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"System schon vor Air-Berlin-Pleite auf Kante genäht"
Anzeige mit gestrichenen Flügen: Vielfältige strukturelle Probleme (dpa / picture alliance / Nicolas Armer) Jasper Barenberg: Die Debatte über den Diesel-Gipfel ist noch in vollem Gange, da eilt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer schon zum nächsten Spitzentreffen - heute mit der Luftfahrt-Branche. Silke Hahne aus der Wirtschaftsredaktion, dass es im Sommer viele Ausfälle und Verspätungen gab, haben viele mitbekommen, womöglich am eigenen Leib erlebt. Aber erfordert dies wirklich einen Luftfahrtgipfel? Silke Hahne: Ja und nein - wenn man sich die Ursachen für das Chaos in diesem Sommer anschaut, dann hatte es auf der einen Seite vielfältige strukturelle Gründe. Obendrauf kamen dann aber noch Besonderheiten, wie die Pleite von Air Berlin. Daraufhin kauften andere Airlines die Start- und Landerechte, um der Konkurrenz Marktanteile abzutrotzen. Doch, wie Kritiker meinen, viele Fluglinien konnten die Maschinen und das Personal dafür nicht so schnell in den Himmel bringen, sodass mehr Flüge angeboten wurden als durchgeführt werden konnten. Streiks, Air-Berlin-Pleite und Personalprobleme Dazu kamen dann beispielsweise noch Streiks in mehreren Gewerken der Branche und quer durch Europa. Dass dies nun aber zu einem solchen Chaos führen konnte, lag daran, dass das System schon vorher auf Kante genäht war. Straffe Zeitpläne, knappe Personalplanung – dazu ein Arbeitsmarkt in Europa, auf dem qualifiziertes Personal sowieso schon nicht leicht zu finden ist, weil die Wirtschaft gut läuft. Außerdem zeigte sich in Deutschland , dass die Infrastruktur Schwächen hat, etwa Sicherheitstechnik veraltet ist und daher die Kontrollen nicht effizient sind. Jasper Barenberg: Bessere Technik und mehr Personal, ist das also Teil einer möglichen Lösung? Silke Hahne: Es wird immer wieder das System kritisiert, über das die Personalplanung und das Budget für die Flugsicherung läuft: Die EU gibt Schätzwerte für einen Zeitraum von fünf Jahren vor und entsprechend wird geplant. In den letzten Jahren haben sich die Passagierzahlen aber viel schneller in die Höhe geschraubt, als erwartet - in der Folge gibt es nun Engpässe. Hier könnte die Bundesregierung auf EU-Ebene auf Änderungen dringen. Wie das Handelsblatt heute berichtet, sollen außerdem Fluglotsen grenzüberschreitend eingesetzt werden - bisher haben sie bestimmte Lufträume, auf die sie beschränkt sind. Entgegengesetzte Interessen zwischen Airlines und Flughäfen Aber auch die Industrie soll etwas beitragen, so verlautet es. Plausibel wäre es etwa, die Zeitpläne zu entzerren, bei der Abfertigung, oder auch mehr Flugzeuge vorzuhalten, damit bei Verspätungen nicht auch die nächsten und übernächsten Flüge ausfallen. Bei einem Thema aber stehen sich die Interessen von Flughäfen und Fluggesellschaften diametral entgegen, da würde ich nicht mit einer Einigung rechnen: Das ist die Anzahl der Starts- und Landungen und die Rechte dafür. Die Flughäfen wollen so viele sogenannte Slots verkaufen, wie sie nur können, um Geld zu machen. Die Airlines müssen diese quasi kaufen, um nicht Marktanteile einzubüßen - es wäre aber für sie effizienter, etwas seltener und dafür mit besser ausgelasteten Maschinen zu fliegen. Eigentlich ein zentrales Thema, es wird aber wohl ausgeklammert. Arbeitnehmervertreter beim Gipfel nicht dabei Jasper Barenberg: Das klingt nicht nach dem großen Wurf. Silke Hahne: Mit kurzfristigen Lösungen ist also nicht zu rechnen. Das ganze System ist dafür auch zu komplex und mehr Personal auszubilden, dauert. Beim Thema Personal hat der Gipfel obendrein eine Schwachstelle: Ein Teil des Personalmangels ist auf schlechte Arbeitsbedingungen in der Branche zurückzuführen, etwa schwere körperliche Arbeit in der Abfertigung. Auch Fluglotsen, Kabinenpersonal und Piloten haben in diesem Sommer mit zahlreichen Streiks verdeutlicht, dass sie den ökonomischen Druck der Airlines nicht länger abfedern wollen. Ein Problem, dass die Branche lösen muss - doch Arbeitnehmervertreter sitzen heute nicht mit am Verhandlungstisch.
Silke Hahne im Wirtschaftsgespräch mit Jasper Barenberg
Das Chaos im Sommer auf den Flughäfen hatte vielfältige strukturelle Gründe. Auf dem Luftfahrtgipfel mit dem Bundesverkehrsminister und Spitzenvertretern der Branche ist nicht mit schnellen Lösungen zu rechnen, vor allem nicht bei zentralen Fragen wie Personalmangel und schlechten Arbeitsbedingungen.
"2018-10-05T08:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:14:04.044000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/luftfahrtgipfel-system-schon-vor-air-berlin-pleite-auf-100.html
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Warum eine ukrainische Fechterin bei der WM disqualifiziert wurde
Olga Charlan aus der Ukraine streckt der Russin Anna Smirnova nach dem Kampf nur ihren Säbel hin und verweigert so den verpflichtenden Handschlag. (IMAGO / AFLOSPORT / IMAGO / Tadashi Miyamoto) Warum wurde Charlan disqualifiziert? Warum hat es überhaupt einen Kampf zwischen einer Russin und einer Ukrainerin gegeben? Hat es so einen Fall zwischen einer ukrainischen und einer russischen Athletin schon mal gegeben? Was sagen die Sport-Verbände zu der Disqualifikation? Welche Reaktionen gibt es aus der Politik? Der Sieg von Olha Charlan war deutlich: Mit 15:7 gewinnt die ukrainische Fechterin am Donnerstag (27.07.2023) ihren Kampf gegen die Russin Anna Smirnowa bei der Fecht-WM in Mailand. Nach dem Kampf geht Smirnowa auf Charlan zu, um ihr die Hand zu geben. Der Handschlag ist nach einem Gefecht obligatorisch, aber Charlan hält Smirnowa nur ihren Säbel entgegen – offenbar, um anzubieten, dass beide als Ersatz für den Handschlag wie während der Corona-Pandemie ihre Klingen kreuzen. Als keine Reaktion der Russin folgt, schüttelt Charlan ihren Kopf und verlässt die Bahn. Smirnowa bleibt für mehr als 30 Minuten auf der Planche stehen, teilweise blockiert sie die Bahn sogar sitzend, bis sie dann hinunter komplimentiert wird. Aber auch Charlan darf nicht mehr an der Runde der Besten 32 teilnehmen. Sie wird nach dem verweigerten Handschlag disqualifiziert. Die wichtigsten Fragen und Antworten. Warum wurde Charlan disqualifiziert? Das Regelwerk des Fecht-Weltverbandes ist eindeutig: Vor und nach dem Kampf müssen die Sportler ihren Gegner, den Schiedsrichter und das Publikum grüßen. Für das Ende des Kampfes ist außerdem ein Handschlag mit dem Gegner vorgeschrieben. Wer diesen Handschlag verweigert, erhält eine „Schwarze Karte“ – die sofortige Disqualifikation vom Wettbewerb. Charlan hatte schon vorher angekündigt, keiner Russin die Hand zu schütteln. In einem Instagram-Video nach der Entscheidung sagt sie, dass der griechische Präsident des Fecht-Weltverbandes ihr zugesichert habe, dass ein Duell mit einer Russin auch ohne Handschlag möglich sei. „Ich dachte, ich habe sein Wort und bin sicher“, so Charlan, „aber offensichtlich: nein.“ Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Charlan galt als Medaillen-Kandidatin bei der WM. Durch die Disqualifikation hat sie nicht nur die Chance verloren, sondern auch kaum Punkte für die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris geholt. Ihre Chancen auf einen Start dort sind entsprechend gesunken. Trotzdem würde sie wieder so handeln. "Meine Botschaft ist: Wir Athleten aus der Ukraine sind bereit, den Russen auf den Sportplätzen gegenüberzutreten, aber wir werden niemals ihre Hände schütteln." Daher forderte Charlan die Regeln zu ändern und den Handschlag - wie schon während Corona - nicht mehr in den Regeln festzuschreiben. "Die Regeln müssen sich ändern weil sich die Welt ändert", so Charlan im Video. Nachdem Charlans Disqualifikation für großes Aufsehen gesorgt hatte, reagierten die Verbände. Mittlerweile ist klar: Olha Charlan wird an den olympischen Spielen teilnehmen dürfen, wenn sie die anderen Qualifikationsbedingungen erfüllt. Am Freitag (28.07.2023) veröffentlichte der ukrainische Sportminister Vadym Gutzeit einen Brief von IOC-Präsident Thomas Bach, in dem er von einer "einmaligen Ausnahme" spricht und der Ukraine einen zusätzlichen Quotenplatz für die Spiele in Paris zusichert, sollte Charlan sich nicht mehr sportlich qualifizieren. Man stehe weiter "fest an der Seite der ukrainischen Athleten in diesen schweren Zeiten". Auch der Fecht-Weltverband hob im Anschluss die Suspendierung der Ukrainerin auf. Wie das FIE-Exekutivkomitee nach Beratungen mit dem IOC mitteilte, wurde zudem die umstrittene Regel geändert, der Handschlag nach einem Gefecht sei nun nicht mehr verpflichtend. Die Fecht-Olympiasiegerin konnte am Samstag (29.07.2023) mit dem Säbel-Team der Ukraine wieder antreten. FIE-Interimspräsident Emmanuel Katsiadakis verteidigte die Charlan-Disqualifikation nochmals, die Entscheidung sei im Einklang mit dem olympischen Geist getroffen worden. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Warum hat es überhaupt einen Kampf zwischen einer Russin und einer Ukrainerin gegeben? Nachdem das Internationale Olympische Komitee kurz nach der russischen Invasion im Februar 2022 einen Ausschluss von russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportlern empfohlen hatte, hat sich diese Position inzwischen verändert. Seit März 2023 empfiehlt das IOC, einzelne Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus unter neutraler Flagge wieder teilnehmen zu lassen. Voraussetzung dafür soll sein, dass die betreffenden Sportler keine vertragliche Verbindung zum Militär oder zu den Sicherheitskräften haben und den Krieg nicht aktiv unterstützen. Rückkehr Russlands im Fechten "Fassungslos, dass es einfach so passiert ist" Rückkehr Russlands im Fechten "Fassungslos, dass es einfach so passiert ist" Der Welt-Fechtverband hat entschieden: Russische Athletinnen und Athleten dürfen wieder an Wettkämpfen teilnehmen. Die deutsche Fechterin Léa Krüger zeigte sich im Dlf fassungslos, aber nicht überrascht. Vom DOSB erhofft sie sich nun eine klare Linie. Krieg in der Ukraine Wie der Krieg das Leben der Fechterin Olena Krywyzka radikal änderte Wettkämpfe in Moskau, Leipzig oder Budapest, Landesmeisterschaften in einer ukrainischen Großstadt, sechs Mal Training pro Woche - so sah das Leben von Fechterin Olena Krywyzka bis Ende Februar aus. Die russische Invasion in der Ukraine hat alles verändert, doch für andere Profisportler kam es noch viel schlimmer. Chaos im Fecht-Sport Wie der Fecht-Weltverband Russland die Olympia-Quali ermöglichen will Die IOC-Empfehlungen, russische und belarussische Sportler im Weltsport wieder zuzulassen, hat im Fechtsport Chaos im Wettkampfkalender ausgelöst. Damit sich Athleten aus Russland und Belarus für die Spiele in Paris qualifizieren können, soll die EM geteilt werden. Die konkrete Umsetzung dieser Empfehlung liegt bei den einzelnen Weltverbänden. In der Leichtathletik, beim Reiten und Rodeln sind Russland und Belarus weiterhin komplett ausgeschlossen. Der Fecht-Weltverband gehört zu den Verbänden, die eine Rückkehr von russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten ermöglicht haben. Das ukrainische Sportministerium hatte nach der neuen IOC-Empfehlung ukrainischen Sportlerinnen und Sportlern praktisch verboten, an Wettkämpfen mit Russen und Belarussen teilzunehmen. Das ukrainische Judo-Team zog sich zum Beispiel von der WM zurück, als dort russische Sportler – teils mit Armeerang – zugelassen wurden. Sportverbände und IOC-Empfehlung Russische Offiziersanwärterin bei Judo-WM Sportverbände und IOC-Empfehlung Russische Offiziersanwärterin bei Judo-WM Laut IOC sollen einzelne russische und belarussische Sportlerinnen und Sportler wieder an Wettbewerben teilnehmen dürfen, wenn sie den Ukraine-Krieg nicht unterstützen. Die Umsetzung liegt bei den Sportverbänden. Und die gehen das unterschiedlich an. Der Erlass, nur an Wettbewerben ohne Russland und Belarus teilzunehmen, wurde von manchen ukrainischen Athleten kritisiert. "Die Olympischen Spiele und der internationale Sport bieten eine sehr große Medienplattform", sagte der Skeleton-Fahrer Vladyslav Heraskevych der Deutschen Welle im Mai. Man dürfe diese Plattform "nicht den russischen und weißrussischen Narrativen überlassen". Auch Olha Charlan hat sich dafür eingesetzt, gegen Russinnen kämpfen zu dürfen. Offenbar auch auf ihren Druck hin hat der ukrainische Sportminister Wadym Hutzajt, der gleichzeitig Präsident des ukrainischen Olympischen Komitees und ehemaliger Trainer von Charlan ist, kurz vor der Fecht-WM den Erlass deutlich abgeschwächt. Ab sofort dürften ukrainische Athleten nur dann nicht an Wettbewerben teilnehmen, wenn Russen und Belarussen unter ihrer Flagge antreten. Wettkämpfe gegen neutrale Athletinnen seien ab sofort möglich. Erst dieser Schritt hat das Duell zwischen Charlan und Smirnowa bei der WM überhaupt ermöglicht. Hat es so einen Fall zwischen einer ukrainischen und einer russischen Athletin schon mal gegeben? Seit der Invasion hat das ukrainische Sportministerium alle Welt- und Europameisterschaften, an denen Sportlerinnen und Sportler aus Russland teilgenommen haben, boykottiert. Der Kampf zwischen Charlan und Smirnowa war daher das erste Duell zwischen einer Ukrainerin und Russin bei einer WM in einer olympischen Sportart. Im Tennis spielen hingegen bereits seit mehreren Monaten ukrainische Spielerinnen gegen Kontrahentinnen aus Russland und Belarus. Der ukrainische Tennisverband hatte die Boykott-Entscheidung des eigenen Sportministeriums kritisiert und angekündigt, dass seine Spielerinnen und Spieler auch gegen Russen und Belarussen antreten würden. Bei diesen Spielen verzichten die Ukrainer allerdings ebenfalls auf einen Handschlag.  Bei den French Open reichte Marta Kostjuk zum Beispiel der Belarussin Aryna Sabalenka nicht die Hand, in Wimbledon tat es ihr Elina Svitolina nach einer Partie gegen Victoria Azarenka gleich. Beide Male pfiff das Publikum die ukrainischen Spielerinnen für diese Geste aus. Svitolina forderte daraufhin, dass die Veranstalter in Wimbledon öffentlich mitteilen sollten, dass es von Seiten der Ukrainerinnen keinen Handschlag mit Russinnen und Belarussinnen geben werden. Die Organisatoren lehnten diese Forderung ab. Eine Bestrafung, anders als beim Fechten, gibt es beim Tennis aber nicht. Was sagen die Sport-Verbände zu der Disqualifikation? Der ukrainische Verband unterstützt seine Athletin in ihrer Haltung und hat einen Protest angekündigt, damit Charlan zumindest noch an den Teamwettbewerben teilnehmen darf. Ein russisches Team ist bei der Fecht-WM nicht am Start. Auch der deutsche Fecht-Verband kritisiert, dass durch die sehr strikte Auslegung der Regeln „ein fatales Signal weit über die Fechtwelt“ hinausgesetzt wurde. „In Zeiten wie diesen darf das wortwörtliche Auslegen und Anwenden von Regeln kein Maßstab sein und wir erwarten hier eine Veränderung für die zukünftigen Wettkämpfe“, heißt es in einer Stellungnahme. Das Internationale Olympische Komitee fordert die internationalen Sportverbände in einer Stellungnahme dazu auf, Aufeinandertreffen zwischen Athletinnen und Athleten aus der Ukraine und Russland mit dem „notwendigen Grad von Sensibilität“ zu behandeln. Das IOC stehe weiterhin in voller Solidarität zu den ukrainischen Athleten. Daraufhin hat der Vorsitzende des Russischen Olympischen Komitees, Stanislaw Posdnjakow, dem IOC vorgeworfen, Partei für die Ukraine zu ergreifen. Das IOC habe eine Seite des politischen Konflikts ausgewählt und begonnen, im Interesse dieser Seite zu handeln, so Posdnjakow auf Telegram. Welche Reaktionen gibt es aus der Politik? Aus der ukrainischen Politik gibt es Lob und Rückendeckung für Olha Charlan. "Das Wichtigste ist, dass sie die ukrainische Position gezeigt hat, dass wir nicht mit unseren Feinden, mit unseren Mördern Hände schütteln können", sagte Sportminister Hutzajt: "Sie ist großartig, ich ehre und respektiere sie so sehr und liebe sie wie mein eigenes Kind." Der ukrainische Außenminister Dmytrro Kuleba schrieb auf Twitter, dass Smirnova einen fairen Wettkampf verloren und dann entschieden habe, dreckig zu spielen. „Genauso agiert die russische Armee auf dem Schlachtfeld.“ Auch er forderte den Weltverband auf, Charlan am Rest der WM teilnehmen zu lassen. Ähnlich äußerte sich auch Premier-Minister Denys Shmyhal. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Kritische Stimmen gibt es auch aus Deutschland. Innenministerin Nancy Faeser, die für den Spitzensport zuständig ist, twitterte: "Zu dieser Situation hätte es nie kommen dürfen. Russland hat im Moment im internationalen Sport nichts zu suchen. Die volle Solidarität des Sports muss der Ukraine gelten." Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Mehr als Apelle gibt es aber von Seiten der deutschen Sportpolitik nicht. Einen deutschen Boykott von Wettbewerben, an denen russische und belarussische Sportlerinnen und Sportler teilnehmen, wird parteiübergreifend abgelehnt. Zudem erhalten Verbände, die deutsche Sportler zu Wettbewerben mit russischer oder belarussischer Beteiligung schicken, für diese Reisen wieder Förderung vom Bundesinnenministerium. Als Russland und Belarus noch komplett ausgeschlossen waren, hatte das Ministerium angekündigt, derartige Reisekosten nicht zu übernehmen. Die ehemalige Vorsitzende des Sportausschusses, Dagmar Freitag, wie Faeser von der SPD, kritisierte auf Twitter das Verhalten des IOC. Sie sprach von einem Scherbenhaufen, den IOC-Präsident Thomas Bach und „seine Gefolgsleute aus dem IOC“ angerichtet hätten. Bach hatte schon früh den Weg für die Rückkehr Russland und Belarus in den Weltsport eröffnet. Eine offizielle Einladung an die nationalen Olympischen Komitees beider Länder hat er aber nicht ausgesprochen.
Von Maximilian Rieger
Nach ihrem Sieg gegen eine russische Fechterin verweigert die Ukrainerin Olha Charlan den Handschlag – und wird disqualifiziert. Der Fall zeigt, wie schwer sich der Weltsport im Umgang mit Russland tut.
"2023-07-29T16:15:00+02:00"
"2023-07-28T14:13:07.910000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-ukraine-konfrontation-weltsport-faq-100.html
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Die Renaissance des Mietshauses
Beim Wohnprojekt WerkbundStadt sollen die Architekten nicht ihren individuellen Stil zelebrieren, sondern sozial verantwortliche Lösungen der alten Werkbund-Frage nach zeitgemäßen Wohnformen erarbeiten. (dpa / picture alliance / Paul Zinken) Eine mustergültige "innere Stadterweiterung" mitten in Berlin, urban verdichtet, ökologisch, aber auch ein ästhetischer Lichtblick: mehr als 1.100 Wohnungen in 33 Neubauten, jedes Gebäude individuell entworfen von einem renommierten Architekturbüro. Ein kleinteiliger, vielfältiger und dazu noch autofreier Stadtteil: Mehrere zentrale Plätze dürfen zwar befahren, aber nicht zum Parken genutzt werden, das gilt auch für die Straßen vor einer langen Häuserzeile oder zwischen den fünf, zu schiefwinkligen Blöcken angeordneten Gebäudegruppen. So soll sie spätestens 2020 dastehen, die WerkbundStadt. Als Alternative sowohl zum eintönigen Bombast der nach Investoren-Kalkül errichteten Wohnanlagen als auch zur vorstädtischen Monotonie der Eigenheim-Siedlungen. Initiiert vom Werkbund und dessen Vorsitzenden, dem Architekten Paul Kahlfeldt: "Ich bin kein Freund von Eigentumswohnungsmodellen, sondern eher von den Zinshäusern: Also, der Eigentümer wohnt in seinem Haus, lebt von der Miete – und kann entscheiden, etwa: Lasse ich das Haus jetzt streichen? Und muss nicht dreißig Leute fragen. Das Ziel ist nicht eine Eigentumswohnanlagenstadt, sondern eine Mietstadt." Möglichst viel Gestaltungsfreiheit Auf dem vier Fußballfelder großen Areal kann gebaut werden, weil das 1962 für Notfälle eingerichtete Tanköllager aufgelöst wird. Verkauft werden die Parzellen erst, wenn ein detaillierter Entwurf vorliegt – und der künftige Eigentümer sich verpflichtet, binnen drei Jahren sein Mietshaus mit dem vom Werkbund bestimmten Architekten zu errichten. Brandlhuber, Max Dudler, Ingenhoven, Kleihues, Kollhoff oder auch Lederer Ragnarsdottir Oei – diese Auswahl kam ohne Wettbewerb zustande, nach einer Art "Kollegialprinzip", wie 1927 bei der Weißenhofsiedlung, wo unter Leitung von Mies van der Rohe sechszehn Architekten bauen durften: "Bei den großen Wohnungsbauprojekten der Moderne hat einer Leute ausgesucht, mit denen man streiten kann, mit denen man sich auch vertragen kann. Mit denen man sich versteht, weil man an einer gemeinsamen Sache dran ist. Bei anderen Auswahlkriterien oder Wettbewerben einigt man sich auf Mittelmaß und Mittelmaß ist das Schlimmste, was es gibt." Beim Wettbewerb, so Kahlfeldt, entscheidet man sich für einen ersten Preis – an dem dann bis zum Schluss von allen Seiten "nachgebessert" wird, nachgebessert werden muss. Das Projekt WerkbundStadt dagegen ist in Absprachen mit Grundstückseigentümern, Planungsbehörden und politischen Gremien, auch in Diskussionen mit den Anwohnern soweit vorbereitet, dass in der Realisierungsphase möglichst viel Gestaltungsfreiheit bleibt. Sozial verantwortliche Lösungen für zeitgemäße Wohnformen Die Architekten sollen nicht ihren individuellen Stil zelebrieren, sondern sozial verantwortliche Lösungen der alten Werkbund-Frage nach zeitgemäßen Wohnformen erarbeiten. Und dazu braucht es mehr als das penible Einhalten von Vorschriften und Kennzahlen: "Wärmeschutz oder Energieeinsparung ist sinnvoll, Schallschutz ist sinnvoll, Abstandsflächen, jeder einzelne Aspekt. Aber wenn da nicht versucht wird, eine Mischung zu machen und auch eine Abwägung, sondern da – und dann kommen leider oft die Gerichte ins Spiel – muss man alle Punkte einhalten, und das verlängert, verkompliziert und verteuert. Und es führt nicht zu einem guten Ergebnis, das ist das Allerdramatischste." Um allzu enge Vorgaben zu vermeiden, verzichtet das Projekt etwa auf die Fördermittel des sozialen Wohnungsbaus. Und wird dennoch ohne einen Euro Steuergeld 30 Prozent preiswertere Wohnungen anbieten – in jedem einzelnen Gebäude. Denn hier geht es um Qualität, um ein urbanes Versuchsgelände für den städtischen Alltag, das künftige Zusammenleben. "Was waren Wohnformen der Dreißiger-, Vierziger-, Fünfzigerjahre – das wollen wir wissenschaftlich aufbereiten." Für grundlegende Veränderungen, für eine bewusst gesetzte Zäsur braucht es die nüchterne Analyse. Erst auf dieser Grundlage nämlich kann sich so etwas wie die visionäre Kraft des Neuen entfalten: Wohnkonzepte für die Zukunft weder als überhastete Notlösung noch als ideologisches Patentrezept, sondern aufgrund einer aus dem Planungsprozess und der Bau-Praxis heraus erarbeiteten Methode. Aber durchaus nicht abstrakt, sondern demnächst zu besichtigen in der WerkbundStadt.
Von Jochen Stöckmann
1.100 Wohnungen in 33 Neubauten, individuell entworfen von einem renommierten Architektenbüro und das Ganze mitten in Berlin: So soll sie spätestens 2020 dastehen, die WerkbundStadt - auf dem Areal eines stillgelegten Tanköl-Lagers. Damit wird eine Tradition fortgesetzt, die 1927 mit der Stuttgarter Weißenhofsiedlung begann: der Reform-Städtebau des Deutschen Werkbunds.
"2016-05-16T17:30:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:37.730000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-projekt-werkbundstadt-die-renaissance-des-100.html
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Wein beim Bischof
Christen verzichten in der Fastenzeit auf Alkohol - eigentlich. (dpa / picture alliance / Fredrik Von Erichsen) Vielen Christen sei nicht mehr klar, in welcher Form sie Verzicht leisten sollten, so von Stosch. Im Islam gebe es dagegen die eindeutige Vorschrift, bis zum Sonnenuntergang nichts zu essen und zu trinken. Von Stosch setzt sich intensiv mit dem Verhältnis von Christentum und Islam auseinander. Ihm gehe es darum, das Faszinierende an der anderen Religion zu sehen, ohne es sich zu eigen zu machen, sagte der Paderborner Fundamentaltheologe. Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
Klaus von Stosch im Gespräch mit Michael Köhler
An diesem Wochenende hat der muslimische Fastenmonat Ramadan begonnen. Auch im Christentum gibt es Fastenzeiten. Doch dort sei das Fasten nur noch in einer entsakralisierten Form vorhanden, meint der Theologe Klaus von Stosch. So könne es heutzutage durchaus vorkommen, dass man während der Fastenzeit bei einem Bischof Wein serviert bekomme, sagte er im DLF.
"2017-05-28T00:00:00+02:00"
"2020-01-28T10:29:44.157000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/religioeses-fasten-wein-beim-bischof-100.html
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Zwischen Panzerfaust und Weltrekorden
Eine schwarz verschleierte Frau trägt einen kleinen Jungen über eine staubige Landstraße. Hinten ist ein Flüchtlingstreck zu erkennen, im Himmel hängt schwarzer Rauch. Die Dramatik des Bildes ist schwer zu überbieten – auch wenn es keine unmittelbare Zerstörung oder Kämpfe zeigt. Anja Niedringhaus fotografiert Menschen – Menschen, die leiden, Angst haben oder einfach nur erschöpft sind. Ein Soldat liegt ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, ein schreiender Rebell auf einem Autodach breitet die Arme aus. Emotionen sind wichtig, sagt Anja Niedringhaus."So wie man sieht und wie man fühlt, so fotografiert man auch."Der Rest ist Handwerk. Anja Niedringhaus ist immer wieder überrascht, wenn ihre Fotos in Kunstausstellungen gezeigt werden. Sie empfindet sich als Journalistin, möchte Themen, die sie für wichtig hält, ins Gespräch bringen. Das ist auch ihr moralischer Anspruch."Ich erfinde nicht die Kriege, sondern ich gehe da hin. Wenn ich nicht hingehen würde, würden vielleicht viel zu wenig Leute darüber berichten."Eine Abenteurerin ist Anja Niedringhaus nicht. Sie ist Mitte 40, hat glatte graue Haare und sanfte Gesichtszüge. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie oft Angst hat, wenn sie in Konfliktgebieten unterwegs ist. Die Angst, sagt sie, sei lebenserhaltend. Als sie im März in Bengasi war, wollte ein junger Kollege sie überreden, zur Absturzstelle eines Flugzeugs zu fahren. Doch Gaddafis Truppen waren sehr nah, daher lehnte Anja Niedringhaus ab."Weil ein toter Fotograf bringt keinem was, ein gekidnappter Fotograf bringt keinem was. Ich glaube da gibt es Grenzen, wo man abschätzen muss - das ist es wert, um diese Geschichte zu erzählen, oder das ist es nicht wert, weil ich die Geschichte morgen vielleicht nicht mehr erzählen könnte."Ihr Instinkt war richtig. Gaddafis Truppen drangen derart schnell in die Stadt ein, dass sie um ein Haar gefangen genommen worden wäre. Trotzdem würde sie sich wieder in eine solche Situation begeben - schließlich hat sie in Bengasi ein Foto gemacht, das um die Welt ging: ein abstürzendes Flugzeug, aus dem sich der Pilot mit dem Schleudersitz rettet…"Als ich es fotografiert habe, wusste ich gar nicht, was ich da fotografiere. Also dass ich den Piloten habe, wie er mit dem Fallschirm rausspringt. Das war mir alles nicht bewusst, weil das sind ja Bruchstücke von Sekunden, in denen das passiert."Anja Niedringhaus arbeitet auch als Sportfotografin - ihre Reaktionsfähigkeit ist also geschult. Ihre Karriere begann in den 80er-Jahren beim Göttinger Tageblatt. Eigentlich wollte sie Lehrerin werden und jobbte bei der Zeitung nur nebenbei. Sie schrieb Texte. Das Fotografieren traute man ihr nicht zu – bis sie bei einer Reportage über die Besetzung einer Schule in einen Polizeieinsatz hineingeriet."Ich wurde auch mit verhaftet und bin getreten worden, hatte ne Platzwunde, habe aber auch nebenbei fotografiert und habe meinen Film einem Kollegen mitgegeben. Und ich kam dann abends, nachdem ich aus der Ambulanz zurückkam, in die Redaktion untersagte der CvD zu mir: 'Niedringhaus komm mal her, ab heute bist du in der Bildredaktion'."Anja Niedringhaus fotografierte 1989 den Fall der Mauer und in den 90er-Jahren den Krieg im auseinanderbrechenden Jugoslawien. Seitdem ist sie immer wieder in Konfliktgebieten unterwegs. Für ihre Berichte aus dem Irak erhielt sie den Pulitzerpreis. Als Star fühlt sie sich deswegen aber nicht. Im Gegenteil. Die Interviews, die sie nach der Preisverleihung geben musste, waren ihr lästig - vor allem weil eine Frage, immer wieder gestellt wurde: Wie kann man als Frau einen derart harten, derart gefährlichen Beruf ausüben? Anja Niedringhaus zuckt mit den Schultern: "Natürlich kann ich das als Frau. Warum nicht? Die Frauen, die ich kennengelernt habe, die sich dafür entschieden haben, sind psychisch stärker belastbar als viele Männer."
Von Oliver Kranz
Ihre Fotos kennt man, ohne es zu wissen. Sie erscheinen auf den Titelseiten von Zeitungen und Zeitschriften - weltweit. Anja Niedringhaus reist seit mehr als 20 Jahren als Fotografin der Agentur AP in Kriegs-und Krisengebiete. Sie hat im Jahr 2005 für ihre Berichte aus dem Irak den Pulitzer Preis erhalten, jetzt widmet ihr die C/O Galerie in Berlin eine Ausstellung.
"2011-09-12T00:00:00+02:00"
"2020-02-04T01:50:35.389000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-panzerfaust-und-weltrekorden-100.html
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"Wir kommen ein Stück weit auf die Landkarte"
"Skulptur Projekte" steht auf einem Transparent am 09.06.2017 hinter einer grünen Verkehrsampel in Münster (Nordrhein-Westfalen). (Friso Gentsch/dpa) Susanne Luerweg: Kassel, Münster und Marl – das sind ab diesem Wochenende die Hotspots der Kunstszene in Deutschland. In Kassel startet der zweite Teil der documenta, in Münster eröffnen zum 5. Mal die Skulpturprojekte. Und ähnlich wie die documenta mit Athen, bildet Münster mit Marl eine Partnerschaft. Die kleine Stadt, die als eine Art Scharnier zwischen Ruhrgebiet und Westfalen fungiert, zeigt bereits seit letzten Sonntag "The Hot Wire - der heiße Draht", so der Titel. Kurator, Ausstellungsleiter ist Georg Elben, Direktor des Marler Skulpturenmuseums Glaskasten, den ich nun am Telefon begrüße, direkt nach der Pressekonferenz in Münster. Herr Elben. Schönen guten Tag. Georg Elben: Schönen guten Tag. Luerweg: Kassel, Münster, Marl. Drei Städte, die alle eher unter Provinz firmieren und nun das Kunstgeschehen bestimmen. Braucht es - im Grunde genommen - kleine Orte, um große Kunst zu zeigen? Elben: Naja. In Marl ist es wirklich eine Geschichte, die jetzt hier ausgestellt wird, die wirklich so das Rampenlicht einmal abbekommt. Eine Geschichte, die von der Stadt schon ganz spannend ist, weil Marl ist in den 50er Jahren eine der reichsten Städte Deutschlands gewesen mit zwei großen Zechen und dem Chemiepark, die auch in Marl damals die Steuern direkt gezahlt haben. Und zu der Zeit hat man einen großen Gestaltungswillen gehabt. Man hat ein internationales Rathausprojekt angeschoben, was von den holländischen Architekten Van den Broek und Bakema gewonnen worden ist. Und dazu hat es auch sofort schon Ankäufe von Skulptur auf sehr hohem Niveau gegeben, sowohl als Schmuck für die Amtsstuben, wie auch mit Skulpturen für den Außenraum. Und das ist im Prinzip der Grundstock für die Sammlung in Marl. "Die wirtschaftliche Lage Ruhrgebiet hatte große Auswirkungen auf die Kunst" Luerweg: Ja, es heißt ja so schön bei Kassel und Athen, von Athen lernen. Das heißt, die Münsteraner können in diesem Fall jetzt auch von Marl lernen, weil ich glaube skulpturentechnisch war Marl tatsächlich schon vor Münster. Elben: Ja. Es hat zwei wichtige Ausstellungen Anfang der 1970er Jahre gegeben. 70 und 72 unter dem Titel "Stadt und Skulptur". Und da sind, neben deutschen Künstlern, einmal holländische und einmal schweizer Künstler eingeladen worden. Und einige von den Skulpturen sind auch direkt angekauft worden als 'Freiluftausstellung' direkt vor dem Rathaus, ganz provisorisch aufgestellt, das hat ziemlich Furore gemacht damals. Georg Elben, Direktor des Skulpturenmuseum Marl. (picture alliance / Roland Weihrauch) Luerweg: Aber egal, wie weit man da vorne ist in puncto Skulpturen: Kann man nicht ohnehin so sagen, Marl und Münster sind genauso wie Kassel, Provinz. Ist so, oder? Elben: Das ist richtig. Wir haben uns schon große Mühe gegeben, auch erst mal jetzt zu vermitteln, wo Marl genau liegt. Also, mehr oder weniger in der Mitte, geografisch, zwischen Essen und Münster. Und Marl hat einfach mit der Situation in der Wirtschaft große Probleme gehabt im nördlichen Ruhrgebiet. Und das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Kunst gehabt, auf die Situation, mit welchen Mitteln man ein kommunales Museum fördert. Von Kirschen- und Melonensäulen Luerweg: Jetzt ist es aber so, die Skulptur Projekte, die bei Ihnen ja schon letzten Sonntag begonnen hat, hebt Marl jetzt nochmal ganz anders auf die Landkarte. Und ähnlich wie bei Kassel und Athen gibt es auch bei Marl und Münster Künstler, die an beiden Orten ausstellen, aber unterschiedliche Dinge? Elben: Das ist richtig. Also es sind insgesamt sechs Projekte, die unter dem Titel "Skulpturentausch", unter diesem Gedanken teilweise in Marl und in Münster gleichzeitig zu sehen sind. Die Ausstellung "The Hot Wire" fasst die zusammen, und, wenn ich das mal so ein bisschen aufblättern darf: Wir haben also die Fahrradständer-Skulptur von Richard Artschwager nach Marl holen können, die zuletzt in Münster auf dem Schlossplatz zu sehen war, die steht jetzt hinter dem Rathaus. Beton kommt zu Beton, das passt sehr gut. Das ist einfach ein ganz anderes Umfeld, wo dann auch die Skulptur eine andere Wertigkeit oder eine andere Bedeutung bekommt. Thomas Schütte hat - und wir wollten gerne die Kirschensäule aus Münster haben - hat aber dann gesagt, das wird nicht heile vonstattengehen, der Sandstein ist sehr empfindlich und hat dann angeboten, ein neues Projekt für Marl zu entwickeln. Eine zweite Säule, nämlich die Melonensäule. Weil schon 1987, als er für Münster die Kirschensäule geplant hat, Melonen mit in der Diskussion gewesen sind, nur eben jetzt nicht mehr aus Sandstein zumal, sondern aus Beton, zehn Prozent vergrößert und mit drei farbenfrohen Melonenschnipseln oben drauf. "Wir kommen ein Stück weit auf die Landkarte" Luerweg: Das zeigt ja schon ganz schön, finde ich, den Unterschied zwischen Münster und Marl: Das eine ist diese beschauliche kopfsteinbepflasterte Stadt Münster, eine Studentenstadt, und Marl ist eine schicke Betonhochburg. Also da passt sich Thomas Schütte mit seiner Skulptur nicht schlecht an. Elben: Ja, das ist richtig. Nur auf der anderen Seite ist die schicke Betonhochburg, die sie mal gewesen ist in den Anfangsjahren... Luerweg: ...ist nicht mehr so schick. Elben: Die ist heute doch ganz stark ramponiert. Und auch das Selbstwertgefühl ist dann nicht so groß, deswegen ist es toll, dass wir sie da haben und als Gegenpol, als Folie für die Skulpturprojekte in Münster, macht Marl sehr viel Sinn. Kasper König hat das immer in das Bild gefasst, was ich sehr überzeugend finde. Münster hat nach dem Krieg ein Rathaus wieder aufgebaut mit Butzenscheiben. Marl hat mehr oder weniger zeitgleich ein Rathaus aus Beton errichtet, mit den Scheiben im großen Ratssaal, eingelassen in Beton in den Farben Rot, Blau und Gelb, den De Stijl-Farben, also es ist ein ganz anderer Hintergrund, ein ganz anderes Wollen, in die Zukunft zu blicken, was Marl in der Nachkriegszeit ausgemacht hat. Und da versuchen wir jetzt anzuknüpfen. Luerweg: Herr Elben, Sie sagen gerade, es ist auch wichtig für das Selbstbewusstsein. Wie wichtig ist es tatsächlich, dass dieser Kunstzirkus jetzt durch die Provinz sich bewegt. Also was bleibt da zum Schluss? Bleibt da was hängen für Marl? Mehr als vielleicht die ein oder andere Skulptur? Elben: Ich glaube sicher, dass da etwas hängen bleibt, weil wir damit ein Stück weit auf die Landkarte kommen. Es ist wie ein großer Spot, der angedreht worden ist, um Marl mal deutlich zu machen, wo es ist und was es eigentlich hat. Wir haben insgesamt 100 Skulpturen etwa - je nachdem, wie man es zählt - im Außenraum. Also es war schon eine Menge an Fundament da, wo man jetzt auch nur wenig dazu bringt. Temporär ist das Ziel, aber wie viel jetzt bleiben wird, muss man mal sehen. Aber alleine dadurch, dass man jetzt über Marl redet, hilft es ungemein und stärkt damit das Selbstbewusstsein, stärkt aber auch in der Stadt die Stellung für Kunst und für das Skulpturenmuseum. Und von daher kann ich da eigentlich nur wirklich positive Aspekte sehen und erwarte mir davon doch einiges. Besucher, die aus Venedig, Kassel nach Münster fahren, manche machen jedenfalls einen Abstecher über Marl. Und das trägt auf jeden Fall dazu bei, dass man über Marl redet und vielleicht damit einen neuen Ort kennengelernt hat. Luerweg: Georg Elben, Direktor des Skulturenmuseum Glaskasten in Marl, wo derzeit die Ausstellung "The Hot Wire" stattfindet. Mehr zu Münster und den morgen beginnenden Skulpturprojekten gibt es heute bei den Kollegen von Kultur heute um 17:35 Uhr. Herr Elben, danke für das Gespräch. Elben: Herzlichen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georg Elben im Corsogespräch mit Susanne Luerweg
Kassel, Münster, Marl - drei Städte, die eher als Provinz gelten, bestimmen ab diesem Wochenende das Kunstgeschehen. Braucht es kleine Orte um große Kunst zu zeigen? "Wir kommen ein Stück weit auf die Landkarte", sagte Georg Elben, Direktor des Marler Skulpturenmuseums Glaskasten, im Dlf.
