblichkeit wurde promptest gedruckt. "Sie beginnt ja als eine Stimme der neuen Schicht der Großstadtangestellten. Und das als junge Frau, witzig, geistreich, schnell, verbunden mit den Tageszeitungen. Dann in ihrer weiteren Lebensgeschichte verdichtet sich das, vertieft sich das, bekommt tragische Züge in einer solchen Weise, dass viele Menschen, die ja selber gerade einen Verlust erlitten haben oder einsam sind, darin sich wieder erkennen können." Sagt Johann Hinrich Claussen. Die Berliner lieben die stenografischen Alltagsbeobachtungen der jungen Dichterin, ihre freche Mischung aus Spott, Ironie und Gefühl – angereichert mit der Lebensweisheit des jüdischen Ostens: heiter und gleichzeitig melancholisch. Sonne klebt wie festgekittetBäume tun, als ob sie blühnUnd der blaue Himmel schüttetEine Handvoll Wolken hin.Großstadtqualm statt Maiendüfte.- Frühling über Großberlin! -Süße, wohlbekannte Düfte…Stammen höchstens von Benzin. "Die poetische Kraft liegt ganz sicherlich auch in den Reimen, die oft ganz originell sind und eben nicht ausgelutscht. Das andere ist: Ich finde ihre Verknappung auch so gut. Das Einfache ist ja jetzt nicht einfach simpel, sondern es verknappt auf eine Essenz, ohne dem noch manieriert Locken zu drehen." "Bin nur ein armer Großstadtspatz" Anfangs werden die Verse der Dichterin noch von manchen Kritikern als naive "Gebrauchslyrik" abgestempelt. In dem Gedicht "Kein Neutöner" kokettiert Kaléko selbstbewusst mit ihrem Stil: Ich singe, wie der Vogel singtBeziehungsweise sänge,Lebt er wie ich, vom Lärm umringt,Ein Fremder in der Menge.Gehöre keiner Schule anUnd keiner neuen Richtung,Bin nur ein armer GroßstadtspatzIm Wald der deutschen Dichtung.Weiß Gott, ich bin ganz unmodern,Ich schäme mich zuschanden:Zwar liest man meine Verse gern,Doch werden sie - verstanden! Der Gründer des Rowohlt Verlages, Ernst Rowohlt (picture-alliance/ dpa / Rowohlt Archiv) Viele große Literaten und Denker bewundern die Kaléko und ihre leichtfüßigen Gedichte: von Erich Kästner bis Thomas Mann, von Albert Einstein bis Martin Heidegger. Im Januar 1933 publiziert der Verleger Ernst Rowohlt ihr erstes Buch: "Das lyrische Stenogrammheft". Zeitungen und Verlage drucken auch ihre kritischen Verse wie das Gedicht "Chor der Kriegswaisen" - ein Antikriegs-Nachruf auf den Ersten Weltkrieg. Kind sein, das haben wir niemals gekannt.Uns sang nur der Hunger in Schlaf…Weil Vater im Schützengraben stand,zu fallen für Kaiser und Vaterland,Wenn's gerade ihn mal traf.Und kam eines Tages ein Telegramm,wenn der Vater schon lang nicht geschrieben -Dann zog sich die Mutter das Schwarze an,Und wir waren kriegshinterblieben. "Wir haben keinen Freund auf dieser Welt" Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten ändert sich das kulturelle Klima abrupt. Mascha Kaléko wird aus der "Reichsschrifttumskammer" ausgeschlossen und bekommt Schreibverbot. Sie trennt sich von Ihrem Mann Saul und heiratet den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver, der sich der Aktualisierung jüdisch-chassidischer Chormusik widmet. Die Restriktionen gegen die jüdische Bevölkerung nehmen zu. Im September 1938 verlässt das Paar Berlin - mit dem gemeinsamen Sohn Evjatar und mit dem Ziel New York. Um Haaresbreite entkommen sie den November-Pogromen. Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben.Von all den vielen ist nur er geblieben.Sonst keiner, der in Treue zu uns hält. "Mir scheint, dass Mascha Kaléko darin eben auch nicht ganz untypisch für ihre Generation ist, also diejenigen, die aufwachsen noch in einer traditionellen jüdischen Kultur und Familie, sich davon befreien, losmachen, sich selbst säkularisieren und dann aber durch das Grauen der rassistischen Verfolgung im Nationalsozialismus brutal auf ihre eigene jüdische Identität, die sie meinten, schon abgelegt zu haben, wieder zurückgestoßen werden. Und das ist das Besondere, dass sie selber jetzt nicht einfach wieder zurückkehrt in die alte Frömmigkeit, aber noch mal in einer neuen Weise die Schönheit ihrer eigenen jüdischen Herkunfts-Religion wahrnimmt." Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel) Die Religiosität der Dichterin passe in keine Schublade, meint Johann Hinrich Claussen. Es sei nicht einfach, sie religiös zu verorten: "Weil man in der Gefahr ist, als Theologe sozusagen eine ganz zarte Blume mit einer Kneifzange anzufassen und dabei zu verletzen. Zugleich ist es natürlich so, dass sie auch ganz explizit religiöse Gedichte geschrieben hat, in denen Gott vorkommt und der Herr und das Reich der Ewigkeit und solche Dinge, also wo sie richtig aus der Fülle der durch das Judentum und Christentum geprägten Frömmigkeitssprache spricht." "Lass uns einsam, nicht verlassen sein" Der Ton ihrer Gedichte wird trauriger und ernster. In der Tradition ihrer chassidischen Vorfahren versucht Mascha Kaléko in dem Gedicht "Gebet" ihr Schicksal in Würde anzunehmen. Herr, unser kleines Leben - ein Inzwischen,Durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.Und unsre Jahre: Spuren, die verwischen,Und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.Was weißt du, Blinder, von der Stummen Leiden!Steckt nicht ein König oft in Bettlerschuhen?Wer sind wir denn, um richtend zu entscheiden?Uns war bestimmt, zu glauben und zu tun.Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen.Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn.Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,Und lass uns einsam, nicht verlassen sein "Was mich daran besonders einnimmt, ist, dass sie in diesen religiösen Sprachformen das Existenzielle ausspricht, das, was sie im Kern berührt. Der religiöse Ausdruck ist für sie eine Möglichkeit, in Ihren Gedichten dem eigenen Leben auf den Grund zu gehen. Und erst dann wird ja religiöse Lyrik interessant und auch fruchtbar für den Leser, wenn es wirklich an das geht, was einen selbst unbedingt angeht." "Den Hunderttausend, die kein Grabstein nennt" In den Jahren des Nationalsozialismus und der Shoah verdüstert sich der Ton ihrer Gedichte. In Gedichten wie "Hiobs Enkel" und "Kaddish" wird aus Witz und Spott bittere Anklage. KADDISHWer wird in diesem Jahr den Schofar blasen Den stummen Betern unterm fahlen Rasen, Den Hunderttausend, die kein Grabstein nennt, Und die nur Gott allein bei Namen kennt.Saß er doch wahrlich strenge zu Gericht, Sie alle aus dem Lebensbuch zu streichen. Herr, mög' der Bäume Beten dich erreichen. Wir zünden heute unser letztes Licht. Im Schatten der Shoa klagt Mascha Kaléko ihren Gott an (picture alliance/Ria Novosti/Sputnik/dpa) Die Dichterin revoltiert weiter gegen einen Gott, der es zulässt, dass Millionen von Menschen massakriert wurden - eine Revolte erneut im frech-ironischen Kaléko-Tonfall: Ich möchte in dieser Zeit nicht Herrgott seinUnd wohlbehütet hinter Wolken thronen,Allwissend, dass die Bomben und KanonenDen roten Tod auf meine Söhne spien.Wie peinlich, einem Engelschor zu lauschen,Da Kinderweinen durch die Lande gellt,Weißgott, ich möchte um alles in der WeltNicht mit dem lieben Gott im Himmel tauschen.Lobet den Herrn, der schweigt! In solcher Zeit.Vergib, O Hirt, - ist Schweigen ein Verbrechen.Doch wie es scheint, ist Seine HeiligkeitAuch für das frömmste Lämmlein nicht zu sprechen. "Für mich ist es total wichtig, dass jede qualifizierte Form von Religion ganz unterschiedliche Empfindungen hat, die oft miteinander im Widerstreit stehen. Das ist eben Religion im vollen Sinne, nicht einfach eine Gläubigkeit in einem einfachen, schlichten Sinne, sondern voller Spannungen. Das ist bei Mascha Kaléko ganz besonders gegeben. Aber dann noch mal mit diesem Witz, der das noch mal aus der Kurve haut. Ich denke an dieses Gedicht 'Kurzer Dialog'." Herr, du gabst uns die Welt, wie sie ist.Gib uns doch bitte dazuDas seinerzeit leiderNicht mitgelieferteWeltgewissen. Kein Lorbeerkranz Von 1938 bis 1960 lebt und arbeitet Mascha Kaléko mit Chemjo Vinaver und ihrem Sohn, der sich inzwischen Steven nennt, in New York. 1955 bereist sie Europa. Bei