"2017-06-09T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:31:43.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kunst-in-der-provinz-wir-kommen-ein-stueck-weit-auf-die-100.html
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"Ich halte es für falsch, Friedrich Merz auf Blackrock zu reduzieren“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor (imago/Christian Spicker) Gegen 12 Uhr Mittags soll das Wahlergebnis des digitalen CDU-Parteitages feststehen, auf dem 1001 Delegierte über den neuen CDU-Vorsitz entscheiden. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor hat sich im Dlf für Friedrich Merz ausgesprochen. "Ich finde es überhaupt nicht schädlich, dass Friedrich Merz in den letzten Jahren auch außerhalb der Politik Erfahrung gesammelt hat", sagte Amtohr. Außerdem schätzten es auch viele andere Delegierte, wenn Politiker das Unternehmensleben nicht nur von Firmenbesuchen kennen, "sondern auch aus der Innenperspektive". Sein Aufsichtsratsmandat beim Finanzinvestor Blackrock hatte immer wieder für Kritik gesorgt - das sei aber nur eine von verschiedenen Tätigkeiten gewesen, so Amthor. Als Wirtschaftsanwalt habe Merz schließlich auch viele deutsche Mittelständler unterstützt. Ziemiak (CDU) - "Haben sehr starke Frauen und viele neue, frische Gesichter"Drei ältere männliche Katholiken aus NRW stehen zur Wahl um den CDU-Vorsitz. Dass sich daraus ein Bild für die gesamte Partei ableiten ließe, kann der CDU-Politiker Paul Ziemiak nicht erkennen. Wirtschaftsfähigkeit öffentlicher Haushalte stärken Merz sei der richtige Kandidat, um den Nachhaltigkeitsbegriff auch auf öffentliche Haushalte auszuweiten. Es gehe nicht darum, neue Verteilungskonflikte zu schüren, "sondern wir müssen sehen, dass es für öffentliche Haushalte am besten ist, wenn wir es auch schaffen, zu wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zurückzukehren", erklärte Amthor. "Ich halte es für falsch, Friedrich Merz ein Programm der sozialen Kälte zu unterstellen, wie das manchmal in der politischen Debatte gemacht wird", sagte der 28-jährige Bundestagsabgeordnete. Schließlich sei die CDU in der christlichen Soziallehre fest verankert – und von diesem Kurs werde auch Merz nicht abrücken. Mit Blick auf die Europapolitik betonte Amthor, dass Merz ein ausgesprochener Pro-Europäer sei und verwies auf den Beginn seiner politischen Karriere im Europaparlament. Man sei aber nicht nur dann ein guter Europäer, wenn man einfach Ja und Amen zu allen Finanzvorhaben der EU sage. Auch haushalterische Vernunft gehöre dazu - und die habe Merz, sagte Amthor. Philipp May: Aber es war schon vor zwei Jahren bei der letzten Wahl so, und heute ist es immer noch so, die Ironie bleibt die gleiche: Ausgerechnet bei den Jungen in der Union findet Friedrich Merz viele Unterstützer, also bei denjenigen, die seine große Zeit in der Union als Fraktionsvorsitzender im Bundestag nur aus Erzählungen kennen. Das gilt auch für den Merz-Befürworter, der jetzt am Telefon ist, 2002 war er zehn, jetzt er 28 und Bundestagsabgeordneter für die CDU. Schönen guten Morgen, Philipp Amthor! Philipp Amthor: Ja, schönen guten Morgen, Herr May! May: War früher alles besser? Amthor: Ach, wissen Sie, Friedrich Merz ist nicht der Kandidat der Vergangenheit, Friedrich Merz ist ganz sicher ein Kandidat für die Zukunft – deswegen den Widerspruch, dass man sagt, ja, die Jüngeren unterstützen einen Kandidaten, der für gestern sei, das ist ganz sicher so nicht richtig. Friedrich Merz hat ein modernes Programm, auch für viele in der Jungen Union, für viele, die auch aus der jüngeren Generation in der Partei ihn unterstützen. Deshalb kann ich sagen, Friedrich Merz ist ganz sicher auch ein Kandidat für morgen. May: Angenommen, Ihre These stimmt, über die wir gleich sicher noch reden, was sagt das über Ihre Partei aus, dass sie in den zehn Jahren, oder es sind sogar elf Jahre, in denen Friedrich Merz der Politik den Rücken gekehrt hat, niemanden gefunden hat, der moderner ist als er? Amthor: Ach, wissen Sie, die Modernisierung der CDU ist ein Prozess, den Friedrich Merz ganz sicher auch unterstützen möchte, und ich finde es überhaupt nicht schädlich … Widmann-Mauz: "Für uns steht gesellschaftlicher Zusammenhalt an erster Stelle"Armin Laschet und Norbert Röttgen: Das sind bei der Wahl des CDU-Vorsitzenden die Favoriten der Frauenunion, sagte deren Vorsitzende, Annette Widmann-Mauz, im Dlf. Die CDU müsse die Partei der Mitte bleiben und sich klar gegen extreme Ränder abgrenzen. May: Dazu muss er ja nicht Parteichef sein. Amthor: Ja, ich finde es überhaupt nicht schädlich, dass Friedrich Merz in den letzten Jahren auch außerhalb der Politik Erfahrungen gesammelt hat. Es ist sicherlich nicht verkehrt, dass man sagt, dass Politiker Unternehmen auch nicht von Unternehmensbesuchen, sondern auch aus der Innenperspektive kennen, das schätzen viele Delegierte. Im Übrigen hat er in den letzten zwei Jahren ja sehr intensiv sich in die Partei, in die Politik auch wieder eingebracht, er ist da fest verwurzelt und eingebettet in ein erfolgreiches Team eines CDU-Bundesvorstandes. Deswegen, Modernität, das geht mit Friedrich Merz zusammen, das sieht man in den Themen, die er setzt: ein neuer Generationenvertrag, die ökologische Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, das ist kein Rückspiegel zehn Jahre zurück, sondern das ist der Blick zehn Jahre voraus. May: Das sind ja bisher alles nur Schlagworte, dann werden wir mal ganz konkret: Was macht Friedrich Merz moderner als Norbert Röttgen und Armin Laschet? Amthor: Ja, wissen Sie, jetzt wollen Sie die nächsten Schlagworte, indem man nämlich etwas Schlechtes über andere Kandidaten sagt, und da sage ich Ihnen, da gibt es gar keine Veranlassung, das will ich erst mal vorausschicken. Ich hab mich klar bekannt, unterstütze Friedrich Merz, aber wir haben drei Kandidaten, wo andere Parteien neidisch werden, wenn sie einen davon hätten. Neuer Generationenvertrag May: Ich habe ja nicht gefragt, warum Armin Laschet schlecht ist oder Norbert Röttgen schlecht ist, sondern ich habe Sie nur gefragt, warum Friedrich Merz aus Ihrer Perspektive besser ist. Das hat ja nichts mit Schlechtmachen zu tun. Amthor: Ja, das ist natürlich so, wenn wir uns das inhaltliche Programm anschauen, ist aus meiner Sicht für Friedrich Merz das von mir genannte Stichwort "ein neuer Generationenvertrag" ganz sicher ein inhaltliches Thema auf seiner Seite. Wir müssen uns vor Augen führen – und das Thema hat er immer wieder benannt –, dass wir natürlich schon sehen müssen, Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Thema des Klimaschutzes, ein Thema der Umweltpolitik, es ist auch ein Thema der öffentlichen Haushalte. Wir müssen – und das zeigt gerade Corona – natürlich insbesondere schauen, was können wir uns in den nächsten Jahren noch leisten. Deswegen ist es ganz wichtig, dass man eben auch den generationenübergreifenden Diskurs darüber führt, wie wir öffentliche Haushalte auch in den nächsten Jahrzehnten aufstellen, das ist ein inhaltliches Schwerpunktthema von Friedrich Merz. Ich glaube im Übrigen, diese ganze Frage, wie gehen wir in der Wirtschafts-, in der Finanzpolitik, im Haushalt, wie gehen wir da in die Zukunft, das ist etwas, wo Friedrich Merz mit seinen Kompetenzen ganz sicher Schwerpunkte setzen kann. Digitaler Parteitag der CDU - Drei Kandidaten, zwei Richtungen Die CDU wird mit der Wahl ihres neuen Vorsitzenden auch eine Richtungsentscheidung treffen. Im Kern geht es entweder um die Fortführung der Merkel-Politik oder um die Abgrenzung von der Merkel-Politik. May: Sie sagen es, Friedrich Merz sagt, nach der Krise müssen alle staatlichen Leistungen auf den Prüfstand. Höhere Steuern für Vermögende lehnt er ab, mit anderen Worten: Nachdem die Schwächsten gesundheitlich und finanziell deutlich härter getroffen wurden durch die Krise, sollen die dann den Haushalt in Ordnung bringen. Finden Sie auch, das ist eine gute Idee? Amthor: Ich glaube, Sie geben dort ein inhaltliches Programm von Friedrich Merz nicht richtig wieder, denn es geht doch nicht darum, neue Verteilungskonflikte zu schüren, sondern wir müssen sehen, dass es sicherlich für öffentliche Haushalte am besten ist, wenn wir es auch schaffen, zu wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zurückzukehren, und dafür sind Steuererhöhungen sicherlich nicht der erste Weg. Ganz klar ist aber, dass wir natürlich Solidarität auch brauchen, die aber im Moment auch üben, auch in der Krise, und deswegen, die These, dass man jetzt sagt, die Krise, auch die wirtschaftliche Situation im Moment sei eine Umverteilung von unten nach oben, die ist so nicht zutreffend. May: Aber dennoch sagt er, alle staatlichen Leistungen auf den Prüfstand, das heißt beispielsweise weniger Hartz-IV-Sätze zum Beispiel, oder an was denkt er da genau? Amthor: Also weniger Hartz-IV-Sätze, das ist natürlich keine Option auf dem Hintergrund jetzt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der Hartz-IV-Satz … Merz stehe für Kontinuität und Aufbruch zugleich May: Stimmt, haben Sie recht, ja. Amthor: Das kann da kein Thema sein. Ich will jetzt von dem Thema vielleicht dahin führen: Ich halte es für falsch, irgendwie Friedrich Merz da ein Programm der sozialen Kälte zu unterstellen, wie das manchmal in der politischen Debatte gemacht wird, darum geht es überhaupt nicht. Die CDU ist eine Partei, die fest verankert ist auch in der christlichen Soziallehre, und von diesem Kurs wird Friedrich Merz nicht abrücken. Und es geht beides zusammen – eben der Staat, der klare fürsorgende Aspekte hat, das ist auch Programmatik der CDU, der gleichzeitig auch auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und auf dort eine Freisetzung auch der Kräfte der Wirtschaft wieder setzt. Das brauchen wir, um stark aus der Krise zu kommen, und da wird Friedrich Merz sicherlich inhaltlich die Programmatik genau in diese Richtung auch führen können. May: Er sagt selbst, Friedrich Merz, er stehe nicht für Kontinuität, sondern für Aufbruch. Mit welcher Kontinuität genau – wollen Sie – soll Schluss gemacht werden an der Politik? Amthor: Ich glaube, Friedrich Merz steht für Kontinuität und Aufbruch gleichermaßen. Es geht nämlich darum, dass wir natürlich sehen müssen, jetzt auch nach der Regierungszeit 16 Jahre Angela Merkel ist es natürlich so, dass jetzt eine Ära endet, auch eine neue dann damit beginnt. Ich glaube, da geht es nicht um einen Bruch, das wäre falsch, sondern wir wollen das, was Konservative eigentlich immer wollen, nämlich das, was sich bewährt hat, bewähren und trotzdem offen sein für Neues, und das bekommt Friedrich Merz ganz sich hin. Was wichtig ist: Wir müssen jetzt in eine Zeit der Unterscheidbarkeit, der politischen Erkennbarkeit auch gehen, und ich finde es wichtig, dass Friedrich Merz eben auch die inhaltliche Auseinandersetzung nicht den politischen Rändern überlässt, sondern sie kraftvoll aus der Mitte heraus führen will, denn inhaltliche Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit, das muss ein klares Signal sein, das auch aus der CDU ausgeht und auf das Friedrich Merz setzt. Europapolitik May: Soll sich die CDU in Zukunft unter der Führung von Friedrich Merz beispielsweise auch in der Europapolitik von der SPD unterscheiden? Da war man sich ja jetzt in der Regierungszeit von Angela Merkel weitgehend einig, wenn man zum Beispiel jetzt auf die Corona-Hilfen, die europaübergreifenden, auch von Deutschland finanziert für andere europäische Länder, schaut? Amthor: Wissen Sie, Friedrich Merz ist ein ausgesprochener Pro-Europäer, um das im Ausgangspunkt zu sagen. Er hat seine politische Karriere ja im Europaparlament begonnen in den 90er-Jahren, und deswegen wird die CDU unter einem Vorsitzenden Friedrich Merz sicherlich ein klares proeuropäisches Profil haben, da bin ich ganz sicher. Aber wir müssen auch eines sagen: Man ist nicht nur dann ein guter Europäer, wenn man einfach Ja und Amen zu allen Finanzvorhaben der Europäischen Union sagt, haushalterische Vernunft, vernünftiges Wirtschaften, das gehört auch in der EU dazu. Im Übrigen merke ich an, dass wir das mit dem Programm "Newt Generation EU" auch gesichert haben, auf das Sie anspielen. Ich glaube, wirtschaftliche Vernunft, klare Kante in der Haushaltspolitik, das kann Friedrich Merz auch in der Europapolitik akzentuieren, aber er wird die CDU ganz sicher – da bin ich ganz überzeugt – auch auf einem proeuropäischen Kurs halten. May: Aber beispielsweise noch mal: Ein gemeinschaftlich finanziertes europäisches Corona-Wiederaufbauprogramm, das die Kanzlerin vorangetrieben hat letztes Jahr während der Ratspräsidentschaft, wäre das mit Merz auch zu machen? Amthor: Ja, wissen Sie, was der entscheidende Punkt ist, wo Grenzen gesetzt werden müssen, ist die Umverteilung von Schulden, das ist eben nicht die Programmatik der CDU, und es muss auch klar sein, dass die Budgetverantwortung für das Geld des deutschen Steuerzahlers in der Letztkonsequenz vor allem auch beim Haushaltsgesetzgeber im Deutschen Bundestag liegt. Das haben wir bei den EU-Programmen jetzt sichergestellt, und ich bin sicher, dass auch genau diese Grundüberzeugung auf Friedrich Merz in der Europapolitik setzen würde. Merz’ frühere Aufsichtsratstätigkeit für Blackrock May: Herr Amthor, einen Punkt möchte ich noch mit Ihnen besprechen: Friedrich Merz, dem wird ja immer sehr wirtschaftliche Kompetenz nachgesagt, haben Sie auch noch mal drauf abgezielt, dass er sich ja in den Unternehmen bewegt hat nach seiner Zeit in der Politik. Er war jahrelang Berufspolitiker, dann hat er sich die Zeit versilbern lassen als Lobbyist beispielsweise des größten Finanzinvestors der Welt, für viele der Inbegriff einer Heuschrecke, Blackrock. Ist ja völlig legitim, aber was soll das aussagen über seine wirtschaftspolitische Kompetenz? Amthor: Ja, schon das reine Rekurrieren auf die Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender des deutschen Tochterunternehmens von Blackrock verkürzt natürlich deutlich die wirtschaftlichen Tätigkeiten, die Friedrich Merz wahrgenommen hat. Er war und ist in seinem Beruf in allererster Linie Anwalt. Das Aufsichtsratsmandat, das er bei Blackrock wahrgenommen hat, war dabei eine von verschiedenen Tätigkeiten. Er hat als Wirtschaftsanwalt … May: Von verschiedenen Aufsichtsratsposten in verschiedenen Unternehmen, die alle … Amthor: Er hat als Wirtschaftsanwalt gearbeitet, und da sind ganz viele deutsche Mittelständler dabei gewesen, die er unterstützt hat. Ich kann Ihnen sagen, ich halte es erstens für falsch, Friedrich Merz auf Blackrock zu reduzieren, gleichzeitig irgendwie alles, was dieses Unternehmen macht, ihm anrechnen zu wollen, das ist aus meiner Sicht eine Verkürzung. Gleichzeitig sage ich pointiert, trotzdem, es schadet sicherlich nicht, wenn man auch in der Wirtschaft Erfahrung gesammelt hat, das schätzen auch viele Delegierte. Sein Schwerpunkt aber ist die Politik. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Philipp Amthor im Gespräch mit Philipp May
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor unterstützt Friedrich Merz bei der Wahl des Parteivorsitzenden. Er bringe viel Erfahrung in Unternehmen mit, sagte Amthor im Dlf. Es sei falsch, ihn allein auf seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzenden beim Finanzinvestor Blackrock zu reduzieren.
"2021-01-16T07:15:00+01:00"
"2021-01-17T12:12:20.123000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/philipp-amthor-cdu-ich-halte-es-fuer-falsch-friedrich-merz-100.html
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Mehr Schaden als Nutzen?
Vor fünf Jahren hatte das Land Sachsen-Anhalt gegen das Gentechnikgesetz geklagt. Der damalige Wirtschaftsminister Horst Rehberger sah darin ein Gentechnikverhinderungsgesetz. Der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen würde unverhältnismäßig erschwert, wetterte der FDP-Politiker. 2002 hatte er seinem Land eine Biotechnologieoffensive verordnet. Sie sollte Sachsen-Anhalt zum führenden Standort für Biotechnologie ausbauen. Dazu der heutige CDU-Wirtschaftsminister Reiner Haseloff, der die hohe Förderungsquote grüner Gentechnik längst auf ein Mittelmaß reduziert hat. "Ich selber würde sicherlich aus heutiger Sicht diesen Antrag so nicht stellen. Aber inzwischen habe ich gemerkt, dass eigentlich alle Beteiligten ein Interesse haben, dass zum bundesdeutschen Gentechnikgesetz an bestimmten Stellen Rechtsklarheit herbeigeführt wird. Dass auch die Branche an bestimmten Stellen Planungssicherheit bekommt bis hin auch zum Fördergeschäft."Die 143 Seiten dicke Klageschrift wurde von einer Wirtschaftskanzlei erstellt, die auch schon für den Agrarproduktehersteller Monsanto tätig war. Monsanto ist einer der größten Hersteller von genetisch verändertem Saatgut. Der juristische Streit dreht sich vor allem um eine besondere Haftungsbestimmung. Demnach müssen Gentechnik-Landwirte für die wirtschaftlichen Schäden ihrer Nachbarn aufkommen, wenn auf deren Ackerflächen genveränderte Pollen landen. Dabei spielt es jedoch keine Rolle, ob die Gentechnik-Landwirte auch wirklich die Verursacher sind. Diese Bestimmung wollen wir kippen, sagt Uwe Schrader, Mitglied der sachsen-anhaltischen FDP. Denn diese Regelung verlagere das Haftungsrisiko einseitig auf den Landwirt, der gentechnisch verändertes Saatgut anpflanzt. Das aber verstoße gegen die Berufsfreiheit, glaubt Schrader. Doch wesentlich problematischer findet der Befürworter grüner Gentechnik das sogenannte Standortregister. Dort muss jeder Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen flurstückgenau aufgelistet werden. Zugang zu diesem Register hat jeder. Damit werde gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht verstoßen, sagt Schrader und fügt an: Politisch motivierter Feldzerstörung werde damit doch Tür und Tor geöffnet. "Es ist tatsächlich so gewesen, dass mit der flurstückgenauen Darstellung Feldzerstörern, kriminellen Straftätern der Weg gewiesen wurde direkt zum Feld, um die Zerstörung durchzuführen. Und es kommt ein anderer Aspekt hinzu. Wenn Sie das Flurstück im öffentlichen Register haben, ist es relativ einfach über jedes Grundbuchamt die Eigentumsverhältnisse rauszubekommen."Dies alles schrecke Landwirte und würde doch dazu führen, dass sie künftig gar nicht mehr zum Anbau genveränderter Pflanzen bereit seien, glaubt Uwe Schrader. Naturschützer hingegen fürchten eine schleichende Kontamination durch genetisch veränderte Pflanzen. Sollte das Bundesverfassungsgericht die strengen Auflagen streichen, würde dies mit einer Lizenz zur Kontamination einhergehen, glaubt Oliver Wendenkampf, Landesgeschäftsführer des BUND in Sachsen-Anhalt. Er pocht darauf, dass der Anbau genveränderter Pflanzen kennzeichnungspflichtig bleibt. "Wenn dieses Gesetz in dieser Passage kippt, erfährt niemand mehr, ob das jetzt ein Gentechnikprodukt ist oder nicht. Und man kann noch nicht einmal nachprüfen, wenn die Gentechnikindustrie sagt, wir haben jetzt in Deutschland in diesem Jahr so und soviel Tausend Hektar Fläche mit Gentechnik angebaut und deswegen ist das in der Tat ein Frontalangriff, dann wird Gentechnikanbau im Geheimen stattfinden, und das kann nicht Sinn der Sache sein."In der mündlichen Verhandlung sollen nach Angaben des Gerichts Kritiker wie Befürworter der Grünen Gentechnik zu Wort kommen. Wann Karlsruhe ein Urteil fällen wird, ist noch unklar.
Von Susanne Arlt
Vom Schaden für den Innovationsstandort Deutschland reden die einen, einen Angriff auf Landwirtschaft und Lebensmittel befürchten die anderen. Seit heute steht in Karlsruhe das Gentechnikgesetz auf dem Prüfstand.
"2010-06-23T11:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:11:48.447000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-schaden-als-nutzen-102.html
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Bluesgetränkt ohne Zwangsjacke
Mit vielen Preisen ausgezeichnet: Jeremiah Johnson (Peter Bernsmann) Jeremiah Johnson fing im Alter von sechs Jahren an, Gitarre zu spielen und er stammt aus St. Louis – eine Kombination, die in den USA immer noch zu einer Karriere als Bluesgitarrist führt und die nun schon über 20 Jahre andauert. Soeben ist Johnsons Album ,Straitjacket’ beim deutschen Label Ruf Records erschienen, auf dem er den Blues geradeheraus präsentiert: als rockige Version, in der er singt und Gitarre spielt. Und ebenso gradlinig geriet sein Auftritt beim Bluesfestival Schöppingen, wo das Bluesrockverwöhnte Publikum seine Musik geradezu aufsog. Jeremiah Johnson stammt aus St. Loius und ist jetzt beim deutschen Label Ruf Records unter Vertrag. (Peter Bernsmann) Jeremiah Johnson BandJeremiah Johnson: Gitarre, GesangBenet Schaeffer: SchlagzeugFrank Bauer: Saxofon: GesangTom Maloney: Bass Aufnahme vom 19.5.2018 beim Bluesfestival Schöppingen Spielt seit vielen Jahren den Bass für Jeremiah Johnson: Bassist Tom Maloney (Peter Bernsmann)
Am Mikrofon: Tim Schauen
Der Gitarrist Jeremiah Johnson stammt aus St. Louis aus den USA, natürlich spielt er auch klassischen Bluesrock - aber eben nicht nur: In seinen Songs ist viel Platz für Dynamik, Jams und ein manchmal verträumtes Saxofon. Ein gradliniger wie groovender Auftritt beim Bluesfestival Schöppingen.
"2018-11-16T21:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:19:37.920000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/jeremiah-johnson-band-bluesgetraenkt-ohne-zwangsjacke-100.html
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"Gesetzliche Quote ist Symbolpolitik"
Kurt Lauk, Präsident des Wirtschaftsrates der CDU (dpa / picture-alliance / Hannibal Hanschke) Dirk-Oliver Heckmann: Die Sozialdemokraten drücken derzeit ja aufs Tempo, egal ob beim Elterngeld, beim Mindestlohn oder bei der Rente mit 63. SPD-Chef Sigmar Gabriel will dafür sorgen, dass die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister als Reformkräfte innerhalb der Regierung dastehen. Der Union bleibt oft die Rolle des Reagierenden. Das soll auch heute so nach außen wirken. Familienministerin Manuela Schwesig stellt heute gemeinsam mit Justizminister Heiko Maas die Leitlinien zur Umsetzung der Frauenquote in der deutschen Wirtschaft vor. Am Telefon begrüße ich Kurt Lauk, er ist Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsrats. Schönen guten Morgen, Herr Lauk! Kurt Lauk: Guten Morgen, Herr Heckmann! Heckmann: Herr Lauk, haben Sie es endlich eingesehen, eine Frauenquote in Deutschland ist alternativlos? Lauk: Zunächst mal ist festzustellen, dass hier, was die Förderung von Frauen in Führungspositionen angeht, zu lange zu wenig getan worden ist. Das hat sich aber seit einigen Jahren wirklich geändert. Wir haben mittlerweile 27 Prozent Frauenanteil in der Privatwirtschaft. Das entspricht etwa dem Frauenanteil von 30 Prozent an den Vollzeitbeschäftigten. Heckmann: Aber nicht in den oberen Etagen! Lauk: In den oberen Etagen wird beim Mittelstand, ich sage mal, mittlerweile ein Viertel der Privat- und Familienunternehmen von Frauen geführt, also auch in den oberen Etagen. In einigen Aufsichtsräten ist ja die Industrie jetzt Gott sei Dank Selbstverpflichtungen eingegangen, um bis 2017 das Thema mit einem Drittel zu erreichen. Deshalb ist eigentlich eine gesetzliche Quote mehr Symbolpolitik als inhaltlich zu sehen. "Qualifizierten Frauen stehen heute alle Türen offen" Heckmann: Aber, Herr Lauk, Pardon, dass ich da einhake. Es ist doch Tatsache, dass Frauen in Aufsichtsräten und im Management völlig unterrepräsentiert sind, und das kann doch nicht gut sein. Lauk: Den qualifizierten Frauen stehen heute alle Türen offen. Aber Geschlecht kann kein Ersatz für richtige Qualifikation an richtiger Stelle sein. Das gilt für Männer und für Frauen. Insofern muss man die Kirche im Dorf lassen. Dass wir hier mehr tun müssen und wenig getan haben, zu wenig getan haben, ist richtig. Wie gesagt, die Unternehmen haben das vor einigen Jahren begonnen zu erkennen und haben gegengesteuert. Wichtig ist bei der Frauenquote auch insbesondere das Thema Frauen, die Mütter sind, denn die haben es doppelt schwer und über die wird eigentlich gar nicht geredet. Heckmann: Sie sehen also die Gefahr, Herr Lauk, dass am Ende nicht mehr Qualifikation zählt, sondern nur noch die Frage, welches Geschlecht hat ein Bewerber oder eine Bewerberin? Lauk: Wenn Sie eine gesetzliche Quote einführen, besteht in der Tat diese Gefahr, nicht ausschließlich, aber sehr wohl auch. Wir haben im Ingenieurbereich ein wirkliches Problem. Es gibt ja eine ganze Reihe von Berufen, wo die Frauen mittlerweile dominieren, denken Sie an Lehrer, auch im Ärztebereich ist das mittlerweile fast mehrheitlich in vielen fachärztlichen Gebieten Frauenmehrheit, was völlig in Ordnung ist. Bei Ingenieurberufen haben wir die Situation: Sechs Prozent der Maschinen- und Fahrzeugbau-Ingenieure sind Frauen. Da können Sie kein Drittel in Führungspositionen erwarten in den nächsten zwei, drei Jahren. Heckmann: Da kann man sagen, das sind alles Spezialbereiche und in der Masse sieht es anders aus. - Herr Lauk, Sie haben angesprochen, dass die Wirtschaft sich eine Selbstverpflichtung auferlegt hat, die aber nicht eingehalten wurde. Sie sagen, die Wirtschaft habe gegengesteuert, aber ganz offensichtlich ja nicht genug. Da ist es doch kein Wunder, dass der Gesetzgeber irgendwann mal handelt. Lauk: Wir haben die Selbstverpflichtungsquote bis 2017 und wir sind auf gutem Wege, denken Sie an die Aufsichtsräte, ich sage mal, von Daimler. Dort ist es bereits erreicht. Andere Aufsichtsräte ziehen ganz konsequent nach, denken Sie an Linde. Hier gibt es wirklich gute Beispiele, dass ohne die gesetzliche Quote das Ziel erreicht wird. Heckmann: Die offiziellen Zahlen sehen ein bisschen anders aus. Lauk: Im Schnitt sind wir noch bei zu wenig, da haben Sie recht. Ich habe jetzt nur einige sichtbare große Aufsichtsräte genannt, die den Weg vorangegangen sind und Vorzeigeunternehmen sind und die Selbstverpflichtungsquote, die die Industrie sich auferlegt hat, bereits schon heute erfüllt haben. Heckmann: Sie haben gerade gesagt, Herr Lauk, dass da in der Tat in den vergangenen Jahren zu wenig gemacht worden ist, um Frauen zu fördern auch in Spitzenpositionen. Woran liegt das denn aus Ihrer Sicht eigentlich? Lauk: Es sind verschiedene Gründe. Einmal ist, ich sage mal, die Ausbildung der Frauen im Studienbereich deutlich angestiegen die letzten zehn, 20 Jahre, Gott sei Dank. Da haben wir viel erreicht. Das war ja früher in den 50er-Jahren, 60er-Jahren bei Weitem nicht der Fall. Und es ist einfach notwendig, wenn man in Führungspositionen kommt, dass man eine gewisse Berufserfahrung über Jahre sammelt, und das wird sich jetzt konsequent durchsetzen. Ich habe selber zwei Töchter, die über die Qualifikation sich jetzt ganz konsequent Positionen erarbeiten können, die früher so in dieser Geschwindigkeit nicht möglich gewesen wären. "Wir brauchen Spielraum" Heckmann: Und trotzdem bleiben die Türen oft genug zu. Jetzt kommt also die Frauenquote. Börsennotierte und voll mitbestimmungspflichtige Unternehmen, die bekommen eine feste Quote von 30 Prozent bei frei werdenden Aufsichtsratssitzen. Kleinere Unternehmen müssen sich in Zukunft verbindliche Ziele setzen. Weshalb haben Sie eigentlich so ein Problem damit, denn dieses Ziel, das muss ja nur niedrig genug angesetzt werden und schon ist das Problem gelöst für die Unternehmen? Lauk: Ich habe eigentlich kein Problem damit. Ich habe nur ein Problem nicht mit der Quote, sondern mit der gesetzlichen Quote. Wir brauchen Spielraum. Eigentumsunternehmer müssen auch die Möglichkeit haben, den Leuten die Führungsverantwortung zu geben über ihr Eigentum, was sie für richtig halten, die sie ausgewählt haben. Da hilft eine gesetzliche Quote sehr wenig. Heckmann: Glauben Sie denn noch, dass Sie diesen Schritt verhindern können? Er steht ja immerhin sehr detailliert im Koalitionsvertrag. Lauk: Ja, der steht im Moment drin. Wir sind aber trotzdem der Meinung, dass die gesetzliche Quote eher Symbolpolitik ist, als wirklich etwas Zusätzliches bringt, insbesondere wenn dann die Aufsichtsräte durch leere Sitze glänzen, was kein anderes Land der Welt macht, die auch Frauenquoten haben, denken Sie an Norwegen. Hier werden im Grunde Unternehmensführungsorgane lahmgelegt, wenn das durchgesetzt werden sollte. Heckmann: Steht im Moment drin im Koalitionsvertrag, die Quote, sagen Sie. Heißt das, Sie wollen sich an den Koalitionsvertrag nicht halten? Lauk: Wir haben den Koalitionsvertrag als Wirtschaftsrat, das wissen Sie, von Anfang an in diesem Punkt kritisiert und ich glaube, die Diskussion, die jetzt über die Republik hinweggeht, zeigt, dass wir hier einen Punkt getroffen haben, der wirklich durchdacht werden muss und nicht mit Symbolpolitik ersetzt werden muss. Heckmann: Das heißt, noch mal meine Frage: Sie glauben, dass Sie diese starre, diese feste Quote von 30 Prozent bei großen Unternehmen noch verhindern können? Lauk: Das kommt auf den Zeitpunkt an. Diese Selbstverpflichtung ist ja da bis 2017 und ich glaube auch, dass die großen Unternehmen das hinbekommen. Rente mit 63: "Finger in die richtige Wunde gelegt" Heckmann: Schauen wir mal, wie das weitergeht. Gucken wir grundsätzlich mal auf den Kurs der Großen Koalition. Die SPD macht ja Tempo beim Elterngeld plus, beim Mindestlohn, bei der Rente. Macht die Bundesregierung in der Großen Koalition also aus Ihrer Sicht wieder sozialdemokratische Politik? Lauk: Es ist ganz natürlich, dass in einer Großen Koalition, in der Sozialdemokraten mit Partner sind, mehr sozialdemokratische Politik gemacht wird. Wir haben einige Punkte ganz klar kritisiert, beispielsweise die Rente mit 63. Ich sage mal, die Argumentation, wer 40 Jahre malocht hat, darüber kann man ja reden. Es ist aber jetzt so, dass bei der Rente auch derjenige in den Genuss kommt, der auch halbtags gearbeitet hat. Zum Beispiel eine halbtagstätige Bürokraft mit mehreren eingestreuten Phasen der Arbeitslosigkeit kommt auch in den Genuss der Rente mit 63. Das kann natürlich nicht der Sinn der Sache sein. Wir haben früh darauf hingewiesen, dass hier das Detail das richtig Problematische ist. Heckmann: Und trotzdem hat man nicht so richtig den Eindruck, Herr Lauk, dass der Wirtschaftsflügel der Union da durchdringt. Man hat den Eindruck, Sie stehen da so ein bisschen auf verlorenem Posten. Woran liegt das eigentlich? Lauk: Zunächst einmal ist es so, dass die Punkte von der Mütterrente bis zur Rente mit 63 und bis zum Mindestlohn die Arbeitslosigkeit erhöhen wird und insbesondere bei jungen Menschen Gefährdung für Beschäftigung ist und in der Ausbildung. Diese Themen haben wir frühzeitig genannt und jetzt sind sie Thema in der Republik und insofern, meine ich, haben wir die Finger in die richtige Wunde gelegt. Dass nun das eine oder andere im politischen Prozess dennoch sich durchsetzt, ist eigentlich selbstverständlich. So funktioniert der politische Prozess. Das bedeutet aber nicht, dass der Wirtschaftsrat sich nicht in der Sache darum kümmern muss. Heckmann: Wir werden sehen, welche Ergebnisse Ihr Engagement zeitigt. Kurt Lauk war das, der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates. Danke Ihnen für das Gespräch. Lauk: Vielen Dank, Herr Heckmann. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Kurt Lauk im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann
Kurt Lauk hat die geplante gesetzliche Frauenquote kritisiert. "Geschlecht kann kein Ersatz für Qualifikation sein, das gilt für Männer und Frauen", sagte der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats im Deutschlandfunk.
"2014-03-25T07:15:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:36.314000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauenquote-gesetzliche-quote-ist-symbolpolitik-100.html
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Ein Fall für die Verfassungsrichter
Studiengebühren - die sind in Österreich schon seit Jahren ein heiß diskutiertes Thema in der Politik. Mitte-Links-Parteien sind tendenziell gegen Studienbeiträge. Fraktionen rechts der Mitte sind mehrheitlich dafür. Und so gab es einen Kompromiss, der bis zum Frühling dieses Jahres gültig war: EU-Bürger mussten, solange sie in der Mindeststudienzeit blieben, nichts bezahlen. Und sie hatten zusätzlich zwei so genannte "Toleranzsemester", die auch gratis waren. Danach kostete das Studieren rund 363 Euro im Semester. Rein rechtlich gibt es diese Regelung jetzt nicht mehr, doch acht der 21 öffentlichen Unis führen sie auf eigene Faust weiter. Und sie ernten damit Beschwerden von Studierenden beim Verfassungsgerichtshof. Der will nun bis Jahresende prüfen, ob es Bedenken gegen das selbstständige Erheben von Studienbeiträgen gibt. Christian Neuwirth, Sprecher des Verfassungsgerichtshofes:"Wenn wir einmal Bedenken formulieren, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Aufhebung kommt, groß. Wenn das Verfahren zum Ergebnis kommt, dass es keine Bedenken gibt, dann ist die Geschichte aus unserer Sicht erledigt. Dann können die Universitäten diese Studiengebühren autonom erheben."Sollten die Unis laut Verfassungsgerichtshof keine Gebühren erheben dürfen, müssten sie das Geld möglicherweise zurückzahlen. Vorerst gilt aber:"Wenn jemand eine Vorschreibung von Studiengebühren bekommt, dann muss er die fürs Erste zahlen, solange der Verfassungsgerichtshof nichts anderes entscheidet."Und das sei auch gut so, denn die meisten Universitäten hätten die Einnahmen durch Studienbeiträge bitter nötig, sagt Heinrich Schmidinger, der Rektorensprecher der österreichischen Universitäten. So zum Beispiel seine Uni, die Universität Salzburg. Hier hat die Mehrheit des Unisenats gegen Studiengebühren gestimmt, was ganz deutlich beim Budget spürbar ist:"Wenn wir wieder Studienbeiträge erheben könnten von allen Studierenden in der Größenordnung von 365 Euro – wir haben momentan 17.000 Studierende – dann sind das pro Jahr acht bis neun Millionen Euro mehr. Wir haben zum Beispiel an der Universität Salzburg ein Globalbudget von circa 100 Millionen Euro. Davon acht oder neun Millionen haben oder nicht haben macht einen deutlichen Unterschied."Und dieser Unterschied wird bei der Infrastruktur und bei der Forschung sichtbar:"Und hier haben wir zum Beispiel nicht jedes Projekt realisieren können, oder in den Investitionen: Wir haben zum Beispiel nicht im gleichen Ausmaß Bibliotheken ausstatten können und Computer anschaffen können, Großgeräte anschaffen können, wie wir das in anderen Jahren getan haben. Wir haben nicht gekürzt in den Lehrveranstaltungen, das möchte ich unbedingt betonen. Wir haben geschaut, dass hier vor allem für die Studierenden und für die, die aus dem In- und Ausland zu uns kommen kein Nachteil entsteht."Fest stehe jedenfalls, dass es auf Dauer in Österreich nicht ohne Studiengebühren gehe, meint der Sprecher der Unirektoren. Doch ein klares Gesetz für Studiengebühren gibt es, zumindest vorübergehend, nicht. Für den zuständigen Mann im Regierungsteam, Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle ist aber klar:"Dass die Universitäten von sich aus entscheiden können, ob sie Studienbeiträge erheben oder nicht."Die Studierendenvertreter sehen das aber nicht so – beide Seiten stützen sich allerdings auf Gutachten von Rechtsexperten. Ob die österreichischen Unis also zum jetzigen Zeitpunkt Studiengebühren erheben dürfen oder nicht, sei eine Frage der Interpretation, sagt der Wissenschaftsminister."Der Verfassungsgerichtshof wird jetzt entscheiden. Er hat auch angekündigt, dass er schnell entscheiden wird und dann wird man sehen, wessen Interpretation dann die gültige ist." Und der Studentenvertreter Martin Schott gibt sich zuversichtlich:"Wir sind sehr positiv eingestellt, dass es zu unseren Gunsten ausgehen wird. Aber man kann dem Verfassungsgerichtshof natürlich keine Entscheidung vorwegnehmen. Wir hoffen aber, dass es sehr schnell entschieden wird, um möglichst schnell in dieser Debatte weiterzukommen."Studiengebühren in Österreich - ja oder nein? Zumindest vorübergehend eine Frage für die Justiz. Was müssen aber Studierende, die nach Österreich kommen, aktuell an Gebühren zahlen? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Zunächst mal gar nichts. Denn egal an welcher Uni, die Mindeststudienzeit plus zwei Semester sind nach wie vor auf jeden Fall gratis. Danach ist es von der jeweiligen Hochschule abhängig. Mehr Infos dazu gibt es bei der jeweiligen Studierendenvertretung.
Von Florian Petautschnig
Studiengebühren sind in Österreich ein etwas undurchsichtiges Thema: Manche Unis erheben sie, manche nicht – die rechtliche Grundlage dafür ist umstrittener denn je. Nun sollen die obersten Richter für Klärung sorgen.
"2012-10-08T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:28:16.644000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ein-fall-fuer-die-verfassungsrichter-100.html
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Was die Wale weltweit bedroht
Buckelwal in Alaska: Im 19. und 20. Jahrhundert wurden weltweit fast drei Millionen Großwale getötet (IMAGO / Cavan Images) Tjuvholmen ist ein edles Neubaugebiet im Hafen von Oslo. Hinter gläsernen Fassaden locken exklusive Restaurants Besucher an, es gibt ein Erlebniszentrum, das der norwegischen Lachszucht gewidmet ist, Luxusappartements mit Blick auf das Wasser und einen Skulpturenpark. Øyvind André Haram sitzt auf den Stufen vor einem der Neubauten und schwärmt von seinem Lieblingsessen: „Es schmeckt nach Fleisch und ein wenig nach Meeresfrüchten. Denn da ist immer dieser Hauch von Umami aus dem Ozean. Und das können Sie schmecken. Und so wie wir es heute bearbeiten, ist das Fleisch zart wie Butter. Es ist einfach köstlich, etwas ganz anderes als jedes Fleisch, das Sie je probiert haben.” - Øyvind André Haram redet von Walfleisch. Die letzten Walfänger Harpunen sind nicht die größte Gefahr für die Wale Die letzten Walfänger Harpunen sind nicht die größte Gefahr für die Wale Der kommerzielle Walfang führte im vergangenen Jahrhundert fast zur Ausrottung vieler Walarten. Inzwischen haben sich etliche Bestände wieder erholt, der Walfang ist inzwischen wirtschaftlich weitgehend uninteressant geworden. Dafür drohen den Meeressäugern nun ganz andere Gefahren. Nur zwei Prozent der Norweger essen regelmäßig Walfleisch Wale wurden überall auf der Welt bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so erbittert gejagt, dass die Bestände vieler Arten zusammengebrochen sind. Um sie vor dem Aussterben zu bewahren, haben die meisten Staaten in den 1980er Jahren beschlossen, keine Wale mehr zu töten. Norwegen ist eines von nur noch drei Ländern weltweit, das weiter kommerziellen Walfang betreibt. Aber auch hier sinkt die Nachfrage, gerade einmal zwei Prozent aller Norweger essen regelmäßig Walfleisch. Der Geschäftsführer von Norsk Hval will das ändern. Seine Organisation vertritt die verbliebenen Walfänger und Walfleischproduzenten. Auf der Homepage von Norsk Hval laufen kurze Videos, in denen Köche von ihren Lieblingsrezepten erzählen, etwa Wal-Burger mit Möhrencreme oder Wal-Carpaccio. Das alles wird aus Minkewalen hergestellt, die vor den Küsten Nord-Norwegens gefangen werden. Nach Schätzungen der Weltnaturschutzunion leben weltweit etwa 200.000 Minkewale. Norwegische Walfänger erlegen davon jedes Jahr einige Hundert, 2021 waren es 577 – der höchste Wert seit 2016, aber deutlich weniger als sie laut norwegischer Fangquote dürften. So sei der Walfang sehr nachhaltig, sagt Øyvind André Haram. Außerdem verursache er wesentlich weniger CO2-Emissionen als etwa die Schweinemast oder die Rinderzucht: „Heutzutage ist doch das Wichtigste, dass wir uns anders ernähren müssen. Überall auf der Welt wird darüber diskutiert, dass wir weniger Fleisch essen sollten. Wal ist Fleisch, aber aus dem Ozean. Aus Umweltsicht ist das etwas völlig anderes. Und Walfleisch ist sehr gesund. Es gibt also mehrere Gründe warum wir Wal essen sollten.“ Und tatsächlich steigt die Nachfrage nach Walfleisch in Norwegen seit einigen Jahren wieder leicht an. In diesem Jahr wurden schon 480 Tonnen verkauft und die Saison läuft noch. Walfang-Moratorium vor 70 Jahren Meilenstein der internationalen Umweltgesetzgebung Walfang-Moratorium vor 70 Jahren Meilenstein der internationalen Umweltgesetzgebung Allein im 20. Jahrhundert wurden mehr als drei Millionen Großwale zu Tode gejagt, viele Arten nahezu ausgerottet. Mit der Unterzeichnung des Übereinkommens zur Regelung des Walfangs wollten 42 Walfangnationen die Bestände kontrollieren und sichern. Für einige Arten kam das Moratorium allerdings zu spät. Walfang lohnt sich wirtschaftlich kaum Norwegen ist zwar Mitglied der Internationalen Walfang-Kommission, aber es hat dem Walfang-Moratorium gegenüber einen sogenannten Vorbehalt geäußert. Deshalb dürfen in Nord-Norwegen bis heute Wale gejagt werden. Und der Norden des Landes sei wichtig, um politische Wahlen zu gewinnen, sagt Thilo Maack, Meeresbiologe bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace: „In Norwegen ist die Situation so, dass die norwegische Regierung seit Jahrzehnten viele Subventionen zahlt, um den Walfang am Leben zu erhalten und in erster Linie um die Lofoten besiedelt zu halten. Also 2021 waren 15 Schiffe, sprich 15 Familien in den norwegischen Walfang involviert.“ Davon hat dieses Jahr allerdings schon eine Familie erklärt, dass sie nicht jagen wird. Die hohen Spritpreise, der große Aufwand und der geringe Absatz machten die Jagd wirtschaftlich sinnlos. Konkurrenz zum Whale-Watching Der Laugavegur in Reykjavik ist Islands Shoppingmeile. Autos rauschen vorbei an bunt bemalten Häusern, Souvenirläden und Fisch-Restaurants. Auf deren Speisekarten könnte demnächst zum letzten Mal Wal gestanden haben. Denn am 4.  Februar 2022 hat die isländische Fischereiministerin Svandis Svavarsdottir angekündigt, die Fangquoten 2024 möglicherweise nicht mehr zu verlängern. Whale-Watch Kollisionen zwischen Schiffen und Blauwalen vermeiden Whale-Watch Kollisionen zwischen Schiffen und Blauwalen vermeiden Es kommt vor, dass Wale von Schiffen gerammt werden und dadurch verenden. Um Kollisionen zu vermeiden, haben US-Forscher ein Modell entwickelt, das die Zugrouten der Blauwale prognostiziert. Dadurch sollen die vom Aussterben bedrohten Tiere und die Reedereien profitieren. Der Walfang lohne sich einfach nicht und beschere Island darüber hinaus wirtschaftliche Nachteile. So konkurriert er mit dem wachsenden Walbeobachtungs-Tourismus und stößt im Ausland immer wieder auf Protest. Gejagt wird mit Harpunen, nicht selten sterben die Tiere langsam und qualvoll. Gleichzeitig geht der Konsum von Walfleisch in Island selbst immer stärker zurück. Der einzige verbliebene isländische Walfänger hat nach der Ankündigung der Fischereiministerin trotzdem entschieden, in diesem Jahr noch einmal auf Walfang zu gehen. Einige Häuserblocks vom Laugavegur entfernt arbeitet der Walforscher Gísli Víkingsson am Meeresforschungsinstitut im Hafen von Reykjavik. Er und seine Kolleginnen zählen von Flugzeugen und Schiffen aus alle paar Jahre die Wale in isländischen Gewässern und bestimmen so den Status der einzelnen Arten. Auf Grundlage ihrer Daten werden dann die Fangquoten festgesetzt: „In den letzten Jahren fand nur sehr wenig Walfang statt. Der letzte Finnwal wurde 2018 getötet, und davor 2015. In den vergangenen sechs Jahren gab es also nur eine einzige Walfangsaison. Die Fangquoten werden nicht mal ansatzweise ausgeschöpft und dabei sind sie schon sehr niedrig angesetzt.“ "Japan jagt außerhalb jeglicher internationaler Kontrolle" In früheren Jahren haben sowohl Island als auch Norwegen große Mengen an Walfleisch nach Japan exportiert. Dieser Markt ist aber eingebrochen, als Japan 2019 wieder begann, selbst kommerziellen Walfang zu betreiben. Walfang in japanischen Gebieten "Die Sorge ist, dass man gefährdete Populationen erwischt" Walfang in japanischen Gebieten "Die Sorge ist, dass man gefährdete Populationen erwischt" Die Meeresforscherin Antje Boetius spricht sich für ein generelles Walfang-Moratorium aus. Japan bekenne sich zwar zur nachhaltigen Fischerei, sagte sie im Dlf. Dennoch könne man nicht ausschließen, dass auch seltene Arten dezimiert würden. Das Land hatte bis dahin nur sogenannten wissenschaftlichen Walfang in den Gewässern rund um die Antarktis praktiziert, der laut Internationaler Walfangkommission erlaubt ist. Dann aber urteilte der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen, dass Japans Walfangprogramm nicht wissenschaftlich und damit verboten sei. Daraufhin hat das Land das Programm eingestellt und die Internationale Walfang-Kommission verlassen. Jetzt betreibt es wieder kommerziellen Walfang. „Dass Japan die Internationale Walfangkommission verlassen hat, erfüllt viele von uns mit großer Sorge, denn jetzt jagt es außerhalb jeglicher internationaler Kontrolle“, sagt Kate O’Connell von der Tierschutzorganisation „Animal Welfare Institute“ in Washington DC. "Die japanische Bevölkerung will eigentlich kein Walfleisch mehr essen" Japan plant in diesem Jahr 150 Brydewale und 25 Seiwale zu fangen. Letztere gehören neben Blau- und Finnwalen zu den größten Walen der Welt und gelten laut Weltnaturschutzunion als vom Aussterben bedroht. Thilo Maack, Meeresbiologe bei Greenpeace: „Es kommen Unmengen, also viele hundert Tonnen an Fleisch zustande aus dieser Waljagd. Und die japanische Bevölkerung will eigentlich kein Walfleisch mehr essen. Und die japanische Regierung subventioniert deswegen den Walfang mit 40 Millionen Euro umgerechnet circa jährlich. Es wird jetzt ein neues Fabrikschiff gebaut, auch das wird viele Millionen japanische Yen kosten. Man kann eigentlich nur abschließend sagen und bewerten, warum das passiert, dass offensichtlich die japanische Regierung dem Westen damit kräftig vors Schienbein treten will und zeigen will, dass sie als Japaner und japanische Nation sich von niemandem vorschreiben lassen wollen, was zu tun und was zu lassen ist. Das ist, glaube ich, der Hauptgrund für den japanischen Walfang.“ Japans Walfang-Pläne Warum Wale unseren Schutz brauchen Japans Walfang-Pläne Warum Wale unseren Schutz brauchen Hinter Japans Wiedereinstieg in den kommerziellen Walfang stünden "Scheinargumente", sagte die WWF-Walexpertin Heike Vesper im Dlf. So sei angeführt worden, dass einige Walpopulationen sich durch das Fang-Moratorium wieder erholt hätten. Von einer Entwarnung zu sprechen, sei aber nicht gerechtfertigt. Japan selbst beruft sich dagegen immer wieder darauf, dass der Verzehr von Walfleisch zur japanischen Kultur gehöre und die meisten Arten nicht mehr bedroht seien. Tatsächlich ist der Konsum von Walfleisch nach Angaben des japanischen Landwirtschaftsministeriums allerdings von über fünf Kilo pro Kopf und Jahr in den 1960er Jahren auf weniger als 30 Gramm im Jahr 2018 gesunken. Seit dem Austritt aus der Internationalen Walfang-Kommission jagt das Land nur noch in den eigenen Hoheitsgewässern, nicht mehr auf hoher See im Südpolarmeer. „Das ist absolut eine gute Nachricht für die Gewässer der Antarktis, dass da kein Walfang mehr betrieben wird. Da gibt es noch ein bisschen andere Fischerei auf Schwarzen Seehecht und so weiter, aber wir hoffen sehr, dass zum Beispiel bei der Konferenz der Antarktis-Kommission in diesem Jahr im Oktober, November, der Grundstein gelegt wird für das größte Meeresschutzgebiet der Welt im antarktischen Weddellmeer. Und auch dort wird kein Walfang mehr stattfinden. Das ist eine wirklich gute Entwicklung“, so Thilo Maack. Walfang ist kaum noch eine Gefahr für weltweite Bestände In den Hochzeiten des kommerziellen Walfangs im 19. und 20. Jahrhundert wurden insgesamt fast drei Millionen Großwale getötet und die Bestände vieler Arten fast komplett vernichtet. Dagegen stellt der heutige Walfang kaum noch eine Gefahr für die weltweiten Walbestände dar. Japan, Island und Norwegen zusammen töten pro Jahr weniger als 1.300 Tiere. Biologin zu Finnwal-Beständen„An die Stelle des Walfangs sind heute neue Bedrohungen getreten“ 07:32 Minuten11.07.2022 Mikroplastik im WasserWWF sieht eine "Plastifizierung" der Meere 03:44 Minuten08.02.2022 Plastikmüll im MeerUnterwegs im North Pacific Garbage Patch 03:47 Minuten10.07.2019 Einige Walarten haben sich seit dem Walfang-Moratorium auch wirklich erholt. Die Buckelwal-Bestände vor Australien etwa sind so stark angestiegen, dass die Art im Februar dieses Jahres von der australischen Liste bedrohter Tierarten gestrichen werden konnte. Umweltgifte, Plastikmüll und Klimawandel Aber nicht alle Walarten erholen sich. Denn in den Ozeanen der Welt lauern heute ganz andere, viel größere Gefahren als die letzten Walfänger. Fabian Ritter leitet den Bereich Meeresschutz bei der deutschen Zweigstelle der Nichtregierungsorganisation „Whale and Dolphin Conservation“: „Um ein Beispiel zu nennen die Belugas, die Weißwale in der Hudson Bay in Nordamerika. Die Hudson Bay ist ein von Industrie nicht mal so sehr stark umgebenes Gebiet aber ein relativ eingekesseltes Meeresgebiet, und dort weiß man, dass die Umweltbelastung enorm hoch ist. Die Belugas, die man dort findet, wenn die stranden, die müssen als Sondermüll entsorgt werden, so hoch ist die Belastung mit Umweltgiften, dass man die nicht einfach irgendwo deponieren kann. Und natürlich hat das Auswirkungen auf die Gesundheit der Tiere. Wir reden über Immunodepression, das heißt die Verminderung der Wirksamkeit des Immunsystems, Anfälligkeit gegenüber Hautkrankheiten gegenüber Krebserkrankungen, die man früher bei Walen und Delfinen so gut wie gar nicht gefunden hat.“ Mehr zum Thema Tracking von BuckelwalenKlimawandel und Mensch beeinflussen Wanderverhalten 04:32 Minuten29.01.2020 PlastikmüllWissenschaftlich belegt: Müllmenge in Ozeanen steigt 05:04 Minuten17.04.2019 Welttag der OzeaneSatellitenblick auf das Plastik in den Meeren 02:32 Minuten08.06.2022 Auch die Fruchtbarkeit der Tiere leidet unter den Giften. Und immer wieder verenden überall auf der Welt Wale, weil ihr Magen gefüllt ist mit Plastikmüll. Sie sind mit vollem Bauch verhungert. Gleichzeitig beginnt der Klimawandel den Tieren zu schaffen zu machen, indem er Strömungen verändert und Nahrungsnetze verschiebt. Und: Immer mehr Wale sterben durch Schiffskollisionen oder verlieren durch den zunehmenden Unterwasserlärm ihre Orientierung oder gar ihr Gehör. Etwa 300.000 Wale enden jährlich als Beifang Das mit Abstand größte Problem aber ist der Beifang: „Denn es ist so, dass unzählige Wale und Delfine jedes Jahr unnötig in den Netzen sterben, die wir zum Fischfang auslegen oder sich in den Leinen verheddern, an denen die Reusen hängen, womit wir die Hummer aus dem Meer holen. Also dieses Fischereigerät, was oft auch einfach, wenn es nicht mehr benutzt wird, über Bord geworfen wird, sich verheddert in der Tiefe und dort weiter fischt, das ist eine enorme Gefahr für alles, was Meeressäuger heißt. Das Problem des Beifangs ist so groß, dass man schätzt, dass in den letzten Jahrzehnten jedes Jahr 300.000 Wale und Delfine in diesen Netzen umkommen“, so Fabian Ritter. Wale vor der ligurischen Küste "Magen und Darm voller Plastik" Wale vor der ligurischen Küste "Magen und Darm voller Plastik" Vor der ligurischen Küste gibt es eine Vielzahl von Delphinen und Walen, die regelmäßig von einer privaten Forschungsstation beobachtet werden. In den Mägen gestrandeter Wale entdecken die Meeresforscher dabei immer häufiger große Mengen an Plastikteilen, die den Tieren zum Verhängnis wurden. Nach Recherchen der Umweltschutzorganisation WWF gehen jährlich 640.000 Tonnen Netze, Leinen und anderes Fischereigerät in den Ozeanen der Welt verloren. Als sogenannte Geisternetze treiben sie durchs Wasser und werden zur tödlichen Falle für alles, was dort schwimmt. Sind sie voll, sinken sie zu Boden. Dann verwesen die Tiere und die Netze treiben wieder nach oben und fangen weiter. Die modernen Fischereinetze sind aus Kunststoff. Sie können Jahrhunderte lang durch die Ozeane treiben, ohne kaputt zu gehen. Theoretisch ließe sich das Problem durch strenge Vorgaben lösen, etwa durch das Verbot, alte Netze auf See zu entsorgen oder durch den Einsatz von Netzen mit Sollbruchstellen, aus denen sich die Wale befreien könnten. Solche Regelungen auf Hoher See, die keinem Staat gehört, durchzusetzen, sei allerdings schwierig, sagt Nele Matz-Lück. Sie ist Professorin für Seerecht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: „Hier sind die Staaten gefragt, in ihren ausschließlichen Wirtschaftszonen Regelungen zu treffen und natürlich auch weiterhin auf internationaler Ebene zu versuchen, entsprechende Regelungen zu verhandeln. Die EU hat da natürlich besonderes Gewicht, weil die EU auch auf die Fischerei-Flotten der Mitgliedstaaten regelnd Einfluss nehmen kann, wenn sie sich auf hoher See bewegen. Eine vergleichbare supranationale Organisation mit einem so großen und wirtschaftlich starken Fischereizweig haben wir aber ansonsten weltweit nicht. Andere große Fischerei-Nationen wie Japan zum Beispiel, aber auch China, Russland, Nordkorea werden sich im Zweifel auf solche Regelungen derzeit nicht verständigen wollen.“ Denn solche Regelungen zum Schutz der Wale könnten theoretisch den Ertrag der Fischerei mindern oder den Fischfang teurer machen. Bedeutung der Wale für die Ökosysteme Dabei wird seit einigen Jahren immer deutlicher, welche enorm wichtige Rolle Wale für die Ökosysteme, die Gesundheit der Meere und damit auch für das Überleben der Menschheit spielen. So sind sie zum Beispiel extrem effiziente Klimaschützer. Ein einziger Blauwal entzieht der Atmosphäre so viel klimaschädliches Kohlendioxid, wie tausende von Bäumen. Thilo Maack von Greenpeace: „Wenn ein solcher Wal auf der hohen See stirbt, dann sinken 200 Tonnen gebundener Kohlenstoff in die Tiefsee. Ozeane sind im Durchschnitt bis zu 4.000 Meter tief. Das heißt also da entsteht eine Oase in der Tiefsee und eine Riesenmenge Kohlenstoff und Fleisch steht dort zur Verfügung und alle möglichen Arten der Tiefsee können sich da viele, viele Jahre von ernähren.“ Blauer Kohlenstoff Marines Leben speichert Kohlenstoff in der Antarktis Blauer Kohlenstoff Marines Leben speichert Kohlenstoff in der Antarktis Die Eismassen in den Polarregionen schrumpfen. Die Folge: Der Meeresspiegel steigt, die Erderwärmung beschleunigt sich. Das Schwinden des Schelfeises in der Antarktis hat aber auch positive Effekte fürs Klima. Marine Mikroorganismen leben auf - und entziehen der Atmosphäre Kohlendioxid. Gerade Blauwale aber gehören zu den Arten, die sich bis heute nicht vom Walfang erholt haben. In den Gewässern rund um die Antarktis lebten früher mehrere Hunderttausend Blauwale. Der emeritierte Meeresforscher Victor Smetacek vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven hat die Fangzahlen und Berichte der Walfänger ausgewertet: „Die Walbestände waren so groß, von Horizont zu Horizont hat man nur Wale, fressende Wale gesehen. Dazwischen war das Wasser rot mit Krill, mit Krillschwärmen, die die Wale vertilgt haben.“ Mit den Walen verschwand auch der Krill Das südliche Polarmeer müsse damals ein unglaublich produktives Ökosystem gewesen sein. Zwischen 1915 und 1964 wurden dann 360.000 Blauwale in den antarktischen Gewässern getötet. Nur etwa 600 Tiere überlebten. Und dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte: Mit den Walen verschwand auch deren Nahrung, der Krill. Die Bestände dieser kleinen Krebstierchen nehmen seit Jahrzehnten ab. Das ehemals so produktive Ökosystem des Südozeans ist heute gewissermaßen eine Wüste. Victor Smetacek hat sich viele Jahre über dieses Rätsel den Kopf zerbrochen. Bis er die Lösung fand: "Die Wale waren Gärtner des Ozeans. Die haben also nicht nur ihre Nahrung vertilgt, aufgelöst und wieder zurückgebracht. Sie haben auch noch durch ihr Fressen, das ist ein sehr energetisches Fressen, diesen Kot vermischt in das Wasser, die haben also auch noch den Ozean gepflügt mit ihrem Fressen.“ Großflächige Düngung mit Eisen Krill enthält viel Eisen. Mit dem Walkot gelangte dieses Eisen ins Wasser und ließ Kieselalgen wachsen, die Nahrung des Krills. So züchteten die Wale ihr eigenes Essen. Jetzt aber funktioniert dieses System nicht mehr. Deshalb würde Victor Smetacek die Gewässer rund um die Antarktis gern großflächig mit Eisen düngen. „Das ist ein künstlicher Eingriff, könnte man sagen, aber auf der anderen Seite würden wir praktisch das machen, was die Wale früher gemacht haben. Das wäre so, als wenn an Land irgendwo ein Gebiet an Dürre leidet. Wenn man da mit Bewässerungsprojekten und so weiter das wieder aufbaut, so ähnlich wäre das. Mit dem Vorteil, dass hier, wenn man das einmal angefangen hat, wird es von alleine weiterlaufen.“ Andere Forschende und viele Umweltschützer stehen dieser Idee skeptisch gegenüber, etwa Thilo Maack von Greenpeace: „Diese ganzen Experimente, wo wir Menschen in wirklich komplexe, nicht komplett verstandene Naturkreisläufe eingreifen, ist tatsächlich was, wo wir ganz vorsichtig sein sollten, weil das hat in der Vergangenheit vielfach nicht funktioniert.“ Fischbestände Ein Plan für den Schutz der Meere Fischbestände Ein Plan für den Schutz der Meere Wenn es um Schutzräume für mehr Artenvielfalt geht, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Doch eine Studie kommt jetzt zu dem Schluss: Selbst im Ozean, wo die Fischer um ihre Pfründe fürchten, wäre eine starke Ausweitung der Schutzgebiete möglich - wobei die Fangmengen sogar noch steigen könnten. Rettung der Wale durch Meeresschutzgebiete Stattdessen sieht er die Rettung der Wale in der Einrichtung von Meeresschutzgebieten, in denen die Natur sich selbst überlassen bleibt und die Walbestände sich erholen könnten. Seit Jahrzehnten schon wird auf Ebene der Vereinten Nationen über einen Hochseeschutzvertrag verhandelt, der genau solche Gebiete ermöglichen könnte sagt die Professorin für Seerecht, Nele Matz-Lück. Das nächste Treffen der Verhandlungspartner soll Mitte August in New York stattfinden: „Da geht es um verschiedene Fragen des Umgangs mit biologischer Vielfalt auf hoher See. Es ist ein sehr komplexer Prozess. Meeresschutzgebiete zum Schutz biologischer Vielfalt sind nur ein Aspekt, der dort geregelt wird und wann dieses Abkommen wirklich abgeschlossen ist und wann es dann in Kraft tritt – nämlich nur, wenn Staaten beitreten, ratifizieren, das ist derzeit völlig ungewiss.“ Es wird also vermutlich noch viel Zeit vergehen, bis effektive Meeresschutzgebiete den Walen helfen können.
Von Monika Seynsche
Früher wurden Wale so erbittert gejagt, dass die Bestände vieler Arten fast komplett vernichtet wurden. Inzwischen jagen nur noch drei Länder die Meeressäuger - andere, viel größere Gefahren lauern inzwischen auf die Tiere. Dabei wird immer deutlicher, wie wichtig Wale für die Weltmeere sind.
"2022-07-17T18:40:00+02:00"
"2022-07-17T16:07:06.615000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/harpunen-plastikmuell-geisternetze-was-die-wale-bedroht-100.html
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"So viele Menschen wie möglich erreichen"
Quote der Zweitimpfungen bei Kindern laut Expertin Anette Siedler mit knapp 93 Prozent nach wie vor zu niedrig (Imago / Mareen Fischinger) Die Impfquote von 95 Prozent, die eine ausreichende gesellschaftliche Immunität gegen Masern sicherstellen soll, beruht auf epidemiologischen Modellen, erklärt Anette Siedler vom Robert-Koch-Institut für Infektionsepidemiologie/Impfprävention in Berlin. Eine wichtige Rolle spiele dabei die vergleichsweise große Ansteckungsfähigkeit der Masern. Die sogenannte Basis-Reproduktionszahl - die Zahl der Ansteckungen die ein Infizierter in einer komplett nicht-immunen Bevölkerung generieren kann - sei bei Masern mit bis zu 18 Fällen sehr hoch. Daraus lasse sich die sogenannte Netto-Reproduktionszahl ableiten, die kleiner als eins sein muss, um eine Epidemie zu stoppen. Für Masern entspreche dies einem Wert von 95 Prozent der Bevölkerung, die gegen die Krankheit immun sein müsse. Das gesellschaftliche Anliegen sei es aber grundsätzlich, so viele Menschen wie möglich mit einer Impfung zu erreichen. Untersuchungen hätten gezeigt, dass die totalen Impfverweigerer in Deutschland etwa einen Anteil von drei Prozent ausmachten. Damit könne man gut leben, aber vom Ziel die Masern auszurotten, sei man noch ein Stück weit entfernt. "Eher kein Akzeptanzproblem" bei Masern-Impfung In den letzten Jahren sei zumindest bei den Impfquoten zum Schuleingang schon einiges erreicht worden. Aber es hapere noch an der rechtzeitigen Impfung, berichtet die Infektionsepidemiologin. 97 Prozent der Kinder hätten bei der Einschulung mindestens eine Masern-Impfung erhalten. Dies deute eher nicht auf ein Akzeptanzproblem hin, das Problem seien vielmehr die verpassten Zweitimpfungen, die mit knapp 93 Prozent nach wie vor zu niedrig seien. Außerdem werde bei vielen Kindern nach wie vor zu spät geimpft, sehr viele Ein- bis Vierjährige seien ungeschützt und könnten bei Ausbrüchen erkranken. Ein besonderes Problem gebe es auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in ihrer Kindheit wesentlich schlechter durchgeimpft worden seien. Dadurch könnten Immunitätslücken auftreten. Neue Wege und neue Strukturen zur Impfung Diese Gruppen müssten jetzt nachgeimpft werden. Da Jugendliche selten von sich aus zum Arzt gehen, weil sie überwiegend gesund sind, müssten in der Gesellschaft andere Wege gefunden werden: etwa das aufsuchende Impfen, an Schulen, weiterbildenden Schulen, Universitäten oder in Sportvereinen. Dazu sei es notwendig, entsprechende Kapazitäten im öffentlichen Gesundheitssystem zu schaffen und strukturelle Hindernisse abzubauen. Ärzten müsste es ermöglicht werden, medizinische Leistungen auch außerhalb ihrer Praxen zu erbringen und abzurechnen. Das Erlassen einer Impfpflicht wäre ein starkes Signal dafür, wie ernst die Gesellschaft das Problem nimmt. Offen bliebe allerdings die Frage, wie man die Zielgruppen erreicht, die man impfen möchte, wen man impfen möchte und ob man selektiv impfen möchte, also nur gegen Masern. Es gebe bei Einschulungsuntersuchungen einen leicht rückgängigen Trend bei anderen Krankheiten. Eine Verpflichtung könnte bei Skeptikern auch den Widerstand verstärken.
Anette Siedler im Gespräch mit Carsten Schroeder
Eine Impfpflicht gegen Masern führe nicht unbedingt zu einer höheren Immunität, sagte Infektionsepidemiologin Anette Siedler im Dlf. Das größte Problem seien zu späte Impfung von Kindern und die verpassten Zweitimpfungen. Immunitätslücken gebe es außerdem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
"2019-04-02T10:10:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:25.945000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/epidemiologin-zu-masern-impfschutz-so-viele-menschen-wie-100.html
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Pariser Abkommen auf dem Prüfstand
Wie sich die Konferenz am Ende einigen wird, das wird man erst in zwei Wochen sehen (MAXPPP) Mit ersten Arbeitssitzungen ist die UN-Klimakonferenz in Kattowitz schon am heutigen Sonntag in ihre Arbeit eingestiegen. Ursprünglich sollte die Konferenz erst morgen mit Reden von Staats- und Regierungschefs aus aller Welt beginnen, doch die Unterhändler brauchen mehr Zeit für ihre Beratungen. Als Sitzungsleiter übernahm Michal Kurtyka, der stellvertretende Umweltminister Polens, die Amtsgeschäfte und er drückte gleich zu Beginn auf das Tempo. "Die erste Arbeitswoche wird entscheidend sein. In der zweiten Woche gibt einfach nicht genug Zeit, um sich auf technische Einzelheiten zu konzentrieren." Drei Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens warten auf die Unterhändler komplizierte Fragen. So geht es darum, wie die freiwilligen Beiträge, mit denen die Welt die Erderwärmung begrenzen will, verglichen und gemessen werden. Michal Kurtyka: "Drei Jahre danach ist es Zeit, diesen Rahmen mit Leben und Inhalt zu füllen. Wir haben uns zwar alle darauf geeinigt, dass wir handeln müssen, aber die Frage, wie wir das tun, liegt noch auf dem Tisch. Darum geht es in dem Regelbuch, das wir in Kattowitz beschließen müssen." Auch Finanzfragen stehen im Raum Während viele Industrieländer den Fokus vor allem auf die Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen legen, bestehen Entwicklungsländer auch auf konkrete Zusagen für Geldflüsse aus den Industrieländern zur Finanzierung des Klimaschutzes und zur Anpassung an den unvermeidlichen Klimawandel. Meena Rahman vom "Third World Network" aus Malaysia erwartet, dass die Finanzfragen am Ende über den Erfolg des Gipfels entscheiden werden. "Weil die entwickelten Länder sehen müssen, dass zum Beispiel der Grüne Fonds für den Klimaschutz, der vor einigen Jahren gegründet wurde, wieder aufgefüllt werden muss. Derzeit geht hier das Geld zur Neige. Er ist sehr wichtig für die Entwicklungsländer." Wie sich die Konferenz am Ende einigen wird, das wird man erst in zwei Wochen sehen. Ein Abschlussdokument wird alle Fragen gemeinsam beantworten müssen, sagt Christoph Bals von der umwelt- und entwicklungspolitischen Organisation Germanwatch. "Wir werden entweder ein Gleichgewicht bekommen, das tief ist, weil alle sagen: Du hast laxe Regeln bei der Finanzierung, dann nehme ich mir auch laxe Regeln bei der Umsetzung heraus. Oder beide sagen, ok: Wenn Du jetzt ernsthafte Regeln bei der Finanzierung hast, dann muss ich auch ernsthaft umsetzen und umgekehrt. Und da ist die Frage, auf welchem Gleichgewichtsniveau das dann am Schluss landen wird." Alte, poröse Allianzen - nicht mal annähernd auf Kurs Die Klimakonferenz findet in einer Zeit statt, in der alte Allianzen im Klimaschutz auseinandergebrochen sind. Die USA wollen nicht mehr dabei sein, Brasilien hat vor wenigen Wochen mit Jair Bolsonaro einen Präsidenten gewählt, der ebenfalls den Abschied vom Pariser Abkommen angedroht hat. Angesichts dessen ist es schwierig, weltweit die Anstrengungen bei der Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen voranzutreiben, doch auch dies soll ein Thema der Konferenz sein. Elina Bardram, die Chefunterhändlerin der EU, verweist zur Begründung auf den Bericht des wissenschaftlichen Weltklimarats IPCC, der im Oktober eine Studie zu der Frage veröffentlicht hatte, in wie weit die Erwärmung noch unter 1,5 Grad zu halten ist. "Der Bericht hat auch bestätigt, dass wir mit unseren derzeitigen Zusagen nicht einmal annähernd auf Kurs sind, um das Ziel von höchstens 1,5 Grad zu erreichen. Deshalb muss die Welt ihre Anstrengungen gemeinsam steigern und so schnell wie möglich in diesem Jahrhundert eine klimaneutrale Wirtschaft erreichen." Die Gespräche über höhere Klimaziele werden in Kattowitz zwar nicht zum Abschluss kommen, doch die Debatte ist eröffnet.
Von Georg Ehring
Drei Jahre nach dem Pariser Klimaabkommen warten komplizierte Fragen auf die Unterhändler: Sie wollen ein Regelbuch erstellen, das die Treibhausgasreduktion behandeln soll, genauso wie Finanzierungsfragen von Entwicklungsländern. Und das, während die alten Allianzen auseinanderzubrechen scheinen.
"2018-12-02T18:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:33.144000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/un-klimakonferenz-beginnt-pariser-abkommen-auf-dem-100.html
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"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"
Sie endete kläglich – doch immerhin ohne Gewalt und Blutvergießen. Vier Jahrzehnte lang hatte sie Frieden und Freiheit versprochen, Wohlstand und Sicherheit, und wenn es eine Zeit gegeben haben mag, in der diese Deutsche Demokratische Republik von ihren rund 17 Millionen Bürgern akzeptiert wurde – geachtet, geschätzt, gefeiert wurde sie höchstens in den Reden und Aufsätzen ihrer Würdenträger aus der SED. An Phrasen, Losungen, Parolen und Floskeln fehlte es hier nie und niemandem – auch nicht dem späteren Staatsoberhaupt der DDR, Wilhelm Pieck, als er, damals noch Präsident eines "Deutschen Volksrats", auf dessen neunter Tagung im Berliner Haus der Ministerien am 7. Oktober 1949 jene selbstredend einmütig angenommene Resolution verlas, in der die Gründung einer Deutschen Demokratischen Republik gefordert wurde. "Deutsche Männer und Frauen, deutsche Jugend! Wir rufen das deutsche Volk auf, die Rettung der Nation in die eigene Hand zu nehmen und durch die Unterstützung des Kampfes der nationalen Front des demokratischen Deutschland die Bahn frei zu machen für Frieden, Aufbau und nationale Freiheit in der einigen Deutschen Demokratischen Republik."Gewiss waren beide deutschen Staaten vor allem Geschöpfe des Kalten Kriegs. Weil sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in ihrer Deutschlandpolitik nicht einigen konnten oder wollten, hatten erst die Westmächte auf der einen, dann aber auch die Sowjetunion auf der anderen Seite beschlossen, aus ihren Besatzungszonen selbstständige Staaten zu machen. Wobei natürlich klar war, dass es in der Bundesrepublik beim Kapitalismus zu bleiben, in der DDR aber einen Sozialismus nach sowjetischem Vorbild zu geben habe. Dem kleineren deutschen Teilstaat ist das nicht gut bekommen. Wo die Westdeutschen bald so etwas wie ein Wirtschaftswunder erlebten, mussten sich die DDR-Bürger damit zufriedengeben, dass ihre Staatspartei ihnen 1952 den planmäßigen Aufbau des Sozialismus ankündigte. Wer es da an Begeisterung fehlen ließ, bekam prompt Ärger mit den zuständigen Organen. Oder flüchtete in die BRD, bis der Mauerbau vom 13. August 1961 diesen Ausweg sperrte. In ihren letzten beiden Jahren fand sich jedenfalls selbst in den Führungsetagen der DDR kaum noch jemand, der ihr eine große Überlebenschance gab. Und der groteske Pomp, mit dem der 40. Jahrestag ihrer Gründung gefeiert werden sollte, obwohl die Mauer in Berlin nur noch ein weiträumig zu umfahrendes Verkehrshindernis war, demonstrierte bloß den Realitätsverlust, unter dem die altersmüden Chefgenossen längst litten - allen voran der Generalsekretär der SED, Erich Honecker."Liebe Freunde und Genossen, meine Damen und Herren des Diplomatischen Corps, liebe Gäste! Nehmen Sie die Gewissheit mit nach Hause, dass unsere Republik auch im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz ein bedeutender ... Friedensfaktor im Zentrum Europas sein wird. Unsere Freunde in aller Welt seien versichert, dass der Sozialismus auf deutschem Boden ... auf unerschütterlichen Grundlagen steht."40 Jahre lang hatten vor allem die Sowjets diese unerschütterlichen Grundlagen gesichert: Es waren ihre Panzer, die den Berliner Juni-Aufstand 1953 niederwalzten. Obwohl der ihm stets zugeschriebene Satz "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" so nie fiel, hatte sich der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow in Berlin als launiger Reformer gezeigt:"Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren. Und wer die Impulse aus der Gesellschaft aufgreift und dementsprechend seine Politik gestaltet, der dürfte keine Angst vor Schwierigkeiten haben, das ist eine normale Erscheinung."Allerdings - dass Gorbatschow nicht gezwungen sein würde, den Bestand der DDR mit Gewalt zu sichern, war in den Herbstmonaten 1989 keineswegs sicher. Doch dann machte er den SED-Granden klar: Auf Panzer durften sie nicht hoffen. Rund ein Jahr später war die DDR Geschichte.
Von Claus Menzel
Als die DDR am 7. Oktober 1989 ihren 40. Geburtstag beging, war ihr Ende schon abzusehen. Sowjet-Präsident Michail Gorbatschow nahm das durchaus vorweg - wenn er es auch nicht so sagte, wie viele denken.
"2009-10-07T09:05:00+02:00"
"2020-02-03T09:39:57.489000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wer-zu-spaet-kommt-den-bestraft-das-leben-100.html
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Auf dem rechten Auge blind
Die Mehrheit ist friedlich - aber es gibt auch gewaltbereite und rechts orientierte Strömungen unter den Fans von Alemannia Aachen. (Revierfoto, dpa) September 2012: Die antirassistische Fangruppe "Aachen Ultras" wird von den rechts orientierten Anhängern Alemannia Aachens, der "Karlsbande", hinterrücks brutal überfallen. Die Aggressoren waren dabei zahlenmäßig mit ca. 100 Personen mehr als doppelt so stark wie ihre Opfer, auf die sie mit Gürteln, Stangen und Flaschen einprügelten. Nach langem Zögern entzog die Alemannia daraufhin der "Karlsbande" alle Fanprivilegien. Dennoch zogen sich kurze Zeit später die "Aachen Ultras" wegen des anhaltenden Bedrohungsszenarios komplett zurück. Aktuell erteilte der Verein jetzt der "Karlsbande" überraschend wieder alle Fanprivilegien. Ein Schlag ins Gesicht für die Aachen Ultras, bis heute bedroht werden. Zum Schutz vor Übergriffen ist die nachfolgende Aussage deshalb nachgesprochen, die Person ist aber der Redaktion namentlich und persönlich bekannt: "Die Bedrohungslage für alle Menschen, die mit Aachen Ultras in Verbindung gebracht werden, ist nach wie vor hoch. Wir meiden das Kneipenviertel und sind vor allem an Spieltagen wachsam. Ein Stadionbesuch ist nach wie vor undenkbar. Wir sehen keine positive Veränderung, warum auch? Wir mussten der Karlsbande und rechten Hooligans das Stadion überlassen, das war ihr Ziel und das haben sie mit Hilfe des Vereins geschafft." Kein Kommentar Warum der Klub der "Bande" ihre Privilegien zurückgibt, verrät er uns nicht. Unsere Interview-Anfrage wird ohne Begründung abgesagt. Doch in der Aachener Zeitung vom 22. September verweist Alemannia-Geschäftsführer Alexander Mronz darauf, dass sich die "Karlsbande" von früheren Denkweisen distanziert habe. So zeigte sich die Gruppe bei einem Spiel mit folgender Aussage auf einem Plakat: "Rechtsextremismus und Rassismus haben bei uns keinen Platz! Das einzige was zählt, ist Alemannia!" Den Tipp mit diesem Plakat bekam die Karlsbande übrigens vom Alemannia-Geschäftsführer persönlich, um sich in der Öffentlichkeit als geläutert zu zeigen. Da sich die Aussage aber nicht ausdrücklich von Gewalt distanzierte, legte Mronz in der Aachener Zeitung noch einmal nach: "Wir haben mit der Polizei und dem Ordnungsamt gesprochen. Es gab keine Hinweise mehr auf eine rechtsradikale Orientierung der Gruppe." Das sieht die Aachener Polizei auch ein paar Wochen nach seiner Aussage immer noch komplett anders. Zwar konnte sie auch feststellen, dass es nicht mehr so schlimm bei der Karlsbande ist wie noch vor über zwei Jahren. Aber mit ihr hat seitens des Vereins keiner im Vorfeld darüber gesprochen, wie Hauptkommissar Paul Kemen erläutert: "Wir haben nicht mit an einem Tisch gesessen bei dieser Entscheidung, und von daher findet das auch nicht unsere Rückendeckung. Weil die Erkenntnisse, die dort vorgegeben werden, man sei wohl nicht mehr rechtsoffen, das ist uns was wenig. Wir hätten gerne eine klare Abkehr von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus innerhalb und außerhalb der Stadien. Das fehlt uns total." Wir zeigen der Polizei unsere Rechercheerkenntnisse. Auf Fotos aus sozialen Netzwerken ist bei einem Konzert der Band "Kategorie C" mindestens ein führendes Mitglied der Karlsbande deutlich zu erkennen. Das Konzert der Band, die in Nazi- und Hooligankreisen Kultstatus besitzt, fand allerdings deutlich nach der Distanzierung der Karlsbande von Rassismus und Radikalismus statt. Foto mit Hitlergruß Dazu kursiert im Internet noch ein Foto aus dem Sommer, auf dem ein Mitglied der Gruppe eindeutig den Hitlergruß zeigt: "Deswegen waren wir über diese Aufhebung dieses Bannerverbotes völlig überrascht. Das ist das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt. Das muss man ganz klar herausstellen. Und das ist auch mit der Aachener Polizei so nicht zu machen. Wir haben es deutlich gemacht, und wir können eigentlich nur jedem raten, auf so einen deutlichen Hinweis zu reagieren." Dazu kritisiert die Aachener Polizei öffentlich das Vorgehen der Ordner des Vereins beim Spiel gegen den KFC Uerdingen ein Banner mit der Aufschrift „Kein Bock auf Nazis" einkassiert zu haben. Auch das habe allein die Alemannia zu verantworten. Für langjährige Beobachter wie den Vorsitzenden des Sportausschusses der Stadt Aachen, Jonas Paul, ist das alles keine Überraschung. Für ihn fehlt dem Verein im Umgang mit seinen rechten Fans ein überzeugendes Konzept: "Es passt vielleicht ein bisschen in das Bild, dass seitens des Vereins immer versucht wird, Ruhe im Stadion zu haben, der Karlsbande jetzt Zugeständnisse zu machen, damit man sie sich ein bisschen ruhig hält, und wieder ins Stadion holt. Ich habe bis jetzt nicht erlebt, das zum Beispiel die Konflikte und die Angriffe auf die Aachen Ultras aufgearbeitet wurden sind. Dass man sich davon klar distanziert hat. Sondern die Ruhe, die auf dem Tivoli bestand, ist meiner Meinung nach darin begründet, dass eine der beiden Gruppen nämlich die Aachen Ultras nicht mehr da sind. Ich glaube, würden sie heute wieder ins Stadion gehen, hätten wir wieder eine ähnliche Situation wie damals." Das Beispiel Aachen macht deutlich, woher die rechte Fußballszene zurzeit ihren Rückenwind bekommt. Das Stadion wird für sie vielerorts zur Komfortzone, wo sie ihre Ideologie offen verbreiten kann. Gerade weil viele Vereine sich den Nazis nicht deutlich entgegenstellen.
Von Thorsten Poppe
Vor knapp zwei Jahren überfielen Mitglieder des rechtsorientierten Aachener Fanklubs "Karlsbande“ antirassistisch eingestellte Alemannia-Fans. Nun gab der Verein der Karlsbande alle Fanprivilegien zurück - weil es angeblich keine rechtsradikale Orientierung der Gruppe mehr gibt.
"2014-11-01T19:40:00+01:00"
"2020-01-31T14:11:25.726000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/alemannia-aachen-auf-dem-rechten-auge-blind-100.html
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IceCube-Detektor spürt Elementarteilchen kosmischen Ursprungs auf
Das Video zeigt eine unwirtliche Eiswüste. Am Horizont ein futuristisches Gebäude, auf das gerade ein dick eingepackter Mann zustapft, der frostige Wind pfeift ihm unbarmherzig ins Gesicht. "Das Gebäude steht direkt am geographischen Südpol. Unter dem Gebäude ist ein Eispanzer von 2,8 km Dicke", sagt Christian Spiering, Physiker am Forschungszentrum DESY in Zeuthen bei Berlin, "unter den Füßen von dem dick eingemummelten Mann befindet sich das IceCube Neutrino-Teleskop." Ein Teleskop, das kilometertief im Eisschild steckt, aber dennoch ins Weltall blickt. Das kann nur funktionieren, weil dieses Teleskop kein Licht auffängt, sondern Neutrinos. Das sind geisterhafte Teilchen, die in Unmengen durchs Weltall rasen, aber kaum mit Materie wechselwirken und deshalb unbeeindruckt durch sie hindurchfliegen. Damit Spiering und seine Leute wenigstens ein paar dieser Neutrinos aufschnappen können, mussten sie einen raffinierten Detektor konstruieren. Sein Name: IceCube, also Eiswürfel. Er besteht aus 5000 Glaskugeln, jede groß wie ein Basketball, tief versenkt im Eis über ein Volumen von einem Kubikkilometer. Spiering: "Im allgemeinen rauscht das Neutrino durch unseren Detektor hindurch und hinterlässt keine Spur, weil es eben so ein Geisterteilchen ist. Aber ganz, ganz selten macht es was: Es stößt auf einen Atomkern. Dabei werden sekundäre Teilchen erzeugt." Und diese Teilchen geben bläuliche Lichtblitze von sich – Licht, das die Basketball-Kugeln aufschnappen. Dass der Detektor im antarktischen Eis steckt, hat seinen Grund: In der Tiefe ist das Eis hier derart klar, dass die Lichtblitze weit genug fliegen können, um die Sensorkugeln zu erreichen. Ende 2010 war der Detektor fertig. Seitdem hat er zwar mehr als 100.000 Neutrinos registriert. Die aber stammten nur aus der Erdatmosphäre, erzeugt durch Kollisionen mit kosmischer Strahlung, und hatten eine relativ geringe Energie. Christian Spiering: "Eigentlich sind wir auf der Spur von Neutrinos, die nicht in der Erdatmosphäre erzeugt worden sind, sondern weit, weit entfernt." Kosmische Neutrinos, so heißen diese Vagabunden aus der Ferne, die den Forschern wichtige Hinweise aus den Tiefen des Alls liefern sollen. Und tatsächlich: Vor einiger Zeit registrierte IceCube zwei Neutrinos, deren Energie viel zu hoch war, als dass sie in der Erdatmosphäre entstanden sein könnten. "Diese beiden Ereignisse sehen ein bisschen aus wie die Wuschelköpfe von den Sesamstraßen-Puppen Ernie und Bert. Und deshalb wurden sie auch Ernie und Bert getauft." Bald kamen weitere Kandidaten hinzu. Mittlerweile sind es, Ernie und Bert mitgerechnet, 28. Klingt wenig, ist aber genug für eine wissenschaftliche Entdeckung. Spiering: "Nun kann eigentlich kaum jemand noch infrage stellen, dass wir die ersten extraterrestrischen Neutrinos gesehen haben – und damit ein neues Beobachtungsfenster zum Kosmos aufgestoßen haben." Mit ihrem Neutrinoteleskop hoffen die Fachleute nun, ganz neue Details über die extremsten Phänomene im All zu erfahren – schwarze Löcher, Supernovae und Gammastrahlen-Blitze. Christian Spiering findet vor allem ein Rätsel spannend. "Ganz oben auf unserer Einkaufsliste steht, dass wir mit Neutrinos herauskriegen wollen, woher die kosmische Strahlung stammt. Man weiß, dass diese kosmische Strahlung teilweise schwindelerregend hohe Energien hat – zehn Millionen Mal höher als der Large Hadron Collider in Genf. Aber wir wissen bis jetzt nicht, wie die Teilchen auf so hohe Energien beschleunigt werden." Erlauben die 28 Neutrinos, die IceCube bisher aufgestöbert hat, schon irgendwelche Rückschlüsse? Spannend wäre zum Beispiel, wenn mehrere Neutrinos aus derselben Richtung kämen. Dort müsste dann ein kosmischer Superbeschleuniger am Gange sein, ein aktiver Galaxienkern vielleicht oder der Überrest einer Supernova. "Es scheint einen kleinen Überschuss in der Richtung des Zentrums der Galaxie zu geben. Aber der ist noch nicht signifikant. Die Möglichkeit, dass das ein statistischer Ausreißer ist, ist ziemlich groß. Und darum müssen wir einfach noch mehr Daten nehmen, noch ein bis zwei Jahre warten." Und deshalb wollen Spiering und Co erst einmal ein bisschen feiern. Die Erleichterung im Team ist groß. Denn dass IceCube tatsächlich kosmische Neutrinos aufspüren kann – das war nicht unbedingt garantiert. "Zwischendurch verliert man manchmal schon ein bisschen die Hoffnung. Und dass es jetzt geklappt hat, ist natürlich ein Ereignis, wo man die Sektflaschen gerne öffnen möchte."
Von Frank Grotelüschen
Neutrinos fliegen wie Geister durch Materie hindurch. Daher sind sie kaum zu fassen, obwohl sie in Unmengen durch das All rasen. In der aktuellen "Science" berichten Forscher heute, dass IceCube, ein Detektor am Südpol, immerhin 28 Neutrinos aus den Tiefen des Alls gemessen hat. Womit bewiesen ist, dass die Idee eines Neutrinoteleskops tatsächlich Sinn ergibt.
"2013-11-22T16:50:00+01:00"
"2020-02-01T16:46:49.495000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neutrino-forschung-icecube-detektor-spuert-100.html
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"Man muss die Politik Israels kritisieren"
Die Amerikanerin Susan Neiman ist auch israelische Staatsbürgerin und leitet seit rund 20 Jahren das Einstein Forum in Potsdam (Imago | Jürgen Heinrich ) Antisemitismus ist heute nicht mehr mit einem Rechts-Links-Schema erklärbar - denn Angriffe gegen Juden, verbal oder physisch, kommen aus allen politischen Lagern. Die überwältigende Mehrheit der antisemitischen Gewalt hat allerdings einen rechtsextremen Hintergrund, wie Statistiken des BKA nachweisen. Wird von links der Vorwurf laut, geht es oft um eine kritische Sicht auf die Politik des Staates Israel. So wie im Fall des kamerunischen Historikers und Philosophen Achille Mbembe, einem im globalen Wissenschaftsdiskurs anerkannten postkolonialen Theoretiker, der seit vielen Jahren auch Vorträge in Deutschland hält und dieses Jahr auf der Ruhrtriennale die Eröffnungsrede halten sollte. Dagegen protestierte unter anderem der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein. Antisemitismus-Debatte - "Über Mbembes Thesen muss man reden" Im Streit um den Historiker Achille Mbembe, dem Kritiker antisemitische Positionen vorwerfen, haben sich 700 afrikanische Intellektuelle zu Wort gemeldet. Die Ruhrtriennale ist nun abgesagt, der Streit geht aber weiter. Der Vorwurf lautet: Achille Mbembe relativiere den Holocaust und sei in seiner Kritik gegen die Besatzungspolitik des Staates Israel antisemitisch, außerdem unterstütze er die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), die die Bundesregierung 2019 als antisemitisch eingestufte. "Ich nehme Mbembe ab, wenn er sagt: ‚Ich bin kein Antisemit'" Die amerikanische Philosophin Susan Neiman, die auch die israelische Staatsbürgerschaft hat und seit rund 20 Jahren das Einstein-Forum in Potsdam leitet, stellt sich hinter Mbembe. "Ich nehme Mbembe ab, wenn er sagt: 'Ich bin kein Antisemit.' Ich nehme ihm ab, wenn er sagt: 'Es gibt keine Unterstützung für den BDS.'" Man müsse genauer hinschauen, woher seine israel-kritische Sicht komme. In der postkolonialen Forschung sei diese nämlich sehr verbreitet. "Es gibt bei vielen postkolonialistischen Denkern einen nicht besonders differenzierten Blick auf die Geschichte. Man konzentriert sich nur auf den klassischen Kolonialismus, und Israel wird einfach gleichgesetzt mit englischem oder französischem Kolonialismus. Und das verfälscht die Geschichte." Debatte - Darum geht es beim Streit um Achille MbembeDer kamerunische Historiker Achille Mbembe steht im Zentrum einer aufgeregten Debatte. Sie dreht sich um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Antisemitismus und der Relativierung des Holocaust. Außerdem soll Mbmebe das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen. Wer erhebt diese Vorwürfe, aus welchen Gründen? Ein Überblick. Rechte Geschichtslehrer gefährlicher als postkoloniale Israel-Kritiker Der "Aufruhr" um Mbembe sei letztlich auch deswegen unverhältnismäßig, weil hier an der falschen Stelle gegen Antisemitismus gekämpft werde. "Es gibt sehr viele rechte Gymnasiallehrer, vor allem Geschichtslehrer in Deutschland. Die AfD ist voll davon. Wir kennen Björn Höcke, es gibt Hunderte davon. Wir wissen ja, mit dem Radikalenerlass, Leute die links belastet waren, die wurden in den Siebzigern alle mit Lehrverbot konfrontiert." Man denke nicht daran, zu untersuchen, wie viel Lehrer AfD-Gedankengut verbreiteten. "Ich würde sehr gern sehen, dass man solche Menschen untersucht, anstatt dass wir uns auf einen einzigen postkolonialen Denker konzentrieren. Ich finde, diese Lehrer sind viel gefährlicher." "Wer mal einen Tag in den besetzten Gebieten verbracht hat, wird diese Parallele sofort sehen" Letztlich, so Neiman, liege Mbembe auch nicht falsch, wenn er die Politik Israels mit der Apartheid in Südafrika vergleiche, wogegen der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, ebenfalls protestierte. "Doch, man kann es schon vergleichen. Man hat es schon lange verglichen. Der große südafrikanische Friedenskämpfer Breyten Breytenbach hat das schon vor Jahren gemacht und es haben etliche Menschen gemacht. Wer mal einen Tag in den besetzten Gebieten verbracht hat, und das habe ich gemacht, ein paar Mal, mit israelischen Freunden, die mit der Friedensbewegung dort arbeiten, wird diese Parallele sofort sehen", so die Philosophin Neiman. "Man muss die Politik Israels kritisieren." Die Politik Netanjahus sei Trump-treu und gefährlich, so die Leiterin des Einstein-Forums. "In Israel hat man es derzeit mit der rechtesten Regierung in der Geschichte Israels zu tun. Diese Regierung tendiert immer weiter nach rechts. Der israelische Philosoph Omri Boehm wird demnächst ein Buch bei Suhrkamp herausbringen, in dem er die jetzige Regierung Netanjahus mit einer möglichen deutschen AfD-Regierung vergleicht. Das ist gar nicht falsch."
Susan Neiman im Gespräch mit Anja Reinhardt
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung wirft dem Historiker Achille Mbembe vor, die Grenze zum Antisemitismus überschritten zu haben, weil er das südafrikanische Apartheids-Regime mit der israelischen Regierung vergleicht. Die Philosophin Susan Neiman verteidigt Mbembe im Dlf.
"2020-05-21T17:05:00+02:00"
"2020-05-22T09:13:35.685000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/susan-neiman-ueber-antisemitismusvorwurf-man-muss-die-100.html
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Polens Parteienlandschaft im Umbruch
Rafał Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau und liberaler Präsidentschaftskandidat, im Juni 2020 (picture alliance/dpa - Darek Delmanowicz) Schon vorab hatten sich über 10.000 Menschen online registriert, um an der neuen Initiative des Warschauer Bürgermeisters teilzunehmen. Die Eröffnungsveranstaltung wurde dann allerdings kein, wie ursprünglich geplant, großes Fest. Sie konnte wegen der Corona-Pandemie nur im Internet stattfinden. Rafał Trzaskowski präsentierte sich im dunklen Anzug vor einem großen Monitor mit blauen und grünen Rechtecken: "Wir rufen eine Bewegung ins Leben, die ein Polen will, in dem das Ziel nie die Mittel heiligt. Wo das Recht die Grundlage für das Staatshandeln ist, auch wenn es den Interessen der Machthabenden entgegensteht. Wo jeder die gleichen Rechte und Pflichten hat, unabhängig von der Nationalität, der Religion, der Herkunft oder der sexuellen Orientierung." Kampfansage an die PiS Sätze, wie der 48-Jährige sie auch im Wahlkampf gesagt hatte. Doch nun gehe es ihm um eine überparteiliche Initiative, erklärte der Warschauer Bürgermeister. Die Gesellschaft sei nach fünf Jahren Regierung der rechtskonservativen Partei PiS tief gespalten. "Ich habe entschieden, dass unsere Bewegung ‚Gemeinsames Polen‘ heißen soll. Ich glaube daran, dass es Ideen und Werte gibt, die für uns alle gelten." "Polarisierung überwinden"Die Präsidenten-Stichwahl in Polen war eine Richtungswahl zwischen dem liberalen Trzaskowski und dem konservativen Amtsinhaber Duda. Aber auch der Wahlsieg Dudas müsse kein "weiter so" bedeuten, sagte Peter Loew vom Deutschen Polen-Institut nach der Wahl. Duda könne sich freischwimmen. Als prominente Unterstützer der Idee traten am Wochenende andere Kommunalpolitiker aus ganz Polen auf. So auch Hanna Zdanowska, Bürgermeisterin von Lodz: "Ich stehe an der Seite von Rafal. Denn die Polen wollen Normalität, sie wollen Ruhe, Wahrheit und Sicherheit. Hier ist Platz für jeden, der die Verfassung und die Menschenrechte achtet, für den ein vereinigtes, sicheres, offenes Europa wichtig ist." Auch das war natürlich gegen die Regierungspartei PiS gerichtet. Diese eckt in der EU durch eine Gerichtsreform an, die der Regierung Einfluss auf Richter gibt. Kritik aus den eigenen Reihen In der Führungsetage von Rafał Trzaskowskis Partei, der rechtsliberalen "Bürgerplattform", wird seine Initiative allerdings eher kühl aufgenommen. Manche dort äußern hinter vorgehaltener Hand die Befürchtung, die Gruppierung könne zu einer Konkurrenz werden. Der Vorsitzende der "Bürgerplattform" Borys Budka pocht auf Absprachen mit Trzaskowski. Gegenüber dem Nachrichtenportal "Wirtualna Polska" sagte er: "Wahlen werden von politischen Parteien gewonnen. Rafał Trzaskowski hat von Anfang gesagt, dass seine Bewegung nur eine Ergänzung sein soll, etwas, das politische Parteien unterstützt. Er will die Energie der Polen nutzen, sich aber nicht mit der Tagespolitik befassen." So stellte es Trzaskowski am Wochenende auch dar. Zuerst sollten die Mitglieder aus dem ganzen Land zusammentragen, welche Probleme sie und ihre Nachbarn haben. Mit diesem Wissen solle dann ein großes Zukunftskonzept entstehen. Und ein Werte-Grundgerüst, das für alle Polen gelten könne. Das alles solle die Opposition auf die Parlamentswahl in drei Jahren vorbereiten. Bewegung in der politischen Landschaft Der liberalen Opposition könne das in der Tat neuen Wind geben, meinen Experten, so Jaroslaw Kuisz, Chefredakteur des linksliberalen Internetportals "Kultura liberalna": "Die Bürgerplattform ist seit fünf Jahren nicht vorangekommen, seit sie die Regierungsverantwortung verloren hat. Es ist nicht zu sehen, dass sie neue Ideen entwickelt hätte. Sie ist die größte Oppositionspartei geblieben, aber sie kann kaum neue Wähler von sich überzeugen. Und sie kommt bei jungen Wählern nicht besonders gut an. Deshalb ist Trzaskowskis Bewegung eine Chance für die Partei, sich zu regenerieren." Zumal der Partei eine andere Bewegung im Nacken sitzt: die Initiative des liberalkatholischen Publizisten Szymon Hołownia. Auch er hat bei der Präsidentschaftswahl politisches Profil gewonnen. Im ersten Wahlgang landete er als Politneuling auf Platz drei. Umfragen zeigen, dass Hołownia mit einer eigenen Partei bei einer Parlamentswahl derzeit knapp zehn Prozent der Stimmen bekäme.
Von Florian Kellermann
Die Stichwahl um das polnische Präsidentenamt im Juli hat der Warschauer Bürgermeister Rafał Trzaskowski denkbar knapp verloren. Den Schwung aus dem Wahlkampf will der 48-Jährige nutzen, um mit einer neuen politischen Bewegung die Opposition zu einen. Doch "Neue Solidarität" stößt auch auf Widerstände.