Rowohlt erscheinen Neuauflagen ihrer Bestseller aus den 20er- und 30er-Jahren. Sie ist erfolgreich, sehr erfolgreich. Die Akademie der Künste will ihr den Fontane-Preis verleihen, doch sie verweigert dessen Annahme. Ihre Begründung: das Jurymitglied Hans Egon Holthusen war langjähriges Mitglied der SS. Kein Lorbeerkranz vom Bund der Belletristen;Kein Kunstverein hat mich in seinen Listen. Nachdem die Lyrikerin den Fontane-Preis abgelehnt hat, endet ihr Comeback im Nachkriegs-Deutschland. Neue Spielarten der Lyrik gelten jetzt als modern und zeitgemäß. Das Ehepaar übersiedelt 1960 nach Jerusalem, damit Chemjo Vinaver sein Lebenswerk vollenden kann: eine Anthologie jüdisch-chassidischer Gesänge. Mascha Kaléko spricht kein Hebräisch und fühlt sich in Israel fremd. Sie leidet unter Magengeschwüren. Bin meist so müde, dass das Leben-schwänzen mir nicht schwer fällt. "Sensibel wie ein feiner Apparat und keine Kraft, das Aufgenommene zu verarbeiten", sagt der Arzt, ein Außenseiter wie wir. "Ich komm nach Nirgendland" Auch Maschas Mann erkrankt schwer. 1968 stirbt überraschend ihr Sohn im Alter von 31 Jahren in New York an einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung. Von diesem Schock erholt sich das Paar nicht mehr. Chemjo Vinaver stirbt vier Jahre später. Mascha Kaléko leidet unter Magenkrebs. Sie reist noch einmal nach Berlin und liest dort aus ihren Gedichten. Auf der Rückreise wird sie in Zürich operiert. Zu schwach, um nach Jerusalem zurück zu kehren, stirbt sie am 21. Januar 1975 in einem Spital. Zu ihrer Bestattung auf dem Zürcher "Israelitischen Friedhof" verbat sie sich Trauerreden. Nur die alten Gesänge ihres Volkes erklangen. Wohin ich immer reise,Ich fahr nach Nirgendland.Die Koffer voll von Sehnsucht,Die Hände voll von Tand.So einsam wie der Wüstenwind.So heimatlos wie Sand:Wohin ich immer reise,Ich komm nach Nirgendland.Die Wälder sind verschwunden,Die Häuser sind verbrannt.Hab keinen mehr gefunden.Hat keiner mich erkannt.Und als der fremde Vogel schrie,Bin ich davongerannt.Wohin ich immer reise,Ich komm nach Nirgendland "Wenn ich auf das Leben von Mascha Kaléko blicke, dann empfinde ich erst einmal so etwas wie Ehrfurcht, in dem sich Respekt und Schrecken vermischen. Also Erschrecken über das, was sie erlitten und erlebt hat, dann aber auch ein großes, Angerührt-Sein, auch darüber nicht zu verstummen, sondern wunderbare Gedichte zu schreiben, die auch in ihrer Untröstlichkeit anderen Menschen zum Trost werden, wo Menschen in ihrer Verzweiflung eine Sprachform finden für ihre eigenen Gefühle." Mein schönstes GedichtIch schrieb es nicht.Aus tiefsten Tiefen stieg es.Ich schwieg es.
Von Burkhard Reinartz
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, schrieb Mascha Kaleko: „Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. Nur Gott.“ Später klagte sie Gott an. Die Religiosität der Dichterin passe in keine Schublade, sagen Theologen heute. Sie sei eine „zarte Pflanze“.
"2020-07-29T20:10:00+02:00"
"2020-08-03T21:49:02.846000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-lyrikerin-mascha-kaleko-ich-moechte-in-dieser-zeit-100.html
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Altwerden ist Arbeit
Japaner haben eine hohe Lebenserwartung. Sie halten sich mit Sport fit - aber auch, weil die Regierung das so will (AFP PHOTO / KAZUHIRO NOGI) Montagmittag in Arashiyama, einem Stadtteil im Westen Kyotos. Im Stadtteilzentrum treffen sich einmal wöchentlich Frauen zur Seniorengymnastik. Auf dem Stuhl sitzend, drehen die Anwesenden ihre Füße nach außen. Zehnmal, dann das gleiche noch einmal nach innen. Tomoko Hori, die Trainerin, erhöht den Schwierigkeitsgrad: Füße auf den Boden stellen und die Fersen solange anheben, bis die Zehenspitzen gerade noch den Boden berühren. Niedrige Geburtenzahlen und die steigende Lebenserwartung treiben das Durchschnittsalter auch in Japan immer weiter in die Höhe. Ein solcher demografischer Wandel wirkt sich auf das Sozialsystem aus, das sowohl in Japan als