"2020-10-19T09:10:00+02:00"
"2020-10-23T11:34:40.719000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neue-solidaritaet-polens-parteienlandschaft-im-umbruch-100.html
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"Ich kann die Solidarität der Europäer an keiner Stelle erkennen"
Georg Nüßlein sag, es gehe der CSU um die Sache und nicht um Krawall (dpa/Michael Kappeler) Stefan Heinlein: Am 14. Oktober ist Landtagswahl in Bayern, die Bewährungsprobe für Markus Söder. Der neue Ministerpräsident und seine CSU wollen in München weiter allein regieren. Dafür riskiert man, angeführt von Parteichef Seehofer, die offene Feldschlacht mit der Schwesterpartei in Berlin. – So zumindest die Interpretation vieler Beobachter, angesichts der Konfrontation innerhalb der Union um die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Gestern ein neuerlicher Höhepunkt, dramatische Stunden rund um das Reichstagsgebäude. Getrennte Sondersitzungen der Fraktionen. Und mittendrin der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Georg Nüßlein (CSU). Guten Morgen, Herr Nüßlein. Georg Nüßlein: Guten Morgen. Heinlein: War da gestern ein Hauch von Kreuth in Berlin? Nüßlein: Das weiß ich nicht. Uns geht es nicht um Krawall, uns geht es nicht um Bruch. Wir wollen auch die Fraktionsgemeinschaft und die Regierung nicht gefährden. Uns geht es von Anfang an um die Sache an der Stelle. Ich wehre mich auch gegen die Darstellung, es ginge um die Landtagswahl primär. Die Landtagswahl spielt insofern eine Rolle, als unser Spielraum natürlich noch stärker eingeschränkt wird, als er ohnehin ist. Wir bemühen uns seit Jahren mittlerweile, zurückzufinden zu geordneten Verhältnissen. Und wenn man uns jetzt sagt, es ginge jetzt darum, eine europäische Lösung innerhalb von 14 Tagen herbeizuführen, dann muss ich ganz ehrlich sagen: Allein mir fehlt der Glaube. Das haben wir seit 2015 nicht geschafft und ich kann die Solidarität an keiner Stelle der Europäer erkennen. "Kann die Solidarität der Europäer an keiner Stelle erkennen" Heinlein: Da haben Sie bereits viele Punkte angesprochen, Herr Nüßlein. Zunächst einmal: Mathias Middelberg, der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, den hatte ich vor einer Stunde hier im Interview. Und er hat ein Ende der Fraktionsgemeinschaft nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Können Sie ihm diese Sorge nehmen? Nüßlein: Noch mal: Das ist nicht unser Ziel und nicht unser Anliegen. Das wäre eine Katastrophe für die Union in der Summe. Aber natürlich sagen wir auch, es kann nicht sein, wenn man unter Schwesterparteien sich inhaltlich einig ist, dass man dann akzeptiert, dass von der Kanzlerin allein – das ist nämlich der Alleingang – ausgeschlossen wird, das dann auch umzusetzen. Der Kompromiss wäre ganz einfach gegangen: Der Bundesinnenminister hat die volle Verantwortung für das Thema und wer eine volle Verantwortung für etwas hat, der muss auch die Kompetenz haben, etwas umzusetzen. Das heißt, sie hätte ihn einfach gewähren lassen müssen an der Stelle, zumal sie am Dienstag erkennen musste, dass die Mehrheit der Fraktion jedenfalls hinter Seehofer steht. Heinlein: Kompetenz, Herr Nüßlein, ist ein ganz wichtiges Stichwort. Wie steht es um die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin? Die Regierungschefin bestimmt immer noch die Richtlinien der Politik. So steht es in unserem Grundgesetz. Nüßlein: Ja. Und es gibt auf der anderen Seite so etwas wie eine Ressort-Zuständigkeit, und die ist in dem Fall unstrittig. Es geht hier nicht um die Grundzüge der Politik, sondern es geht hier um Umsetzung eines Punktes von immerhin 63 in der Flüchtlingsfrage. Und da geht es nicht um Richtlinien, sondern da geht es darum, dass was passieren muss. Und wenn Sie draußen die Menschen fragen, ob und wie an der Grenze zurückgewiesen werden soll, dann, glaube ich, kriegen Sie ein klares Bild. Da kann man nicht formulieren, … Heinlein: Wen meinen Sie denn, Herr Nüßlein, wenn Sie sagen, die Menschen? Nüßlein: Die Menschen draußen, die Mehrheit. Heinlein: Hundert Prozent? Nüßlein: Die Mehrheit derer, die Sie draußen fragen, wird Ihnen sagen, ist doch ganz klar, dass diejenigen, die woanders Asylverfahren begonnen haben, diejenigen, die hier schon mal zurückgewiesen wurden, dass die wieder zurückgewiesen werden müssen. Heinlein: Herr Nüßlein, wenn Horst Seehofer am Montag – so hat er es ja angekündigt – diesen einen Punkt in Eigenregie umsetzt, die Grenzkontrollen dann einführt, hat dann die Kanzlerin eine andere Wahl, als ihren Minister hochkant zu feuern? Nüßlein: Ich glaube nicht, dass sie das tun wird. Heinlein: Warum? Was macht Sie so sicher? Denn dann verliert sie ihr Gesicht. Sie kann nicht mehr die Politik bestimmen, sondern das macht die CSU, das macht der Freistaat, das macht Horst Seehofer. Nüßlein: Nein. Wir bestimmen nicht die Politik, sondern Horst Seehofer macht das, was in seinem Ressort geboten ist, nämlich für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist er zuständig und dafür hat sie ihn ernannt. Den Horst Seehofer zu feuern, hieße, die CSU aus der Koalition zu schmeißen, und das wird sich die Bundeskanzlerin genau überlegen. Die ist intelligent und weiß um die Tragweite dessen, was sie tut. Das Argument mit den 14 Tagen wirkt für wie gegen sie. Jemanden wegen 14 Tagen Bedenkzeit aus der Regierung zu schmeißen, wäre falsch. "Der Innenminister muss seiner Verantwortung nachkommen" Heinlein: Herr Nüßlein, das hört sich nicht so an, als ob Sie und Ihre Partei, die CSU, Ihre Fraktion bereit ist, auf die Kanzlerin, auf die CDU auch nur einen Millimeter zuzugehen. Nüßlein: Wir haben uns bis Mittwoch um einen Kompromiss bemüht. Das, was gestern der CDU in einer separaten Sitzung – ich halte das immer noch für falsch, dass man das so gemacht hat; das war aber übrigens Anliegen der CDU und nicht der CSU, getrennt zu tagen – hier gesagt wurde, dass es jetzt eigentlich nur um 14 Tage ging, ist ein Kompromiss, der meiner Kenntnis nach am Mittwochabend noch gegenüber Seehofer und Söder abgelehnt wurde. Und jetzt sind wir am Punkt, wo es nicht um die Frage geht, was machen wir denn jetzt, sondern jetzt sind wir am Punkt, wo ganz klar ist, dass der Innenminister seiner Verantwortung nachkommen muss. Heinlein: Wolfgang Schäuble, so ist zu lesen, so scheint es auch zu sein, soll noch vermitteln zwischen den beiden Schwesterparteien. Wenn ich Sie so höre, dann kann sich Wolfgang Schäuble diese Vermittlungsbemühungen sparen. Nüßlein: Die Frage ist, mit welchem Ziel oder worum es denn an der Stelle geht. Ich meine, Vermittlung heißt ja auch, dass man zu dem Ergebnis kommen könnte, dass sich die Kanzlerin inhaltlich der Fraktion beugt. Denn noch mal: Bei all dem, was da gestern auch passiert sein mag innerhalb der CDU – die Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, die sagen alle zu mir, inhaltlich stehen wir auf eurer Seite. Heinlein: Das hat Herr Middelberg aber gerade ganz anders gesagt. Er sagt, die Fraktion, die CDU-Fraktion steht hinter der Kanzlerin. Sie wollen, dass die Kanzlerin, dass Angela Merkel sich der CSU-Fraktion beugt? Nüßlein: Nein. Es geht doch nicht um die Frage, wer sich wem beugt. Heinlein: Das haben Sie aber gesagt. Nüßlein: Das ist doch falsch dargestellt. Sondern ich erlebe jedenfalls seit mehreren Jahren, dass die Kanzlerin die Flüchtlingspolitik dominiert und dass eine Mehrheit der Fraktion, die leider nicht ganz so laut ist, wie es die CSU vielleicht manchmal ist, widerwillig das mitmacht und solche Themen nie zur Sprache gekommen sind bisher. Die Fraktion hätte viel früher sagen müssen, wir machen bestimmte Dinge nicht mehr mit. Heinlein: Um es auf den Punkt zu bringen, Herr Nüßlein. Sie haben beobachtet in Berlin, dass die Kanzlerin von ihren eigenen Leuten, von den Christdemokraten, von der CDU nicht mehr gestützt wird, sondern hinter der Hand eine Mehrheit der CDU-Fraktion die CSU-Position unterstützt? Nüßlein: Es geht um einen inhaltlichen Punkt. Es geht hier weder um Kanzler-Dämmerung, noch um sonst irgendwas. Es geht um einen inhaltlichen Punkt. Der wird jetzt wieder hochstilisiert zu Streit und Zwist, Abwegigkeit und wie auch immer. Aber uns geht es darum, einen Punkt hier sinnvoll zu bewegen und den Minister in seiner Ressort-Zuständigkeit gewähren zu lassen. Jeder der sich da wehrt – und da ist die Kanzlerin inbegriffen -, hat natürlich das Problem, dass er argumentieren muss, warum er denn diesen einen Punkt nicht machen kann, von dem viele, viele Menschen sagen, das macht doch Sinn und das ist Teil nationaler Souveränität, dass man entscheidet, wer in unser Land kommen darf und wer nicht. Das müssen wir entscheiden, nicht irgendwelche Schlepper und mit Verlaub auch nicht die europäischen Nachbarn. "Sind die letzten, die uns gegen diese europäische Lösung wehren" Heinlein: Die CSU ist dafür, dass Schengen aufgelöst wird, dass wieder die Schlagbäume runtergehen, dass wieder Grenzkontrollen überall eingeführt werden? Das heißt es ja letztendlich. Nüßlein: Wenn man sich das so formuliert, dann macht man es sich zu einfach. Schengen hat eine klare Voraussetzung. Das heißt, eine ordnungsgemäße Kontrolle der Außengrenzen. Die kann ich nicht erkennen momentan. Nur darum geht es. – Die CSU hat immer betont: Wenn wir eine europäische Lösung bekommen, die zieht, dann sind wir die letzten, die uns gegen diese europäische Lösung wehren - die allerletzten! Wir machen das sofort mit. Nur jetzt ist keine in Sicht, und wer mir erklärt, das passiert innerhalb der nächsten 14 Tage, dem muss ich die Frage stellen, was die letzten drei Jahre passiert ist. Heinlein: Ganz kurz zum Schluss, Herr Nüßlein. Der Streit mit der CDU ist ja das eine. Aber Sie müssten ja auch Ihren Koalitionspartner, die SPD überzeugen. Haben Sie da Hoffnungen, dass dies geschehen könnte? Nüßlein: An dem Punkt ist der Minister, der Innenminister zuständig, kann das anweisen. Das ist auch nicht mal eine politische Frage, aus meiner Sicht, sondern das ist gängiges Thema. Das machen übrigens andere Staaten um uns herum auch. Im Übrigen bin ich bei den ganzen Punkten – das sind ja 63 insgesamt – ein bisschen skeptisch, dass die Freude der SPD riesig sein wird. Aber ich empfehle den Genossen dringend, mal auf ihre Umfragewerte zu schauen und sich Gedanken zu machen, für wen sie denn noch Politik machen. Ich verstehe nicht, ich glaube nicht, dass der normalen Arbeitnehmer, den bisher die SPD gut vertreten hat, dass der begeistert ist von einer Flüchtlingspolitik, die heißt, alle, die mühsam und beladen sind, mögen zu uns kommen. Das kann ich nicht erkennen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georg Nüßlein im Gespräch mit Stefan Heinlein
Er glaube nicht, dass innerhalb von 14 Tagen eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage herbeigeführt werden könne, so Unionsfraktions-Vize Georg Nüßlein im Dlf. Er sprach sich dafür aus, Innenminister Horst Seehofer nun Grenzkontrollen einführen zu lassen. Diese Entscheidung sei Teil nationaler Souveränität.
"2018-06-15T07:15:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:12.873000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unionsfraktions-vize-zu-fluechtlingspolitik-ich-kann-die-100.html
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Minderheitsregierung? Eine Lösung mit Charme
Jamaika-Sondierungen starten (Kay Nietfeld/dpa) Vier Tage nach dem Scheitern von Jamaika wirkt das Szenario Minderheitsregierung gar nicht mehr so unrealistisch. Doch wie würde das in der Praxis funktionieren? Wäre das für die Bundesrepublik wirklich zu instabil? Klaus Remme aus dem Hauptstadtstudio spielt das Szenario für uns durch. Der Hauptstadtflughafen BER hat schon Milliarden verschlungen und ist auch 2000 Tage nach dem ursprünglich geplanten Eröffungstermin offenbar immer noch weit entfernt von der Fertigstellung. Wäre abreißen und neu bauen die bessere Alternative? Claudia van Laak sagt, was sie davon hält? Die USA wollen die Netzneutralität aufheben, heißt: Wer schnelles Internet will, muss zahlen. Eine Entscheidung mit verheerender Signalwirkung, auch für Europa, glaubt Sandro Schröder.
Von Philipp May
Wie würde eine Minderheitsregierung in der Praxis funktionieren? Flughafen BER: Warum nicht abreißen und neu bauen? Bye, bye Netzneutralität?
"2017-11-23T17:00:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:10.411000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-minderheitsregierung-eine-loesung-mit-charme-100.html
90,840
Missbrauchsopfer vermissen Aufarbeitung
Es war ein großer Skandal. Die Hintergründe, Ursachen und Strukturen sind allerdings noch lange nicht aufgearbeitet. Der Prozess ist ins Stocken geraten – in diesem Punkt sind sich Betroffene und Experten einig. Beispiel Odenwaldschule – die frühere Schulleiterin Margarita Kaufmann stellt fest:"Was meiner Meinung nach die Odenwaldschule vor allen Dingen gut gemacht hat, war Verleugnungsarbeit. Nicht, dass sie die Geschehnisse geleugnet hat. Sondern so etwas wie eine eigene Mitverantwortung im Sinne von: Was ist mein Anteil, was ist da an diesen Strukturen ursächlich im Zusammenhang mit dem Thema Missbrauch""Margarita Kaufmann hat vor zwei Jahren die Odenwaldschule verlassen. Ein Grund dafür war die ihrer Ansicht nach fehlende Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Die Opfer sehen das ähnlich. Sie haben sich im Verein Glasbrechen zusammengeschlossen. Sprecher Adrian Koerfer:"Fundamental ist die Wahrheit. Anders geht es nicht. Und natürlich muss man sich im Zusammenhang mit Wahrheit auch mit Täterstrukturen, aber auch mit Hintergrundstrukturen, mit Mitwissern - in unserem Fall Odenwaldschule mit einem Umfeld im Kreis der linken Pädagogik -, auseinandersetzen, Max-Planck-Institut, Laborschule. Die gehören alle mit rein."Eine ganze Reihe von betroffenen Schulen hat sich nach Bekanntwerden des Skandals intensiv mit dem Thema Prävention von Missbrauch auseinandergesetzt, um die Schüler von heute besser zu schützen. Ein Blick nach vorne, allerdings ohne den notwendigen Blick zurück, meinen Betroffene. Die Konfrontation mit der Wahrheit – im Fall der Odenwaldschule besonders schwer, weil sie für sich in Anspruch nahm und nimmt, eine ganz besonders fortschrittliche Institution zu sein. Die frühere Schulleiterin Margarita Kaufmann:"Man weiß ja, dass heilsame Prozesse erst dann beginnen können, wenn wir den Schmerz auch zugelassen haben. Der Schmerz, das wäre hier der Verlust einer großartigen Institution. Das zuzulassen, dass das gar nie so war und dass wir womöglich einem großen Bluff aufgesessen sind."Die Aufdeckung des Missbrauchsskandals begann vor drei Jahren am Berliner Canisiuskolleg, einer Jesuitenschule. Matthias Katsch und weitere Betroffene fassten sich ein Herz und begannen, öffentlich zu reden. Auch an unserer früheren Schule ist der Aufarbeitungsprozess ins Stocken geraten, konstatiert Matthias Katsch heute. Zwar habe er auf Antrag eine Art Schmerzensgeld von 5000 Euro vom Jesuitenorden erhalten. Auf eine offizielle Einladung des Canisiuskollegs, um zum Beispiel dort einen Vortrag zum Thema sexueller Missbrauch zu halten, warte er bis heute allerdings vergeblich."Also solche Zeichen der Anerkennung oder der Wertschätzung hat es in dem Sinne bisher nicht gegeben. Ich muss auch ehrlich sagen: Es ist vonseiten der Schule oder vonseiten des Ordens eigentlich noch nie jemand auf uns zugekommen."Betroffene, Experten und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung fordern jetzt die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in Familien und Institutionen. Sie solle nach der Bundestagswahl ins Leben gerufen werden. "Ansonsten droht die Anstrengung, die wir 2010, 2011 gemacht haben, wieder ins kollektive Vergessen zu fallen. Und dann stehen wir in zehn, 15 Jahren wieder da und sagen: Huch, das haben wir ja gar nicht gewusst, das ist ja ganz schlimm."Eine unabhängige Untersuchungskommission - FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat diese Forderung bereits zurückgewiesen.
Von Claudia van Laak
Es ist ruhig geworden rund um die Missbrauchsskandale etwa an der Odenwaldschule. Nicht nur die Opfer beklagen dabei eine Kultur der Verleugnung und wünschen sich eine Aufarbeitung über eine finanzielle Leistung hinaus.
"2013-04-30T14:35:00+02:00"
"2020-02-01T16:16:21.577000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/missbrauchsopfer-vermissen-aufarbeitung-100.html
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Wie ein lukrativer Markt sich weiterentwickelt
Sport-TV- und Streaming-Anbieter stoßen in neue Gefilde vor. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd) Für den Fußball waren die vergangenen 20 Jahre lukrativ. 2002 hat die Bundesliga mit ihren TV-Rechten weniger als 300 Millionen Euro eingenommen. Jetzt erhält die DFL 1,1 Milliarden Euro pro Saison. Es war eine Zeit, in der vor allem Pay-TV-Sender die Preise getrieben haben. Aber die Ära des klassischen Fernsehens ist vorbei – jetzt dominiert das Internet. „In 2023 werden wir sehen, wie immer mehr TV-Sender ihren Angeboten im Internet höchste Priorität einräumen werden“, sagt Tobias Künkel, CEO der Digitalagentur Teravolt.  „Die altehrwürdige BBC hat dieses Jahr diese Zeitenwende in der europäischen TV-Landschaft eingeläutet und angekündigt, lineare Sender abzuschalten, um mehr in digitale Angebote zu investieren. Und das werden wir auch von anderen sehen.“ Auch für den Sportrechtemarkt in Deutschland bedeutet das Veränderung. Jahrelang hat der Pay-TV-Sender Sky den Sportrechte-Markt dominiert. Dieses Geschäftsmodell gerät durch Streamingdienste in Gefahr. Seit Oktober häufen sich die Berichte, dass der US-Mutterkonzern Comcast den Sender verkaufen möchte. Sport-StreamingFür die Verbraucher wird es immer teurer 06:57 Minuten02.02.2022 Investoren im SportLieber Europa als USA 05:07 Minuten07.08.2022 Sport im britischen TVFußball dominiert nicht alles Und 2022 ist Sky zum zweiten Mal im Bieterwettbewerb um die Fußball Champions-League ausgestiegen. Die Begründung eines Sprechers:  „Bei allem Interesse sind wir mit einer ökonomisch klaren und verantwortungsbewussten Sicht auf den Wert von Sportrechten in den Prozess gegangen und waren deshalb auch im Sinne unserer Kunden nicht bereit, über den Wert, den wir diesem Recht beimessen, hinauszugehen.“ Die Rechte im Bezahlbereich gehen wie schon bei der letzten Ausschreibung an die Streamingdienste DAZN und Amazon. „Ich glaube auch, dass die Anzahl der Medienunternehmen, die bereit sind, teilweise Milliardenverluste oder dreistellige Millionenverluste zu akzeptieren, um mit Sportrechten in einen Markt zu kommen. Das werden weniger werden“, so der frühere Chef der Deutschen Fußball Liga Christian Seifert beim Sportbusiness-Kongress Spobis. Ein Trend, der das Geschäft mit Sportrechten in der Zukunft verändern wird. Mehr Vielfalt in Sicht? Dieses Geschäft konzentriert sich im Moment vor allem noch auf den Fußball. Der Medienwissenschaftler Markus Bölz sieht aber Anzeichen, dass es künftig eine größere Vielfalt geben könnte. Jetzt werde sich entscheiden, „ob wir tatsächlich eine Ausdifferenzierung haben, dass auch andere Sportarten neben dem Fußball nicht mehr nur Randerscheinung sind, sondern auch zu Massenerscheinungen werden“, sagt der Leiter des Instituts für Sportkommunikation an der Fachhochschule des Mittelstandes. Darauf setzt auch Christian Seifert. Der Ex-DFL-Chef hat gemeinsam mit dem Springer-Konzern die Streaming-Plattform Dyn gegründet. Die neue Plattform soll in erster Linie Mannschaftssportarten mit Ausnahme des Fußballs eine Heimat bieten. „Ich glaube schon, dass Ligen in Zukunft sich deutlich mehr fragen müssen, was tut eigentlich dieses Medienunternehmen? Oder was tut der Medienpartner wirklich für mich, für meine Marke, für meine Bedeutung in der Gesellschaft, für meine, für meine Möglichkeit, auch in anderen Bereichen zu wachsen? Ja, das war ja einer unserer substanziellen Ansätze.“ Social Media und Liveübertragungen sollen sich ergönzen Das Angebot von Dyn geht über das Live-Spiel hinaus. Dyn will die Aufmerksamkeit für Sportarten wie Volleyball, Handball, Basketball und Tischtennis auch zwischen den Spielen hochhalten und steigern. Dafür sollen die Social-Media-Kanäle der Ligen und Vereine beständig mit Video-Clips bestückt werden. Wie die Zusammenarbeit von Social Media und Fernsehen funktioniert, hat Pro7Sat1 mit der NFL gezeigt, sagt Markus Bölz: „Mit was für einer Intensität und Wucht eine junge Zielgruppe American Football rezipiert, das gab es mal vor einem Jahrzehnt schon so, dass man also Versuche gemacht hat. Aber jetzt ist es wirklich eine Schwelle, das ist kein Nischenangebot mehr ist, sondern dass es wirklich ein Massenangebot wird, was auch in Deutschland von einer jungen Zielgruppe wirklich selbstverständlich rezipiert wird.“ Nach der langjährigen Aufbauarbeit hat Pro7Sat1 2022 den Rechtepoker verloren, RTL erntet jetzt die Früchte. Ab der kommenden Saison überträgt der Kölner Sender die NFL im frei empfangbaren Fernsehen. Der Frauenfußball hat die Nische verlassen Raus aus der Nische, rein in den Mainstream – daran arbeitet auch der Frauenfußball seit Jahren. 2022 könnte der Durchbruch gewesen sein. Das Finale der Europameisterschaft haben 18 Millionen Menschen gesehen – es war die Sendung mit der höchsten Quote überhaupt im vergangenen Jahr. Auch die Bundesliga profitiert davon. Es strömen mehr Menschen ins Stadion und ein neuer Vertrag für die Medienrechte bringt ab der Saison 2023/24 5,2 Millionen Euro pro Saison – 16 Mal so viel wie bisher. „Da sind wir in eine absolut neue Dimension vorgestoßen. Das heißt, es gibt deutlich mehr Geld für den Frauenfußball über die Lizenzerlöse, der den Vereinen direkt zukommt“, sagte dazu DFB-Präsident Bernd Neuendorf. Etwa 390.000 Euro erhält jeder Klub. DFB-Geschäftsführer Holger Blask bewertet das Verhandlungsergebnis als Vertrauensvorschuss:  „Wir sehen jetzt hier entsprechendes Engagement und auch ein großes wirtschaftliches Commitment. Ja, es ist eine Investition in die Zukunft, ehrlicherweise eine Großinvestition, die unsere Medienpartner machen, die natürlich entsprechend auch ein Stück weit den Schutz für diese Investition ihrerseits Rechte einfordern können.“ Bei Fans ungeliebte Spieltermine als Alleinstellungsmerkmal Dazu gehört auch, dass es Montagsspiele geben wird. Blask verteidigt die bei den Fans unbeliebte Entscheidung. „Da bietet sich hier als Alleinstellungsmerkmal der Montag, an dem es jetzt gar keine andere Fußball-Liga mehr gibt, extrem an. Vor allen Dingen, weil wir wissen, dass es ein seit 30 Jahren sehr gelebter und im Medienbereich sehr, sehr gut nachgefragt und auch in den Stadien damals gut nachgefragt.“ Alle 132 Partien laufen im Pay-Bereich über Magenta TV und DAZN, im Free-TV werden 32 Spiele bei ARD, ZDF und Sport 1 gezeigt. Und um die Sichtbarkeit zu steigern, könnte auch das nächste Großereignis helfen: Die WM im Sommer in Australien und Neuseeland.
Von Piet Kreuzer
Auf dem Sportrechtemarkt erzielt nur der Fußball hohe Erlöse. Andere Sportarten und auch der Frauenfußball müssen sich mit Bruchteilen dessen zufrieden geben. Mit Hilfe neuer Konzepte und moderner Technologien soll sich das jetzt ändern.
"2023-01-01T19:10:00+01:00"
"2023-01-02T14:10:19.073000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sportrechte-randsportarten-frauenfusball-100.html
90,842
Kein "Blatt für alte Lederjackenträger"
Ein Mann fotografiert zur der 20 Jahre Feier des Musik-Magazins "Rolling Stone" die erste Ausgabe. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen) Auch wenn die deutsche Ausgabe des Rolling Stone nicht an das US-Vorbild heranreicht, so hat sie doch auch Schlagzeilen gemacht. Nicht nur mit ihren Titelblättern, auf denen neben den Popmusik-Größen auch schon mal Kermit der Frosch zu sehen war. Sondern auch mit Alben von Prince oder Lambchop, die dem Heft gegen einen kleinen Aufpreis beigelegt waren. In den 80er-Jahren wurde ein kleiner Testballon einer deutschen Rolling Stone-Version steigen gelassen - doch regelmäßig gibt es das Heft seit 1994 zu kaufen. Auf dem Cover: ein goldfarbener Anzug von Elvis Presley und die fette Schlagzeile "Der Rock'n'Roll beginnt hier" - mit viel Tamtam und einer großen Portion Selbstbewusstsein startete die erste Ausgabe des deutschen Rolling Stone. 20 Jahre ist das her: Aus dem Radio tönte "Saturday Night" von Whigfield, vom digitalen Zeitalter war noch keine Spur und auch nicht von der Krise der gedruckten Zeitungen und Zeitschriften. Die Welt des Pop & Rock, der Journalismus und der Zeitgeist haben sich seit dem enorm gewandelt - und der deutsche Rolling Stone war dabei immer ein Chronist und Kompass. Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum an Chefredakteur Sebastian Zabel! Das vollständige Gespräch können Sie mindestens fünf Monate lang nachhören. Buchtipp:Arne Willander, Sebastian Zabel & Heiko Zwirner (Hrsg.): "Rolling Stone. Das Beste aus den ersten 20 Jahren"Metrolit Verlag. 336 Seiten, ISBN: 978-3-8493-0354-9. 30,00 Euro
Sebastian Zabel im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski
Ein beigelegtes Prince-Album, ein Yoko-Ono-Cover und gelegentlich eine exklusive Übernahme von den US-Kollegen: Immer wieder konnte der deutsche Rolling Stone am Zeitungsstand punkten. "In diesen zwanzig Jahren haben wir uns zur führenden deutschen Musikzeitschrift gemausert", sagt Chefredakteur Sebastian Zabel selbstbewusst im Corsogespräch.
"2014-10-27T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:10:32.674000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/20-jahre-deutscher-rolling-stone-kein-blatt-fuer-alte-100.html
90,843
Die Angst vor der Atombombe bleibt
Das neue Turteln zwischen Amerika und dem Iran würde der israelische Ministerpräsident Netanjahu am liebsten sofort stoppen. Er fliegt an diesem Wochenende mit dem Vorsatz in die USA, die Dinge aus israelischer Sicht zumindest zurechtzurücken. Netanjahu: "Der Iran denkt, dass er mit schönen Worten und symbolischem Handeln weiter nach der Atombombe greifen kann. Israel ist durchaus für eine echte diplomatische Lösung, die dem Iran die Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen nimmt. Aber wir lassen uns nicht mit halbseidenen Versprechen abspeisen, die nur vernebeln sollen. Und der Rest der Welt sollte sich davon genauso wenig an der Nase herumführen lassen." Israel fordert handfeste Zusagen von Rohani Dem Iran, so Netanjahu, gehe es einzig und allein darum, die internationalen Sanktionen abzuschütteln. Den Namen des neuen Präsidenten Hassan Rohani, der in New York Furore macht, erwähnt er dabei nicht. Das tut nur Netanjahus Minister für internationale Beziehungen, Yuval Steinitz. Und der fordert handfeste Zusagen von Rohani.Steinitz: "Seit seiner Wahl ist nicht eine einzige Uran-Zentrifuge gestoppt worden. Es gab keinen Stopp der Uran-Anreicherung, keinen Stopp bei Bau und Inbetriebnahme von Zentrifugen und keinen Stopp des militärischen Atomprogramms. Wir haben viel Blabla gehört aber keine einzige echte Zusage, keinen glaubwürdigen Schritt gesehen, mit dem eine der UN-Resolutionen erfüllt werden könnte."Vorerst verteidigt die Regierung in Jerusalem ihren Standpunkt, der sich so umschreiben lässt: Wir mögen mit unseren Warnungen vor der iranischen Atomgefahr allein in der Ecke stehen, aber wir sind eben auch nicht naiv, im Gegensatz zum Rest der Welt.Bei den Verhandlungen zwischen den fünf UN-Vetomächten samt Deutschland und dem Iran wird Israel nicht mit am Tisch sitzen – und fühlt sich gleichzeitig bedroht wie kein anderes Land vom Atomprogramm Irans. Immerhin ist es in New York nicht zum geplanten Handschlag zwischen Rohani und US-Präsident Obama gekommen. Aber in der israelischen Presse werden schon Parallelen zur Appeasement-Politik der 30er-Jahre gegenüber Nazi-Deutschland gezogen. Syriens Machthaber Assad macht Druck auf Israel Und gleichzeitig sieht sich Israel konfrontiert mit der Forderung, selbst den Abkommen zur Nichtverbreitung von Chemie- und Atomwaffen beizutreten. Rohani fordert das, genauso wie Syriens Präsident Assad. Der hat Oberwasser, weil Obama die militärische Karte nicht gezogen hat. Wer Stabilität in der Region wolle, so Assad im Interview mit einem russischen Fernsehsender, der müsse dafür sorgen, dass alle Länder sich an internationale Abkommen halten. Und Israel sei der erste Staat, der das tun müsse, weil Israel über Atom-Waffen verfüge genauso wie über chemische und biologische Kampfstoffe.Das kontert der israelische Minister Steinitz mit dem Hinweis, das Problem in der Region sei nicht Israels Weigerung, internationalen Abkommen beizutreten, das Problem seien vielmehr diejenigen Staaten, die zwar unterschrieben haben, aber gegen Abkommen verstoßen. Überhaupt habe Israel keinem anderen Land mit Vernichtung gedroht – im Gegensatz zu Iran.Was Israel außerdem beschäftigt, ist die Verknüpfung der beiden Probleme Atomprogramm und Nahostkonflikt. Jedenfalls ist Obamas Rede vor der UN-Generalversammlung in Israel entsprechend verstanden worden. Wohnungsbauminister Uri Ariel von der Siedlerpartei Habait Hayehudi will sich jedenfalls von Obama nicht zu Zugeständnissen an die Palästinenser zwingen lassen."Die USA sagen das schon seit Jahren und seit Jahren liegen sie damit falsch. Die Verknüpfung der iranischen Atomwaffen mit dieser Angelegenheit ist ein entsetzlicher Fehler; das zeugt von Unverständnis. Aus unserer Sicht hat der Ministerpräsident schon alles gesagt: Wenn nicht ich für mich bin, wer ist es dann?"
Von Christian Wagner
Kein Land fühlt sich vom iranischen Atomprogramm so bedroht wie Israel. Enstrechend skeptisch fallen die Reaktionen auf die Annäherung zwischen Washington und Teheran aus. Premier Netanjahu befürchtet eine Vernebelungstaktik - und Israels Presse zieht einen Vergleich zur Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland.
"2013-09-28T13:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:37:47.424000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-angst-vor-der-atombombe-bleibt-100.html
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Lebensinhalt Improvisation
Für Florian Weber ist Musik seine "letzte und wichtigste Lebensberaterin" (Christoph Bombart) Als Sohn eines Musikprofessors und einer Opernsängerin wurde er 1977 in Detmold geboren und saß schon mit vier Jahren auf dem Klavierstuhl. Zuerst studierte Florian Weber Mathematik, Physik und Biologie, dann Jazzklavier in Köln. Es folgten Projekte mit Pat Metheny, Albert Mangelsdorff, Michael Brecker und vor allem Markus Stockhausen. Mit dem Ensemble Modern, der so genannten "letzten Band Franz Zappas", will Florian Weber sich in diesem Jahr auf sein nächstes musikalisches Abenteuer einlassen. Der Steinway Preis und der Echo Jazz unterstreichen die Bedeutung des Musikers, dem ein "alles verzehrender Musikappetit" nachgesagt wird. Musik-Laufplan Titel: Dawn chorusLänge: 05:23Interpret: Thom YorkeKomponist: Thom YorkeLabel: XL RECORDINGSPlattentitel: AnimaTitel: Kind of gentleLänge: 04:42Interpret: Kenny WheelerKomponist: Kenny WheelerLabel: ECM-RecordsBest.-Nr: 533098-2Plattentitel: Angel song :rarum Selected Recordings, Vol. 5Titel: Dollar daysLänge: 04:44Interpret: David BowieKomponist: David BowieLabel: COLUMBIABest.-Nr: 88875173862Plattentitel: BlackstarTitel: Possibility 1Länge: 01:50Interpret: Markus Stockhausen & Florian WeberKomponist: Florian WeberLabel: ECM-RecordsBest.-Nr: ECM2477Plattentitel: AlbaTitel: Listening windLänge: 04:22Interpret: Peter GabrielKomponist: David Byrne, Brian Eno, Chris Frantz, Jerry Harrison, Tina WeymouthLabel: VirginBest.-Nr: I1911210Plattentitel: Scratch my backTitel: From Cousteau's point of viewLänge: 05:37Interpret: Florian WeberKomponist: Florian WeberLabel: ECM-RecordsBest.-Nr: ECM2593Plattentitel: Lucent watersTitel: Cry, wantLänge: 05:08Interpret: Jimmy Giuffre (cl)Komponist: James Peter "Jimmy" GiuffreLabel: ECM-RecordsBest.-Nr: 849644-2Plattentitel: Jimmy Giuffre 3, 1961 (Fusion - Thesis)Titel: Sechs Bagatellen für Streichquartett, op. 9, Nr. 1: MäßigNr. 2: Leicht bewegtNr. 3: Ziemlich fließendNr. 4: Sehr langsamNr. 5: Äußerst langsamNr. 6: FließendLänge: 04:15Ensemble: Juilliard String QuartetKomponist: Anton WebernLabel: CBSBest.-Nr: SM 3 K 45845Titel: Get whiteyLänge: 07:01Ensemble: Ensemble ModernDirigent: Peter RundelKomponist: Frank ZappaLabel: RYKODISCBest.-Nr: RCD40560
null
Heute ist er ein preisgekrönter Musiker, aber nach seinem Studium lebte Florian Weber auf der Straße und übte heimlich in der Kölner Musikhochschule. Dann fing er an, nach Hilfe zu suchen - in der Musik.
"2020-05-30T10:05:00+02:00"
"2020-04-28T09:02:31.891000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-jazzpianist-florian-weber-lebensinhalt-improvisation-102.html
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Abschwung
Europa hat im Kampf gegen die Schulden- und Wirtschaftskrise einen Rückschlag erlitten. Das ist die zentrale Botschaft der gut 160 Seiten an Analysten und Statistiken, die heute Währungskommissar Olli Rehn präsentierte. Denn die Kommission hat ihre Wachstumsprognosen noch einmal leicht nach unten korrigiert – erst 2014, so Rehn, sei mit einer Besserung der Lage zu rechnen:"Die Wirtschaft wird in diesem Jahr in der EU als Ganzes um 0,1 Prozent und in der Eurozone um 0,4 Prozent schrumpfen. Für 2014 erwarten wir dagegen ein Wachstum von 1,4 Prozent in der gesamten EU und von 1,2 Prozent in der Eurozone."Doch die nationalen Unterschiede innerhalb der Europäischen Union sind gewaltig und werden sich auch in diesem Jahr weiter vertiefen. Deutschland wird 2013 ein Wachstum von 0,4 Prozent erreichen, die zyprische Wirtschaft dagegen dürfte laut Frühjahrsgutachten der Kommission um fast 13 Prozent abstürzen.Ähnlich dramatisch auch die Zahlen und Prognosen für den Arbeitsmarkt. Österreich und Deutschland beispielsweise können ihre Arbeitslosenquoten bei rund 5 Prozent stabilisieren; Griechenland und Spanien leiden weiterhin unter Arbeitslosenquoten von 27 Prozent. Das Fatale dabei: auch im kommenden Jahr ist nicht mit einer substanziellen Verbesserung auf den südeuropäischen Arbeitsmärkten zu rechnen, da die wirtschaftliche Erholung zu schwach ausfällt und ohnehin erst zeitverzögert zu wirken beginnt. Notwendig, so Rehn sei deshalb auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik: "Angesichts der schleppenden wirtschaftlichen Erholung werden deshalb auch viele Länder erneut die Defizitvorgaben verfehlen. Frankreich, etwa, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, wird in diesem Jahr die Dreiprozentlatte klar reißen, aber auch 2014 – so zumindest die Erwartung der Kommission. Dennoch signalisierte Rehn Paris heute Entgegenkommen."So müsse Frankreich seine strukturellen Reformen weiter vorantreiben, insbesondere bei den Sozialsystemen und auf dem Arbeitsmarkt, um so die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Aber auch andere Länder können auf mehr Zeit hoffen: Das rezessionsgeplagte Spanien etwa, dessen Defizit in diesem Jahr bei 6,5 Prozent erwartet wird, soll eine Fristverlängerung bis 2016 erhalten. Und Italien, derzeit noch im Defizitverfahren, muss wohl nicht mit möglichen Strafen rechnen, obwohl dort die Staatsverschuldung mehr als doppelt so hoch ist wie erlaubt. Überhaupt vermied es Rehn heute, mit möglichen Sanktionen zu drohen – die seit der Verschärfung des Stabilitätspaktes schneller verhängt werden können. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Europa ist die Kommission eher zu Zugeständnissen bereit.Mehr zum Thema:Trübe Wirtschaftsaussichten in der Eurozone - EU-Kommission stellt Frühjahrsprognose vor
Von Jörg Münchenberg
In Sachen Wirtschaftswachstum kommt Europa nicht voran. Nach Einschätzung der EU-Kommission lässt der Aufschwung auf sich warten – die Unterschiede zwischen Nord und Süd vergrößern sich.
"2013-05-03T17:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:16:47.968000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/abschwung-100.html
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"Mehrwertsteuer für die Klimavorsorge einsetzen"
"Wir haben eine Wohlstandslüge zu verkraften" - Klaus Töpfer, früher Bundesumweltminister (picture alliance/dpa/Ulrich Baumgarten) Philipp May: Sie tagen wieder, mal wieder zur Rettung des Klimas, diesmal in New York bei den Vereinten Nationen. "Wir befinden uns im Krieg mit der Natur", unterstrich vorab schon UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Dringlichkeit. Greta Thunberg, die schwedische Aktivistin, ist dabei. Sie hat sich dafür ja extra medienwirksam nach New York segeln lassen. Und auch die Kanzlerin ist mit mehreren Ministern und mehreren Regierungsmaschinen eingeflogen, was im Vorfeld für ein wenig Aufregung in Zeiten der Flugscham sorgte. Vor einer halben Stunde konnten wir Klaus Töpfer erreichen, den langjährigen Umweltminister unter Helmut Kohl, und er war auch lange Leiter des UN-Umweltprogramms. – Schönen guten Morgen, Herr Töpfer! Klaus Töpfer: Einen schönen guten Morgen, Herr May! May: Eine UN-Klimakonferenz ohne Trump und ohne Bolsonaro. Kann man das nicht auch einfach lassen? Töpfer: Das sollte man nicht lassen. Das sollte man den beiden Herren vorführen, wie bedeutsam es ist, auch in diesen Zeiten multilateral, über die nationalen Grenzen hinaus zu denken und zu handeln. "Müssen vor allen Dingen auch international handeln" May: Jetzt sagt der UN-Generalsekretär Antonio Guterres, er will konkrete Taten sehen. Und auch die Kritik von Fridays for Future besteht darin, dass es nicht an vielen schönen Reden und Absichtserklärungen mangelt, aber an Action. Kann es überhaupt Action geben ohne die beiden? Töpfer: Ich glaube, auch das kann man nur mit Ja beantworten. Ganz im Gegenteil! Es muss jetzt gezeigt werden, dass es nicht so etwas wie eine Geiselhaft für alle anderen Staaten gibt, die dann nicht mehr handeln können, wenn die beiden sich oder vielleicht noch der zweite und dritte oder vierte dazugesellen, wenn die nicht mitmachen. Nein, wir können natürlich handeln. Wir müssen zuhause handeln. Das ist das eine Paket, das ja im Augenblick in Deutschland intensiv diskutiert wird. Und wir müssen vor allen Dingen auch international handeln, denn das Klimaproblem ist ein globales Problem und viele Entwicklungsländer brauchen dringlich wirtschaftliche Entwicklung und damit Energie, und damit ist es wichtig, dass wir Techniken bereitstellen können und sie auch mit fördern, die anderen das wirtschaftliche Wachstum ohne Klimaprobleme ermöglicht. May: Welche konkreten Taten erwarten Sie denn von diesem Gipfel in New York? Töpfer: Man wird ganz sicherlich gerade auch von den Entwicklungsländern – ich nenne sie mal noch so -, vornehmlich von Afrika, aber auch von vielen Staaten in Südamerika fragen, wie die Beschlüsse von Paris umgesetzt werden. Mit dem 100 Milliarden Programm zum Beispiel ist das im Ansatz zumindest jetzt in Angriff genommen. May: Wenn Sie von 100 Milliarden Euro sprechen, dann meinen Sie, nur noch mal für unsere Hörer zur Klärung, den 100 Milliarden Euro Klimafonds, den die Industrieländer eigentlich den Entwicklungsländern bis zum Ende des Jahrzehnts versprochen haben, um auch da die Umstellung auf erneuerbare Energien zu forcieren, und auch, um die Auswirkungen des Klimawandels abzufedern. Der ist immer noch nicht voll. Was sagt das aus? Töpfer: Das sagt aus, dass man offenbar große Probleme kriegen wird, andere an der Stange zu halten. Ich bin sehr besorgt darüber, dass wir diese Dimension auch bei uns in unseren Diskussionen zuhause etwas sehr, sehr kurz kommen lassen, und bin eigentlich darüber erfreut, dass es uns gelungen ist, gerade auch durch die massiv hohen Strompreise in Deutschland, die ja so hoch sind, weil wir die Förderung der erneuerbaren Energien von Sonne und Wind mit fördern, dass wir diese nicht hinreichend weiterführen. Das wäre ein ganz, ganz negatives Beispiel. Klimapaket muss dynamisch weiterentwickelt werden May: Herr Töpfer, heute stellt die Bundeskanzlerin das Klimakonzept der Bundesregierung in New York vor. Stellt sie sich damit wirklich wieder an die Spitze der Klimaretter, oder blamiert sie sich damit vor Greta Thunbergs Augen? Töpfer: Machen wir uns nichts vor: Unser Klimapaket, das da verabschiedet worden ist, ist in keiner Weise in der Lage, die Einsparungen von 55 Prozent bis 2030 in Deutschland zu erreichen. Ich glaube, das wäre eine Illusion, der man sich nicht hingeben darf. Dass das dynamisch weiterentwickelt werden muss, ist ganz eindeutig. Wir müssen auch sehen, dass an vielen Stellen wir bedeutsame Dinge nicht gemacht haben. Sehen Sie, warum kommen wir nicht auf die Idee, dass wir, was wir gerade besprochen haben, aus dem Strompreis die Erneuerbare-Energien-Abgabe rausziehen und sie alle Energieverbraucher zahlen lassen und nicht nur die Stromkunden. Es passt doch nicht zusammen, dass am selben Tag gemeldet wird, der Strompreis ist auf eine neue Rekordhöhe von über 31 Eurocent gestiegen, und gleichzeitig gesagt wird, aber die erneuerbaren Energien sind jetzt so preiswert, wie sie es noch nie waren. Das geht nicht miteinander zusammen. May: Was hätten Sie sich denn gewünscht von der Bundesregierung? Töpfer: Ich hätte mir zum Beispiel eine klare Überprüfung gewünscht der bestehenden Energiebesteuerung. Sehen Sie, wir haben gegenwärtig in Deutschland pro Jahr etwa 70, 80 Milliarden Energiesteuern. Alle diese sind völlig klimablind entstanden. Ich habe das gerade mit der Erneuerbaren-Energien-Umlage versucht deutlich zu machen. Warum gehen wir nicht durch und sagen, wir machen diese 80 Milliarden jetzt wirklich konkret bezogen auf den CO2-Preis. Dann hätten wir an vielen Stellen die Diskussion etwas verbreitert, anstatt sie so zu verengen, dass wir sagen, alles das hängt davon ab, wie die Abgabepreise jetzt sind, und wir sehen, dass das im europäischen Emissionshandel auch durchaus ein sinnvolles Ding gewesen ist, denn der ist in der Zwischenzeit pro Tonne auf 25 Euro gestiegen, ohne dass jemand das als in ganz besonderer Weise belastend für Wirtschaft oder Verbraucher gesehen hat. May: Jetzt hat sich aber gerade Ihre Partei, die Union gegen höhere Steuern, gegen überhaupt eine stärkere Besteuerung ausgesprochen und das auch verhindert. Wie enttäuscht sind Sie von Ihrer eigenen Partei? Töpfer: Ja, ich bin vor allen Dingen enttäuscht, weil wir nicht die naheliegende Aufgabe machen, die vorhandenen Steuern noch mal zu sehen, ob sie sinnvoll eingesetzt werden. Ich kann den Bürgern nur schwer erklären, dass sie neue Steuern zahlen, wenn nicht gesagt wird, die alten werden wie folgt genutzt. Und wir haben Energiesteuern. Wir nutzen ganz vorsichtig jetzt auch die Mehrwertsteuer etwa bei den Bahntickets, hoffen wir jedenfalls, dass das kommt, und das könnte man doch durchgehend machen. Diese Zweiteilung der Mehrwertsteuer ist bisher unter dem Gesichtspunkt der lebensnotwendigen Güter vornehmlich gesehen worden. Gucken Sie sich mal an, was daraus geworden ist. Man könnte und müsste sie wirklich stromlinienförmig auch und gerade im Sinne der Klimavorsorge einsetzen. Das ist eine unmittelbare Beeinflussung von Preisen und damit eine sehr wirksame Möglichkeit, wenn denn die Preise so eine Rolle spielen sollen. "Jetzt ist auch die Union in die Gänge gekommen" May: Sie sagen, das ist alles naheliegend. Ich frage noch mal: Wieso sieht dieses Naheliegende in der Union keiner? Töpfer: Zunächst einmal kann man ja nicht übersehen, dass auch die Union jetzt in die Gänge gekommen ist, dass wir sehen, dass so etwas wie eine Bepreisung nicht mehr von vornherein abgelehnt wird. May: Sie sehen auch diesen Paradigmenwechsel, von dem Angela Merkel spricht? Töpfer: Ich sehe ihn nicht, aber ich erwarte ihn, dass er wirklich jetzt durchgesetzt wird. May: Wann kommt er denn? Töpfer: Ach wissen Sie, ich habe schon eins gelernt: Das schlimmste was Du machen kannst ist, Aussagen über die Zukunft zu machen, weil es meistens anders läuft, als Du es glaubst. May: Läuft es meistens schlechter? Töpfer: Ja, meistens gibt es einen eigenen Verstärkungseffekt. Das haben wir bei den erneuerbaren Energien gesehen. Wenn Sie vor fünf, sechs Jahren gesagt hätten, der Preis liege jetzt bei Solar pro Kilowattstunde unter fünf Eurocent, hätte jeder gesagt, das ist ein Traumtänzer. Er ist darunter und er wird weiter runtergehen, und das ist für die Welt massiv wichtig und für uns natürlich auch. May: Wir sind jetzt wieder beim großen Ganzen, beim Globalen. Was sagt das denn über den globalen Klimaschutz aus, wenn das, was die Bundesregierung beschlossen hat, was nach Ihrer Ansicht, nach Ansicht der überwiegenden Anzahl der Experten sowieso viel zu wenig ist, um die Einsparziele für CO2-Emissionen zu erreichen, auf internationaler Bühne und jetzt auch in New York wahrscheinlich für Schulterklopfer sorgen wird? Töpfer: Es sagt ganz sicher nicht, dass wir die Dynamik der Klimapolitik in die Welt hinauszutragen haben, aber bei uns machen. Zeigen, dass eine wirtschaftlich stabile und wirklich leistungsfähige Gesellschaft in der Lage ist, diesen Wohlstand oder diese Vorstellung von Stabilität in der Wirtschaft auch zu realisieren, ohne dass wir fossile Energien nutzen, indem wir mit diesen neuen Möglichkeiten wieder neue Arbeitsplätze schaffen, neue wirtschaftliche Entwicklungen haben, die nicht zu Lasten des Klimas gehen und zu Lasten anderer. Bisher haben wir eine Wohlstandslüge zu verkraften und zu erklären. Wir leben über unsere Verhältnisse, weil wir Kosten unseres Wohlstands abwälzen auf die Zukunft oder auf andere Menschen in dieser Welt. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus Töpfer im Gespräch mit Philipp May
Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) zeigt sich enttäuscht vom Klimapaket der Bundesregierung. Damit könne man die geforderten CO2-Einsparungen bis 2030 niemals erreichen, sagte Töpfer im Dlf. Vielmehr müssten vorhandene Steuern besser dafür genutzt werden. Sie seien zum Teil "klimablind" entstanden.