auch in Deutschland darauf basiert, dass die jeweils nachwachsende Generation stark genug ist, es zu finanzieren. Während man in Deutschland noch über die drohende "Überalterung" debattiert, ist sie in Japan schon längst Realität. Verordnete Körperbewegung Dass die Seniorinnen im Stadtteilzentrum deshalb unter deutscher Beobachtung stehen, ahnen sie nicht. In lustig-bunten Zehensocken und Freizeithosen machen sie ihre Übungen und bekommen langsam rote Wangen. Es wird gescherzt und gelacht, auch wenn es hier und da zwickt. Das gehöre einfach dazu, erklären die rüstigen Damen in einer Verschnaufpause. "Ich bewege mich nicht nur. Hier treffe ich auch Freunde, zum Beispiel die Frau vom Blumengeschäft. Ich möchte alt werden, rüstig und gesund bleiben. Wenn man über 80 Jahre ist, dann werden die Muskeln schwächer. Aber ich möchte meine Kraft erhalten, und deshalb komme ich hier her. Mir gefällt die Bewegung. Besser wird mein Körper dadurch nicht, aber ich fühle mich besser, wenn ich hierher komme." Der Kurs hier heißt zwar "Karada okasu kai", also "den Körper bewegen". Doch damit sei nicht nur die körperliche Fitness der 65- bis 90-Jährigen gemeint, erklärt Trainerin Tomoko Hori, die vom Sozialamt der Stadt Kyoto bezahlt wird. "Es geht nicht nur um die Bewegung, sondern auch darum, dass sich die Leute hier treffen. Es hat sich in der Gruppe so entwickelt, dass die Leute nach der Gymnastik auch noch andere Sachen machen. Heute zum Beispiel wollen wir Blumenstecken und danach Tee trinken. Diese Sachen sind genauso wichtig. Die Leute kommen raus aus ihren Häusern, um miteinander etwas zu machen, und sie bekommen Ideen und Anregungen auch für zu Hause. Solange die Leute arbeiten, sind sie in Bewegung. Aber wenn sie mit 65 pensioniert werden, haben sie einfach zu wenig Bewegung. Dann werden die Fußgelenke schwach, und in kurzer Zeit könnten sie bettlägerig werden. Dem wollen wir vorbeugen!" Auch im Alter sind viele Japaner noch sportlich aktiv und treffen sich zum Sport auf Plätzen (AFP PHOTO / KAZUHIRO NOGI) Jeder vierte Japaner ist älter als 65 Und dazu dient auch das Lied, dass die Seniorinnen zum Abschluss singen, eine Art Gesundheitsmotivationslied fürs Alter, in dem es heißt, dass man fröhlich sein, sich ordentlich kleiden und auch im Alter schminken soll. Die Gesunderhaltung ist in Japan ein allseits präsentes Thema. Im Fernsehen laufen Spots, in denen rüstige Rentner Gesundheits-Tipps geben, im Radio läuft mehrmals täglich die Radiogymnastik, überall sieht man Werbungen für Gesundheitsangebote, erzählt Edith Muta, die sowohl das deutsche als auch das japanische Pflegesystem kennt. Die 67-Jährige hat in Deutschland als Krankenschwester gearbeitet, ging der Liebe wegen 1981 nach Japan. Hier schulte sie um zur Altenpflegerin. "Damit die Leute nicht krank werden, wird ihnen dauernd nahegelegt, um gesund alt zu werden oder gesund zu bleiben, und das Alter genießen zu können, macht das, macht das, macht das. Den Lebensstil anpassen oder ändern je nachdem. Es ist trotzdem nicht genug Geld da für die nächsten 20 Jahre." In kaum einem anderen Land altert die Bevölkerung so dramatisch wie in Japan. Bereits jetzt ist fast jeder vierte der 127 Millionen Japaner älter als 65. Die Zahl älterer Menschen steigt stetig an, laut dem aktuellen OECD-Bericht hat Japan mit 83,9 Jahren die höchste Lebenserwartung der Welt. Doch die Geburtenrate ist seit 1973 kontinuierlich gesunken: Von 2,14 auf 1,46 Kinder pro Frau im Schnitt. 