"2019-09-23T07:15:00+02:00"
"2020-01-26T23:11:36.551000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klaus-toepfer-mehrwertsteuer-fuer-die-klimavorsorge-100.html
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Alte Steuerungen fit machen für Industrie 4.0
Montage und Handhabung an einem Messestand auf der Automatica 2018 (Messe München / Thomas Plettenberg) Arndt Reuning Peter Welchering, welche Folgen kann denn ein Hacker-Angriff auf eine digitale Fabrik haben? Peter Welchering Die Roboter können verrückt spielen und das Fließband zerschlagen. Pumpen können Leitungen zum Platzen bringen und die Fabrik mit Öl oder Wasser fluten. Oder etwas harmloser: Die Steuerplatinen, sozusagen die Mini-Gehirne der Maschinen, Roboter,Pumpen werden einfach abgeschaltet, und die Produktion steht still. Reuning Wo liegen denn bisher die Schwachpunkte, die Hacker für einen Angriff auf die digitale Fabrik ausnutzen? Welchering Da gibt es viele Angriffsmethoden, aber die lassen sich alle im Prinzip auf zwei Punkte zurückführen, nämlich die verbauten Kommunikationskanäle und die verbauten Steuerungsplatinen bzw. Industriesteuerungen. Bei den Kommunikationskanälen hat man in Sachen Sicherheit in der Vergangenheit sehr stark, sogar etwas einseitig auf Verschlüsselung gesetzt. Viel zu oft wurde übrigens überhaupt nicht verschlüsselt. Jetzt kommt ein Berechtigungsmanagement mit Zertifizierungen und genauer Kontrolle, wer welche Befehle geben darf, wer welche Daten wohin schicken oder auch empfangen darf. Vor 40 Jahren war Digitalisierung noch nicht absehbar Reuning Die andere Schwachstelle sind die Industriesteuerungen. Wieso konnten die in der Vergangenheit so erfolgreich angegriffen werden? Welchering Das ist sozusagen ein Konstruktionsmangel. Industriesteuerungen sind sehr langlebig. Sie werden über 20, 30, 40 Jahre eingesetzt. Und vor 30 bis 40 Jahren hat niemand daran gedacht, dass eine Industriesteuerung mit Robotern, Smartphones oder Werkzeugmaschinen vernetzt sein würde. Deshalb wurden diese Industriesteuerungen zwar davor geschützt, dass in der Fabrikhalle jemand unbefugt auf sie zugreifen kann. Aber Sicherheitsmodule in Sachen Vernetzung waren damals unbekannt. Nach den ersten großen Hacks auf Industriesteuerungen vor 15 Jahren sind diese Vernetzungsmodule dann nachgerüstet worden in Sachen Sicherheit. Das ist im Wesentlichen auch über die Absicherung des Zugriffs passiert. Und das war nicht sehr erfolgreich. Das Zugriffskonzept in Sachen Sicherheit für Industriesteuerungen ändert man jetzt und schaut sich stattdessen die Muster in der Datenübertragung von und zu den Industriesteuerungen an. Wir haben es hier also mit klassischer Mustererkennung zu tun. Reuning Wie wird da nach Mustern gesucht? Welchering Wie bei allen digitalen Angriffen laufen auch Angriffe auf Industriesteuerungen nach bestimmten Mustern ab. Eine Monitoring-Software kontrolliert den Datenaustausch, also welche Daten werden in welcher Abfolge wann an welche Empfänger geschickt. In welcher Abfolge kommen Daten für Steuerungsbefehle, in welcher Abfolge kommen sogenannte Parameterdaten, die zum Beispiel festlegen, wie stark der Druck bei einer Pumpe erhöhte werden darf. Die Sicherheitskontrolle findet somit nicht mehr auf den Industriesteuerungen statt, sondern im Datenkanal. Das setzt einen einheitlichen Kommunikationsstandard voraus. Der heißt OPC-UA und ist heute hier in München vorgestellt worden. Dieser Standard ist also endlich verabschiedet worden. Monitoring-Software bemerkt Auffälligkeiten Reuning Wie wird solch ein Muster dann konkret erkannt? Welchering Da geht zum Beispiel der Befehl an eine Steuerungsplatine oder Industriesteuerung: Schick mir deinen Wartungsdatensatz. Aus solchen Daten können viele Eigenschaften einer Industriesteuerung erkannt werden. Danach werden Daten verschickt, die den zulässigen der Druck einer Hydraulikpumpe z.B. um Faktor 30 erhöhen. In der Folge kommen dann Steuerungsdaten für bestimmte Ventilstellungen. Das ist solche ein Angriffsmuster. Das erkennt die Monitoring-Software und schlägt Alarm. Eine Analyse-Software kontrolliert dann, woher die Daten kamen, welches Auftragskonzept dahintersteckte und kann so einen vorsätzlichen Angriff oder einen fahrlässigen Mitarbeiterfehler oder einen Systemfehler erkennen. Reuning Steigt dadurch der Überwachungsaufwand nicht massiv an? Welchering Das tut er, aber das kann automatisiert abgewickelt werden. Dahinter steckt das Konzept, die Datenkommunikation im Internet der Dinge, also bei Industrie-4.0-Anwendungen nicht nur hinsichtlich der Berechtigungen, Zertifikate und Verschlüsselungen zu überwachen, sondern im Datenfluss nach Mustern zu suchen, die auf einen Angriff hinweisen. Diese Muster werden vom Sicherheitssystem ständig gelernt. Es sind also keine statischen Muster. Letztlich beruht das auf der Wahrscheinlichkeitsberechnung: Wie hoch ist der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Datenmuster oder Verhaltensmuster bei der Datenübertragung sich zu einem Angriffsmuster und in der Folge zu einem wirklichen Angriff auf die Industriesteuerung verdichtet? Sicherheitsinstanz im Kommunikationskanal Reuning Ist das denn noch reine Zukunftsmusik? Oder wird das schon in den Fabriken gemacht? Welchering Hier auf der Automatica werden fertige Fabriklösungen gezeigt. Das heißt, das sind nicht nur Laborlösungen, die gibt es auch, sondern das sind Lösungen, die auch schon in Fabriken implementiert sind, allerdings noch in ausgewählten Pilotprojekten. Bei Gesprächen heute Morgen auf einer Presskonferenz, da habe ich so ein bisschen mitbekommen, dass einige Sicherheitsbeauftragte mit dieser Verlagerung der Sicherheitsinstanz in den Kommunikationskanal noch etwas fremdeln. Sie trauen der Wahrscheinlichkeitsberechnung, mit der die Verhaltensmuster im Datenkanal für eine Angriffsprognose berechnet werden, noch nicht so recht. Da wird zum Beispiel befürchtet, dass es zu häufig Fehlalarme geben könnte und dann die Produktion stillsteht. Reuning Gibt es denn schon Erfahrungen mit Fehlalarmen? Welchering Die gibt es in Pilotprojekten und im Labor. Und da zeigt sich, dass durch dieses mehrstufige Prüf- und Abwehrverfahren, Produktionsstillstände nicht vorgekommen sind. Wird ein Angriffsmuster erkannt, wird ja nicht einfach die Industriesteuerung abgeschaltet. Die Angriffsdaten werden abgefangen und weiter analysiert. Die Industriesteuerung erhält die nötigen Produktionsdaten in einem abgesicherten Modus über einen Ersatzkanal. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Welchering im Gespräch mit Arndt Reuning
In der Fabrik 4.0 kommunizieren Roboter mit Poliermaschinen, Werkstücke senden ihre Position per Datenfunk. Diese Vernetzung stellt hohe Sicherheitsansprüche. Hackerangriffe sind möglich. Dagegen einseitig auf Verschlüsselung zu setzen, sei zu wenig, sagte Technikjournalist Peter Welchering im Dlf.
"2018-06-19T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T17:57:53.221000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/automatica-messe-alte-steuerungen-fit-machen-fuer-industrie-100.html
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Was kommt nach der Natur?
Detail aus der Ausstellung "Nach der Natur" von Janet Laurence (Peter Backof) Janet Laurence: "Auch in Australien ist die Eule ein mythischer Vogel. Sie schaut dich an: Die Augen sind vorne! Wie bei uns. Das verbindet sie mit uns." Dieter Sturma: "Wenn die Eule ihren Flug in der Dämmerung beginnt, dann ist die Zeit der philosophischen Reflexion angebrochen."Janet Laurence: "Und wenn sie verschwindet, dann ist das fast schon ein Symbol für das Artensterben und den Klimawandel." Eulen starren dich an Mit Janet Laurence und Dieter Sturma im Festsaal des Museums König. Ausgestopfte Eulen starren einen an, Teil der Installation "Nach der Natur – Dem Gefährdeten und Verschwindenden" gewidmet. Eine sechzig Kubikmeter große Konstruktion aus Plexiglas-Würfeln ist der 3-D-Rahmen für Dutzende von Eulenarten. Einige davon sind bereits ausgestorben. Janet Laurence hat sie aus dem Museumsarchiv geholt und beschert ihnen ein Nachleben. In einem Kubus ist ein Elefantenskelett zerlegt zu sehen, daneben Papageienarten wie Sardinen in einer Dose dahin drapiert, als sollte man sie essen. Ein schaurig-schönes Gewusel aus Ausgestopftem und Untotem. Dieter Sturma: "Das ist eine düstere Botschaft, die als erstes rüber kommt, aber das ist eben auch die Regel der Natur: Entstehen und Vergehen gehen Hand in Hand", ordnet Dieter Sturma ein, Professor für Ethik in den Biowissenschaften und Kurator von "Nach der Natur". "Arten sind immer verschwunden, Artensterben ist etwas Natürliches. Aber die Art und Weise, wie das jetzt destruktiv vollzogen wird, das ist neu. Und vor allem: Unsere Destruktion sorgt ja auch dafür, dass sich keine neuen Arten entwickeln." Wir brauchen Hoffnung Monokulturen, Raubbau an der Natur. Und der Klimawandel. Das Zeitalter der menschgemachten Zerstörung hat mächtig Fahrt aufgenommen und Prozesse scheinen unumkehrbar zu sein. Es ist fünf nach zwölf: Gibt es noch Gründe, nicht pessimistisch zu sein? Janet Laurence: "Tja, vernünftig gedacht: Nein! Aber das Gefühl sagt: Wir brauchen Hoffnung, sonst kommen wir nicht ins Handeln. Unser Feind sind wir selbst! Die Natur des Menschen, der immer weiter an wirtschaftliches Wachstum und Fortschritt glaubt." Janet Laurence, 72 Jahre alt, ist eine Künstlerin mit Mission. In ihrer Heimat Australien und in Japan sehr bekannt, installiert sie gerne im Rahmenprogramm globaler Foren. Etwa beim Weltklimagipfel in Paris, 2015. In Deutschland hat sie unlängst in Berlin ausgestellt: Da konnte man - auch in so einer durchscheinenden Plexiglas-Ästhetik - ins Innere von Blumen schauen. Es geht ihr um mehr als das Illustrieren von Natur und ihrer Zerstörung - auch im Festsaal des Museums König: "Hier in diesen kleinen Flakons sind kleine Äste, blattvergoldet. Mit Betroffenheit, Klimaangst und Flugscham kommen wir ja nicht weiter. Wir müssen jetzt mithilfe der Wissenschaften intervenieren und uns um die Natur kümmern. Das hat auch etwas mit Hoffnung zu tun. Und macht ein besseres Gefühl als sich hinzusetzen und auf das Desaster zu warten." Poetisches Rettungskommando "Natürlich, auch in Australien haben wir 'Fridays for Future', die Gruppe 'Extinction Rebellion' zum Beispiel, mit Schulkindern auf der Straße. Wir sollten ihnen zuhören. Und ich? Suche mit meiner Kunst nach emotionalen Wegen, die Hoffnung zu kommunizieren ..." ... indem sie Eulen, Papageien, Käfer und andere präparierte Tiere in der Installation mit Tinkturen und Substanzen in unzähligen Glasbehältnissen versorgt, eine Art poetisches Rettungskommando. Ist das naive Kunst. Ist das naiv? Nein, sagt schließlich auch Bioethiker Dieter Sturma. Denn was bleibt einem denn sonst, als Bäume der Hoffnung anzupflanzen? Dieter Sturma: "Das ist das Ziel der Ausstellung, die Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Wir tun eben so viele Dinge unnötig und unnütz. Produktion von Müll. Er fällt einem auf die Füße. Da kommt jetzt Naturästhetik und Ethik zusammen: Weil uns das interessiert, wie man diese Lücke überbrücken kann, zwischen dem Wissen, das wir eigentlich haben und unserem Handeln."
Von Peter Backof
In der Installation "Nach der Natur" zeigt die australische Künstlerin Janet Laurence ein schaurig-schönes Gewusel aus ausgestopften und ausgestorbenen Tieren. Es ist fünf nach zwölf: Der Planet Erde ist im Würgegriff des Menschen und wird nachhaltig ausgebeutet. Oder gibt es noch Hoffnung?
"2019-08-14T15:05:00+02:00"
"2020-01-26T23:06:02.802000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kuenstlerin-janet-laurence-was-kommt-nach-der-natur-100.html
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"Kiew hat noch nie Absprachen eingehalten"
Russlands Präsident Wladimir Putin erklärt die Ergebnisse des Ukraine-Krisengipfels in Minsk. (AFP / Alexander Zemlianichenko) Russlands Präsident Wladimir Putin wirkte zufrieden, als er am Morgen in Minsk als Erster vor die Presse trat: "Dies war nicht die beste Nacht meines Lebens. Aber der Morgen ist gut. Denn wir haben es trotz aller Schwierigkeiten geschafft, uns auf das Wichtigste zu einigen." In Moskau ließ Parlamentspräsident Sergej Naryschkin keinen Zweifel daran, wer aus russischer Sicht in Minsk einlenken musste: "Frankreich, Deutschland und Russland ist es gelungen, Präsident Poroschenko davon zu überzeugen, endlich einen friedlichen Weg zur Lösung dieses heftigen Konfliktes einzuschlagen." "Man muss da sehr wachsam sein" Insgesamt fielen die Reaktionen in Moskau verhalten positiv aus. Politiker aller Parteien sagten, die Einigung könne nur ein erster Schritt sein. Nun komme es darauf an, dass die Vereinbarungen auch umgesetzt würden. Und da, so heißt es in Moskau völlig einseitig, sei zu befürchten, dass die ukrainische Seite nicht mitmache. Der Fraktionschef der Kommunisten in der Staatsduma, Gennadij Zjuganow: "Man muss da sehr wachsam sein. Letztes Mal haben sie ihre Waffen abgezogen, sich dann aber neu bewaffnet, neue Truppen geholt und auf Befehl Bidens und der CIA auf ganzer Linie das Feuer eröffnet. Das darf nicht noch mal passieren." Der Rechtspopulist Wladimir Schirinowskij von den sogenannten Liberaldemokraten legte noch einen drauf: "Kiew hat noch nie irgendwelche Absprachen eingehalten. Das war schon 1991 so und in der Sowjetunion und unter dem Zaren. Das ist ein zu Verträgen unfähiges Wesen. Ich erinnere mich noch an einen ukrainischen Mitschüler. Ich ging elf Jahre mit ihm zur Schule, er hat auch nie getan, worum wir ihn baten." Hoffnung, von weiteren Sanktionen verschont zu bleiben Diese Äußerung Schirinowskijs wurde heute im russischen Staatsfernsehen gleich mehrfach ausgestrahlt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in der Staatsduma, Aleksej Puschkow, äußerte die Hoffnung, dass Russland nach der Übereinkunft von Minsk von weiteren Sanktionen der EU verschont bleibe: "Es wäre sehr kontraproduktiv, wenn die EU jetzt, nachdem Russland an den Verhandlungen teilgenommen hat, eine neue Stufe der Wirtschaftssanktionen beschlösse. Das wäre ein harter Schlag für die Aussichten auf Frieden in der Ukraine. Statt Russland zu motivieren, sich maximal für Frieden einzusetzen, würde es Russland demotivieren." Der Abgeordnete Puschkow fordert nun erneut, dass die USA von möglichen Waffenlieferungen an die Ukraine absehen. Russland das dieses Vorhaben schon im Vorfeld scharf kritisiert. "Ich setze darauf, dass die europäischen Verbündeten der USA Barack Obama jetzt sagen, dass sie meinen, dass in nächster Perspektive politische Bedingungen geschaffen sind, die es ausschließen, amerikanisches Fluggerät in die Ukraine zu schicken. Es gibt eine Übereinkunft, sie ist unterschrieben, Kiew hat sie akzeptiert – wenn die USA jetzt noch Waffen liefern, ist das unlogisch und lässt die USA komplett dumm aussehen."
Von Gesine Dornblüth
Die Vereinbarung von Minsk wird auch in Russland verhalten positiv aufgenommen. Hier hofft man, nun von weiteren Sanktionen verschont zu bleiben - und schürt kräftig Misstrauen gegen die Ukraine.
"2015-02-12T18:20:00+01:00"
"2020-01-30T12:21:39.463000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-verhandlungen-kiew-hat-noch-nie-absprachen-100.html
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Wohnungsbau soll Markt entspannen
Besonders in Ballungszentren ist der Bedarf an Wohnungen gestiegen (dpa / picture-alliance / Armin Weigel) Barbara Hendricks (SPD), Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, rief das Bündnis mit Wohnungs-, Bau- und Immobilienwirtschaft sowie Vertretern von Mieterbund, Länder und Kommunen ins Leben. Angesichts steigender Mieten soll eine Offensive für den Wohnungsbau in Deutschland starten. Das Bündnis habe die drängende Aufgabe, die Bautätigkeit in Ballungsräumen zu stärken. "Wir brauchen mehr Wohnraum, der bezahlbar ist und sozialen, demografischen und energetischen Anforderungen entspricht", sagte Hendricks. Sie wies auf die Bedeutung einer zielgerichteten sozialen Wohnraumförderung und einer besseren Unterstützung einkommensschwächerer Haushalte bei den Wohnkosten hin. Zahl der Sozialwohnungen sinkt Der Wohnungsbau sei wichtig, denn fehlender Wohnraum gilt als Haupttreiber von Mieten. Der Bund unterstützt Maßnahmen zum sozialen Wohnungsbau mit derzeit 518,2 Millionen Euro im Jahr. In den vergangenen Jahren gab es nach Angaben des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung eine deutliche Verringerung der Sozialwohnungen. Zwischen 2002 und 2012 sank deren Zahl um 40 Prozent von 2,6 auf 1,5 Millionen. Zugleich stiegen der Behörde zufolge die Angebotsmieten bei Neu- und Wiedervermietung 2013 bundesweit um 3,5 Prozent auf gut 6,80 Euro je Quadratmeter, in Städten wie Hamburg, München und Berlin kletterten die Mieten weitaus stärker, was zu Protesten führt. Wie haben sich #Mietpreise in den letzten Jahren entwickelt? Aktuelle Studie des @bbsr_bund: http://t.co/sk0YVVA7VV pic.twitter.com/GINBoRbgc6— BMUB (@bmub) 10. Juli 2014 Mieterbund fordert eine Million Neubauten Mieterbund-Präsident Franz-Georg Rips forderte in der "Frankfurter Rundschau" ein ambitioniertes Neubau-Programm, um die bestehende Unterversorgung zu bekämpfen und bezahlbare Mieten zu sichern. "Dazu gehört aus meiner Sicht der Neubau von einer Million Wohnungen in dieser Legislaturperiode, davon 250.000 Sozialwohnungen", sagte Rips. Ein Mittel sei, mehr Bauland zur Verfügung zu stellen und Brachflächen zu erschließen. "Hierin ist eine Aufgabe der Kommunen zu sehen", sagte Hendricks. Rasche Ergebnisse sind nicht zu erwarten: Im Herbst 2015 will das Bündnis eine erste Zwischenbilanz ziehen. Den Anstieg der Grunderwerbsteuer, die den Wohnungbau verteuert, wollte Hendricks nicht kommentieren. Das sei Sache der Länder. Kritik an Mietpreisbremse aus der Union Vom Koalitionspartner kommt weiter Kritik an der Mietpreisbremse. Jan-Marco Luczak, Vizevorsitzender des Bundestags-Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, sagte im Deutschlandfunk, dass diese nur kurzfristig wirken könne. "Das beste Mittel gegen steigende Mieten ist immer noch der Bau von neuen Wohnungen." Hendricks verteidigte die für 2015 geplante Mietpreisbremse und verwies darauf, dass zum Beispiel in Regensburg bei Wiedervermietungen derzeit Mieten erhoben würden, die um mehr als 35 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Mit der ab 2015 geplanten Mietpreisbremse soll dies auf zehn Prozent gedeckelt werden. In den sieben größten Städten stieg die Bevölkerungszahl seit 2007 um rund 330.000, die Zahl der Haushalte um rund 180.000. Zugleich gibt es viel Leerstand in bestimmten Regionen.
null
250.000 Wohnungen müssen pro Jahr in deutschen Städten gebaut werden, um den aktuellen Bedarf durch den Zuzug zu decken. In Berlin ist dafür ein Bündnis "für bezahlbares Wohnen und Bauen" gegründet worden - es will den Wohnungsbau vorantreiben.
"2014-07-10T13:06:00+02:00"
"2020-01-31T13:51:45.808000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wohnraum-in-staedten-wohnungsbau-soll-markt-entspannen-100.html
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Die Sache mit den Erwartungen
Leben wie Gott in Frankreich? Nicht auf den ersten Kilometern der Nationalstraße 7. (Andreas Noll) "Habt ihr es gut, auf in den Süden!", "Viel Spaß in den Ferien!", "Trinkt einen Kaffee in der Sonne für uns mit!" wird einem mit leicht nachhallender Sehnsucht in der Stimme auf dem Flur von den Kollegen nachgerufen. Die Chefin bringt Andenkenteller mit den Wahrzeichen der Nationalstraße 7 zur Anschauung gleich mit ins Büro. Eines ist sicher: Alle würden gerne mit uns tauschen. Jetzt ist natürlich die Frage: Wie geht man mit solchen Erwartungen um? Erzählen wir, dass wir allein in Paris anderthalb Stunden rumgegurkt sind, um auf die N7 zu kommen? Dass wir bei der ersten Rast zwei Anläufe gebraucht haben, um den bezahlpflichtigen Parkplatz zu verlassen, weil wir so lange am Navi herumgefummelt haben, bis das bereits bezahlte Parkticket schon abgelaufen war? Dass es ohne Ende geschüttet hat, während wir vergeblich den Streckenverlauf gesucht haben? Weil die Nationalstraße 7 keine durchgehende Prachtallee, sondern streckenweise kaum noch zu finden ist? Dass sich der Charme der alten Ferienroute mitunter nur erahnen lässt, während man an Gewerbegebieten und Prostituierten vorbeifährt? Das Brummen der kreuzenden Autobahn im Ohr? Hotel in der Nähe der Nationalstraße 7. Von innen war es immerhin beschaulicher als von außen. (Andreas Noll) Natürlich nicht! Wir schweigen auch über das Hotel, das wir völlig erschöpft am Ende unseres ersten Tages am Rande der Strecke beziehen - und stürzen uns ins Abenteuer. Die Geschichten, die wir entlang der Strecke hören, machen alles wett. Alors, en route!
Von Anne Raith und Andreas Noll
Es ist ja so: Wenn man den Kollegen erzählt, dass man eine Recherchereise entlang der französischen Nationalstraße 7 plant, von Paris bis ans Mittelmeer, dann weckt man bestimmte Erwartungen. Ob unsere beiden Autoren diesen Erwartungen gerecht werden können, berichten sie regelmäßig im Blog - hier bereits von der ersten Etappe.
"2017-03-27T11:15:00+02:00"
"2020-01-28T10:20:49.853000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/etappe-1-von-paris-nach-chalette-sur-loing-die-sache-mit-100.html
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"Unsere Kritik geht an die Airlines"
Benjamin Hammer: Hatten Sie schon mal Ärger mit einer Fluggesellschaft? Das kann ja manchmal ziemlich schnell passieren: ein verlorenes Gepäckstück, ein annullierter Flug oder heftige Verspätung. Wenn sich Verbraucher absolut nicht mit der Airline einigen können, dann bleibt in vielen Fällen nur der Gang vors Gericht, denn eine Schlichtungsstelle, die von allen Fluggesellschaften akzeptiert wird, die gibt es einfach nicht. Heute will das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf für eine Schlichtungsstelle für die Luftfahrt beschließen, es hat ihn vor Kurzem beschlossen. Was davon zu halten ist, darüber spreche ich jetzt am Telefon mit Heidi Tischmann vom Verkehrsclub Deutschland. Guten Morgen, Frau Tischmann.Heidi Tischmann: Guten Morgen.Hammer: Frau Tischmann, Fluggesellschaften, die haben Kundenberater, sie haben Telefonnummern, sie haben E-Mail-Adressen. Reicht das nicht, um einen Streit aus der Welt zu schaffen?Tischmann: Wahrscheinlich reicht es nicht, denn diese Fluggastrechte-Verordnung, über die Sie ja gerade berichteten, die gibt es seit 2005 und es gibt immer noch Ärger, dass Flugpassagiere nicht zu ihrem Recht kommen. Das macht sich auch darin bemerkbar, dass es inzwischen sogenannte Rechtseintreiber gibt, die dieses Recht dann umsetzen, die aber natürlich dafür Geld verlangen, was ja nicht im Sinne des Gesetzgebers ist. Unsere Kritik geht auch an die europäische Politik, die eine Fluggastrechte-Verordnung erlässt, also im Jahre 2005, aber dann die Fluggäste im Grunde alleine lässt.Hammer: Die Bundesregierung will jetzt eine Schlichtungsstelle einführen. Was halten Sie davon?Tischmann: …, dass das längst überfällig ist. Es gibt eigentlich seit 2004 im Herbst nahtlos eine Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, verkehrsträgerübergreifend – erst fünf Jahre bei uns, beim Verkehrsclub Deutschland. Damals haben wir mit 83 ausländischen Flugunternehmen sehr gut zusammengearbeitet, nur die deutschen Flugunternehmen haben sich der Schlichtung verweigert. Und jetzt gibt es die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, aber dort verweigern wieder die deutschen Flugunternehmen die Zusammenarbeit. Unsere Kritik geht natürlich an die Airlines, die aus unserer Sicht den Wert der außergerichtlichen Schlichtung nicht erkannt haben.Hammer: Das klingt aber nach einer Menge Chaos. Wird sich das jetzt ändern mit einer von der Regierung eingeführten Schlichtungsstelle?Tischmann: Auch die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr hat die Fahrgastrechte-Verordnung in diesem Falle als Vorläufer gehabt und arbeitet jetzt erfolgreich im Bahnbereich, aber nur, weil die Bahnen in Deutschland freiwillig an der Schlichtung mitarbeiten. Auch hier gibt es keine Verpflichtung, weil ein Kritikpunkt bei der Fluggastrechte-Verordnung ist ja, dass es nicht verpflichtend dort hineingeschrieben wird, dass die Airlines mitarbeiten müssen. Aus meiner Sicht widerspricht der außergerichtlichen Schlichtung ein Zwang. Da muss man schon sagen, dass Verbraucher und Verbraucherinnen und dann das Unternehmen auf der anderen Seite dort freiwillig sich hinwenden müssen. Das funktioniert in anderen Geschäftsbereichen wie zum Beispiel bei den Banken und auch bei den Versicherungen, da klappt das vorzüglich.Hammer: Jetzt müssen Sie uns aber noch einmal helfen. Es gibt bereits eine Schlichtungsstelle für den öffentlichen Verkehr, zum Beispiel bei Bahnkunden. Die wird aber von Fluggesellschaften nicht akzeptiert. Jetzt will die Bundesregierung eine neue Schlichtungsstelle einführen. Wie sollen Verbraucher da die Orientierung behalten?Tischmann: Ja das ist auch die größte Kritik. Die Idee war ja, dass es eine verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle gibt für alle Verkehrsarten, also für Bahn, Bus, fürs Schiff und auch für den Flugverkehr. Diese wirklich positive Institution für Verbraucher und Verbraucherinnen boykottieren die Airlines, allen voran die deutschen, und das ist ein Unding. Aber man kann sie, muss ich noch mal wiederholen, nicht dazu zwingen. Im Grunde bleibt für die Passagiere nur der Rechtsweg zurzeit, den schlagen sie sehr ungern ein, der ist auch kostspielig, und vielleicht muss man auch noch mal auf europäischer Ebene dafür sorgen, weil Flugverkehr ist ja eigentlich europäisch eher zu organisieren oder auch weltweit, dass dort etwas passiert.Hammer: Frau Tischmann, mein Flug wurde gestern annulliert, es gibt aber noch keine Schlichtungsstelle. Was raten Sie mir? Wie soll ich mich verhalten?Tischmann: Sie werden sich erst mal an die Airline wenden, bei der das passiert ist, und sie werden dann auf die Fluggastrechte-Verordnung hinweisen und die Zahlung verlangen. Dann gibt es wahrscheinlich die Zahlungsverweigerung, schätze ich. Dann werden Sie ordnungsrechtlich aktiv und melden diese Annullierung beim Luftfahrt-Bundesamt, die dann ein Bußgeldverfahren gegen die Airline verhängen können, was sie wahrscheinlich auch tun. Aber Sie haben da selber nichts von. Und dann können Sie als der Mensch, der geflogen ist, eine Beschwerde bei der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) einreichen. Die würde ich immer einreichen, auch wenn das nicht hilft, allein für die Statistik. Und dann müssen Sie sich an einen Anwalt wenden und die Airline verklagen. Das ist im Moment die Möglichkeit.Hammer: Klingt kompliziert.Tischmann: Ist auch kompliziert.Hammer: Die Bundesregierung plant eine Schlichtungsstelle für den Luftverkehr – Heidi Tischmann vom Verkehrsclub Deutschland, Sie sind von der Umsetzung nicht wirklich begeistert. Besten Dank!Tischmann: Bitte sehr!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heidi Tischmann im Gespräch mit Benjamin Hammer
Bei Streit mit ihrer Fluggesellschaft können sich Passagiere bald an eine Schlichtungsstelle wenden. So will es ein heute im Bundeskabinett beschlossener Gesetzentwurf. Wenig begeistert von der Umsetzung ist man jedoch beim Verkehrsclub Deutschland.
"2012-07-04T11:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:15:46.048000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unsere-kritik-geht-an-die-airlines-100.html
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Mobilisierung mit der Anti-Nazi-App
Demonstration gegen Rassismus im März 2014 in Berlin (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen) Ein Bär mit ausgebreiteten Armen, in einer Hand ein Schild. Das ist das Symbol der App "Gegen Nazis". Jessica Zeller führt sie vor. Sie öffnet die App, tippt auf das Feld Aktionen, und es zeigt sich eine Berlinkarte. Darauf ist ihr eigener Standort zu sehen. In einem anderen Bezirk findet eine Demonstration von Neonazis statt: "Das sehe ich daran, dass es eine Route gibt. Diese Route ist braun. Wäre es eine Gegenkundgebung, dann wäre die Route orange. Ähnlich sehe ich verschiedene Marker. Die Marker haben Icons. Unser Marker für die Gegenkundgebung ist ein orangener Bär. Die Nazi-Kundgebung ist braun und hat einen kleinen Hundehaufen als Symbol." Weil die gerade freigeschaltete App keine aktuellen Informationen hat, greift Jessica Zeller vom Netzwerk "Berlin gegen Nazis" auf einen geplanten Naziaufmarsch von Ende November in der Nähe eines Flüchtlingsheims in Hellersdorf zurück. Sie tippt auf einen der Marker. In einem Fenster erscheint ein kurzer Text: "Da kriege ich die Kurzinfos: Was ist da, wo ist es und was passiert da? Und in dem Falle sehen wir, okay, um 13 Uhr geht's los. Und hier reden nicht nur Vertreterinnen und Vertreter der Initiative 'Hellersdorf hilft', sondern auf der Bühne ist auch Integrationssenatorin Dilek Kolat, der Bezirksbürgermeister von Marzahn-Hellersdorf, Stefan Komoß, und es gibt Livemusik." Informationen mit einem Klick All diese Informationen können mit einem Klick heruntergeladen, oder direkt in sozialen Netzwerken weiterverbreitet werden. Die App wird von Mitarbeitern des Projektes "Berlin gegen Nazis" und der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin" mit Informationen gefüttert. Getragen werden beide Projekte vom Verein für demokratische Kultur. Dessen Geschäftsführerin Bianca Klose freut sich, dass viele zivilgesellschaftliche Institutionen als Partner die App "Gegen Nazis" unterstützen: "Das heißt, wir haben ganz gezielt jene Strukturen angesprochen, die sich bisher nicht so beteiligt haben am Engagement gegen Rechtsextremismus. Das heißt Wirtschaftsunternehmen genauso wie Kirchenstrukturen, Gewerkschaften, Kulturbetriebe etc. Und wir setzen vor allem darauf, dass der Gegenprotest bei rechtsextremen Aktivitäten dieser Stadt erweitert wird." Die App ist dreisprachig: deutsch, englisch und türkisch. Unter den Partnern befindet sich auch der Türkische Bund Berlin-Brandenburg, TBB, mit 32 Mitgliedsvereinen. Dessen Geschäftsführer Fuat Şengül betont, dass sich der TBB stets gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzt. Bisher schicke der Verband Informationen über einen E-Mail-Verteiler an ca. 4.500 Personen. Mit der App könne man sie schneller erreichen: "Ich denke, das ist eine wichtige Brückenfunktion der App, um auch die türkeistämmige Community hier in Berlin zu mobilisieren und zum Engagement gegen Nazis zu bewegen. Von daher werden wir das verstärkt nutzen. Und wir werden auch auf diese App auf unserer Webseite und auf verschiedenen Kanälen hinweisen und aufmerksam machen." Kundgebungen von Rechtsextremisten finden in letzter Zeit häufig gegen Flüchtlinge statt. Aber auch in Fußballstadien ist das ein Dauerthema. Christian Rudolph ist Vorstand der Gruppe Aktive Fans beim Fußballverein Tennis Borussia Berlin. Für Rudolph bieten sich viele Möglichkeiten, wie die App bei rechtsextremen Vorfällen genutzt werden kann. Aktive Fans können die Betreiber der App mit Informationen beliefern, sagt er. Aber sie können auch selbst schneller informiert werden: "Grade wenn wir uns im Fußball bewegen, haben wir nicht immer die Möglichkeit, geschlossen zu reisen. Und da ist es, glaube ich, für kleinere Gruppen, informiert zu sein, wo vielleicht Vorfälle stattfinden." Übrigens sammelt die App "Gegen Nazis" im Gegensatz zu vielen anderen keine persönlichen Daten. Auch der eigene Standort wird nicht erfasst. Er ist nur für den Nutzer selbst zu sehen.
Von Kemal Hür
An Gegenaktionen bei Kundgebungen von Neonazis mangelt es meist nicht. Mit der bundesweit einmaligen Smartphone-App "Gegen Nazis" will das Netzwerk "Berlin gegen Nazis" Informationen darüber schneller verbreiten. In drei Sprachen - Deutsch, Englisch und Türkisch - möchte man auch die türkeistämmige Community mobilisieren.
"2014-12-03T14:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:55.276000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/demonstrationen-gegen-rechts-mobilisierung-mit-der-anti-100.html
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30 Jahre Golden Slam
Steffi Graf, Olympiasiegerin 1988 in Seoul (Norbert Schmidt/dpa) Es war noch Vormittag in Seoul, als Steffi Graf und Gabriela Sabatini zum olympischen Finale antraten. Zwei junge Gegnerinnen, die sich 1988 bereits einige Male spannende Matches geliefert hatten. Die 19 Jahre alte Steffi Graf, Weltranglistenerste, aus dem Örtchen Brühl bei Mannheim und die 18 Jahre alte Argentinierin Gabriela Sabatini. Sabatini war die einzige, die Steffi Graf in dem Jahr zwei Mal bezwungen hatte, wenn auch nicht bei den ganz großen Turnieren. Jetzt standen sich die beiden zum Ende eines besonderen Tennisjahres gegenüber. Erstmals nach 64 Jahren war Tennis wieder olympisch. Das Stadion in Seoul füllte sich am Vormittag erst nach und nach. Was die Zuschauer dann zu sehen bekamen, war ein hochklassiges, wenn auch kein hochspannendes Match. Das Spiel von Steffi Graf war zu klar, auch wenn Sabatini immer wieder ihre Klasse aufblitzen ließ. Wie beim heiß umkämpften vorletzten Spiel zum 5:3. Beeindruckt von den Ballwechseln "Das versetzt die 10.000 Koreaner ins Staunen – Sabatini – zwischen den Beinen hindurch ging dieser Schlag wie ihn Yannick Noah populär gemacht hat, den auch Boris Becker kann." ZDF-Kommentator Rainer Deike war beeindruckt von den spektakulären Ballwechseln der beiden, hier holte Sabatini den Punkt, nachdem sie den Ball durch die Beine gespielt hatte und ein Lob von Steffi Graf ins Aus gegangen war. Krönender Höhepunkt Es war ein Match, wie gemacht als krönender Höhepunkt für alle Tennisfans: Eine anspruchsvolle Begegnung zweier Topspielerinnen auf Höchstniveau. Steffi Graf hatte das Jahr begonnen als Weltranglistenerste, aber nicht unbedingt auch schon als die große Favoritin für alle Grand Slams. Da war noch die starke Martina Navratilova, die sie im Jahr zuvor in Wimbledon besiegt hatte, die US-Amerikanerin Chris Evert und eben jene Gabriela Sabatini. In Melbourne gewann Steffi Graf das Finale gegen Evert, die sie vor allem im zweiten Satz herausforderte, in Wimbledon drehte sie das Match gegen Navratilova, als diese sich schon auf dem Weg zum Sieg wähnte, bei den US Open brauchte sie ebenfalls drei Sätze gegen Sabatini. Aber welche Dominanz sie auf dem Platz ausspielte, wurde vor allem im Finale der French Open deutlich, als sie die völlig überforderte Natalia Zvereva aus der Sowjetunion in 32 Minuten mit 6:0 und 6:0 vom Platz fegte. "Kann man nicht programmieren" Zvereva hatte in diesem denkwürdigen Finale ganze 13 Punkte geholt, 11 davon waren Fehler von Steffi Graf, die sich nach dem Spiel für ihre Überlegenheit entschuldigte. Ein paar Jahre später, 1996, als ihr fast nochmal ein Grand Slam gelang, sagte sie: "Es ist auch für mich immer wieder ein verrücktes Gefühl einfach danach da zu sitzen und dann diese Frage zu beantworten: "Wie hast Du es geschafft?" Weil, ich hab keine Ahnung wie ich es immer wieder hinkriege, muss ich ehrlich sagen. Also ich versuch zwar immer mich möglichst gut vorzubereiten und alles dafür zu tun aber dass ich dann immer auf den Punkt fit bin, vom Kopf her da bin, das kann man nicht programmieren, das scheint vielleicht ein bisschen so im Moment bei mir, aber es ist immer wieder etwas Besonderes." Doch damals 1988 war es noch wie ein Rausch. Für ihre Doppelpartnerin bei den Olympischen Spielen, Claudia Kohde-Kilsch, mit der sie ein Appartmentzimmer im Olympischen Dorf teilte und Bronze holte, war es gar nicht zu begreifen: "Also was das eigentlich bedeutet, weil man das Siegen von Steffi auch irgendwie gewohnt war und die Goldmedaille von ihr war eigentlich auch irgendwie von der Öffentlichkeit eingeplant." Mit ihrer Doppelpartnerin Steffi Graf (r.) gewinnt Claudia Kohde-Kilsch 1987 in Vancouver den Federation-Cup. (picture-alliance / dpa) Von ihr selbst wahrscheinlich auch. Ihre Ausstrahlung ließ an diesem sonnigen Tag keinen Zweifel, dass sie fest an sich glaubte. Nach einer Stunde 22 Minuten beim Stand von 6:3 und 5:3 hatte sie Matchball. Der Kommentator damals: "Das ist er. Was hat dieses Mädel geleistet in diesem Jahr. Sie gewinnt nach dem Grand Slam auch nun das olympische Gold mit 6:3 und 6:3 und nun läuft sie, das ist schon Tradition hinüber zu ihrem Vater (…) Umarmung mit dem Teamchef, dem Bundestrainer Klaus Hofsäss und nun strahlt Peter Graf natürlich. Was gibt es im Tennis noch mehr zu gewinnen als den Grand Slam, die vier großen Profiturniere und dann Olympia?" Kohde Kilsch sagt heute: "Und das ist einem dann erst hinterher bewusst geworden – wow – jetzt hat sie alle vier Grand Slams gewonnen plus noch die Goldmedaille als Sahnehäubchen obendrauf." "Das wird nie wieder erreicht werden" Welche Bedeutung dieser Golden Slam historisch gesehen hatte, war damals nicht nur Claudia-Kohde-Kilsch kaum klar, die Tenniswelt feierte einfach ihren jungen Superstar. Und die Sportart, die gerade erst wieder auf die olympische Bühne zurückgekehrt war, hatte ihre Geschichte. Eine, die bis heute unerreicht ist und nach Ansicht von Bundestrainerin und Wegbegleiterin Barbara Rittner auch wohl unerreicht bleiben wird: "Also ich persönlich glaube, dass der Golden Slam nie wieder von jemandem erreicht wird, es ist was ganz Besonderes. Da muss so viel in einem Jahr zusammenkommen, dass man alle vier Grand Slams und Olympia gewinnen kann. Ich sehe im Moment niemanden. Ich glaube auch, dass Serena Williams es nicht mehr schaffen wird, auch wenn sie sogar mehr Grand Slam-Turniere dann insgesamt gewonnen hat, aber dieser Golden Slam, den kann niemand mehr Stefanie Graf nehmen." Tennis-Bundestrainerin Barbara Rittner (dpa/picture alliance/Arne Dedert) Die mittlerweile 49-Jährige selbst äußert sich nicht und zeigt sich kaum noch in der Öffentlichkeit. So sehr sie Tennis liebte, war der damit verbundene Ruhm nie ihre Sache. Schon früh hatte sie davon gesprochen "am liebsten nach Amerika zu verschwinden", was sie wahr gemacht hat. Seit 17 Jahren ist sie mit André Agassi verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hat. Dem Publikum hat sie bis 1999, ihrem letzten Grand Slam-Sieg in Paris und dem darauffolgenden Rücktritt viele Jahre großes Tennis beschert. Steffi Graf war insgesamt 377 Wochen Nummer eins der Welt im Frauentennis.
Von Jessica Sturmberg
Vor 30 Jahren gelang Steffi Graf etwas, was in der Tenniswelt einzigartig ist: Der Golden Slam – der Gewinn aller vier Grand Slam Titel in einem Jahr, vergoldet mit dem Olympiasieg. 1988 war ein denkwürdiges Jahr mit einem denkwürdigen Olympiafinale gegen Gabriela Sabatini.
"2018-09-30T19:45:00+02:00"
"2020-01-27T18:13:23.555000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/steffi-grafs-rekordjahr-30-jahre-golden-slam-100.html
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"Purer nationaler Chauvinismus"
Der polnische Journalist und Publizist Adam Krezminski (Deutschlandradio / Thomas Kujawinski) Sandra Schulz: Vorgestern war der 1. September. Vorgestern vor 75 Jahren hat der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen. Aber bei der Gedenkveranstaltung auf der polnischen Westerplatte hat Bundespräsident Joachim Gauck nicht nur zurückgeschaut, sondern er hat bei seiner Rede so ungewohnt deutlich außenpolitisch mitgemischt mit scharfer Kritik an Russland, dass sich auch hierzulande manch einer die Augen gerieben hat. Russland habe die Partnerschaft mit Europa der vergangenen Jahre de facto aufgekündigt, so Gauck, und man stelle sich jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Für diese Kritik wird der Bundespräsident jetzt seinerseits kritisiert. Der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger wirft Gauck vor, er habe Öl ins Feuer gegossen, und spricht von einem präsidialen Fehlgriff ersten Ranges. Darüber hat mein Kollege Martin Zagatta mit dem polnischen Publizisten Adam Krzeminski gesprochen. Martin Zagatta: Verwundert Sie diese Kritik am deutschen Bundespräsidenten, oder können Sie die nachvollziehen? Adam Krzeminski: Nein, ich kann sie überhaupt nicht nachvollziehen. Es ist noch ein Beweis dafür, dass es weiterhin Gruppen oder Gruppierungen, politische Parteien gibt, die diese Nachbarschaft zu Polen überhaupt nicht verinnerlicht haben. Das heißt, sie schlagen irgendwelche Schlachten, innenpolitische Schlachten aus, ohne zu verstehen, was diese Westerplatte bedeutete, bedeutet auch, nicht für Polen, sondern auch für die europäische Geschichte. Es ist kein Symbol eines Überfalls auf die Zivilbevölkerung, sondern eines Widerstandes gegen eine Aggression, und wenn man das nicht versteht, dann versteht man nicht nur die polnische, sondern die europäische Geschichte nicht. "Das hat der Bundespräsident gut verstanden" Zagatta: Aber wenn man an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert, wie das ja gemacht wurde jetzt bei dieser Veranstaltung, kann man das machen, ohne das Leid zu erwähnen, das dieser Krieg ja vor allem über das russische Volk auch gebracht hat? Kein anderes Land hatte so viele Tote zu verzeichnen. Krzeminski: Aber bitte sehr! Wenn ich das Argument auch in der Süddeutschen lese, ein Kommentar, es ist fast ein Unfug, ein Kommentar zu einer Rede auf der Westerplatte. Auf der Westerplatte ist das ein Symbol dafür: Es gibt Momente, wo man mit Waffen die Werte, für die man einsteht, verteidigen muss, und das hat der ehemalige Pastor und der Bundespräsident gut verstanden. Ich verstehe nur nicht die Kommentatoren, die den Kontext nicht kennen. Wenn man gerade am 1. September über die sowjetischen Opfer des Krieges spricht, ohne die polnischen zu erwähnen, und über die sowjetische Grenze spricht, ohne zu verstehen, dass es eine Grenze gab am 1. September, die anderswo lag als im Jahre '41, dann muss ich sagen, dann ist die Arbeit der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht umsonst, aber irgendwie hat sie nicht gegriffen. Zagatta: Die Kritiker sagen ja, man hätte alle Opfer da erwähnen sollen. Krzeminski: Nein, nicht auf der Westerplatte. Das kann man und muss man in Auschwitz sagen, das kann man in Dresden sagen, das kann man in Warschau sagen, aber nicht dort, wo es ein Symbol eines militärischen Widerstandes war. Denn es war ein polnischer Stützpunkt in Danzig und es war ein Symbol der Präsenz Polens in dieser Stadt. Man kann nicht einen Aspekt des berechtigten militärischen Widerstandes in der europäischen Geschichte auch heute verdrängen, und ich befürchte, dass die Kritiker der Rede sich einfach herumlügen wollen über die Frage, wo ist die Grenze, wo ist die notwendige Grenze der Notwehr erstens und auch der Solidarität mit dem Angegriffenen. Das ist das Fatale an dieser Kritik an der Rede, die ich für eine wichtige halte. Ich vergleiche diese Rede mit der Rede vom 8. Mai '85 von Richard von Weizsäcker. Es ist eine europäische Rede, die auch die Grenzen des Zumutbaren skizziert, und das ist nicht nur legitim, sondern heute durchaus berechtigt. Deutschland "berechtigt" für größeres Engagement in Europa Zagatta: Herr Krzeminski, wie kommt es denn in Warschau an, wenn Berliner Politiker und auch der Bundespräsident seit Wochen und Monaten ja jetzt immer wieder betonen, Deutschland müsse eine wichtigere Rolle spielen auf internationaler Ebene und auch in der Verteidigungspolitik. Trifft das in Warschau mit der Vergangenheit, die man da gemeinsam mit den Deutschen hat, auf volle Zustimmung? Krzeminski: Absolut. Das hat mit der Vergangenheit insofern etwas zu tun, dass man weiß, dass das heutige Deutschland keine Fortsetzung des Dritten Reiches ist, und es ist verlogen, wenn man sozusagen sich hinter die historische Schuld versteckt, indem man auch keine Verantwortung übernehmen will. Ich freue mich, dass die deutsche Politik, der Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und auch der Außenminister, auf die Rede des polnischen Außenministers Sikorski aus dem Jahre 2011 jetzt antworten, indem sie sagen, sehr wohl, Deutschland ist nicht nur berechtigt, sondern auch bereit, ein größeres Engagement in Europa zu spielen. Es geht ja nicht nur um das Militärische, sondern auch über das Finanzielle, das Wirtschaftliche, die ganze Soft Power, die auch notwendig ist in der Außenpolitik heute. Zagatta: Es geht aber auch um das Militärische. Die NATO überlegt, da jetzt ihre Truppenpräsenz in Osteuropa auszubauen, fünf neue Stützpunkte in Osteuropa. Wäre das für Sie wieder vorstellbar, deutsche Soldaten auf polnischem Boden, oder ginge das nicht? Krzeminski: Aber natürlich. Das ist eine völlig andere Wirklichkeit. Das sind andere Soldaten. Wir sind Verbündete und wir möchten Verbündete sein und das Gefühl haben, dass es keine Papiergarantien sind, sondern reale Bereitschaft und Fähigkeit, einzustehen für den gegebenenfalls Bedrohten. "Purer nationaler Chauvinismus" Zagatta: Wie schätzen Sie das ein aus polnischer Sicht? Stehen wir da vor einem neuen Kalten Krieg? Krzeminski: Nein! Es ist kein Kalter Krieg. Es ist kein Zusammenprall von gegensätzlichen Ideologien. Putins Russland hat keine Ideologie, das ist kein Marxismus-Leninismus, keine kommunistische Verheißungslehre. Es ist auch keine Ideologie des alten zaristischen Imperiums mit dem orthodoxen Glauben. Das ist purer nationaler Chauvinismus, der den Phantomschmerz des verblichenen kommunistischen Imperiums nicht verschmerzt hat. Das ist alles. Schulz: Der polnische Publizist Adam Krzeminski im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Die Fragen stellte Martin Zagatta. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Adam Krzeminski im Gespräch mit Martin Zagatta
Der polnische Publizist Adam Krzeminski sieht Europa nicht auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg. Im Ukraine-Konflikt träfen keine gegensätzlichen Ideologien aufeinander. Putin habe lediglich den "Phantomschmerz des verblichenen kommunistischen Imperiums" nicht verschmerzt, sagte er im DLF.