2,1 sind notwendig, um die Bevölkerungszahl aufrecht zu erhalten. Laut Gesundheits- und Sozialministerium soll die japanische Bevölkerung bis 2060 um ein Drittel schrumpfen. Resultat sind ein hoher Pflegebedarf mit steigenden Kosten und ein zunehmender Bedarf an Einrichtungen für die Pflege und Betreuung von Senioren. Zu wenige seniorengerechte Wohnungen in Japan Junko Kobayashi, die Leiterin des Altenheims Kenkouen, bittet die Besucher - ganz nach japanischer Sitte - die Schuhe auszuziehen, bevor man die helle, großzügig gestaltete Wohneinheit betritt. Zehn alte Menschen leben hier, die im Schichtdienst von fünf Pflegekräften betreut werden. Frau Kobayashi zeigt auf die abgehenden Türen und erklärt, dass dies die Schlafräume der Bewohner seien. Im Flur übt ein etwas gebeugter Senior unter Anleitung eines Krankengymnasten an einer Laufstange. "Der Therapeut zeigt dem älteren Herrn, was er an der Stange machen soll, damit er seine Muskeln und Gelenke stärkt. Wenn sich die älteren Menschen umdrehen, verlieren sie oft die Balance und stürzen. Der Therapeut erklärt, wo man aufpassen muss, und was man machen kann, damit man nicht stürzt." In Japan warten nach Angaben des Sozialministeriums etwa 3.660.000 Senioren auf Heimplätze, allein in der Hauptstadt Tokio 40.000. Das Sozialministerium gibt offen zu, dass es in Japan an seniorengerechten Wohnungen, Pflegeheimen und ambulanten Betreuungsmöglichkeiten mangele - und nicht zuletzt an Pflegekräften. Bis 2025 dürften rund 380.000 Pflegekräfte fehlen - in einer Zeit, in der die besonders geburtenstarken Jahrgänge, also Japans "Babyboomer", 75 bis 80 Jahre alt sein werden. Schon jetzt liegt die Zahl der Pflegefälle bei über sechs Millionen. Um die anfallenden Kosten zu stemmen, wurden bereits Pflegeleistungen eingeschränkt, erklärt die ehemalige Altenpflegerin Edith Muta. "Die Körperpflege und was damit verbunden ist, darf nicht eingeschränkt werden, ist ja notwendig. Aber sagen wir mal, spazieren gehen: entweder gar nicht oder viel kürzer. Und im Haus saubermachen: nur die Küche vielleicht, die Toilette. Die Leute haben geklagt: Eigentlich möchte ich noch ein bisschen mehr geholfen bekommen. Ich habe morgens niemanden, der mir hilft. Wie schaffe ich das denn?" Häusliche Pflege überfordert die Angehörigen Um Kosten zu senken, sollen Alte statt in Heimen oder Kliniken preiswerter zu Hause von der eigenen Familie gepflegt werden. Doch die meisten Angehörigen sind ebenfalls nicht mehr die jüngsten - und ihre Kinder müssen Geld verdienen. Die häusliche Pflege überfordert viele. Allein in den vergangenen fünf Jahren wurden über hundert Fälle bekannt, in denen pflegebedürftige Japaner von ihren Angehörigen getötet wurden. Das System bräuchte dringend mehr Geld. Japan hat wie Deutschland eine gesetzliche Pflegeversicherung. Sie wird zur Hälfte aus Steuermitteln gespeist, von der anderen Hälfte zahlen die Senioren einen etwas geringeren Anteil als die berufstätige Bevölkerung. Politisch diskutiert wird deshalb vor allem eine Erhöhung des Pflegebeitrags: Aktuell beträgt der Beitrag der 40- bis 65-Jährigen durchschnittlich 4.160 Yen pro Monat, also 31 Euro. Das ist gemessen an dem besonders hohen Bedarf zu wenig. Deshalb will die Regierung bis 2025 den Pflegebeitrag auf 10.000 Yen, also 75 Euro erhöhen. Die Selbstbehalte, also die privat zu zahlenden Anteile an einzelnen Pflegeleistungen, sollen angehoben werden - erneut. Schon jetzt müssen Ältere bis zu 30 Prozent der Arztbehandlung selbst tragen. Die rasante Zunahme alter und hochbetagter Menschen stellt nicht nur Japans Pflege vor enorme Herausforderungen. Vor großen Problemen steht auch der Arbeitsmarkt – und stehen die Menschen, die mit ihrer Arbeit die Sozialsysteme finanzieren müssen. Eine recht naheliegende Möglichkeit, mehr Arbeitskraft zu schaffen, wäre die Immigration. Japan hat einen sehr niedrigen Ausländeranteil von gerade einmal 1,8 Prozent. Hauptstadt Tokio: Für viele Japaner hat Arbeit einen hohen Stellenwert (imago / View Stock) Arbeit hat in Japan einen hohen Stellenwert Im Land der aufgehenden Sonne bleibt man allerdings lieber unter sich. In Meinungsumfragen zeigt sich immer wieder ein deutlich einwanderungsskeptisches Bild. In der aktuellen Flüchtlingskrise hat Japan etwa im Jahr 2015 laut Zuwanderungsbehörde von 7.500 Asylanträgen nur 27 bewilligt. Und so sind Betriebe froh, dass es rüstige und arbeitsfreudige Rentner wie Brunhild Fujimoto-Rohde gibt. Die 67-Jährige arbeitet als Deutschlehrerin an der Universität Kyoto. "Glücklicherweise