"2014-09-03T05:50:00+02:00"
"2020-01-31T14:01:53.076000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-in-der-ukraine-krise-purer-nationaler-chauvinismus-100.html
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Warum viele Mazedonier bald Bulgaren werden könnten
Boschidar Dimitrow ist Direktor des Nationalhistorischen Museums in Sofia und hat jeden Samstag seine eigene Geschichtssendung in einem bulgarischen Spartenkanal. Der fast 70-Jährige versteht sich als Wächter über Bulgariens Historienschatz und Propagandist der nationalen Sache. Mit populistischen Thesen wirbt er derzeit für eine Gesetzesänderung, damit Mazedoniern mit bulgarischen Wurzeln nur auf Basis mündlicher Aussagen – in bulgarischer Sprache - die bulgarische Staatsbürgerschaft erhalten. Schriftliche Beweise für eine bulgarische Abstammung, wie bisher, wären nicht länger nötig. Für den Historiker Boschidar Dimitrow ein angemessener Schritt, wie er in seiner Geschichtsendung erklärt: "13 Jahrhunderte lang haben in Mazedonien Bulgaren gelebt. Und eines herrlichen Tages sagte man ihnen, dass sie keine Bulgaren, sondern Mazedonier seien. Sie hätten mit Bulgarien nichts zu tun, man würde ihnen einen Staat konstruieren, eine eigene Geschichte schreiben und eine Sprache schaffen. Und das wurde getan. Wer damit nicht einverstanden war, wurde unterdrückt. In der neuen Zeit entstanden aber plötzlich Identitätsprobleme. " Bis zu 500.000 Mazedonier könnten so auch zu Bulgaren und damit zugleich zu EU-Bürgern werden, erhofft sich der Museumsdirektor. Das wäre ein Viertel der Gesamtbevölkerung von Mazedonien. Das würde auch seine These vom eigentlich bulgarischen Mazedonien bestätigen, die der Historiker Boschidar Dimitrow vehement vertritt. Er und die These sind umstritten, früher hat Dimitrow beim kommunistischen Geheimdienst gearbeitet und musste deswegen sein Ministeramt unfreiwillig aufgeben. Nun wirbt er für diese Gesetzesänderung, an dessen Erfolg er keine Zweifel hat: "Wenn wir uns gut organisieren, wofür nicht nur ein Gesetz, sondern auch der politische Wille notwendig ist, können wir die Mazedonier individuell sehr schnell in die EU bringen. Wir werden damit auch unsere demographischen Probleme lösen. Die Mazedonier wollen das, alle – mit dem Ministerpräsidenten an der Spitze streben – streben nach einem bulgarischen Pass. Fragen sie den früheren Premier Ljuptscho Georgiewski (Sprich Georgiiiii jewski ) und andere." Der ehemalige mazedonische Ministerpräsident Ljuptscho Georgiewski hat bereits einen bulgarischen Pass. Dennoch hält er nichts von der These vom bulgarischen Mazedonien: "In Mazedonien war von 1945 bis die 90er-Jahre derjenige ein Patriot, der diese Berliner Mauer zwischen Bulgaren und Mazedoniern noch gibt. Wir sollten uns von diesen Vorurteilen befreien. Seit Mazedonien unabhängig ist hat es aber schon eine Annäherung zu Bulgarien gegeben." Im krisengeschüttelten Mazedonien haben zwei Drittel der Staatsbürger eine doppelte Staatsbürgerschaft und damit größere Bewegungsfreiheit. Auch mazedonische Lkw fahren meist mit bulgarischen Kennzeichen im Ausland. In der ehemaligen jugoslawischen Republik, fast so groß wie das Bundesland Brandenburg, leben mehrheitlich ethnische Mazedonier und eine albanische Minderheit. Der mazedonische Analytiker Kim Mehmeti erklärt zum mazedonisch-bulgarischen Verhältnis: "Es sind zwei Völker. Es gibt aber nirgends zwei Völker deren Geschichte so miteinander verwickelt ist, wie die der Bulgaren und Mazedonier. So finden sie die gleichen Denkmäler in den verschiedenen Hauptstädten in Sofia und im Disneyland Skopje." Mazedonien ist ein klassisches Auswanderungsland. Die Aussicht auf bulgarische EU-Pässe wird weitere Mazedonier ins Ausland locken. Ein Mazedonier auf der Straße meint: "Unsere Gastarbeiter kommen schon jetzt nicht mehr aus dem Ausland zurück. Bald wird es ein Mazedonien ohne Mazedonier geben."
Von Karla Engelhard
Der Direktor des Nationalhistorischen Museums in Sofia hat eine außergewöhnliche Kampagne gestartet: Boschidar Dimitrow will es möglichst vielen Mazedoniern ermöglichen, Bulgaren und damit EU-Bürger zu werden. Seine These: Bei nahezu allen von ihnen handle es sich ohnehin um Bulgaren. Beim mazedonischen Nachbarn hält sich die Begeisterung allerdings in Grenzen.
"2015-08-25T09:10:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:47.607000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/mazedonien-warum-viele-mazedonier-bald-bulgaren-werden-100.html
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Der Sport erhält 15 Millionen Euro mehr
Ein großer Teil der Erhöhung fließt mit 5,82 Millionen Euro in die Bezahlung der Trainer. 1,5 Millionen werden zusätzlich zur Olympiavorbereitung aufgebracht. Eine weitere Million geht global an die Sportverbände. Weniger überraschend als diese Zahlen war die Erhöhung der Mittel für die Nationale Anti-Doping Agentur NADA um 1,75 Millionen. Das neue Reglement der WADA, der Welt-Anti-Doping-Agentur, sieht vor, dass die nationalen Agenturen die Kontrollhoheit in ihren Ländern übernehmen. Mehr Tests kosten mehr Geld. Das gibt es nun. Der Behindertensport erfährt eine Streicheleinheit. Die aktuelle Erhöhung um 400.000 Euro kompensiert zu großen Teilen die zuvor verhängten Kürzungen. Der Deutsche Olympische Sportbund DOSB begrüßte naturgemäß die Erhöhung. Auf die Verwerfungen im Sport insgesamt weist die Tatsache hin, dass das Jahreseinkommen manches Profis des FC Bayern München nur knapp unterhalb der Erhöhungen für den gesamten Sport liegt.
Von Tom Mustroph
In der sogenannten Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt 2015 gab es mit 15 Millionen Euro einen kräftigen Nachschlag für die Sportförderung.
"2014-11-13T22:50:00+01:00"
"2020-01-31T14:13:34.295000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/haushalt-der-sport-erhaelt-15-millionen-euro-mehr-100.html
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"Zeigt uns, dass ihr diese Verhältnisse verändert"
"Das kann man nicht mit Licht und mit gerodeten Büschen durch eine Stadtverwaltung klären lassen", sagte der Journalist Peter Pauls im Dlf über die Zustände am Kölner Ebertplatz. (dpa/Ina Fassbender) Christoph Heinemann: Heute ist Freitag, der 27. Oktober. Vor gut einem Monat wurden 709 Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Abgeordneten des Deutschen Bundestages gewählt. Unter ihnen nach einem prominenten Abgang 92 Vertreter der AfD. Über diesen und andere Wahlerfolge dieser Partei wird gerätselt. Eine Erklärung lieferte Wolf Biermann im Gespräch mit dem "Spiegel": "Die Menschen, die jetzt geschrien haben, Merkel muss weg und hau ab, das sind die stummen Untertanen von damals." Gemeint ist die DDR. "Das sind die Leute", so Biermann, "die zu lange geschwiegen und alles erduldet, ertragen haben." Sie seien damals zu feige gewesen, weil sie so voller Angst gelebt hätten, meint der Dichter und Liedermacher. Nun erzielt die AfD auch in den alten Bundesländern Wahlerfolge, und die hat Peter Pauls gestern erklärt, ohne dass er in seinem Leitartikel die AfD auch nur erwähnt hätte. Peter Pauls ist Chefautor und ehemaliger Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers, und er hat ganz einfach die Lage rund um den Kölner Ebertplatz analysiert. Dort kann man gescheiterte Zuwanderungspolitik besichtigen: vorbestrafte nordafrikanische Drogenhändler, die im Duldungsstatus in Deutschland leben, einen Toten, verängstigte Anwohner, wie gehört, eine träge Stadtverwaltung, eine überforderte Polizei. Im Studio ist Peter Pauls, der Chefautor des Kölner Stadt-Anzeigers. Guten Morgen. Peter Pauls: Guten Morgen, Herr Heinemann. "Warum handeln diejenigen, die es tun sollten, nicht?" Heinemann: Herr Pauls, Sie kritisieren einen trägen Rechtsstaat. Wie äußert sich diese Trägheit? Pauls: Die Trägheit äußert sich darin, dass die jüngsten Festnahmen gezeigt haben, dass die mutmaßlichen Täter Einträge im Polizeiregister in zweistelliger Höhe hatten. Das heißt nicht, dass es zu Verurteilungen gekommen ist; das heißt aber, dass es Kontakt mit der Polizei gegeben hat wegen was weiß ich, ich muss hier mutmaßen, Rauschgifthandel, wegen Körperverletzung, wegen unangemessenen Benehmens, und das Ganze ist folgenlos geblieben. - Wir müssen feststellen, dass das rechtsstaatliche Reglement, das Menschen nutzen soll, auch Menschen, die auf der Flucht sind, hier ganz klar missbraucht wird. Heinemann: Warum handeln Behörden und Politik dann nicht entsprechend? Pauls: Das ist eine Frage, die, glaube ich, in der Beantwortung auch dazu geführt hat, dass viele Menschen AfD gewählt haben. Warum handeln diejenigen, die es tun sollten, nicht? – Ich bin kein Jurist. Aber ich denke, wenn dieser Rechtsstaat die falschen schützt, wenn ein Pass, der, ich sage es mal ganz vorsichtig, abhandengekommen ist, einem mehr nutzt als schadet, und wenn die Urlaubsländer Marokko und Tunesien als unsichere Herkunftsstaaten bezeichnet werden, dann nutzt das dieser Klientel ganz enorm und dann wäre es eigentlich aller Anstrengungen wert, ein Reglement zu finden, das diese Umstände austrocknet. Das kann man nicht mit Licht und mit gerodeten Büschen durch eine Stadtverwaltung klären lassen. Heinemann: Sie haben gestern geschrieben, das wirkt ungefähr wie Juckpulver auf Bankräuber. Pauls: Ja. Es ist eine unangemessene Maßnahme, weil es am Kern nichts ändert. Sie haben ja gerade den Einspieler gehabt, das was die Menschen dort sagen, das was uns als Zeitung erreicht. Menschen fragen sich ja, wie ist das möglich. Wie ist das möglich: Wenn ich aufgeschrieben werde, wenn ich falsch parke, oder wenn ich mein Fahrrad falsch abstelle oder sonst irgendetwas mache, dann ist der Rechtsstaat ja da. Und wie kann es sein, dass ich aber abends, wenn ich über diesen Platz gehen möchte, das um Gottes willen besser nicht tue. Man muss sagen, das ist seit 30 Jahren schon so. Das war nie ein schöner Platz, denn er ist architektonisch so angelegt – auch das haben wir gerade gehört -, dass er vielerlei Rückzugsmöglichkeiten bietet. Aber diese Kölner Eigenschaft, Dinge geschehen zu lassen, hat hier dazu geführt, dass, weil nichts von nichts besser wird, es schlechter wird. Pauls: Würde dafür werben, dass man aktiv vorgeht Heinemann: Wobei wir ja auch über den Tiergarten in Berlin sprechen könnten, oder viele Tiergärten oder Ebertplätze in Deutschland. Was löst diese Handlungsschwäche des Staates bei Bürgerinnen und Bürgern aus? Pauls: Entsetzen, wie wir gerade gehört haben. Ich würde, jetzt allerdings an die Politik oder an die Handelnden gewünscht, dafür werben, dass man aktiv vorgeht, dass man das Reglement überdenkt, das es Menschen gestattet, hier im Grunde ja rechtsstaatlicher Regeln ihren Geschäften nachzugehen, aber auch, wie kann ich so einen Platz bearbeiten, kann ich da Streetworker hinschicken. Da gibt es sehr gute Konzepte, wie man Menschen anspricht und sagt, das macht ihr nicht. Oder aber dort kommen ja Kunden hin. Dort kommen junge Leute hin. Auch denen, finde ich, kann man ja in einer vorpolizeilichen Form sagen, das ist nicht euer Platz, überlegt euch, was ihr hier gerade tut. Eigentlich bergen solche Plätze ja auch eine Chance, weil sie eine Klientel erreichen, die kriegen Sie sonst nicht, sondern vielleicht erst wieder drei Jahre später, wenn sie dann irgendeinen Drogenraum besuchen. Hier ist eigentlich vielerlei Möglichkeit gegeben, präventiv zu arbeiten. Heinemann: Sie haben geschrieben, bei Wahlen geht es heute weniger um Weltanschauung als um Arbeitsaufträge an die Politiker. Wie lautet konkret der Arbeitsauftrag mit Blick auf den Ebertplatz oder die Ebertplätze im Land? Pauls: Verändert diese Verhältnisse. Zeigt uns, dass ihr diese Verhältnisse verändert. Flüchtet euch nicht in Rechtfertigungen. Der Polizeichef hier hat gesagt, sie hätten schon 4000 Stunden Dienst am Ebertplatz geleistet. Aber es hat sich nichts verbessert. Das ist ein bürokratisches Argument. – Schafft neue Zustände, die sich mit einem Rechtsstaat vereinbaren lassen, aber zeigt, dass ihr euch kümmert, dass ihr euch um die Sorgen der Bürger kümmert, denn sie sind ganz und gar evident. Heinemann: Wir reden über überwiegend nordafrikanische Drogenhändler, die hier im Duldungsstatus leben. Haben die Ton angebenden Medien und die Politik diese Form gescheiterter Zuwanderung zu lange ausgeblendet? Pauls: Das vermag ich nicht zu sagen. Köln spielt eine Sonderrolle seit zirka zwei Jahren. Wir hatten ja Ende 2015 die Kölner Silvesternacht hier und haben eigentlich versucht, Dinge relativ klar zu benennen. Man muss hier sehr stark unterscheiden zwischen diesem gescheiterten Milieu, das die nordafrikanischen Staaten selber nicht haben wollen, und auch den Asylsuchenden. Man muss aber auch die Dinge beim Namen nennen, und das geschieht – ich will es mal so sagen – in letzter Zeit häufiger, als es vor zwei Jahren oder 2015, als die vielen Flüchtlinge kamen, noch der Fall war. Der Blick ist nüchterner geworden, er ist klarer geworden. Wir müssen Acht geben, dass wir durch Nichtbehandeln nicht denen in die Hände spielen, über die wir gerade geredet haben, der AfD, denn die AfD-Abgeordneten sind nicht mit dem Fallschirm abgesprungen, die haben sich nicht den Zugang zum Bundestag verschafft, die sind gewählt worden, weil man etwas mit ihnen verbindet. "Wer einen klaren Blick hat weiß, dass das eine andere Klientel ist" Heinemann: Hieße, umgekehrt gefragt: Gefährden Zustände wie die auf dem Ebertplatz das, was von der Willkommenskultur übrig geblieben ist? Pauls: Wer einen klaren Blick hat weiß, dass das eine andere Klientel ist. Aber wer an dieser Stelle wohnt – und das sind viele und das ist ein prominenter Innenstadtbereich -, der muss sich die Frage stellen, warum geschieht das. Und das ist ein absolutes Unding und es geht nicht. Und es wirft natürlich, sagen wir mal, einen Schatten auf die Willkommenskultur, das ist ganz klar, weil es ein unhaltbarer Zustand ist. Das kann man so, meine ich, nicht lassen, oder unser Staat, unsere Institutionen, aber auch die Stadt, Sozialarbeiter etc., müssen an dieser Stelle präsent sein, denn dort vertreten sie die Interessen ihrer Bürger. Heinemann: Letzte Frage noch mal zum architektonischen Ausmaß. Werden Fehlplanungen – und der Ebertplatz ist nun kein Schmuckstück, sagen wir mal so, der Platz -, werden Fehlplanungen, Betonwüsten leichter zu Orten der Kriminalität? Wie kann eine Stadt mit solchen Zentren umgehen? Pauls: Durch massiven Umbau. Im Jahr 2008 hat der Stadtplaner Speer festgestellt, dass der Ebertplatz so nicht bleiben kann wie er ist. Wir haben jetzt das Jahr 2017 und unter dem Druck der Umstände hat der Kölner Rat jüngst erst beschlossen, diesen Platz zu verändern. Der Zeitraum ist neun Jahre. Bis die Veränderung greift, werden 12, 13, 14 Jahre ins Land gegangen sein. Wir hatten am Kölner Hauptbahnhof Zustände, von der Architektur her, die die Silvesternacht begünstigt haben. Das ist, auch weil es eine langfristige Planung war, mittlerweile beseitigt. Aber solche Dunkelstellen, solche Bausünden müssen beseitigt werden, nicht nur, weil sie Bausünden sind, sondern weil sie Sicherheitsrisiken sind und weil sie auch nicht mehr in die moderne Zeit und Gesellschaft passen. Heinemann: Peter Pauls, Chefautor, vormals Chefredakteur der Zeitung Kölner Stadt-Anzeiger. Danke schön für Ihren Besuch! Pauls: Ich danke Ihnen, Herr Heinemann. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Pauls im Gespräch mit Christoph Heinemann
Im Hinblick auf Brennpunkte wie den Kölner Ebertplatz, sollten Politiker sich nicht in Rechtfertigungen flüchten, sagte der Chefautor des "Kölner Stadt-Anzeigers" Peter Pauls im Dlf. 4.000 Stunden Dienst der Polizei hätten nichts verbessert. Trotz langer Vorstrafenregister der mutmaßlichen Täter komme es nicht zu Verurteilungen.
"2017-10-27T08:11:00+02:00"
"2020-01-28T10:58:18.241000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/brennpunkt-koelner-ebertplatz-zeigt-uns-dass-ihr-diese-100.html
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Der Konflikt im Südchinesischen Meer
Pag-asa Island ist von den Philippinen besetzt. Die Ansprüche im Südchinesischen Meer sind umstritten. (picture alliance / dpa / Maxppp) Die blauen Fischerboote sind beladen mit Muscheln, Krabben, Krebsen und Fischen aus dem Südchinesischen Meer. Es ist der Fang der Nacht, den die Fischer von Tanmen an diesem Morgen zurück in den Hafen bringen. Der kleine Ort Tanmen liegt an der Ostküste der chinesischen Insel Hainan. Der 50-jährige Lu Zhenhua hat eine Portion Kautabak zwischen den Zähnen und steht mit Armeehose, freiem Oberkörper und Flip-Flops auf seinem Boot. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er als Fischer in Tanmen. "Wir leben hier seit Generationen. Wir sind hier geboren, wir sind hier aufgewachsen, wir fischen hier. Unsere Väter und Großväter haben hier ebenfalls gelebt. Die Riffe und Inseln im Südchinesischen Meer gehören uns. Es gibt niemanden, der vor uns da war. Wir haben hier als erste gelebt und haben deshalb die Pflicht, die Riffe und Inseln zu verteidigen." Die Fischer von Tanmen, wie Lu Zhenhua, verkörpern die chinesische Politik im Südchinesischen Meer wie kaum eine andere Gruppe: kompromisslos, aggressiv und nationalistisch. Auf jedem Boot im Hafen weht die chinesische Flagge. Ihre Heimatinsel Hainan liegt südlich vom chinesischen Festland und östlich von Vietnam. Mit seiner 20-köpfigen Besatzung fischt Lu Zhenhua in den umstrittenen Gebieten im Südchinesischen Meer. Wie viele andere Fischer in Tanmen hat auch er mit seiner Crew ein Training vom chinesischen Militär bekommen. Ein Atoll im Spratly-Archipel (dpa/picture alliance/Ho) "Es geht darum, wie wir Hilfe rufen, was wir tun sollen und wie wir uns wehren, wenn wir in brenzlige Situationen kommen. Im Mittelpunkt stehen Sicherheit und Selbstschutz. Wenn es zu Auseinandersetzungen mit Fischern oder der Marine aus anderen Ländern kommt, versuchen wir alles, dass keiner auf unsere Boote kommt. Die Trainings gibt es seit einer ganzen Weile, ich habe schon drei- oder viermal mitgemacht." Die Tanmen-Fischer sind eine Art Bürgerwehr im Südchinesischen Meer. Mehrmals kam es zu Auseinandersetzungen zwischen chinesischen Fischern und der vietnamesischen Küstenwache. Die Boote der Tanmen-Fischer bringen auch Baumaterial und Verpflegung zu den umstrittenen Spratly- und Paracel-Inseln. Um die eigenen Gebietsansprüche zu untermauern, bebaut China die Inseln oder schüttet Korallenriffe zu künstlichen, neuen Inseln auf. So schafft sich die Volksrepublik im Südchinesischen Meer eine immer bessere militärische und zivile Infrastruktur, sagt Xie Yanmei, eine unabhängige Expertin der International Crisis Group in Peking. "Das erlaubt es China, in einem größeren Umfang zu überwachen und Frühwarn- und Abfangsysteme zu installieren. Auch die eigenen Marineschiffe können besser betankt werden und in einem größeren Umfang aktiv sein. Die Provinz Hainan hat eine neue Regel für den Fischfang erlassen, die das Fischen innerhalb der Neun-Striche-Linie ermöglicht. Chinas Aktivitäten im Südchinesischen Meer dienen dazu, die eigenen Ordnungskräfte effektiver arbeiten zu lassen. China baut viele große Schiffe für die Küstenwache." China beansprucht das Südchinesische Meer China beansprucht im Südchinesischen Meer ein Gebiet, das mehr als tausend Kilometer von seiner Küste entfernt liegt. Und beruft sich dabei auf die sogenannte "Neun-Striche-Linie" aus den 40er-Jahren. Ein riesiges U, das zwischen Vietnam und den Philippinen im Meer liegt. Danach gehören rund 90 Prozent des Südchinesischen Meeres zu China. Für die Volksrepublik ist das nicht verhandelbar. Schon gar nicht durch ein Verfahren vorm Ständigen Schiedshof in Den Haag. Die Klage der Philippinen, das bevorstehende Urteil zum Territorialstreit im Südchinesischen Meer: Für China hat das keine Bedeutung. Das macht die politische Führung in Peking immer wieder deutlich. Zuletzt Ouyang Yujing, Direktor für Grenz- und Ozeanangelegenheiten im chinesischen Außenministerium. "Das Klageverfahren der Philippinen zum Südchinesischen Meer ist eine politische Farce unter dem Deckmantel des Gesetzes. Die Philippinen nutzen das Verfahren, um Chinas territoriale Souveränität, maritimen Rechte und Interessen im Südchinesischen Meer zu verneinen – und ihre eigene illegale Besetzung von Inseln und Riffen der chinesischen Spratly-Inseln zu legalisieren. Das ist eine große Bedrohung für den Frieden und die Stabilität in der Region." China ist nicht das einzige Land, das im Südchinesischen Meer Fakten schafft. Ob Taiwan, Vietnam, Malaysia oder die Philippinen: Alle betroffenen Länder bis auf Brunei haben schon irgendwelche Inseln bebaut. Nur keiner verfolgt das so konsequent wie China. Auf den Spratly-Inseln hat die Volksrepublik mehrere Landebahnen gebaut und kann dort mit jedem Typ Militärflugzeug landen. Außerdem bauen die Chinesen Radar- und Kommunikationsanlagen sowie größere Häfen für ihre Schiffe. Sogar ein Atomkraftwerk ist geplant. Beobachter sagen: China hat die Inseln bereits militarisiert. Peking selbst betont immer wieder: Das alles diene der zivilen Nutzung durch die internationale Schifffahrt. "Bezüglich der Bebauung müssen wir eines klar stellen: Wenn so etwas auf chinesischem Territorium passiert, ist das absolut angemessen und legal. Die Erbauung und Fertigstellung der Leuchttürme auf den Inseln und Riffen des Südchinesischen Meeres haben bislang für mehr als 100.000 Handelsschiffe, die die internationalen Schifffahrtsrouten durch das Südchinesische Meer nutzen, eine wichtige Rolle gespielt." Die Spratly-Inseln – auf Chinesisch Nansha-Inseln – liegen über tausend Kilometer vom chinesischen Festland entfernt. Strategisch günstig gelegen an einer der weltweit wichtigsten Schifffahrtsrouten. Und ein Gebiet, wo große Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Es sind rund 100 großflächig verstreute Riffe, Atolle und kleinere Inseln. China ignoriert Zwölf-Meilen-Zone Eigentlich haben die Vereinten Nationen geregelt, wem was gehört. Nach dem internationalen Seerechtsübereinkommen stehen jedem Land 200 Seemeilen vor der Küste als exklusive Wirtschaftszone zu. Weil China aber historische Ansprüche auf ein viel größeres Gebiet erhebt, definiert das Land eine Überquerung der Zwölf-Meilen-Zone um die umstrittenen Spratly- oder Paracel-Inseln als eine Eindringung in chinesisches Hoheitsgebiet. Auch deshalb kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen, wenn mal wieder ein US-amerikanischer Zerstörer seine Kreise im Südchinesischen Meer dreht. Im Hafen von Tanmen verladen die Fischer ihren Fang des Tages von den Booten auf alte Pritschenwagen. Die Fischer haben ihre Fanggebiete in den vergangenen Jahren immer mehr ausgeweitet. Weil die küstennahen Gebiete oft überfischt sind, fahren die Boote teilweise sogar über die von China proklamierte "Neun-Strich-Linie", um dort zu fischen. Im Fisch-Restaurant in Tanmen direkt am Hafen sitzt der 66-jährige Fischer Wu Shichuan beim Mittagessen. Es gibt frische Austern, Seeigel und Muscheln. Auch Wu sieht sich als Teil einer Bürgerwehr, als Verteidiger der chinesischen Interessen im Südchinesischen Meer. "Wir stehen im engen Kontakt mit Regierung und Armee. Wir haben vor nichts Angst im Südchinesischen Meer. Weil die Regierung und die Armee uns unterstützen, fürchten wir gar nichts. Die Boote der Armee patrouillieren vor unserer Küste. Wann immer es einen Notfall gibt, können wir die Küstenwache jederzeit rufen – und sie kommen sofort." Die Tanmen-Fischer wie Wu Shichuan geben sich kompromisslos. Sie sind geleitet von einer tiefen Überzeugung auf ein historisch verbrieftes Recht, nach dem große Teile des südchinesischen Meeres zu China gehören. "Ich glaube fest daran, dass China stark genug ist, das Südchinesische Meer zu schützen. Als Präsident Xi nach Tanmen kam, hat er uns gesagt, wir sollen weitermachen, das Südchinesische Meer und unsere Inseln zu verteidigen. Wir werden es nie einem anderen Land erlauben, Anspruch auf das Südchinesische Meer zu erheben." Im Fischerort Tanmen auf Insel Hainan begegnet einem das große Schild gleich am Ortseingang: eine etwa 20 Meter breite Tafel mit einem Bild von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bei seinem Besuch in Tanmen im Jahr 2013. In großer roter Schrift heißt es in einem Appell an die Fischer dort: Ihr seid die Pioniere für die Verteidigung von Chinas Rechten im Südchinesischen Meer. In Tanmen haben die Menschen das verinnerlicht. Immer wieder Konflikte Das Südchinesische Meer ruht still, die Wellen schweigen – doch plötzlich: Chinesische Schlepper rammen Küstenwachboote aus Vietnam, mit Wasserkanonen schießen sie auf die Seeleute, am Ende der Aktion sind sechs Vietnamesen verletzt, mit Bandagen um den Kopf liegen die Mannschaftsmitglieder an Deck, aber ihr Kapitän sagt: "Wir sind entschlossen, unsere Pflicht zu erfüllen, nämlich die Souveränität von Vietnams Wirtschaftszone und Hoheitsgebieten zu schützen und die Verletzung durch andere Mächte zu verhindern. Besonders durch chinesische." Das war vor zwei Jahren, als China eine Bohrplattform vor die Paracel-Inseln schleppte und dort verankerte. Die Aktion des großen kommunistischen Bruders zog heftige Reaktionen nach sich, aufgebrachte Vietnamesen zündeten vermeintlich chinesische Fabriken an, demonstrierten lautstark. Sogar mit Erlaubnis der Regierung. Ein gewagter Balanceakt für Vietnam, dessen Handelspartner Nummer 1 eben China ist – aber die Kulmination einer langen Geschichte von territorialen Streitigkeiten, Einschüchterungen und rechtlichen Uneinigkeiten. Die Korallenatolle der Paracel-Inseln liegen 400 Kilometer von der Küste Vietnams und 330 Kilometer von der Küste Chinas entfernt; seit Jahrhunderten streiten sich die beiden Länder um die 30 teilweise sehr niedrig liegenden Inseln und Riffe – aber nicht nur um diese. Weiter im Süden des Gewässers liegen die Spratly-Inseln – und die bergen noch viel mehr Sprengstoff im Konflikt ums Südchinesische Meer, oder, wie es auch heißt: "Wir nennen es das Ostmeer, denn es liegt östlich von unserer Küste. Wenn es weltweit Südchinesisches Meer genannt wird, heißt das noch lange nicht, das dieses Gebiet zu China gehört." Das will Nguyen Manh Dong vom vietnamesischen Außenministerium erst einmal klarstellen. Nach Vietnams Ansicht gehören die Spratlys komplett ihnen, aber ihnen wie den anderen Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres blieb nichts übrig, als erst ungläubig, dann immer aufgebrachter zuzusehen, wie China die Riffe und Inselchen umgestaltete. Die Spannungen haben zugenommen in den vergangenen Jahren, aber der Konflikt selbst ist schon Jahrhunderte alt: "Vietnams Souveränität über die Spratlys und Paracels geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. Seitdem haben wir diese Inseln verwaltet und seitdem versuchen wir, unsere Souveränität friedlich zu verteidigen." Bis 1949 habe China auch in seinen Karten verzeichnet, dass sein südlichster Besitz die Insel Hainan sei. Aber dann auf einmal habe sich seine Ansicht geändert. Der Ministerialbeamte Dong wechselt die Sprache, um auch auf jeden Fall das Unrecht in Chinas Vorgehen klarzumachen: "Dreimal hat China unser Gebiet mit Gewalt besetzt, 1956, 1974 und 1988, jedes Mal haben sie viele unserer Soldaten getötet." Heute ist es nahezu unmöglich, als Normalperson in die Nähe der umstrittenen Inseln zu kommen, die Nationen gehen aggressiv vor, wenn sie versuchen, ihr vermeintliches Hoheitsgebiet zu verteidigen – immer wieder hört man von Fischern, die festgesetzt, Booten, die versenkt werden. Spratly-Inseln sind strategisch wichtig Wer über die Inselgruppen herrscht, herrscht über das Südchinesische Meer mit seinem riesigen Fischreichtum und großen Rohstoffvorkommen. Aber vor allem, so betont Nguyen Manh Dong: "Was dieses Gebiet so bedeutend macht, ist, dass es eine wichtige Seefahrtstraße für alle Schiffe ist, die vom Osten Asiens in den Indischen Ozean fahren wollen oder umgekehrt. Das heißt, es sind Gebiete von Belang für internationale maritime Navigation. 1982 gab es eine internationale Seerechtskonvention über die Rolle der Archipele und Inseln in diesem Gebiet. Das alles macht die Situation noch komplizierter." Und international noch viel heikler. Die ASEAN-Staaten, also die Nationen Südostasiens, zerstreiten sich inzwischen bei ihren Treffen, wenn es darum geht, einen richtigen Kurs zur Lösung des Konflikts zu finden. Ob bei den ASEAN- oder beim G7-Gipfel, wie jetzt, Chinas Verhalten ist immer Thema von mindestens besorgten, meist auch kritischen Worten. Vor allem, seit das Land militärische Ausrüstung auf seine künstlichen Inseln schafft, Maschinen der chinesischen Luftwaffe dort landen, ranghohe Militärs die künstlichen Inseln besuchen. "Damit bereiten sie nicht nur Vietnam, sondern auch den anderen Anrainern und der internationalen Gemeinschaft große Sorgen. Gerade durch die Landgewinnung und die Stationierung von militärischer Ausrüstung bedrohen sie die Sicherheit in der Region, sie bedrohen die freie Schiff- und Luftfahrt im Südchinesischen Meer." Drohender Konflikt verunsichert viele Staaten Ein drohender Konflikt in der Region verunsichert viele Staaten. Auch deshalb hat beispielsweise Australien seine U-Boot-Flotte massiv vergrößert, japanische Kriegsschiffe besuchten einen Hafen der Philippinen, die wiederum über militärische Hilfe mit Vietnam verhandeln – all das sind sozusagen Gegendemonstrationen in Richtung China, am wichtigsten ist dafür aber das Engagement der USA. Sie haben ihre Verteidigungspolitik in den vergangenen Jahren immer mehr in Richtung Pazifik konzentriert, darum ist das Südchinesische Meer für sie ein neuralgischer Punkt, um China entgegenzutreten. "Große Nationen sollten kleine Nationen nicht einschüchtern, Konflikte sollten friedlich gelöst werden." So sprach US-Präsident Barack Obama kürzlich bei seinem Besuch in Vietnam. Er nennt China nicht beim Namen, aber wer gemeint ist, ist klar. Vor allem, weil die USA ihre deutlichen Worte auch mit deutlichen Taten begleiten: Sie lassen immer wieder Kriegsschiffe und Flugzeuge demonstrativ nahe der künstlichen Inseln der Chinesen passieren. Aktionen, die von China wie vom ganzen südostasiatischen Raum genau beobachtet und in den Medien diskutiert werden: "Erst vergangene Woche sahen wir ein US-Kriegsschiff innerhalb von zwölf Seemeilen an den umstrittenen Inseln vorbeifahren. Damit demonstriert Amerika seine Unterstützung für ihre Partner in der Region." Schüchterst du unsere Partner ein, schüchtern wir dich ein, so die Botschaft. Die Philippinen, die bald von einem Einschüchterungsspezialisten als Präsidenten geführt werden, nennen die umstrittenen Gewässer übrigens "Westphilippinisches Meer". Auch sie beanspruchen Teile der Spratly-Inseln und weitere umstrittene Riffe. Und Rodrigo Duterte, der designierte Präsident, hat in seiner wenig diplomatischen Art im Wahlkampf klar gemacht: "Wenn China nicht reden will, dann bitte ich die Marine, mich zur nächsten Grenze zu den Spratly-Inseln zu bringen. Und dann fahre ich mit einem Jet-Ski dorthin mit einer philippinischen Flagge und die werde ich auf ihrem Flughafen aufstellen. Dann werde ich sagen: Das gehört uns, und jetzt könnt ihr mit mir machen, was ihr wollt." Bis es zu einer solchen Aktion kommt, warten die Philippinen und mit ihnen der Rest der Welt auf eine Entscheidung des Internationalen Ständigen Schiedshofes in Den Haag. Die Philippinen hatten vor zweieinhalb Jahren gehandelt: Sie wollten vom Schiedshof Klarheit über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit von Chinas Ansprüchen und über die eigenen maritimen Rechte in der umstrittenen Region nach internationalen Gesetzen. In seinem Plädoyer nannte der philippinische Außenminister die Neun-Striche-Linie "die Berliner Mauer der Meere". Das Haager Gericht will seine Entscheidung bald fällen. Wichtig ist dem Vietnamesen Dong auf jeden Fall: "Es gibt nur eine friedliche Lösung für diesen Konflikt zwischen China und den anderen Ländern."
Von Axel Dorloff und Lena Bodewein
Mehrere Staaten erheben Anspruch auf das Südchinesische Meer. Seitdem China dort Atolle aufschüttet und militärische Einrichtungen baut, steigt das Konfliktpotenzial. Die USA betrachten das Meer als neuralgischen Punkt - und lassen demonstrativ Kriegsschiffe nahe der künstlichen Inseln kreuzen.
"2016-05-28T18:40:00+02:00"
"2020-01-29T18:31:50.758000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chinas-expansionskurs-der-konflikt-im-suedchinesischen-meer-100.html
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Das langsame Ende eines Lebensgefühls
Viva -Moderatorin Charlotte Roche im Jahr 2000 im Studio (imago stock&people) 1. Dezember 1993, 12 Uhr. Ein Fernsehstudio in Köln-Ossendorf. VIVA geht auf Sendung: "Es ist so weit! VIVA ist da! - Mein Name ist Heike. Ich bin der Nils. Und ich bin der einzige und wahre Mola. Kurz: Wir sind VIVA. Und wir sind mehr als nur ein Fernsehsender, denn wir sind euer Sprachrohr, und euer Freund. Und ab heute bleiben wir für immer zusammen, okay?" Der ehemalige Viva-Moderator Mola Adebisi mit dem Logo des Musiksenders (picture alliance /dpa /Roland Scheidemann) "Na, da hast du gar keinen Bezug zu", erinnert sich der damals 17-jährige Mola Adebisi an die erste Sendung. "Du machst dir gar keine Gedanken darüber, dass das, was du da gesagt hast, oder was du anziehst, gesendet wird." Von Beginn an gibt sich VIVA als cooler, kumpelhafter Jugendsender. Heike Makatsch, Nils Bokelberg und Mola Adebisi moderieren die erste Sendung. Sie waren jung, trugen schräge Klamotten und hatten was zu sagen: "Alles, was euch angeht, geht uns genauso an. Wir sind euer Fernsehen, eure Sprache, eure Farben und vor allem: eure Musik!" Mola Adebisi: "VIVA war die Jugend. Wenn du damals gelebt hast, und in dem Alter warst, wenn du VIVA nicht geguckt hast, dann brauchtest du auch nicht zur Schule zu gehen, weil dann hast du einfach verpasst, worum es geht. Das war so wie wenn heute jemand keinen Instagram- oder Facebook-Account hat. Dann bist du einfach raus, gehörst nicht dazu. So war das halt." "Und jetzt kommen wir zur Sache." Das erste gesendete Musikvideo. "Ganz klar, dass wir uns für eine Band entschieden haben, die so ist wie wir: 'Zu Geil Für Diese Welt', Die Fantastischen Vier!" Thomas D. (v. l.), Smudo und Michael Beck (alias DJ Hausmarke) von der Stuttgarter Hip-Hop-Band "Die Fantastischen Vier", aufgenommen 2003 (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen) "Ich habe damals immer die Losung ausgegeben, wir brauchen die Unterstützung und die Zuneigung von allen Teens und allen Twens", erinnert sich Christoph Post, Mitbegründer und erster Programmdirektor von VIVA. Die Teens bekamen Chart- und Popmusik am Nachmittag, die Twens Genresendungen am Abend. Etwa "Wah Wah", ein Indie-Rock-Magazin, das teilweise aus einem alten Proberaum sendete, oder die Hip-Hop-Sendung "Freestyle": "Wir sind hier bei Freestyle und chillen ab. Und heute haben wir die Absoluten Beginner hier live im Studio. Außerdem haben wir für euch einen Beitrag über Jungle-Musik mit DJ Bleed, später in der Sendung zeigen wir noch einen Arrested-Development-Beitrag, und jetzt sehen wir erstmal Derek B. mit 'We've Got The Juice'". Ein Dammbruch für die junge, popkulturelle kreative Szene Christoph Post: "Da hat sich auch ein bisschen mehr Musikjournalismus abgespielt, klar, weil da gab es eine ganz andere Auseinandersetzung mit der Musik als bei den Kids am Nachmittag." VIVA rumste in die deutsche Fernsehlandschaft. Innerhalb weniger Monate wurde der Sender zur popkulturellen Instanz. Christoph Post sagt, Anfang der 90er-Jahre war der Markt für deutsche Popmusik extrem überschaubar. Für kleinere Bands und noch unbekannte Musikvideoproduzenten war es fast unmöglich, ins Fernsehen zu kommen: "Das hat sich durch VIVA nachhaltig verändert. Das war wirklich wie so ein Dammbruch für die junge, popkulturelle kreative Szene Deutschlands, von der man, ehrlich gesagt, gar nicht wusste, dass sie da ist. Aber die war da. Und die hat in VIVA eine Plattform vorgefunden, die dann auch fantastisch ausgenutzt werden konnte." Das Pop-Feuilleton sah das natürlich etwas anders. Die großen Majorlabels hatten Anteile am Sender. Entsprechend hoch war die Zahl der gespielten Majorlabel-Musikvideos. Zwar war VIVA in den ersten Jahren nah dran an der deutschen Musikszene und ein Vertreter für die Interessen junger Menschen. Doch als das Unternehmen 1996 profitabel wurde, wurden redaktionell aufwändige Sendungen wie "Freestyle" eingestellt. Kein Wunder, sagt Barbara Hornberger, Professorin für die Didaktik populärer Musik an der Hochschule Osnabrück: "Erstmal ist natürlich VIVA ein Privatsender - und ein Privatsender hat kommerzielle Interessen." Eine Art kulturelles Jugendzimmer VIVA wollte Geld machen und musste etwa keinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllen. Barbara Hornberger: "Auf der anderen Seite ist jede clevere Kulturindustrie gut beraten, immer auch Nischen abzubilden. Und das machen sie genau so lange, bis sie ziemlich sicher das Gefühl haben, das will keiner hören. Oder nicht genug. Das heißt, sie versuchen, immer möglichst viel auszuprobieren, und das, was durchkommt, kommt durch, und alles andere wird irgendwann wieder eingestellt. Und so hat VIVA vermutlich auch gearbeitet." VIVA als eine Art "kulturelles Jugendzimmer" - das war schneller vorbei als gedacht. Trotzdem: VIVA hat Jugendkultur ins Fernsehen gebracht. Der Musiksender begleitete die Auflösung von Take That, ..."Unfortunately, the rumors are true. From today, it’s no more"... ebenso wie den Selbstmord von Kurt Cobain ... Der 1994 verstorbene Nirvana-Sänger Kurt Cobain. (imago / LFI) "Ihr könnt euch, glaube ich, vorstellen, wie hart es mich getroffen hat, als ich davon gehört habe, dass Kurt Cobain, der Frontmann von Nirvana, Selbstmord begangen hat" Boyband Tokio Hotel (AP Archiv) ... oder den Aufstieg der jungen Gruppe Tokio Hotel .... "Ich glaube jeder, oder viele in unserem Alter, träumen davon, irgendwann mal ein Video auf VIVA laufen zu haben. Wenn man das zum ersten Mal sieht, das ist kaum zu glauben". Talentschmiede vor und hinter der Kamera Zudem gilt der kleine Spartenkanal als Talentschmiede: Stefan Raab, Heike Makatsch, Oliver Pocher, Sarah Kuttner, Charlotte Roche: sie sind heute bekannte Persönlichkeiten und haben alle bei VIVA quasi live im Fernsehen das Fernsehmachen gelernt. "Wir wurden ja ohne irgendeine Vorerfahrung, ohne dass man uns irgendwas beigebracht hat, einfach vor die Kamera gelassen", sagt Collien Ulmen-Fernandes, die von 2003 bis 2015 bei VIVA moderierte. Und auch die allerletzte VIVA-Sendung dieses Jahr moderieren wird. "Es war wie so eine Übungsfläche. Man muss ja sagen, dass es hinter der Kamera ähnlich aussah. Da gab es auch Redakteure, die überhaupt keine Ahnung hatten, von dem, was sie machen. Man hatte hinter der Kamera Leute, die das erst lernen müssen, und dementsprechend sahen einige Sendungen aus. Aber das hat auch den Charme von VIVA ausgemacht." Szenen aus VIVA-Sendungen: "Ist das echt? Ist das alles echt? Ist das keine Perücke? Nein, das ist keine Perücke, das ist alles echt." "Ist VIVA deiner Meinung nach wichtig, um die Leute auf so eine gewisse Grund-Doofheit im Fernsehen einzuschießen, oder?""Du hast wohl mal in einem Interview gesagt, dass es sehr schwer für dich ist – wie soll ich sagen? – passende Kondome zu finden, weil dein Ding so klein ist." Der Anfang vom Ende 2004 wird VIVA vom US-amerikanischen Medienkonzern Viacom übernommen, zu dem auch MTV gehört. VIVA, der ehemaligen "Jugend- und Musiksender für Pop und Fun" wird kulturell immer flacher. Heute teilt sich VIVA die Frequenz mit dem Comedysender Comedy Central und sendet nur noch morgens und in der Nacht Musikvideo-Strecken. VIVA-Gründer Christoph Post glaubt, die Übernahme durch Viacom war ein Faktor des langsamen Bedeutungsverlusts: "Und das Zweite war sicherlich das Aufkommen von YouTube, also die Tatsache, dass man nicht mehr irgendwo im Fernsehen minuten-, stundenlang warten musste, bis das Video kam, das man gerne sehen wollte. Sondern man konnte es dann sehen, wenn man es sehen wollte. Das hat natürlich alles verändert. Und die Musikindustrie im Generellen, aber eben auch Musikfernsehen, das waren die ersten Unterhaltungszweige, die davon in voller Wucht erwischt wurden." YouTube - Logo (picture-alliance / dpa / Monika Skolimowska) "Und dann gibt es schon überhaupt kein Grund mehr, von einem linear und analog arbeitenden Gerät zu sitzen und zu warten, bis sie den Lieblingstitel vielleicht mal spielen", meint auch Pop-Professorin Barbara Hornberger. "Und als dann die Smartphones kamen und man das auf jeder Busfahrt, bei jedem Einkaufen, bei jedem Joggen, sozusagen ständig nach Wahl dabeihatte, dann brauchte man tatsächlich auch dieses Medium nicht mehr. Sie haben auch nichts Anderes erfunden, das sie dagegensetzen konnten, sondern das gemacht, was dann viele machen: Erst spart man, dann spart man am Personal, und dann bleibt nichts über, als ein Produkt, das längst woanders viel attraktiver ist." Das Konzept von VIVA ist heute nicht mehr zeitgemäß: YouTube ist die modernere, selbstbestimmtere Version des Musikfernsehens. Neue Musik wird auf Streamingdiensten entdeckt. Jetzt treffen User oder Algorithmen die Entscheidungen, was, wann läuft. VIVA hat kein Konzept gefunden, um auch in der neuen Medienwelt ein "Sprachrohr für die Jugend" zu bleiben, wie es Heike Makatsch in der allerersten Sendung sagte. Barbara Hornberger: "Es hat schon auch was damit zu tun, dass Musik, glaube ich, den Status als Leitmedium von Generationen und Jugendkultur verloren hat. Wenn man heute in einem Schulbus mitfährt, die streiten über Games, die streiten über Serien. Diese Idee, dass Musik das ist, was Generationen ausmacht, bündelt, sprechfähig macht, ich glaube, die ist einfach vorbei." Am 31. Dezember dieses Jahres wird VIVA eingestellt. Nach einem Vierteljahrhundert endet die Geschichte des wichtigsten deutschen Musikfernsehkanals. Mola Adebisi: "Es war schon eine Zeit, die man nicht mehr wiederholen kann." Ulmen-Fernandes: "Ich habe nach der Schule immer als erstes VIVA eingeschaltet und habe dann bis zum Abend VIVA geguckt. Deswegen bedeutet mir der Sender auch so viel, weil ich mit diesem Sender aufgewachsen bin."