kann ich weiter arbeiten und kann an der Universität, bis ich 70 Jahre werde, arbeiten. Und ich habe da jährliche Verträge, die werden jährlich erneuert, aber relativ automatisch." Offiziell beginnt die Rente in Japan jetzt mit 65 Jahren. Allerdings sind laut japanischem Institut für Arbeitsmarktpolitik 52 Prozent der Männer und 34,7 Prozent der Frauen zwischen 65 und 69 Jahren weiterhin voll erwerbstätig. Im internationalen Vergleich ist das Spitze. In Japan habe die Arbeit traditionell einen hohen Stellenwert, sagt Brunhild Fujimoto-Rohde. Ältere Japaner seien in der konfuzianischen Tradition groß geworden, solange zu arbeiten, bis es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr geht. "Sehr viele alte Leute arbeiten, einerseits um sich zu beschäftigen, um aktiv zu bleiben. Aber andererseits auch natürlich, um nebenbei ein bisschen zu verdienen." Japans Senioren arbeiten länger Und die Regierung unterstützt dies politisch, in dem sie die Beschäftigung Älterer für die Unternehmen leichter gemacht hat. Edith Muta. "Man versucht, wenn man meint, damit komme ich schlecht aus, weiter zu arbeiten. Meistens arbeiten sie in derselben Firma weiter zu einem niedrigeren Lohn - Gehalt. Das wird ihnen angeboten: Wenn du weitermachen willst, bitte mach weiter bei uns. Du bist durchaus gefragt, wir brauchen dich als Erfahrenen. Aber leider können wir dir nicht mehr so viel anbieten wie vorher. Das ist das System in Japan." Dienstältere Arbeitnehmer müssen in Japan höher bezahlt werden, gemäß dem auch hier üblichen Senioritätsprinzip. Viele Betriebe sind erleichtert, wenn sie diese teuersten Arbeitnehmer mit sechzig erst einmal verabschieden können. Gleichzeitig aber wirbt man um die Ausgeschiedenen und bietet Weiterbeschäftigung an - allerdings zu schlechteren Konditionen, zu einem durchschnittlich 30 Prozent niedrigeren Gehalt. Japans Senioren arbeiten nicht nur länger, weil sie so gerne arbeiten, oder um eine Beschäftigung zu haben, sondern auch aus wirtschaftlicher Not. Nur zwei Drittel der Japaner gaben bei einer Umfrage an, von ihren Renten als Haupteinnahmequelle zu leben - der Rest hat hoffentlich andere private Bezüge oder muss eben arbeiten. Laut japanischem Arbeits- und Sozialministerium sind rund 40 Prozent der Rentner faktisch pleite und erfüllen alle Voraussetzungen, "seikatsu hogo" - Unterstützung aus öffentlichen Mitteln zu beziehen. "Hier ist der Aufenthaltsraum. Hier bleiben die Klienten, und sie unterhalten sich miteinander." Hitoshi Akiyama führt durch das "Kibo no Ie", das Haus der Hoffnung in Kamagasaki, einem Stadtteil von Osaka. Der Theologe, der in Deutschland eine Ausbildung zum Suchtberater absolviert hat, leitet das Diakoniezentrum. "Hier ist (der) Arbeitsraum und hier macht die Tonarbeit." Das "Kibo no Ie" ist ein Beratungszentrum für alkoholkranke und obdachlose Männer, erklärt Hitoshi Akiyama. "Diese abhängigen Leute haben keine Chance oder wenig Chance, medizinische oder richtige therapeutische Behandlung zu bekommen. Wegen der Alkoholproblem verliert man manchmal Wohnung, Familie, seinen Beruf - deswegen sie kommen hierher in dieses Gebiet." Die Unsichtbaren sitzen auf der Parkbank "Gerade Osaka war früher ein Zentrum für solche wohnungslosen Männer. Dort gab es vor 20 Jahren 10.000 Männer. Das kam nach der Expo. Also zur Expo damals wurde sehr viel gebaut, war Bauboom. Da kamen sie hierher und haben als Tagelöhner gearbeitet und blieben dann irgendwie da hängen." Erklärt Brunhild Fujimoto-Rohde, die den Stadtteil gut kennt. In Kamagasaki gebe es ab und zu eine Chance, etwas Arbeit zu bekommen, um Geld zu verdienen. Das wird allerdings auch als Tagelöhner mit zunehmendem Alter immer schwieriger, weiß Hitoshi Akiyama. "Die Tagelöhner leben hier, aber über 60 Jahre alt - bekommt man keine Arbeit mehr. Deswegen werden sie sofort wohnungslos." Man muss in Japan genau hinschauen, um Armut zu erkennen, die sich in Wohnungslosigkeit äußert. Die Unsichtbaren, wie man diese Menschen