Von Christoph Möller
Ein "Jugend- und Musiksender für Pop und Fun" wollte VIVA beim Sendestart am 1. Dezember 1993 sein. Die Moderatoren waren jung, bunt und schrill, und sie hatten was zu sagen. Doch die Krise hat auch VIVA erreicht. Ende des Jahres wird der wichtigste deutsche Musikfernsehkanal eingestellt.
"2018-12-01T15:05:00+01:00"
"2020-01-27T18:23:06.156000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/25-jahre-viva-das-langsame-ende-eines-lebensgefuehls-100.html
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Hässlich, aber lebenswert
Allein in Madrid leben mehr als 200.000 Menschen in den Neubaugebieten am Stadtrand. Das größte dieser Viertel ist der Ensanche de Vallecas mit mehr als 50.000 Menschen. (deutschlandfunk/ Hans-Günter Kellner)
Kellner, Hans-Günter
Neue Vorstädte mit mehr als vier Millionen Wohnungen wurden Anfang des 21. Jahrhunderts gebaut. Dann platzte die Immobilienblase. In vielen Hochhaussiedlungen nehmen die Bewohner die Gestaltung ihres Lebensraums selbst in die Hand. (Erstsendung: 12.03.2022)
"2023-04-08T11:05:00+02:00"
"2022-03-11T15:10:30.171000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/haesslich-aber-lebenswert-spaniens-staedte-des-baubooms-dlf-ab2f5f42-100.html
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Anmerkungen zur Aufteilung der Berlinale 2021
Der Berlinale Palast 2020. (dpa / picture alliance) Nicht ohne Grund trägt der Berlinale-Bär ein dickes Fell, unter dem sicherlich noch die eine oder andere zusätzlich wärmende Fettschicht steckt. Denn im Februar ist es bitterkalt in Berlin. Eisige Temperaturen, Schneematsch auf den Straßen, und am Potsdamer Platz, wo die Berlinale zu Hause ist, da pfeift der Wind nur so um die Ecken. Kein Branchentreffen im Schneematsch Der Berlinale-Bär ist also bestens gerüstet für dieses unwirtliche Wetter; und die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, sie tun es ihm gleich: Mummeln sich ein in Daune und Wolle, schützen die klammen Finger und die kalten Ohren so gut es geht für den Spurt von Kino zu Kino. Das Fluchen über Kälte und Nässe gehört zum Soundtrack von Deutschlands größtem Filmfestival wie die pathetische Eröffnungsmusik vor jedem einzelnen Film. Man leidet zwar ein bisschen, ist aber insgeheim auch stolz darauf, dazu gehören zu dürfen. Ein kleiner Märtyrer steckt demnach in jedem Berlinale-Fan. Auch das trägt bei zum Charme dieses Festivals, das mit seiner Terminierung im Februar ohnehin der "Underdog unter großen Branchentreffen ist. Bislang zu nah an den Oscars Denn in unmittelbarer Nachbarschaft zur Oscar-Verleihung ist die Berlinale für große Filmpremieren denkbar unattraktiv. Zum einen müssen die Filmstars rechtzeitig zurück in Hollywood sein. Und zum anderen gilt: Wer sich Hoffnung machen will auf einen Goldjungen aus Los Angeles, muss sich mit seinem Film deutlich früher oder später ins Rennen begeben. Theoretisch entscheidet zwar nicht der Premierentermin über die Oscar-Chancen, praktisch aber dann doch: Die Aufmerksamkeit eines großen Festivalauftritts sollte noch nicht verpufft sein, wenn die Academy ihr Urteil fällt. Und somit haben die Filmfestspiele in Venedig die Pole-Position eingenommen: Im September, bei gutem Wetter – da wollen Produzenten ihre Oscar-Kandidaten dem Weltpublikum präsentieren – und nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss, zu Jahresbeginn in Berlin. Das Klagen über den Februartermin der Berlinale ist so alt wie der Termin selbst. Und alle Überlegungen und Versuche, ihn zu verschieben, waren erfolglos. Berlinale im Dezember? Zu nah an den Feiertagen. Im Sommer? Eingequetscht zwischen Cannes und Venedig - und ohnehin mitten in der Urlaubszeit. Deshalb ist der Februartermin seit Ende der 70-er gesetzt. Warum nicht Open-Air-Kino? Und jetzt – Corona macht’s möglich – die Berlinale im Sommer? Flip-Flops und Handventilator statt Fellstiefel und Ohrenschützer? Auf das schüttelfrostige Berlinale-Feeling müsste man natürlich verzichten; aber dem weltweit größten Publikumsfestival würde es wohl noch mehr Interessenten bescheren. Die Hauptstadt ist im Sommer schließlich randvoll mit Touristen – alles potenzielle Festivalbesucher. Und die strenge Terminabfolge der Filmbranche – die gerät durch die Pandemie ohnehin durcheinander. Also: Wer weiß? Vielleicht bietet eine Sommer-Berlinale die einzigartige Gelegenheit, das Filmfestival ganz neu zu erfinden. Die zweigeteilte Not-Berlinale im kommenden Jahr ist da sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluss: Branchentreff im März mit Online-Wettbewerb und Sommer-Event mit Corona-kompatiblem Open-Air-Kino im Juni. Renommee der Internationalen Filmfestspiele im Blick Doch das Leben beweist: Was aus der Not geboren ist, besitzt nicht selten gute Überlebenschancen. Was zu Beginn ruckelt und hakt, kann passend gemacht werden. Zweifelsohne kein leichtes Spiel für Mariette Rissenbeek, die Geschäftsführerin der Berlinale: Man mag sich den Aufwand kaum ausmalen, eingespielte Partnerschaften, langjährige Absprachen vom Winter in den Sommer zu verlegen. Doch was mit großen Corona-Anstrengungen möglich ist, lässt sich vielleicht auch in virenloseren Zeiten bewerkstelligen, um die Berlinale ganz in den Sommer zu hieven. Dem Renommee der Internationalen Filmfestspiele könnte es dienlich sein. Und der Bär – auch er müsste mitspielen, sein zottiges Winterfell gegen eine leichtere Sommerbekleidung eintauschen und vielleicht ein bisschen abspecken. Und wir, die Berlinale-Fans, wir müssten uns auch umgewöhnen. Weniger meckern über die Kälte, dafür vielleicht - wenn wir den finsteren Kinosaal verlassen - ein bisschen freundlicher in die Berliner Sommersonne blinzeln.
Von Maja Ellmenreich
Ein Treffen der internationalen Filmbranche im Februar ist wegen der Corona-Pandemie undenkbar. Die Berlinale 2021 wird aufgeteilt: Die Filmprofis treffen sich im März im Netz. Das Publikum geht im Sommer hoffentlich ins Kino. Das kann auch eine Chance fürs Renommee des Internationalen Filmfestivals sein.
"2020-12-18T17:30:00+01:00"
"2020-12-20T11:47:50.643000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/endlich-weg-vom-februar-anmerkungen-zur-aufteilung-der-100.html
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Deutsch als Wissenschaftssprache in Gefahr
Manfred Götzke: Vor 600 Jahren gab es in der Wissenschaft eine Sprache, die alle verstanden haben: Latein. Das hat es Forschern aus ganz Europa ermöglicht, barrierefrei zu lesen, zu schreiben und sich auszutauschen. Eigentlich ist das heute genauso, nur dass Latein durch Englisch ersetzt wurde. Die wichtigsten wissenschaftlichen Journals sind englischsprachige, und auch immer mehr Studiengänge werden in Deutschland auf Englisch angeboten. Diese Programme sind bei vielen Studierenden sehr beliebt, weil sie eine wissenschaftliche Karriere im Ausland vereinfachen. Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts, sieht das Ganze aber eher mit einem weinenden Auge. Er sorgt sich um die Wissenschaftssprache Deutsch. Herr Lehmann, verlernen Nachwuchsforscher ihre Muttersprache, wenn sie Fachartikel auf Englisch verfassen?Klaus-Dieter Lehmann: Ich bin nicht dagegen, dass es eine internationale Verkehrssprache ist, aber wenn man wissenschaftliche Theorien nur noch im Englischen publiziert und damit auch denkt, dann wird das, was an Verbindung zur Alltagssprache ist, sehr, sehr gestört, das heißt, die Verbindungen zu Bildern, Metaphern, Wörtern, die in einer Sprache sind, werden nicht mehr in eine wirkliche Wissenschaft überführt. Das heißt, die Sprache verändert sich und verknappt sich, und damit wird sie, glaube ich, nicht mehr diese Lebendigkeit haben und man wird dann auch Begriffe nicht mehr haben, die man in der eigenen Sprache schöpfen kann, sondern die wird dann aus dem Englischen abgeleitet werden.Götzke: Das heißt, Sie sehen die Befürchtung, dass bestimmte Begriffe für wissenschaftliche Phänomene nur noch im Englischen vorhanden sind.Lehmann: Das ist so. Und wir sehen das ja auch, dass derzeit eine Tendenz besteht, das Englische auch nicht nur in der Wissenschaft zu etablieren, sondern auch in der Lehre zu etablieren. Und damit wird das Englische von einer Kommunikationssprache wirklich zu einer Bildungssprache.Götzke: Bleiben wir vielleicht erst noch mal bei den Publikationen: Kann man sich der Realität denn überhaupt entziehen, dass die wichtigsten internationalen Fachzeitschriften auf Englisch publizieren?Lehmann: Nein, das kann man sicher nicht. Das ist ein Trend, der im Hinblick auch auf die Aufmerksamkeit, die man der englischen Sprache als Publikationssprache widmet, tatsächlich auch geschuldet ist. Und es ist tatsächlich auch ein weiterer Punkt, dass auch die Auswertung von Publikationen über Science Citation Index und andere Nachweisinstrumente immer wieder dieses Ranking erzeugt, dass englischsprachige Publikationen im Ranking, also im Nachweis immer an den ersten Stellen stehen, während die muttersprachlichen Publikationen weiter unten stehen. Das hängt auch ein bisschen mit der marktbeherrschenden Situation zusammen, die einfach im angelsächsischen Bereich durch die großen Datenbanken geleistet werden. Und da ist meines Erachtens in Europa zu wenig gemacht worden, dass man auch Datenbanken aufbaut, die die vielfältigen europäischen Sprachen, das Französische, das Spanische, das Deutsche und weitere nachweist. Aber hier müsste man entgegenarbeiten, hier kann man Möglichkeiten finden, dass man deutschsprachige Publikationen auch im Englischen übersetzt, um damit beides zu bedienen, also die Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft, und man sollte möglicherweise auch mal überlegen, ob es nicht einen europäischen Index gäbe, der die Muttersprachen stärker in den Mittelpunkt setzt und die Zitierfähigkeit überhaupt in dieser Weise nachweist.Götzke: Man könnte die Tatsache, dass die meisten und die relevantesten Forschungsergebnisse auf Englisch publiziert werden, ja auch einfach barrierefreie Forschung nennen.Lehmann: Das könnte man, aber der Punkt ist einfach der, dass wenn wir das Ganze als Kommunikation betrachten, dann würde ich ja durchaus sagen, ist der Ansatz richtig, in dem durch diese einheitliche Terminologie ein besserer und schnellerer Austausch von wissenschaftlichen Erkenntnissen entsteht. Wogegen ich bin, ist, dass wir in der eigenen Sprache zu einer Verarmung kommen, wenn wir in der Publikationstätigkeit nur noch in Englisch publizieren. Die Tendenz zum Beispiel, dass wir jetzt auch zunehmend überlegen, dass in Universitäten Englisch als die entsprechende Vermittlungssprache benutzt wird, bedeutet auch, dass wir uns hier aus unserer eigenen Sprache verabschieden, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gastwissenschaftler nach Deutschland kommen oder Studenten nach Deutschland kommen, um Englisch oder ein schlechtes Englisch in den Vorlesungen zu hören.Götzke: Nun war ja gerade das Ziel, mehr ausländische Wissenschaftler, Spitzenwissenschaftler an die Hochschulen zu bekommen, was damit verbunden war, mehr englischsprachige Masterprogramme anzubieten. Glauben Sie tatsächlich, wenn man diese Entwicklung wieder zurückdrängt, mehr Veranstaltungen, Doktorandenprogramme, Masterstudienprogramme wieder auf Deutsch anbietet, dass man dieses Ziel damit besser erreichen kann?Lehmann: Ich glaube schon. Also wenn ich sehe, dass wir im Ausland als Goethe-Institut in den letzten zwei, drei Jahren eine wirkliche Renaissance erlebt haben, was die Einführung der deutschen Sprache als Fremdsprache betrifft - das gilt insbesondere natürlich derzeit für die Schwellenländer Indien, China, auch in Brasilien, auch in Russland -, dann muss ich sagen, dass die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu lernen, ausgesprochen stark vertreten ist. Das hängt natürlich auch mit zusammen, dass Deutschland als Wissenschaftsstandort interessant ist, dass Deutschland als Wirtschaftsstandort interessant ist. Das heißt, wir haben durchaus Pfunde, Anreize zu schaffen.Götzke: Nun wird es ja keinem Gastwissenschaftler verwehrt, Deutsch zu lernen und zu sprechen, aber sollte Ihrer Meinung nach Deutsch, fließende Deutschkenntnisse, sollten die Zugangsvoraussetzung für ein Studium in Deutschland, an deutschen Hochschulen sein?Lehmann: Also ich finde, dass man eine entsprechende Voraussetzung mit der Sprache durchaus anstreben sollte.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Klaus-Dieter Lehmann im Gespräch mit Manfred Götzke
Goethe-Institutspräsident Klaus-Dieter Lehmann plädiert für eine Stärkung der Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften. Indem man wissenschaftliche Theorien nur noch im Englischen publiziere, störe man die Verbindung zur Alltagssprache. Lehmann regt die Gründung von großen Publikationsdatenbanken für Werke auf Französisch, Spanisch oder Deutsch an.
"2012-05-09T14:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:40:54.801000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-als-wissenschaftssprache-in-gefahr-100.html
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Schwere Zungen und schwarze Scheiben
Junge Leute suchen in einem Londoner Indie-Musikladen nach Platten, die im Internet oder auf Streamingplattformen nicht so leicht zu finden sind. (imago / I Images) Die einst so stolzen britischen Independent-Label-Szene: Im Sommer 2017 passt sie in eine schütter gefüllte Londoner Markthalle, und das nebst einem gleichzeitig stattfindenden Bierfestival für Kleinbrauereien. Immerhin sorgt dieses Zusammenfallen der Ereignisse aber für gute Stimmung, unter anderem bei Alice, der französischen Promoterin von Fire Records. Vinyl, sagt sie, sei im Preis-Wert-Verhältnis besser als Bier, aber bei diesem Sonnenwetter wirke das Bier schneller. "Vinyl is better value than beer, but with the sun today with one beer you get very good value because it kicks in very quicker." Auch junge Leute kommen vorbei Neben Alice genießt auch Alphonso, ein in London arbeitender spanischer Platten-Importeur das im Verhältnis von drei Plastikbechern zum Preis einer LP ausgeschenkte Craft Beer. Er ist hier, um ein bisschen Optimismus für die Branche zu tanken. Es seien längst nicht mehr nur ältere Plattensammler, die hier herkommen, sagt er. Jetzt kämen auch jüngere. "It's not older people just replacing their record collections, it used to be, but younger people are coming." Der Altersschnitt im Publikum macht tatsächlich Hoffnung, die große Mehrzahl der Standbetreiber ist allerdings jenseits der vierzig. Unter ihnen Sean Price, der nach 21 Jahren im Geschäft und Erfolgen mit Bands wie Allo Darlin', Comet Gain oder The Pains of Being Pure at Heart sein Label Fortuna Pop! aufgegeben hat. Er feiert heute seinen letzten Auftritt am Indie Label Market, dementsprechend schwer auch seine Zunge: "Heute hab ich ungefähr 600 Pfund in meiner Tasche, das ist nicht schlecht. Davon bezahle ich die Standmiete und das Taxi und bringe immer noch einen ordentlichen Profit nach Hause. Wir hatten hier heute Kunden, die kauften Platten, ohne zu wissen, was drauf ist. Vielleicht fühlen sie sich besser, wenn sie direkt vom Label kaufen. Kann sein, dass die Leute zum Indie Label Market kommen und sich denken: Ich kauf da was und stecke damit wieder was zurück in die Musik." Verkauf für einen guten Zweck Hymn on the 45 – der Tribut von Fortuna Pops Hausband Allo Darlin' an das archetypische Popformat der Vinyl-Single. Neben etablierten Independent-Labels wie dem von Sean Price gibt es auf dem Indie Label Market aber auch solche, die erst gar keinen regulären Vertrieb haben, weil ihre Stückzahlen dafür schlicht zu klein sind. John Jervis, der das Londoner Label Where It's At Is Where You Are betreibt, hat zum Beispiel eine spezielle Vorliebe für die Zahl sieben. Daher verkauft er diesmal ein Boxset von sieben CDs mit jeweils 77 Minuten langen Stücken, hergestellt in einer Auflage von sieben mal sieben, also insgesamt 49 Stück. "Für den Handel wären unsere Platten finanziell völlig uninteressant und ich würde nie meine Kosten reinbringen. Der Erlös dieses Produkts soll aber der Organisation Ärzte ohne Grenzen zugute kommen, deshalb ist es also unglaublich wichtig, es direkt zu verkaufen." Einer von Johns Kunden ist Tim, von Nebenberuf selbst Verleger in Kleinstauflage handgedruckter Bücher. Er sammelt Platten, die den Weg von der Massenkultur des Pop zurück zum individuellen Kunsthandwerk gehen. "Ich bin viel mehr an handgemachten Dingen interessiert als an Hochglanzprodukten, die in immer kleineren Stückzahlen erscheinen und so aussehen wie alles, was in den letzten 40 Jahren hergestellt wurde. Wenn man von etwas nur 300 Stück produziert, ist es bereits ein persönliches Artefakt. Warum sollte man dann so tun, als wäre das ein Massenprodukt, anstatt etwas sehr Persönliches zu machen, das in großer Auflage nicht möglich wäre?" Plattenkauf als soziales Ereignis Tim hat auch eine gute Erklärung dafür, warum es der Kundschaft so viel leichter fällt, Geld für Bier als für Tonträger auszugeben. "Es ist wirklich schwer, eine Platte wegzuwerfen. Wenn man sie einmal gekauft hat, muss man sie immer mitschleppen, wenn man umzieht. Ein schlechtes Bier geht in den Abfluss, aber ich bin seit mindestens 25 Jahren keine Platte losgeworden." Wenn selbst erklärte Liebhaber des Tonträgers schon so reden. Aber immerhin schafft es der Indie Label Market, aus der Vorliebe für obskure Musik ein soziales Ereignis zu machen. Mit Downloads oder Streams ginge das nicht. Und egal ob man mehr für Bier oder Platten ausgegeben hat, am Ende verlässt niemand den Spitalfields Market ohne gut gefüllte Plattentasche.
Von Robert Rotifer
Independent-Labels stellen ihre Tonträger heutzutage in derart kleinen Stückzahlen her, dass ein traditioneller Vertrieb sich gar nicht mehr lohnt. Beim Londoner Independent-Label Market konkurrieren Platten in kleinen Auflagen mit Craft Beer aus dem Plastikbecher. Wer gewinnt?
"2017-08-19T15:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:46:44.652000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/londoner-independent-label-market-schwere-zungen-und-100.html
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Beschlüsse des EU-Gipfels sind "ein ganz wichtiger Schritt in die Zukunft"
Martin Zagatta: Der deutsche Vorstoß, einen Sparkommissar für Griechenland einzusetzen, ist bei den übrigen EU-Partnern auf keine Gegenliebe gestoßen, um es vorsichtig zu formulieren. Aber der EU-Gipfel in Brüssel hat sich gestern Abend auf den sogenannten Fiskalpakt geeinigt, auf Sparvorgaben, die verbindlich werden sollen. Ist das ein Erfolg, wie die Kanzlerin es sagt?Verbunden sind wir jetzt mit Norbert Barthle, dem haushaltspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Guten Tag, Herr Barthle.Norbert Barthle: Ich grüße Sie, Herr Zagatta.Zagatta: Herr Barthle, zu dem jetzt beschlossenen Fiskalpakt, da hatten wir ja mit den Maastricht-Kriterien schon ganz ähnliche Vereinbarungen oder Vorschriften, die dann auch nicht eingehalten wurden, die dann auch nicht durchgesetzt wurden. Warum soll das diesmal anders sein?Barthle: Gerade aus dieser Erfahrung hat man ja gelernt. Wir haben sehen müssen, dass die Maastricht-Kriterien von vielen Staaten - unter anderem auch von Deutschland - permanent gebrochen wurden, nicht eingehalten wurden, und dass es da keine Möglichkeit gab, entsprechende Sanktionierungen vorzunehmen, also ein bisschen Zwang auszuüben. Und deshalb ist dieser Fiskalpakt jetzt von so großer, entscheidender Bedeutung, weil er die bisherigen Maastricht-Kriterien einerseits deutlich verschärft und B eine wesentlich größere Verbindlichkeit mit sich bringt, sodass ich berechtigt davon ausgehe, dass mit diesem Fiskalpakt eine viel stärkere disziplinierende Wirkung auf die einzelnen Mitgliedsstaaten ausgeht, als das bisher der Fall war.Zagatta: Sie sagen, "ein bisschen Zwang". Also wir sind nach wie vor beim Prinzip Hoffnung?Barthle: Nein, nicht nur, denn erstens mal ist es ein großartiger Erfolg, dass sich alle Mitgliedsstaaten, alle 25, die diesen Pakt unterzeichnen wollen, dazu verpflichten, eine Schuldenbremse entweder in ihre nationale Verfassung aufzunehmen, oder einen rechtsähnlichen Zustand zu schaffen, sodass eine Selbstverpflichtung auch in den einzelnen Ländern entsteht, eine Schuldenbremse einzuhalten, die nahezu so scharf ist wie unsere, nämlich mit 0,5 Prozent maximale Neuverschuldung, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt. Das ist eine sehr, sehr scharfe Regelung, die – da kann ich sehr leicht das verstehen – von den Linken, von Gewerkschaften bekämpft wird, denn die stehen ja immer nur für mehr Geld ausgeben, für mehr Schulden machen, das passt denen überhaupt nicht.Zagatta: Aber auch im Regierungslager, Herr Barthle, sollen ja jetzt viele verärgert sein, dass dieser Stabilitätspakt schon wieder aufgeweicht worden ist. Kann man diese Verärgerung abstreiten?Barthle: Die kann man nicht abstreiten. Es ist sicherlich so, dass wir nicht alle unsere Ziele zu 100 Prozent erreicht haben, aber mit Verlaub: Das haben Verhandlungen so an sich. Wenn man alle seine Ziele zu 100 Prozent durchsetzen wollte, dann bräuchte man nicht zu verhandeln. Dass da das eine oder andere Ziel etwas abgeschwächt wurde, das ist aus meiner Sicht kein Schaden. Wir haben unsere wichtigsten Positionen durchgesetzt, und das ist für mich deshalb ein großartiger Erfolg für Angela Merkel, ein großartiger Erfolg für Wolfgang Schäuble und vor allem ein großartiger Erfolg für Europa. Das ist eigentlich das Entscheidende, weil wir jetzt den Gleichklang haben, einerseits Finanzstabilität, Haushaltskonsolidierung voranzutreiben, andererseits auch Wachstumskräfte zu stärken, etwas für die Volkswirtschaften zu tun. Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefs vereinbart und das ist für mich ein ganz wichtiger Schritt in die Zukunft.Zagatta: Herr Barthle, "ein großartiger Erfolg", sagen Sie. Das hört man eigentlich nach jedem Gipfel, wo Frau Merkel dann jeweils auch wie Sie jetzt von einem großartigen Erfolg spricht. Wenn wir da von Erfolg zu Erfolg eilen, warum sind wir dann in einer Krise?Barthle: Wir haben nach wie vor eine Staatsschuldenkrise, aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass Griechenland wirklich sich so langsam zum Sonderfall entwickelt. Das übrige Rettungsprogramm EFSF funktioniert bei Portugal, funktioniert bei Irland gut. Das was wir gemacht haben, um Ansteckungsgefahren zu verhindern, funktioniert bisher auch gut. Die Märkte beruhigen sich so langsam, wenn man die Credit Default Swap Märkte anguckt, da hat sich schon eine deutliche Beruhigung ergeben, und ich hoffe sehr, dass wir, wenn wir das erste Viertel Jahr dieses Jahres überstehen, dass wir dann über den Berg sind. Aber Griechenland ist ein Sonderproblem, das man auch mit besonderen Mitteln behandeln muss.Zagatta: Etwa mit einem Sparkommissar? Den hat die Bundesregierung ins Gespräch gebracht und hat damit für großen Wirbel und Empörung gesorgt in Brüssel. Daraus ist ja jetzt oder wird wohl auch nichts. Selbst Außenminister Westerwelle geht da heute auf Distanz. Hören wir uns das vielleicht mal an:O-Ton Guido Westerwelle: "Hier ist entscheidend, dass wir diese Debatte auch mit einer klaren pro-europäischen Ausrichtung führen. Mancher Ton, der in den letzten Tagen verwendet worden ist, ist eher geeignet, zur Verhärtung auch bei unseren Partnern in Europa beizutragen."Zagatta: Herr Barthle, aus den Reihen der Union und damit der Bundesregierung einen solchen Sparkommissar vorzuschlagen, war das ungeschickt?Barthle: Das ist, glaube ich, auch ein bisschen falsch verstanden worden. Das ist ja nicht so gedacht, dass wir jetzt einen Sparkommissar, einen Oberaufseher nach Griechenland schicken wollen, sondern unsere Vorstellungen – und dabei bleibe ich – gehen dahin, dass wir bei der Europäischen Kommission in Brüssel jemanden brauchen, einen sozusagen Haushaltskommissar, der sich um die Einhaltung dieses Fiskalpaktes kümmert, der sich die Haushalte der einzelnen Mitgliedsstaaten anschaut, wenn diese nach Brüssel gemeldet werden, der dann entsprechend Signale aussendet, wie und wo noch etwas verbessert werden müsste. Also wir brauchen nicht nur einen Kommissar, der sich um die wichtigen Energiefragen kümmert, sondern wir brauchen auch einen, der die Haushaltsdisziplin in den einzelnen Mitgliedsstaaten einhält. Das war der Fehler der vergangenen Jahre, und der darf sich nicht wiederholen.Zagatta: Was heißt das jetzt im Fall Griechenlands? Da hört man, die Verhandlungen stocken. Aber mittlerweile hat man ja wirklich den Eindruck, egal was sich in Griechenland tut, neue Hilfsgelder gibt es trotzdem. Ist dieser Eindruck so falsch?Barthle: Der ist falsch, denn momentan ist die Troika in Griechenland und die Troika muss einen Bericht abgeben, ob die Schuldentragfähigkeit Griechenlands gegeben ist und ob Griechenland zumindest ein Stück weit die Auflagen auch einhält, die es bekommt, um dieses Programm, dieses Hilfsprogramm zu erhalten.Zagatta: Herr Barthle, ein Stück weit? Habe ich Sie da richtig verstanden?Barthle: Ja. Griechenland hat in der Vergangenheit schon unter Beweis gestellt, dass sie mehr Zeit brauchen als vorgesehen war bei der Ausfertigung des Programms. Da sind ja genaue Vierteljahres-Tranchen vorgegeben, was alles erfüllt werden muss. Da hinkt Griechenland bisher schon hinterher. Dass die etwas mehr Zeit brauchen, das kann man ja akzeptieren. Aber man kann nicht akzeptieren, dass da einfach gar nichts geschieht. Wenn nichts geschieht, dann gibt es keine siebte Tranche, und wenn es keine siebte Tranche gibt, gibt es auch kein zweites Griechenland-Programm, das das erste ergänzen soll. Voraussetzung für ein zweites Griechenland-Programm ist tatsächlich, dass Griechenland unter Beweis stellt, selbst Anstrengungen zu unternehmen, um sich aus dieser Krise herauszuarbeiten.Zagatta: Wie ist es dann mit dem Rettungsfonds von 500 Milliarden, der ja jetzt auf den Sommer vorgezogen wird? Da soll demnächst schon über eine Aufstockung entschieden werden, und damit – das lehrt ja die Erfahrung – ist doch klar, dass das noch wesentlich teurer wird für die Deutschen. Ist das den Deutschen noch vermittelbar?Barthle: Zunächst geht es darum, den ESM einzurichten. Auch dazu braucht es nationale Gesetzgebung, und da bleibt es bei dem bisher vorgesehenen Volumen von 500 Milliarden Euro.Zagatta: Ganz sicher?Barthle: Ganz sicher, woraus übrigens eine geringere Gewährleistungsrate für Deutschland entsteht, als bisher über den EFSF der Fall war. Beim EFSF mussten wir für 211 Milliarden im Maximalfall geradestehen, beim ESM für 168 Milliarden im Extremfall. Also da verringert sich die Garantiesumme für Deutschland. Sollte in dieser Zeit tatsächlich ein Notfall eintreten, dann plädiere ich dafür, eventuell darüber nachzudenken, ob man EFSF und ESM miteinander verbinden könnte. Aber ich bin überzeugt, dass es beim Volumen des ESM bleiben wird.Zagatta: Norbert Barthle, der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Herr Barthle, vielen Dank für das Gespräch.Barthle: Bitte sehr, Herr Zagatta.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Norbert Barthle im Gespräch mit Martin Zagatta
Der Fiskalpakt verschärfe die Maastricht-Kriterien und bringe größere Verbindlichkeit mit sich, sagt Norbert Barthle, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Daher gehe eine viel stärker disziplinierende Wirkung auf die einzelnen Mitgliedsstaaten aus, als bisher.
"2012-01-31T12:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:43:24.973000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/beschluesse-des-eu-gipfels-sind-ein-ganz-wichtiger-schritt-100.html
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Raus aus der Natur!
Der Waschbär kommt ursprünglich aus Nordamerika und ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch auf dem europäischen Festland zu finden. (dpa / picture alliance / Horst Ossinger) In Neuseeland, Australien und auf pazifischen Inseln gehen Umweltschützer inzwischen mit Gift und Gewehren gegen die Eindringlinge vor, demnächst vielleicht sogar mit Gentechnik. Der Umweltjournalist Fred Pearce hält die Reaktionen vieler Artenschützer für übertrieben. Er stellt fest: Meist leben ursprüngliche Arten und Einwanderer friedlich nebeneinander. Fremde Tiere und Pflanzen besetzen ökologische Nischen, die zuvor von den Einheimischen aus unterschiedlichen Gründen verlassen wurden. Fred Pearce fordert eine Art Willkommenskultur für die neue Wildnis und sorgt damit für reichlich Diskussionsstoff. Deutschlandfunk 2017 Das Manuskript zur Sendung findet Sie bei Wissenschaft im Brennpunkt vom 13.08.2017
Von Michael Lange
Asiatische Körbchenmuscheln, amerikanische Waschbären oder indisches Springkraut: Tiere und Pflanzen aus aller Welt sind weit außerhalb ihrer Herkunftsländer heimisch geworden. Auch bei uns verdrängen sie vielerorts einheimische Arten - sehr zum Unmut von Naturfreunden.
"2018-12-26T13:30:00+01:00"
"2020-01-27T18:22:38.136000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/umgang-mit-invasiven-arten-raus-aus-der-natur-102.html
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Chinesische Forscher finden fossile Vielzeller
Die Fossilien aus dem Yanshan-Gebiet in China sind rund 1,56 Milliarden Jahren alt (Nature Communications) Fossilien, die mit bloßem Auge zu sehen sind, tauchen recht spät in der Erdgeschichte auf: Von ein paar Ausnahmen abgesehen, begann die Evolution erst vor rund 630 Millionen Jahren auf Größe zu setzen. Doch Fossilien, die im Yanshan-Gebiet in Nordchina entdeckt worden sind, bringen es mit 1,56 Milliarden Jahren auf mehr als das doppelte dieses Alters. "Wir haben insgesamt eine Kollektion von 200 Fossilien, die bis zu 8 Zentimeter breit und 30 Zentimeter lang sind. 53 dieser Fossilien weisen klare Formen auf: Sie sind gerade wie Gürtel, keil- oder zungenförmig. Ihre Umrisse sind immer scharf begrenzt. Im Grunde sehen sie aus wie der Seetang heute." Für Maoyan Zhu von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Nanjing steht fest, dass diese rätselhaften Lebewesen große, mehrzellige Eukaryoten waren - also Lebewesen mit Zellkern, zu denen die Pantoffeltierchen ebenso gehören wie Menschen. "Wir interpretieren diese Organismen nicht als Kolonie von Einzellern, sondern als mehrzellige Lebewesen, als so etwas wie Seetang. Sie betrieben wahrscheinlich im flachen Bereich eines Meeres mit sehr klarem Wasser Photosynthese. Einige Fossilien zeigen Strukturen, die so aussehen, als hätten sie sich damit am Meeresboden verankert." Mit rund anderthalb Milliarden Jahren lebten diese Organismen zu einer Zeit, aus der die bislang ältesten überhaupt bekannten Eukaryoten stammen: Das sind allerdings mikroskopisch kleine Einzeller. Trotzdem ist Andrew Knoll von der Harvard-University überzeugt, dass diese flachen, klingenförmigen Strukturen keine Bakterienkolonien waren: "Schon allein Größenstatistik und Form schließen aus, dass es sich um Fragmente von Bakterienmatten handeln könnte. Unserer Meinung nach handelt es sich sicher um mehrzellige Eukaryoten. Allerdings nicht um komplexe Eukaryoten wie Tiere, sondern um sehr einfache, ohne ausdifferenzierte Gewebe oder Organe. Wir wissen, dass solche einfache Formen mehrfach im Lauf der Erdgeschichte entstanden sind, gut über 20 Mal." Der Sprung von einzelligen Eukaryoten zu einfachen mehrzelligen sei offensichtlich klein, urteilt Andrew Knoll. Auch heute bestehe Tang lediglich aus fast identischen Zelllagen: "Der Grund, dass wir diese Organismen für Eukaryoten halten, ist einfach der, dass wir aus der Bakterienwelt nichts kennen, was in einer ähnlichen Form auftritt. Am ehesten gleichen sie einfachen, vielzelligen Eukaryoten." Nick Butterfield von der University of Cambridge, der nicht zu der Forschergruppe gehört, hat sich die Arbeit angesehen. Er ist von der Argumentation seiner Kollegen nicht wirklich überzeugt: "Verstehen Sie mich nicht falsch, diese Fossilien sind interessant. Aber ich glaube, dass das letzte Wort darüber, noch nicht gesprochen ist, ob es wirklich mehrzellige Eukaryoten sind. Wir kennen heute eine Gattung von Cyanobakterien, die große, scharf begrenzte und regelmäßige Kolonien bildet. Ich sage nicht, dass die Fossilien in diese Gattung gehören, denn ihr Aufbau ist anders. Aber eine solche Möglichkeit muss sicher ausgeschlossen werden, ehe wir davon reden, dass es vor 1,56 Milliarden Jahren so etwas wie großen mehrzelligen Seetang gegeben hat." Es ist also umstritten, ob diese Fossilien nun von Bakterienkolonien stammen - oder von mehrzelligen Eukaryoten. Und damit gesellen sie sich zu den vielen anderen Funden aus der Zeit vor der Entstehung der Tiere, über deren Natur sich die Paläontologen uneins sind.
Von Dagmar Röhrlich
Vor 1,8 Milliarden Jahren wurden auf der Erde die Voraussetzungen für die Evolution geschaffen. Bisher glaubte Paläontologen, dass diese Entwicklung im Verborgenen ablief, aber eine Entdeckung aus China könnte diese Bild nun ändern.
"2016-05-18T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:58.032000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aelter-als-gedacht-chinesische-forscher-finden-fossile-100.html
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Feuerwerk des schwarzen Humors
Welterfolg: "Arsen und Spitzenhäubchen", Aufführung der Münchner Kammerspiele 1969 (dpa / picture-alliance) Zwei etwas tüdelige, ganz reizende alte Damen als wohlmeinende Serienmörderinnen, der charmant entgeisterte Gary Grant schockstarr auf der Truhe mit der nächsten Leiche sitzend, und der völlig durchgeknallte Teddy, der im Harry Roosevelt-Outfit die Treppe heraufstürzt, zur Attacke bläst und die Liegeplätze für die sprichwörtlichen‚ "Leichen im Keller" gräbt – wer kennt nicht den Film "Arsen und Spitzenhäubchen" oder hat das Theaterstück gesehen mit seinen anheimelnd morbiden Dialogen. Die Kritiker trauten ihren Augen nicht, als am 10. Januar 1941 am Broadway das Stück "Arsenic and Old Lace" uraufgeführt wurde - ein Feuerwerk des schwarzen Humors, unterhaltsamer Gruselfaktor und hauseigener Wahnsinn inklusive. Geplant als Drama An den bisherigen Theaterstücken des deutschstämmigen Musikers, Schauspielers und Autors Joseph Kesselring - und es ist zu ergänzen: auch an allen, die folgen sollten – hatte die Kritik kein gutes Haar gelassen. Doch diesmal hatte Kesselring sein in der ersten Fassung von 1939 offenbar schwerblütiges Drama "Bodies in Our Cellar" an das seit ein paar Jahren sehr erfolgreiche und wenig später mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Drehbuch-Autoren- und Producer-Duo Howard Lindsay und Russel Crouse geschickt. Die erkannten das komische Potenzial in dem Plot, schlossen einen Vertrag mit ihm – und schrieben das Opus beherzt um. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit erschien unverändert unter dem Namen Kesselring und wurde ein Sensationserfolg. Die Kritik war perplex: "Nichts von Mr. Kesselrings bisherigen Arbeiten hat uns auf diese furiose Mischung Biskuit backender niedlicher alter Jungfern und mörderischer Maniacs vorbereitet. Das Premierenpublikum heulte vor Lachen." Und beileibe nicht nur das Premierenpublikum: 1444-mal lief "Arsen und Spitzenhäubchen" in restlos ausverkauften Broadway-Vorstellungen. Und selbst Frank Capras Low Budget-Verfilmung, gleichzeitig und zum Teil mit denselben Darstellern wie auf der Bühne gedreht, musste für drei Jahre, bis 1944, im Depot verschwinden - bis die Broadway-Produktion abgespielt war. Schwarzer Humor in Kriegszeiten Während sich in dieser grotesk gespenstischen Familiengeschichte die Banalität des häuslichen Bösen materialisiert und das traute Heim von Arsen und Spitzenhäubchen Stück für Stück zerbricht, steht die Welt in Flammen: Pearl Harbour, Stalingrad, Kriegseintritt der USA, Invasion. Es ist, als ob das Massenmorden auf dem Kontinent und die Serienmorde auf dem Theater in irgendeiner gespenstischen Korrespondenz zueinander stünden. Abwehr? Makabre Parallele? Zufall? Oder Warnung? Der gestaffelte Vormarsch des Schreckens in Kesselrings Stück ist bedrohlich: Erst sind es nur die beklagenswerten Opfer der Tanten, doch dann stehen urplötzlich Schwerstkriminelle aus der eigenen Verwandtschaft in der Stube und die bisherigen versponnenen Bewohner hilflos mit dem Rücken zur Wand. Kesselring selbst war offenbar ein höchst ambivalenter Zeitbeobachter. Und wer seine Gedichte liest, erfährt auch etwas über das Vorbild für seine abgründigen Frauenfiguren: seine mehr als hintergründige Großmutter.
Von Cornelie Ueding
Zwei alte, reizende Damen entpuppen sich in dem Theaterstück "Arsen und Spitzenhäubchen" als zwei Serienmörderinnen und schocken damit ihren nichts ahnenden Neffen. Die Komödie von Joseph Kesselring mit schwarzem Humor, unterhaltsamen Gruselfaktor und einer Prise Wahnsinn wurde vor 75 Jahren erstmals am Broadway in New York uraufgeführt. Der Erfolg war so groß, dass die Filmfassung einige Jahre warten musste.
"2016-01-10T09:05:00+01:00"
"2020-01-29T18:07:55.802000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/vor-75-jahren-urauffuehrung-von-arsen-und-spitzenhaeubchen-100.html
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Ausdruckswille und subtile Klangsinnlichkeit
Wurde 2020 mit dem E.T.A. Hoffmann Preis der Stadt Bamberg ausgezeichnet: die Komponistin Viera Janárceková. (Julia Wesely) DOTYKKammer- und Orchestermusik von Viera Janárčeková (1941–2023)Ivan Buffa (Klavier), Quasars Ensemble, Kremerata Baltica, Bamberger Symphoniker u.a.Label: Kairos
Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre
Hartnäckigkeit, Ausdauer und das Fehlen von Kompromissen prägen das Vita und Werk von Viera Janárčeková (1941-2023). Wie die slowakisch-deutsche Komponistin zu einer eigenen Klangsprache gefunden hat, dokumentiert eine posthum erschienene CD beim Label Kairos.
"2023-08-13T09:10:00+02:00"
"2023-08-13T09:10:00.195000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/viera-janarcekova-100.html
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Der deutsche Föderalismus als Vorbild für die katalanische Zukunft
Auf den Wahlkampfplakaten steht Artur Mas, der Ministerpräsident Kataloniens, mit ausgebreiteten Armen im Fahnenmeer, blickt in die Sonne. "Der Wille eines Volkes" steht daneben. Alles dreht sich im katalanischen Wahlkampf um die Unabhängigkeit. Die tiefe Wirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit spielt kaum eine Rolle. Ein Erfolg der Wahlkampfstrategie der Nationalisten, meint der katalanische Historiker Joaquim Coll:"Die Krise wird noch länger andauern. Die Regierungspolitiker haben keine Antworten darauf. So erfinden die Nationalisten Probleme oder übertreiben bestehende und versprechen Wunderlösungen. Als würde uns die Unabhängigkeit aus der Krise heraushelfen. Im Gegenteil, eine Trennung wäre ein wirtschaftliches Trauma, sie würde uns nicht helfen, sondern stören." Der Historiker hat mit einigen Freunden eine Initiative gegründet. Spanien brauche eine tiefgreifende Verfassungsreform und müsse zu einem föderalen Staat werden, fordern sie und haben ein Manifest für den Verbleib Kataloniens in einem spanischen Bundesstaat verfasst. Bei der Vorstellung der Initiative zum Auftakt des katalanischen Wahlkampfs in einem Theater in Barcelona sagte diese Frau."Ich sehe keinen Grund, mit Spanien brechen zu müssen, um einfordern zu können, was wir wollen: eine bessere Finanzierung unserer Region, die Anerkennung unserer Kultur, Geschichte und Sprache. Darauf müssen wir nicht verzichten, wenn wir in einem föderalen Spanien leben. Deutschland ist ja auch ein Bundesstaat. Das ist unser Ziel."Von Deutschland war an diesem Abend viel die Rede. Denn Spanien besteht schon jetzt aus 17 autonomen Regionen. Doch die Steuermittel würden nach einem komplizierten Schlüssel verteilt, den kaum jemand verstehe und viele Interpretationen zulasse. Der Zentralstaat regiere in die Kompetenzen der Regionen hinein, bemängeln die Autoren des Manifests. Das größte Problem für sie: Die Regionen haben keinen politischen Einfluss auf den Zentralstaat, erklärte der Politologe Cesáreo Rodríguez-Aguilera, einer von 15 Rednern an dem Abend:"Ein echter föderaler Senat würde dem deutschen Bundesrat entsprechen. Diese Kammer repräsentiert die deutschen Bundesländer und hat Hoheitsrechte. Ein solches Modell würde auch in Spanien die Mitsprache in der Politik des Staates und eine effiziente Koordination unter den Mitgliedsländern dieser Föderation garantieren." Die Redner wandten sich an diesem Abend alle gegen die Unabhängigkeitspläne – aber nicht grundsätzlich gegen eine Abstimmung über diese Frage. Carlos Jiménez Villarejo, einer der renommiertesten Juristen Spaniens und ehemaliger Sonderstaatsanwalt für Korruptionsdelikte, forderte aber einen klaren rechtlichen Rahmen für ein solches Referendum. An seiner persönlichen Option ließ er keinen Zweifel:"Natürlich ist Katalonien eine Nation. Aber diese Nation hat sich unter der ständigen Unterstützung durch die Völker Spaniens geformt. In unserer Gesellschaft können viele Identitäten harmonisch zusammenleben. Das ist der große Reichtum des katalanischen Volks und der katalanischen Kultur. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Katalonien den Völkern entrissen wird, die es einst mitgeprägt haben. Katalonien darf nicht zerrissen werden, um die dunklen wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen zu befriedigen, die sich hinter dieser angeblichen Unabhängigkeit verbergen. Ich sage ja zu einem konkreten und klaren Referendum, ich sage ja zu einem Bundesstaat und ganz klar Nein zu jeder Form von Unabhängigkeit." Mit einer Jazzfassung der Europahymne endete der Abend. Doch trotz des Erfolgs des Manifests – das schon 2500 Menschen unterzeichnet haben: Die Anhänger eines spanischen Bundesstaats haben einen schweren Weg vor sich. Denn zum Einen hat sich die in Spanien regierende konservative Volkspartei bisher stets gegen eine solche Reform ausgesprochen. Und zum Anderen sind auch die katalanischen Nationalisten dagegen - und auch innerhalb Kataloniens wird das gesellschaftliche Klima rauer. Dies berichtete Politikstudent Eloi Cortés."Es heißt jetzt schon, dass wer jetzt gegen die Unabhängigkeit ist, in einem unabhängigen Katalonien als Verräter behandelt werden wird. Wir respektieren die Option der Unabhängigkeit, sie ist legitim. Wenn man aber in einer Diskussion für einen spanischen Bundesstaat statt für die Unabhängigkeit plädiert, werden manche Nationalisten sehr aggressiv. Das ist noch nicht sehr weit verbreitet, aber es kommt eben vor."
Von Hans-Günter Kellner
Im katalanischen Wahlkampf drehte sich alles um die Unabhängigkeit Kataloniens. Für den Historiker Joaquim Coll ist das aber keine Option. Er hat ein Manifest für den Verbleib Kataloniens in einem spanischen Bundesstaat verfasst.