nennt, verbringen den Tag auf der Parkbank, im Internetkaffee oder im Kaufhaus. Frisch gebadet und frisiert, ordentlich gekleidet, erkennt man auf den ersten Blick nicht, dass sie keine Wohnung und auch kein Geld haben. Offiziell gibt es Armut in Japan nicht. Das gilt auch heute noch als Schande – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für Staat und Gesellschaft. Armut sieht man erst auf den zweiten Blick, in Kamagasaki zum Beispiel, wo neben der Eisenbahnbrücke oder im Eingang des Parkhauses, in Nachbarschaft des Kibo no Ie, Pappkartons stehen, meist mit blauen Plastikplanen abgedeckt. Davor: aufgereihte Schuhe, auch eine Yucca-Palme, manchmal stapelt sich Geschirr. Armut, sagt Edith Muta, sieht man jedoch nicht nur in dunklen abgelegenen Ecken, sondern auch im Licht der Leuchtreklame vorm Supermarkt. "Gegen Abend, ab fünf, manchmal ab sechs, werden die Preise radikal im Supermarkt reduziert, und das wird wirklich 50 Prozent oder gar mehr verbilligt, und dann kaufen die ein, und dann haben sie auf jeden Fall etwas zu essen." Die seit 2012 amtierende Regierung unter Premier Shinzo Abe hat eine Anhebung der Mehrwertsteuer zwei Mal verschoben (AFP / Behrouz MEHRI) Nicht auffallen, niemandem zur Last fallen Verglichen mit anderen Industrieländern ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 1,6 Prozent der Bevölkerung sehr niedrig. In Deutschland sind es über neun Prozent, die soziale Mindestsicherung bekommen. Schätzungen der japanischen Rechtsanwaltskammer zufolge stellt nur etwa ein Fünftel der Sozialhilfeberechtigten tatsächlich einen Antrag - vor allem aus Scham. Auch Senioren, deren Rente nicht reicht, verhalten sich ihrer konfuzianischen Erziehung gerecht: nicht auffallen, niemandem zur Last fallen. "Die Leute haben vielleicht 600, 700 Euro Rente, und fast die Hälfte geht für das Appartement drauf. Und dann müssen sie halt irgendwie zusehen, wie sie mit dem Rest auskommen. Natürlich gibt es Sozialunterstützung. Aber viele Leute sind zu stolz, um den Antrag zu stellen, und die sagen, ok, ich schaffe das mit meiner Rente, und wenn ich geschickt bin, dann komme ich damit aus." Vom demografischen Wandel, der eine Schieflage in Japans Sozialsystem bringt, profitiert keine Bevölkerungsgruppe, erst recht nicht die Jungen: Sie müssen länger arbeiten und die enormen Kosten für Pflege und Betreuung erwirtschaften. Ob ihr Leben einmal besser wird oder wenigstes so bleibt, bezweifelt nicht nur Brunhild Fujimoto-Rohde. "Es gibt viele junge Leute heute, die einfach bei den Eltern bleiben. Weil die Anfangsgehälter und die Löhne so niedrig sind, und sie können davon nicht die Familie ernähren, dann heiraten sie lieber gar nicht. Und da gibt es immer weniger Kinder. Oder wenn die Eltern dann später pflegebedürftig sind, dass die sogar aufhören zu arbeiten, um sich um die Eltern zu kümmern. Für die sehe ich es in Zukunft als sehr schwierig an, im Alter zurechtzukommen, weil ihre Rente nicht reicht. In der Zukunft wird das ein großes Problem geben." Andere Ziele im Blick Angesichts der Alterungsprobleme, die fast täglich in Japans Tageszeitungen aufgegriffen werden, erscheinen die politischen Schritte zu ihrer Bekämpfung erstaunlich klein. Die seit 2012 amtierende Regierung unter Premier Shinzo Abe hat eine Anhebung der Mehrwertsteuer von acht auf zehn Prozent, mit der die Sozialetats finanziert werden sollen, zwei Mal verschoben. Steuererhöhungen kommen auch bei der japanischen Bevölkerung nicht gut an. Aktuell sieht es aus, als verfolge der Premier, beflügelt vom Ergebnis der Parlamentswahl vom Oktober, andere Ziele: die Änderung der bislang pazifistischen Verfassung - und die Stärkung der japanischen Armee.
Von Dorothea Brummerloh
Kein Land altert schneller als Japan. Besonders das Pflegesystem steht dadurch unter Druck: Die Beiträge müssen steigen, die Leistungen sinken. Dennoch lassen die Japaner keine Arbeitskräfte aus dem Ausland rein. Stattdessen werden die Alten ermahnt, sich gesund zu halten und zu arbeiten.
"2017-11-27T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:39.989000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/japan-altwerden-ist-arbeit-100.html
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Spaniens Schlüsselrolle bei Desertec
Wer in die Zukunft blicken will, muss nach Andalusien schauen: Zwischen Granada und Almería blitzen die Spiegel der riesigen Parabolrinnenfelder der Solarkraftwerke Andasol 1, 2 und 3. Bereits 2007 ging PS10, das Solarturm-Kraftwerk der spanischen Firma Abengoa , einem der Gründungsgesellschafter von Desertec ans Netz. Südspanien ist eine gigantische Versuchsküche für Thermosolarenergie, sagt Luis Crespo vom spanischen Branchenverband Protermo Solar: Hier wurde beispielsweise erforscht und praktisch erprobt, wie Flüssigsalz als Wärmespeicher funktioniert."Wir konnten in Kraftwerken wie Andasol 1 und 2 beweisen, dass es möglich ist, thermosolare Energie zuverlässig zu speichern und verlustarm ins Netz einzuspeisen. Unsere Firmen sind weltweit führend und mit ihrer Technologie an Projekten in den Arabischen Emiraten oder Nordafrika beteiligt. Insofern ist Desertec eine historische Chance für Spanien. Außerdem haben wir das Glück vor Ort mit dieser Energie arbeiten zu können." Zwar spielt Thermosolarenergie im Vergleich zu anderen erneuerbaren Energien wie Wind, Photovoltaik und Wasser auch in Spanien noch eine relativ geringe Rolle, aber die Branche boomt: Zwölf Kraftwerke arbeiten bereits, weitere 20 werden gebaut, 30 sind in Planung. Bis 2013 soll die Leistung von derzeit 500 Megawatt auf 2,3 Gigawatt steigen. Die Pionierrolle hat sich Spanien einiges kosten lassen: Bei Produktionskosten von circa 25 Cent pro Kilowattstunde zahlt die Regierung derzeit 28 Cent für die Einspeisung ins Netz, die Rahmenbedingungen sind für die nächsten 25 Jahre stabil. Das Desertec-Projekt ist für Spanien allerdings nicht nur in Sachen Technologietransfer interessant, sondern vor allem im Rahmen des Solarplans fürs Mittelmeer. In den Ländern der Mittelmeerunion sollen bis zum Jahr 2020 20 Gigawatt an neuen erneuerbaren Energiekapazitäten aufgebaut werden. Dazu ist nicht nur ein gemeinsamer ordnungspolitischer Rahmen, sondern auch eine gemeinsame Infrastruktur nötig. Antonio Hernández García, Generaldirektor Energiepolitik im spanischen Wirtschaftsministerium:"Spanien hat in beiden Projekten eine Schlüsselposition, weil wir das einzige Land sind, das eine direkte Stromverbindung nach Nordafrika hat, nach Marokko hat. Wir wollen die Kraft aus dem Solarplan fürs Mittelmeer und einer Industrieinitiative wie Desertec bündeln. Die große technologische Herausforderung des Mittelmeer-Solarplans ist die Frage, wie der Strom transportiert wird. Wir sind Transitland, aber wenn die Energie von Spanien aus nicht weiter in den Norden kommt, stehen wir vor einem Problem." Gerade an den Verbindungen zum Nachbarland Frankreich hapert es schon seit langem. Seit 30 Jahren wird über eine Verbesserung der Stromleitungen über die Pyrenäen diskutiert, passiert ist bisher wenig. Desertec ist für Spanien ein Vehikel, nun zusätzlichen Druck auf die Europäische Kommission auszuüben. Natürlich ist das nicht ganz uneigennützig: Das Sonnenland Spanien, das bereits jetzt 35 Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Energien gewinnt und damit die Vorgaben der EU für 2020 übertrifft, will selbst Energie ins europäische Ausland liefern – nicht im großen Stil als Konkurrent zu den Saharastaaten, aber eventuell als kleinerer Juniorpartner."Wir haben schon jetzt Engpässe beim Export der produzierten erneuerbaren Energien. Die Verbindung nach Frankreich schafft nur drei Prozent der Spitzenleistung, angestrebt waren zehn. Wenn wir schon für unsere erneuerbaren Energien keine gute Verbindung nach Frankreich haben, was machen wir dann mit der Energie aus dem Süden? Wenn wir so ehrgeizige Ziele bei der Produktion von erneuerbaren Energien haben, brauchen wir einen vernünftigen Markt mit stabilen Verbindungen." Beim nächsten Infrastrukturpaket müsse die Europäische Kommission daher besonderes Augenmerk auf den Ausbau der Nord-Süd-Achse auf der iberischen Halbinsel legen. Ergänzend dazu will das französische Industriekonsortium Transgreen ein Stromnetz unter dem Mittelmeer bauen, dass Italien mit Tunesien und Lybien und Spanien mit Algerien verbindet. Entstanden im Rahmen der Mittelmeerunion ist auch dieses Projekt eine Ergänzung von Desertec, keine Konkurrenz.
Von Julia Macher
Vor einem Jahr wurde die Initiative Desertec gegründet mit dem Ziel, die Sonnenkraft der Wüste in Strom umzuwandeln. Zwar haben sich bisher hauptsächlich Gesellschafter aus Europa Desertec angeschlossen, doch nun sollen auch mehr afrikanische Partner hinzukommen.
"2010-10-26T11:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:12:25.830000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spaniens-schluesselrolle-bei-desertec-100.html
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