"2012-11-12T09:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:33:26.781000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-deutsche-foederalismus-als-vorbild-fuer-die-100.html
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Möglichst viele Forderungen direkt auf den Sondierungstisch in Berlin
CSU-Parteichef Horst Seehofer (l-r), der Ministerpräsident von Ungarn, Viktor Orbán, und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im Kloster Seeon bei der Winterklausur der CSU-Landesgruppe (picture-alliance / dpa / Andreas Gebert) "Und viel Vorfreunde aufs nächste Jahr!" Die Abschlussworte von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, sie sind eine Mischung aus Zufriedenheit, Zuversicht und auch ein wenig Ungewissheit. Zufrieden ist er darüber, dass die Klausurtagung der bayerischen Konservativen in Seeon die gewünschte mediale Aufmerksamkeit erreicht hat. Für den ersten Diskussionspunkt der vergangenen Tage hat Dobrindt selbst gesorgt. Seinem Manifest für eine bürgerliche Revolution, erschienen in der Zeitung "Die Welt". "Und auch die Reaktionen auf diese Debatten zeigen, dass so eine Debatte notwendig ist, und wir werden diese Debatte auch weiter führen." Keine große Debatte über Konservatismus führen musste die CSU wohl mit ihrem gestrigen Gast, Ungarns Regierungschef Victor Orbán, der sich Bayern als "Grenzschutzkapitän" anbot. Mit ihrer in der Öffentlichkeit umstrittenen Einladung Orbáns nach Seeon versuchte die CSU, ihr Profil gegenüber der rechten Ziel-Wählerschaft zu schärfen. Auf die konzentrieren sich die Christsozialen besonders, denn im kommenden September stehen die Landtagswahlen in Bayern an. Doch davor, genauer gesagt schon morgen, muss die CSU in einen leiseren Modus umschalten. Die Sondierungsgespräche für die Große Koalition stehen auf dem Terminplan. CSU will hart bleiben "Eine Reihe der Kolleginnen und Kollegen, die jetzt drei Tage hier in Seeon zusammengesessen waren, machen sich jetzt gerade auf den Weg nach Berlin. Die ersten Gespräche finden heute abend schon statt." Wenn es nach Dobrindt geht, dann sollen in dem Koalitionspapier am Ende möglichst viele Forderungen der bayerischen Konservativen stehen. "Es ist jetzt der kürzeste Transmissionsriemen, den man sich vorstellen kann. Direkt aus den Beschlüssen hier in Seeon auf den Sondierungstisch in Berlin." Doch die Sozialdemokraten kündigen Widerstand an. Vor allem in der Asylpolitik. Hier will die CSU hart bleiben, zumal man sich bei den Themen Obergrenze und Aussetzung des Familiennachzugs für Geflüchtete mit subsidiärem Aufenthaltsstatus mit der Schwesterpartei CDU einig ist. Das bekräftigte auch der heute angereiste sächsische Ministerpräsident Michael Kretzschmer von der CDU. "Und deswegen muss der Familiennachzug ausgesetzt bleiben." Europa und Steuern Bei den Sondierungsgesprächen wird es in den kommenden Tagen auch um Zugeständnisse an die Sozialdemokraten gehen. Bei den Themen Europa und Steuern könnte die SPD punkten, doch auch hier dämpfen die bayerischen Konservativen vorerst die Erwartungen. Stefan Müller, Geschäftsführer der CSU im Bundestag. "Uns sind drei Themen wichtig. Das erste Thema ist, dass wir zu einer Entlastung der Mittelschicht kommen, das zweite Thema ist, wir wollen eine Begrenzung und Entlastung der Zuwanderung und Steuerung, und drittens ist uns wichtig, dass wir in der Frage, wie es mit der Europäischen Union weitergeht, jeden Zentralisierungstendenzen eine Absage erteilen. Wir wollen keine Vereinigten Staaten von Europa." Einiges an Kompromissbereitschaft wird die SPD den Konservativen abverlangen. Der CSU ist bewusst: Wenn die Sondierungsgespräche scheitern, würde bei Neuwahlen auch sie wohl keine Wähler dazugewinnen.
Von Tobias Krone
Mit dem umstrittenen Besuch von Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán hatte die CSU für große Furore gesorgt. Zum Abschluss ihrer Klausurtagung im ehemaligen Kloster Seeon schlugen die Bundestagsabgeordneten mildere Töne an - auch im Bezug auf die GroKo.
"2018-01-06T18:10:00+01:00"
"2020-01-27T17:33:53.944000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/csu-klausurtagung-in-seeon-moeglichst-viele-forderungen-100.html
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Wie der Autobauer das Miteinander in Wolfsburg prägt
VW-Stadt Wolfsburg, Deutschland am 14.3.2017. (imago / regios24) Heute hat die Stadt rund 120.000 Einwohner und fast alle haben eine Verbindung zu VW. Und das heißt natürlich auch, dass alle mit der gegenwärtigen Krise des Autobauers konfrontiert sind. Volkswagen hat weltweit elf Millionen Dieselautos manipuliert und die negativen Schlagzeilen über den Autobauer reißen nicht ab. Der Konzern steckt in einem Dauerkrisenmanagement. Gleichzeitig gibt es von jeher enge Verflechtungen zwischen der Stadtspitze und Volkswagen in Wolfsburg. Es sitzen also alle in einem Boot. Wie geht die Stadt Wolfsburg mit dem Abgasskandal um? Welche Einschnitte fürchten die Bewohner in Zukunft? Wie verändert die VW-Krise die Stimmung in der Stadt? Diese Fragen wollen wir in der "Länderzeit vor Ort" diskutieren. Live aus dem Kunstmuseum in Wolfsburg. Gesprächsgäste sind: Klaus Mohrs, Oberbürgermeister derStadt Wolfsburg Dr. Christoph Schank, Unternehmensethiker an der Universität St. Gallen Dirk Wagner, Industrieseelsorger bei VW Hartwig Erb, Geschäftsführer bei der IG-Metall Wolfsburg Alexander Budde, Deutschlandfunk-Landeskorrespondent in Niedersachsen Chantal Sahl, Kreativdirektorin der Agentur EGGERT GROUP in Düsseldorf Hörerfragen sind wie immer willkommen. Die Nummer für das Hörertelefon: 00 800 - 44 64 44 64 und die E-Mail-Adresse: [email protected]
Von Bettina Köster und Jürgen Wiebicke
Wer an Wolfsburg denkt, der denkt auch an Volkswagen. Die niedersächsische Stadt ist nachhaltig geprägt von dem Autobauer mit dem internationalen Renommee. 1938 wurde sie in der Absicht gegründet, den VW-Arbeitern Unterkünfte anbieten zu können.
"2017-04-12T10:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:22:51.365000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gemeinsam-durch-die-vw-krise-wie-der-autobauer-das-100.html
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"Die Drohungen bedeuten praktisch nichts"
Die türkische Staatsflagge weht neben der Europafahne. (picture alliance / dpa / Matthias Schrader) Das EU-Parlament und die Türkei verhielten sich wie zwei Duellanten: "Sie fordern sich auf, gehen aufs Feld und schießen mit Absicht aneinander vorbei", sagte Knaus. Die Entschließung des Parlaments, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf Eis zu legen, sei erstens nicht bindend; und zweitens sei unklar, was das praktisch bedeuten würde. Denn wenn die Verhandlungen "nur suspendiert", aber nicht abgebrochen würden, flössen beispielsweise weiter EU-Beitrittshilfen. Man wolle damit lediglich signalisieren, dass man nicht abhängig sei. "Man ist es aber doch", betonte Knaus. Gerald Knaus, Politikwissenschaftler, Vorsitzender und Mitgründer der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) (privat) Und auch Erdogans Drohung, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, sei nicht so bedeutsam wie gedacht, so Knaus. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere weiterhin. Denn Erdogan habe mit etwas gedroht, das mit dem Abkommen nichts zu tun habe. Er habe sich bei seiner Ankündigung, die Grenzen zu öffnen, auf die Landgrenze zu Bulgarien bezogen - nicht aber auf die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Griechenland kämen. Und nur die seien Teil des Abkommens, nicht aber die Sicherung der Landgrenzen. Abbruch der Verhandlungen wäre "dramatischer Schritt" In der Türkei innenpolitisch etwas zu erreichen, sei schwierig, sagte Knaus. "Die EU müsste Dinge tun, die etwas bedeuten." Würde sie die Beitrittsverhandlungen etwa komplett abbrechen, "wäre das ein dramatischer Schritt", den man in Ankara verstehen würde. Zudem müsse man die Bevölkerung erreichen. Denn nicht alle Türken würden Erdogans Kurs begrüßen. Als Beispiel nannte er das kürzlich gekippte Gesetz zur Straffreiheit in bestimmten Fällen von Vergewaltigungen. Das Gesetz sei zurückgezogen worden, weil die Menschen sich dagegen gewehrt hätten. Das Interview in voller Länge: Martin Zagatta: Massenentlassungen, Verhaftungen, zuletzt auch von Oppositionspolitikern, Foltervorwürfe. Kann die EU unter diesen Umständen noch über einen Beitritt verhandeln mit der Türkei? Das EU-Parlament hat in dieser Woche Nein gesagt, und auf die Forderung der Abgeordneten, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara sofort auszusetzen, hat Präsident Erdogan nun höchst verärgert reagiert und ganz unverhohlen mit dem Bruch des Flüchtlingspaktes gedroht. Gerald Knaus ist Direktor der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, er berät auch die Bundesregierung und gilt als der Erfinder, als der Vater des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Guten Morgen, Herr Knaus! Gerald Knaus: Guten Morgen! Zagatta: Herr Knaus, ist dieser Bruch jetzt noch zu kitten, oder ist die Lage jetzt völlig verfahren? "Sie verhalten sich wie zwei Menschen bei einem Duell" Knaus: Na ja, die Lage ist verfahren, und sie wird es auch länger bleiben, und gleichzeitig funktioniert das Flüchtlingsabkommen. Man hat manchmal das Gefühl, auch in den letzten Tagen wieder, dass das Europäische Parlament und die Türkei sich verhalten wie zwei Menschen bei einem Duell. Sie fordern sich auf, dann gehen sie auf das Feld, und dann schießen sie mit Absicht aneinander vorbei, denn die Drohungen bedeuten praktisch bis jetzt nichts. Das Europaparlament hat nicht die Möglichkeit, die Verhandlungen zu suspendieren, es kann es nur empfehlen, aber noch viel wichtiger, es ist überhaupt nicht klar, was das eigentlich praktisch bedeutet, die Verhandlungen zu suspendieren. Das EU-Geld für die Vor-Beitrittshilfen würden weiterhin fließen, die Fortschrittsberichte würden weiterhin geschrieben werden, das Einzige, was passiert oder passieren würde, man würde keine Kapitel öffnen. Allerdings sind in den letzten sechs Jahren nur drei Kapitel geöffnet worden, und die Tatsache, ein Kapitel zu öffnen, bedeutet auch eigentlich nicht sehr viel. Man will signalisieren, man ist nicht voneinander abhängig, aber man ist es letztlich dann doch. Zagatta: Gilt das auch für die Türkei? Also was würde denn passieren – Sie sagen, das Flüchtlingsabkommen funktioniert, es funktioniert bestimmt insofern, als jetzt ja weniger, sehr viel weniger Flüchtlinge hier auch ankommen –, was würde denn passieren, wenn die Türkei da ihre Grenzen wieder aufmachen würde? Würden dann deutlich mehr Flüchtlinge überhaupt kommen, oder wären die nicht ohnehin schon abgeschreckt mit den Zuständen, was da im Moment in Griechenland mit ihnen passiert, mit den Meldungen, die dort auch ankommen, dass die Balkanroute geschlossen ist, also was würde da passieren? "Sie wollen signalisieren, ihr braucht uns" Knaus: Zunächst mal fand ich es sehr interessant, genauer hinzusehen, was die türkischen Politiker eigentlich machen. Sie wollen signalisieren, ihr braucht uns, die EU hängt von der Türkei auch ab, nur ganz konkret hat Präsident Erdogan von der bulgarischen Landgrenze gesprochen, also von der Situation in Edirne und auch davon, dass die türkischen Behörden eben Leute auch davon abhalten, in großer Zahl an die bulgarische Landgrenze zu kommen. Jetzt muss man wissen, Bulgarien wird im Flüchtlingsabkommen überhaupt nicht erwähnt, im Flüchtlingsabkommen geht es nur um die Ägäis. Das heißt, sich zu konzentrieren auf Bulgarien, damit signalisiert Präsident Erdogan, egal ob es ein Abkommen gibt oder nicht, und wenn es nie eines gegeben hätte, die Türkei ist für die EU an ihren Landgrenzen mit Griechenland und Bulgarien ein unersetzbarer Partner. Im Mittelmeer hält die Türkei weiterhin die Position aufrecht, dass sie sagt, wir nehmen weiterhin jeden, der die griechischen Inseln erreicht, zurück – nach einem Verfahren auf den griechischen Inseln, das sie EU natürlich durchführen muss –, wir nehmen die Leute zurück, schicken damit ein Signal an die Schlepper und an die Flüchtlinge, sich nicht in die Boote zu setzen. Das Problem da ist die Verknüpfung mit der Visaliberalisierung, doch in diesem Fall hat Erdogan mit etwas gedroht, was mit dem Flüchtlingsabkommen konkret gar nichts zu tun hat. Zagatta: Was empfehlen Sie da jetzt, soll man das jetzt alles relativ gelassen sehen, weil da beide Seiten eigentlich mit etwas drohen, was noch gar nicht vorgesehen ist? Und was passiert dann, wenn tatsächlich da die rote Linie überschritten wird? Also die EU muss ja irgendwie sich jetzt verhalten, auf diese Verhaftungen reagieren, was passiert dann, wenn wie angekündigt oder angedroht demnächst die Todesstrafe wieder eingeführt wird in der Türkei? "Wir brauchen eine viel realistischere Diskussion" Knaus: Ja, also ich glaube, wir brauchen eine viel realistischere Diskussion. Wir müssen erstens einmal klarmachen, für die EU Einfluss zu nehmen auf die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei – das ist schwierig. Wenn man es wirklich will, wenn man wirklich rote Linien ziehen will, dann muss die EU zunächst einmal bereit sein, klar zu sagen, dass sie Dinge macht, die etwas bedeuten. Also Suspendieren der Verhandlungen bedeutet nichts, ein vollkommenes Abbrechen der Verhandlungen wäre ein dramatischer Schritt. Die Frage ist, ist die EU bereit – und dazu braucht sie Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern – zu sagen, wenn die Todesstrafe eingeführt wird, dann würden die Verhandlungen wirklich abgebrochen werden. Das wäre ein sehr, sehr starkes Signal, das würde verstanden. In Ankara sieht man natürlich auch … und kennt man den Unterschied zwischen Suspendierung und Abbrechen. Die andere Frage ist: Es gibt auch viele andere Instrumente, die die EU derzeit noch nicht benützt, auch die EU-Mitgliedsländer, also etwa im Europarat – warum wird im Europarat nicht vom Ministerrat, also von der Vertretung der Mitgliedsländer, jemand beauftragt bei der Frage der politischen Gefangenen? Und das beinhaltet natürlich auch die Frage, ob die Journalisten als politische Gefangene gesehen werden müssen, also dass Leute, die wegen ihrer Meinungsäußerung im Gefängnis sind … da viel aktiver zu werden. Das gab es in der Vergangenheit auch, die Türkei unter Beobachtung zu stellen, bei der Frage der Folter in den Gefängnissen darauf zu drängen, dass hier das Komitee für die Vermeidung der Folter des Europarats viel aktiver wird. Es gibt viele Möglichkeiten, zu signalisieren, dass man sich Sorgen macht. Zagatta: Das würde Erdogan beeindrucken, meinen Sie. "Viele Türken wollen keine Rückkehr zur Folter" Knaus: Die Frage ist, wie beeindrucken und wie erreichen wir die türkische Bevölkerung? Wir haben das vor Kurzem gesehen bei der Diskussion im Parlament über die Vergewaltigung und die Frage, ob ein Vergewaltiger, wenn er anbietet, sein Opfer zu heiraten, straffrei davonkommen soll – ein Gesetz, das es bis 2004 gab, das wurde dann abgeschafft, das sollte wieder eingeführt werden. Es ist nicht eingeführt worden, weil die türkische Bevölkerung signalisiert hat, auch türkische Organisationen, auch Leute in der eigenen Partei, dass das nun doch ein Schritt in die falsche Richtung ist. Viele Türken wollen keine Rückkehr zur Folter, viele Türken wollen keine Rückkehr zu einer Situation, wo tote Kinder in der Ägäis an die Ferienküsten geschwemmt werden, wo die Schmuggler das Meer beherrschen. Die Europäische Union müsste sich vielmehr die Frage stellen, wie kommunizieren wir, dass wir ganz klar sagen, wir … Zagatta: Herr Knaus, nur kurz, weil die Nachrichten warten. Knaus: … wir benennen die Dinge, wie sie sind, wir wollen aber gleichzeitig immer sagen, wir wissen auch, wir können die Türkei nicht einschüchtern … Zagatta: Herr Knaus, sorry, aber wir müssen das dabei belassen, die Nachrichten warten. Das war Gerald Knaus, der Direktor der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative. Auch Ihnen schönen Dank für das Gespräch! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerald Knaus im Gespräch mit Martin Zagatta
Das EU-Parlament will die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf Eis legen, der türkische Präsident Erdogan droht mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Gerhard Knaus von der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" hält das alles für bedeutungslos. Im DLF machte er deutlich, dass er das Flüchtlingsabkommen derzeit nicht in Gefahr sieht.
"2016-11-26T08:10:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:57.037000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-tuerkei-beziehungen-die-drohungen-bedeuten-praktisch-100.html
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Damit auch Sehbehinderte im Netz lesen können
Eine visuell eingeschränkte Schülerin bedient ein Computerprogramm mit Brailleschrift. ((c) dpa) So sieht Orientierung blinder Menschen im Verkehrsgewusel großer Städte aus: Langsam tastet sich Marisa Sommer, Vorstandsmitglied im "Blinden und Sehbehindertenverein Köln", mit dem Blindenstock Richtung Straßenbahnhaltestelle. "Ich muss jetzt, wenn ich zur Straßenbahn gehen möchte, rechts überqueren, und da ist ein ganz großes Problem, die Bordsteinkante, die existiert nicht. Hier ist nichts, hier ist nichts, hier ist nichts, ich befinde mich quasi schon auf der Straße." Ein paar Schritte noch, dann hat sie die rettende Mittelinsel erreicht. Orientierung in einer möglichst barrierefreien Umgebung sei das A und O für Sehbehinderte, so Sommer. Dies beziehe sich aber keineswegs nur auf Straßen und Plätze, Häuser und Wohnungen. Barrierefreie Orientierung habe im Zeitalter der Digitalisierung noch in ganz anderen Bereichen Bedeutung. Auf Websites zum Beispiel, deren Oberflächen Blinde bis vor gar nicht so langer Zeit hilflos ausgeliefert waren. Schwerte im Entwicklungszentrum der "F. H. Papenmeier GmbH & Co. KG". Sehende orientieren sich auf Internetseiten oder Softwareoberflächen vergleichsweise leicht, sagt Bruno Behrendt, Leiter des Fachbereichs Rehatechnik, und zeigt auf die Homepage einer nordrhein-westfälischen Kommune: Eingabefelder für Namen und Anschriften sind zu sehen, nach rechts gedrehte Dreiecke signalisieren Videoclip, Zwischenüberschriften strukturieren Texte. Sehbehinderte sind auf barrierefrei aufgebaute Websites angewiesen Was Sehende mit einem Blick erfassen, registrieren Blinde entweder über eine Sprachausgabe, die ihnen Texte vorliest. Oder aber sie nutzen Braillezeilen, schmale Geräte, die Text in tastbare Blindenschrift übersetzen. Das funktioniert aber nur bei barrierefrei aufgebauten Websites, sonst verlieren Sehbehinderte rasch den Überblick, so Bruno Behrendt. "Überblick heißt, ich muss in die Lage versetzt werden, dass ich eine gesamte Website oder eine ganze Anwendung in ihrer Gänze erfassen kann." Wie aber lässt sich aus einer für Blinde ungeordneten Website eine geordnete gestalten? Wichtig sei zunächst einmal, … "… dass man nicht wild über die Webseite springt, dass die Tastatureingabe vernünftig erfolgen kann. Vom Titel sollte ich zum Vornamen und als nächstes zum Nachnamen springen, denn das ist erwartungskonform." Neben "erwartungskonformen" Struktur erfüllen barrierefreie Websites noch weitere Anforderungen: Texte und Grafiken sollen auch für den verständlich sein, der sie ohne Farbe betrachtet; Texte müssen über Braillezeile oder Sprachausgabe ausgegeben werden können. Mittlerweile bietet die "F. H. Papenmeier GmbH & Co. KG" Lösungen für alle Anforderungen: Sie überprüft und optimiert als Dienstleister bestehende Websites und Software, programmiert aber auch neue, außerdem entwickelt sie technische Hilfsmittel für Blinde - von Braillezeilen, über Kameras, die Texte vorlesen, bis hin zu Zoom-Systemen, die den Inhalt von Bildschirmen beliebig vergrößern. "Papenmeier" zählt bundesweit zu den Spezialisten für Blindenhilfsmittel. Die Anfänge der Firma lagen aber auf ganz anderen Feldern, so der Kaufmännische Leiter Manfred Rommel: "Es ging 1956 los. Der Elektroingenieur Friedrich Horst Papenmeier gründete dieses Unternehmen, zunächst als Ein-Mann-Ingenieurbüro. Im Bereich der angewandten Elektrotechnik wurden Steuerungen gebaut für Maschinen und Verfahren." Am Anfang stand ein Auftrag der Universität Dortmund Zum Thema "Technik für Blinde" kam Papenmeier durch Zufall: "Wir bekamen seinerzeit 1970 einen Entwicklungsauftrag von der Universität Dortmund. Wir sollten versuchen, Braille auf eine normale Rekorderkassette abzuspeichern und diese Daten im Schnelllauf nach Begriffen oder Worten wieder zugänglich zu machen. Dann haben wir den ersten Prototypen geschaffen, stellten ihn der Hochschule zur Verfügung, das war wunderbar. Und da kam plötzlich großer Bedarf: ein tolles Gerät, da brauchen wir mehr von." 110 Mitarbeiter beschäftigt der Mittelständler aus dem Ruhrgebiet, er betreibt Büros in Berlin und Nürnberg, sein Jahresumsatz liegt bei 15 Millionen Euro. Wobei die Rehatechnik etwa die Hälfte erwirtschaftet, die andere Hälfte entfällt auf Elektrotechnik außerhalb des Reha-Bereichs. Die Geschäfte laufen gut, die Umsatzkurve zeigt nach oben. Was auf der einen Seite an der Produktqualität liegt, auf der anderen Seite aber auch am guten Betriebsklima, so Manfred Rommel: "Die Atmosphäre ist familiär, auch innerhalb der Belegschaft, und wie ich von außen immer wieder gehört habe, sagen die meisten, Mensch: Wir sind froh, dass wir hier arbeiten dürfen, es ist nicht die Anonymität wie in einem Großkonzern. Und das soll auch so fortgeführt werden!"
Von Mirko Smiljanic
Auch Sehbehinderte wollen Webseiten lesen. Was Sehende auf einen Blick erfassen, müssen sie über Sprachausgaben oder Brailleschrift aufnehmen. Die Firma Papenmeier optimiert als Dienstleister bestehende Websites und Software, programmiert aber auch neue, außerdem entwickelt sie technische Hilfsmittel für Blinde.
"2017-10-20T13:35:00+02:00"
"2020-01-28T10:57:00.005000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/spezialist-aus-schwerte-damit-auch-sehbehinderte-im-netz-100.html
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Orban-Freund kauft linksliberale Zeitung
Demonstration für Pressefreiheit in Budapest am 16.10.2016, eine Woche nach Schließung der Tageszeitung "Nepszabadsag". (dpa / picture alliance / Mohai Balazs) Käufer ist die Firma Opimus Press, sie gehört zu einem Firmengeflecht des Orbán-Freundes Lörinc Mészáros. Der Bürgermeister des Heimatortes von Viktor Orbán ist vom Installateur zum Millionär aufgestiegen. Auch im Beirat der Verkäufer-Firma Vienna Capital Partners sitzt ein Mann mit Beziehungen zum ungarischen Premier: der ehemalige ungarische Außenminister Mártonyi. Die Linksliberalen verlören eine Stimme, sagte Kai-Olaf Lang, Ungarn-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, im ARD-Interview. Das Aus für "Népszabadság" wurde vom Verkäufer mit Verlusten begründet. Zuletzt hatte die Zeitung nur noch etwa 40.000 Exemplare verkauft. Verkäufer Vienna Capital Partners begründete in einer Pressemitteilung den Zuschlag an Opimus Press so: Der neue Besitzer erwäge ernsthaft einen Neustart der Zeitung, hieß es. Im Paket mit der linksliberalen Tageszeitung hat der neue Besitzer auch ein Dutzend Regionalzeitungen erworben. Die hatte der Mediaworks-Verlag kürzlich erst von der deutschen Funke-Gruppe erworben. "Népszabadság" erschien erstmals 1956 als Zeitung der Kommunistischen Partei. Nach der Wende wurde das Blatt eine linksliberale Stimme. Immer wieder erschienen Enthüllungsgeschichten über Korruption und Vetternwirtschaft im Regierungsumfeld. In den vergangenen zwei Wochen hatten Tausende Ungarn gegen das Aus für die Zeitung protestiert, zuletzt am Rande der Gedenkveranstaltung zum Ungarn-Aufstand 1956. Auf einem der Transparente stand: Die Botschaft von 1956 sei auch Pressefreiheit gewesen.
Von Stephan Ozsváth
Nun ist es besiegelt: Die ungarische Tageszeitung "Népszabadság" geht an eine Firma, die eng mit einem regierungsnahen Oligarchen verbunden ist. "Népszabadság" erschien erstmals 1956 als Zeitung der Kommunistischen Partei. Immer wieder erschienen Enthüllungsgeschichten über Korruption und Vetternwirtschaft im Regierungsumfeld.
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"2020-01-29T19:01:17.584000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ungarn-orban-freund-kauft-linksliberale-zeitung-100.html
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Königin und Königin
Im März dieses Jahres kippte sogar der konservative Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften den Beschluss, dass ein Königspaar zwingend aus Mann und Frau bestehen müsse. (dpa / Rolf Vennenbernd) Freitagabend im Schützenvereinshaus "Adler Hohenheide" in Fröndenberg an der Ruhr. Jennifer Wegfraß - schwarze Bluse, helle Jeans, kurze blonde Haare - atmet kurz durch, hebt ihr Gewehr, fixiert Kimme und Korn, drückt ab. Ein Schuss für die Ewigkeit Sie trifft den inneren Ring der Zielscheibe – fünf Millimeter Durchmesser auf zehn Meter Abstand - das erfordert höchste Konzentration und Präzision am Schießstand. Dass sie das beherrscht, hat die 28-jährige Erzieherin Ende August schon unter Beweis gestellt: auf dem viertägigen Fröndenberger Schützenfest holt sie den Vogel von der Stange. Sie realisiert erst später, was ihr da gelungen ist: "In dem Moment dachte ich: Gut gemacht. Siebzehn Jahre bin ich jetzt im Verein, und als es dann weiterging, ich dann zwei, drei Stunden geschlafen habe, da dachte ich: Oh, ich glaube, wir haben ein bisschen Geschichte geschrieben." Weil die frischgebackene Schützenkönigin nicht etwa einen Mann zum König nimmt, sondern ihre Freundin Anke Mannertz: "Irgendwann hab ich gedacht, huch, wo ist Jenny? Und hab gefragt, hat jemand Jenny gesehen? Ja, die steht unterm Vogel. Dann ging das relativ flott, dann wurde eigentlich nur gefeiert, das war ein Gekreische, ein Gegröle. Und dann ging es auch schon los mit den ersten Amtshandlungen: Das Orchester zu dirigieren." Das erste Königinnen-Paar in der Vereinsgeschichte Die beiden Adler-Schützinnen sind das erste Königinnen-Paar in 111 Jahren Vereinsgeschichte. Jennifer Wegfraß hatte sich im Vorfeld viele Gedanken gemacht, wie ein lesbisches Schützenpaar wohl in Dorf und Verein ankommen würde. Letztlich war entscheidend: "Erst mal war meine Chefin dabei. Mit zwei Freunden, die im Spielmannszug sind, hab ich auch noch mal vorher gesprochen. Das war mir wichtig, dass die hinter mir stehen. Und dann, als wir angetreten sind an der Stange, leuchtete die Sonne, und wir hatten einen wunderschönen Regenbogen über der Vogelstange – das war einfach ein Zeichen!" Der Vorsitzende der Adlerschützen, Oberst Ingo Rellmann, ist stolz auf die beiden Frauen. Im Verein gab es aber am Anfang durchaus Vorbehalte: "Es gibt auch viele Ältere auf dem Dorf. Die sind es nun mal nicht gewohnt, dass wir Jüngere ein offeneres Weltbild haben. In dem Moment hieß es nur: Zwei Frauen an der Macht, wie geht das? Ich sag' da nur: Das hat Wowereit uns schon vor Jahren vorgemacht, warum können wir’s nicht?" Im Verein gab es auch Vorbehalte Rellmann verweist auch gerne auf den Leitspruch des 1896 gegründeten Schützenvereins: "In Treue zum Alten die Zukunft gestalten". "Wir leben alte Traditionen und sind trotzdem offen für Neues. Wir hatten damals schon die erste Dame, die den Vogel abgeschossen hat, vor dreißig Jahren etwa. Daher sind wir gewappnet. Und bei uns dürfen traditionell Frauen schießen, die Mitglied im Verein sind, da haben wir gar kein Problem mit." Und die hundert Jahre alte Vereinssatzung steht dem auch nicht im Wege: "Die Satzung ist zwar schon recht alt. Aber diese Satzung sagt nicht aus, dass man ausgeschlossen wird vom Königsschießen aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Geschlechtes. Denn bei uns darf jeder schießen, der einen guten Ruf hat, achtzehn Jahre alt ist und Vereinsmitglied ist. Es wird nicht unterschieden zwischen Geschlechtern." Tradition im Wandel Im Juni wurde auch in Hamm ein homosexuelles Königspaar gekrönt, zwei Jahre zuvor hatte ein Schütze aus Düsseldorf sich geweigert, eine Schein-Königin zu nominieren. Die Tradition ist im Wandel. Im März dieses Jahres kippte sogar der konservative Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften den Beschluss, dass ein Königspaar zwingend aus Mann und Frau bestehen müsse. Auch die Religionszugehörigkeit soll künftig kein Hinderungsgrund mehr sein. Nach wie vor sind christlicher Glaube und Gottesdienste fester Bestandteil des Schützenwesens. Aber auch da nimmt man es in Fröndenberg nicht so genau: "Es gab mal im Umkreis unseres Ortes eine Diskussion, weil ein Schützenkönig anderen Glaubens war. Da hab ich kein Verständnis für. Jeder Mensch muss seinen Glauben ausleben. In unseren Statuten steht nichts von einer Glaubensrichtung drin. Wir feiern ökumenischen Gottesdienst, aber es ist keine Pflicht, dass da jeder Schütze anwesend sein muss." Nach dem Training sitzen die Adler-Schützen in der Vereinsschenke noch gemütlich zusammen. Wie die Tradition es will, haben die Schützenköniginnen einen Hofstaat, siebzehn Freundespaare begleiten sie auf Terminen und Treffen mit anderen Vereinen, das ganze Jahr über. Der zwanzigjährige Jungschütze Timo Wopker managt als Königsadjutant den Terminkalender. Diese Tradition bedeutet für ihn, … "… dass man versucht, den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu schützen. Früher waren die Schützen diejenigen, die eine Stadt nach außen verteidigt haben, und heute versuchen wir, eine Dorfgemeinschaft aufrecht zu erhalten, dass jeder dem anderen hilft, und zusammen Spaß zu haben." Eine neue Generation im Vereinswesen Die Adler-Schützen aus Hohenheide sind sich sicher: Sie stehen für eine neue Generation im Vereinswesen. "Wir hoffen, dass wir dem ein oder anderen Verein einen Impuls geben können. Und ich glaube nicht, dass da noch die eine oder andere Diskrepanz zustande kommen wird", sagt Jennifer Wegfraß. "Und wir sind stolz darauf, dass wir siebzehn Hofstaat-Paare haben, die sagen: Ja, wir stehen hinter Euch, ja, wir möchten das durchziehen, wir feiern mit Euch", fügt ihre Freundin Anke Mannertz an.
Von Claudia Hennen
Es war ein Schuss für die Geschichtsbücher und gegen alte Traditionen: Als Jennifer Wegfraß den Vogel abgeschossen hat, stand fest: Ab jetzt sind Fröndenberg an der Ruhr zwei Frauen an der Macht. Die beiden Adler-Schützinnen sind das erste Königinnen-Paar in 111 Jahren Vereinsgeschichte.
"2017-12-21T19:15:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:12.927000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schuetzenvereine-im-wandel-koenigin-und-koenigin-100.html
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Die Waffe, die nicht sein darf
Ein Atompilz steigt nach der Explosion einer Atombombe 1971 über der französischen Pazifikinsel Mururoa in die Höhe. (picture-alliance / dpa) "Wir haben es geschehen lassen, dass durch Atombomben ganze Städte mit ihren Bewohnern zu nichts wurden, dass durch Brandbomben Menschen zu lodernden Fackeln wurden. Dieses furchtbare gemeinsame Erlebnis muss uns aufrütteln, dass wir durch einen neuen Geist eine höhere Vernünftigkeit erreichen, die uns von dem unseligen Gebrauch der uns zu Gebote stehenden Macht abhält." 1954: Der Arzt und Ethiker Albert Schweizer nimmt den Friedensnobelpreis entgegen. Er nützt die Gelegenheit zu einem leidenschaftlichen Appell. Doch seine Worte verhallten während des Kalten Kriegs angesichts der übermächtigen Interessen der Atomindustrie und der Politik. Internationale Kampagne gegen Atomwaffen 2017: Die "Internationale Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen", kurz ICAN, erhält den Friedensnobelpreis. Sie ist maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung eines Anti-Atom-Waffen-Vertrags, den 122 Staaten im Sommer desselben Jahres der UNO vorgelegt haben: In dem Vertrag wird gefordert, Nuklearwaffen völkerrechtlich für unmoralisch und illegal zu erklären. "Wir leben in einer Zeit enormer globaler Spannungen. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem Staaten Nuklear-Waffen verbieten müssen, dann ist er jetzt gekommen. Der Vertrag, den wir bei der UNO eingereicht haben, ächtet unmissverständlich die schlimmsten Massenvernichtungswaffen, die es je gab. Und er zeigt einen klaren Weg, sie vollständig zu eliminieren", betont ICAN-Direktorin Beatrice Fihn anlässlich der Vergabe des Nobelpreises. Beatrice Fihn (zweite von links), Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) (picture alliance / MAXPPP) Die internationale Kampagne, die sie koordiniert, wurde vor zehn Jahren in Australien von Ärzten gegründet. Menschenrechtler, Friedensaktivisten und Repräsentanten der Weltreligionen schlossen sich an. Heute gehören zu ICAN fast 500 Nichtregierungsorganisationen, die für Millionen von Menschen rund um den Globus stehen. "Ein Moment der Panik, eine missverstandene Bemerkung oder ein verletztes Ego können heute rasch zur Zerstörung ganzer Städte führen, zu einem Massenmord an Zivilisten. Aber die meisten Menschen verdrängen diese existenzielle Bedrohung. ICAN fühlt die Pflicht, das auszusprechen und eine Stimme der Zivilbevölkerung zu sein. Denn Atomwaffen sind 'Werkzeuge des Völkermords'." ICAN arbeitet eng mit den "Hibákusha" zusammen, den Opfern der US-amerikanischen Atombombenabwürfe vom August 1945 über Japan: Wada Masako war ein kleines Kind als die Bomben ohne Vorwarnung zuerst die Großstadt Hiroshima und dann ihre Heimatstadt Nagasaki trafen. "Diese Waffen sind das Böse schlechthin" Die Explosionen forderten mehrere Hunderttausend Opfer unter der Zivilbevölkerung: Frauen und Kindern, Senioren, Kranke und Kriegsgefangene. Wada und ihre Mutter überlebten, weil ein Hügel zwischen ihrem Haus und dem Zentrum des Atompilzes stand. "Meine Mutter kochte das Mittagessen und ich spielte am Boden, als wir um elf Uhr vormittags plötzlich den Lärm einer Detonation hörten. Die Druckwelle brach Fenster und Türen in Stücke. Ein Sturm aus Asche bedeckte den Fußboden unseres Hauses mit einer 30 Zentimeter dicken Staubschicht. Wir sahen, dass die Landschaft um uns herum plötzlich braun und in orange-gelben Nebel gehüllt war. Dann erkannten wir einen Strom von Menschen, die sich mühsam über den Hügel schleppten, um dem Feuer auf der anderen Seite zu entkommen. Ihre Körper waren schwarz, verbrannt und blutverklebt, ihre Haare standen wie Hörner in die Höhe." Wadas Familie und ihre Nachbarn konnten nichts tun, als die Heerscharen von Opfern beim qualvollen Sterben zu begleiten und die Toten zu verbrennen. Die Hibákusha machten es sich seither zur Lebensaufgabe, die Öffentlichkeit vor Nuklearwaffen zu warnen. Der Friedensnobelpreis 2017 würdigte nicht zuletzt auch ihr Engagement. Stellvertretend für alle Hibákusha nahm ihn die Japanerin Setsuko Turlow in Oslo entgegen. Sie war 13 Jahre alt, als die Atombombe ihre Schule in Hiroshima traf. 351 Mitschülerinnen starben, so Setsuko. Sie selbst wurde von herabstürzenden Mauerteilen vor der Feuersbrunst im Zentrum der Explosion geschützt. "Ich sah eine unvorstellbare Verwüstung und grauenvoll verwundete Menschen: Sie bluteten, brannten, Teile ihrer Körper waren zerfetzt. Fast alle Opfer waren Zivilisten. Leider wollen manche Leute diese Atombombenabwürfe bis heute nicht als das sehen, was sie waren: Kriegsverbrechen. Der Besitz von Nuklearwaffen macht eine Nation nicht groß, sondern lässt sie zurückfallen auf die tiefste Stufe. Denn diese Waffen sind kein notwendiges Übel, sie sind das Böse schlechthin." "Moralische Appelle aus der tiefe des menschlichen Gewissens" Der Einsatz von Atomwaffen sei aufgrund ihrer enormen Zerstörungskraft in jeder Hinsicht inakzeptabel, warnt auch Francois Bugnion. Er gehört zum Internationalen Komitee des Roten Kreuzes das seit Jahren eine Partnerorganisation von ICAN ist: "1945 war der Leiter unserer Delegation in Tokio einer der ersten ausländischen Zeugen der Katastrophe in Hiroshima. Er alarmierte unsere Zentrale in der Schweiz mit einem Telegramm: "Der Zustand ist entsetzlich, die Stadt ist ausgelöscht, Massen von Menschen sterben, Hunderttausende sind schwer verwundet." Er organisierte erste Hilfsaktionen für die Opfer. Einen Monat später forderte das Internationale Rote Kreuz eine weltweite Vereinbarung, die den Einsatz dieser neuen Waffen verbietet." Die japanische Stadt Hiroshima nach dem Abwurf der der US-amerikanischen Atombombe "Little Boy" am 06. August 1945 (picture alliance / dpa / dpaweb / epa) Trotzdem lagern heute nach offiziellen Angaben in aller Welt noch circa 15.000 Atomwaffen. Mehr als 90 Prozent gehören zu fast gleichen Teilen den Großmächten USA und Russland. Etwa 1000 weitere Nuklearwaffen verteilen sich nach Schätzungen auf sieben andere Staaten: China, England, Frankreich, Indien, Israel, Pakistan sowie Nordkorea. Die Sprengkraft der meisten dieser Waffen übersteigt das Potenzial der Atombomben von 1945 um ein Vielfaches. Aus humanitärer Sicht sei das absolut unverantwortlich, mahnt Francois Bugnion: "Das Rote Kreuz hat in Hiroshima gelernt, dass es den Opfern nach dem Einsatz einer Atombombe keine wirkliche Hilfe bieten kann, ohne die Helfer extrem zu gefährden. Eine Atomexplosion verursacht für die Menschen und für die Umwelt Jahrzehnte lang anhaltende Schäden aufgrund der radioaktiven Strahlung, die von ihr ausgeht. Die Folgen reichen weit über die Grenze eines Landes hinaus. Wir kamen daher zu dem Schluss: Man muss verhindern, dass Nuklearwaffen je wieder zum Einsatz kommen: aus humanitären, moralischen und rechtlichen Gründen." Die Atombombenabwürfe über Japan erzwangen 1945 die Kapitulation des Landes und das Ende des Pazifischen Kriegs. Doch um welchen Preis? Die Japaner überwanden das Trauma nur schrittweise. Dank des Engagements japanischer Buddhisten entstand 1970 die "Weltkonferenz der Religionen für den Frieden" - "Religions for Peace". Zu ihr gehören heute führende Religionsvertreter rund um den Globus: Buddhisten und Christen, Hindus und Juden, Muslime und viele andere. Die Weltkonferenz bildet eine der größten interreligiösen Dialog-Plattformen und ist ein aktives Mitglied von ICAN. Der internationale Generalsekretär von "Religions for Peace", William Vendley, unterstützt den neuen Anti-Atomwaffen-Vertrag nachdrücklich: "Dieser moralische Appell gegen den Besitz von Atomwaffen kommt aus der Tiefe des menschlichen Gewissens. Nuklearwaffen sind Massenvernichtungswaffen, die keinen Unterschied zwischen ihren Opfern machen. Sie sind damit ihrem Wesen nach das Böse. Der neue Vertrag zur Ächtung dieser Waffen schafft eine deutliche Norm, die besagt: Der Einsatz von Atomwaffen, ihr Besitz oder die Drohung mit ihnen sind moralisch absolut unverantwortlich und nach internationalem Recht illegal." "Religions for Peace" bekräftigt, dass führende Vertreter aller Weltreligionen dieser Verurteilung von Nuklearwaffen zustimmen. So erklärt etwa der muslimische Rechtsgelehrte und Professor Ahmet Beheshti aus der iranischen Universitätsstadt Qom: "Die Herstellung und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind Unrecht. Solche Waffen töten Unschuldige und die Natur. Alle wissen, was in Hiroshima geschehen ist. Chemische Waffen oder Atomwaffen zu erzeugen, ist deshalb aus der Sicht des Islam eine schwere Sünde und verboten." Die Kirchen positionieren sich eindeutig Der Weltkirchenrat in Genf, der ein breites Spektrum evangelischer und orthodoxer Kirchen vertritt, beschloss schon vor Jahren ökumenisch einvernehmlich, gegen Nuklearwaffen vorzugehen. Auch er gehört heute zu ICAN. Generalsekretär Olav Fykse Tveit, betonte im Januar 2018 gegenüber dem Weltwirtschaftsforum in Davos. "Leider gab es früher immer wieder Christen und Kirchenvertreter, die den Aufbau nuklearer Arsenale unterstützt haben - einige schweigend, andere ausdrücklich. Man erhoffte sich von der nuklearen Abschreckung Schutz. Doch zu einer wirkungsvollen Abschreckung gehört letztlich die Bereitschaft, die Nuklearwaffen im Ernstfall auch einzusetzen. Und genau das ist der entscheidende Punkt. Hier müssen wir heute sagen: Den Einsatz auch nur einer einzigen Atomwaffe in Betracht zu ziehen, ist mit einem christlichen Verantwortungsbewusstsein unvereinbar." Olav Fykse Tveit, Generalsekretaer des ökumenischen Rates der Kirchen (imago / epd) Diese Haltung entspreche ganz der Position der katholischen Kirche, versichert Bischof Silvano Tomasi. Er vertrat den Vatikan bis 2017 bei der UNO und förderte den neuen Anti-Atomwaffen-Vertrag von Anfang an. "In der kirchlichen Soziallehre gibt es seit langem eine deutliche Position: Schon zur Zeit der Entwicklung der ersten Atombomben sagte Papst Pius XII, dass solche Waffen der Massenvernichtung ethisch nicht vertretbar sind. Johannes XXIII hat diese Linie fortgesetzt. 1963 betonte er nach der Kuba-Krise in der Enzyklika 'Pacem in terris', 'Friede auf Erden', dass wir dringend für die Abschaffung aller Nuklear-Waffen eintreten müssen." Papst Franziskus steht in dieser Tradition. Ende 2017 bekräftigte er gegenüber den Teilnehmern einer internationalen Nuklear-Konferenz im Vatikan: "Wir müssen uns klar machen, dass die Konsequenzen des Einsatzes von Nuklearwaffen für die Menschheit und die Umwelt katastrophal wären. Zudem besteht die Gefahr, dass eine dieser Waffen durch einen Irrtum oder Fehler explodiert. Die Existenz von Nuklearwaffen ist die Folge einer Logik der Angst und gefährdet nicht nur die jeweiligen Konfliktparteien, sondern die gesamte Menschheit. Der Einsatz solcher Waffen ist daher ebenso entschieden zu verurteilen, wie die Drohung mit ihnen und ihr Besitz." "Schon die bloße Existenz von Atomwaffen birgt Risiken" So überzeugend die Argumente gegen Nuklearwaffen sind, so apokalyptisch das Szenarium ist, das ihr Einsatz auslöst: Die Zahl der Staaten, die solche Waffen besitzen, wächst. Und nicht nur das: Die Atomwaffen-Staaten, - allen voran die USA und Russland -, treiben das atomare Wettrüsten heute neu voran und investieren mehrstellige Milliardenbeträge in die Modernisierung und Erweiterung ihrer Nuklearwaffen-Arsenale. Nur knapp ein Prozent des Geldes, das weltweit in Militäretats gehe, stehe für Entwicklungshilfe und humanitäre Projekte zur Verfügung, beanstandet der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Heinrich Bedford-Strohm: "Wenn man sich vorstellt, wie viel Mal die Welt vernichtet werden kann, mit dem jetzt immer noch vorhandene Bestand von Atomwaffen, dann kann man eigentlich schnell sehen, dass das nicht zu rechtfertigen ist, auch von der Verteilung der Mittel her, dass man Geld in solche Todeswaffen steckt, das dringend für die Verbesserung des Lebens der Menschen, insbesondere der Schwächsten gebraucht würde." Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. (picture alliance / dpa / Arno Burgi) Die Atomwaffen-Staaten pochen dagegen auf die Notwendigkeit, mit diesen Waffen ihre "nationale Sicherheit" verteidigen zu müssen. Alle NATO-Mitgliedsstaaten folgen der Argumentation. Es sei höchste Zeit, kritisch zurückzufragen, meint der Ethiker Bedford-Strohm: "Zum Beispiel ist eine der Fragen, dass auch der Ersteinsatz von Atomwaffen ja noch nicht einmal ganz klar ausgeschlossen wird. In den jetzigen NATO-Konzepten ist das jedenfalls so nicht klar gesagt. Und da gibt es aus meiner Sicht wirklich keinen denkbaren Fall, wo so etwas gerechtfertigt werden kann. Und das zweite ist, dass natürlich schon die bloße Existenz von Nuklearwaffen Risiken birgt. Wir haben ja schon erlebt, dass es mehrfach Fälle gab, wo die Welt knapp an einem Atomkrieg vorbei geschrammt ist, weil Sicherungsmechanismen versagen, Fehlalarme ausgelöst werden." Nach der Kuba-Krise hatten in den 60er-Jahren die meisten Regierungen im sogenannten "Atomwaffensperrvertrag" einer Selbstverpflichtung zur Abrüstung zugestimmt, sie aber keineswegs immer umgesetzt. Ethik und Norm als Prämissen für eine Abrüstung Der neue Anti-Atomwaffenvertrag, der jetzt bei der UNO ausliegt, werde der alten Vereinbarung neuen Schwung geben, hofft der Botschafter Österreichs bei den Vereinten Nationen, Thomas Hajnosci. Sobald ihn 50 Länder unterzeichnet und ratifiziert haben, tritt er in Kraft. 50 Unterschriften liegen bereits vor. Der Prozess ist im Gang. "Der Vertrag baut sehr stark auf dem Atomwaffensperrvertrag auf, und wir haben sehr darauf geachtet, dass er total damit vereinbar ist, weil er ja eigentlich nur eine Durchführung des Artikel Sechs vom Atomwaffensperrvertrag ist, wo es um die nukleare Abrüstung geht. Es war immer klar: Wir brauchen eine Norm, die Nuklearwaffen verbietet, um eine Welt ohne Nuklearwaffen zu erreichen." Eine solche Norm sei aber nur dann wirkungsvoll, wenn sie für alle Staaten gleichermaßen gilt, betont der langjährige Leiter der internationalen Atomenergiebehörde, Muhammad El Baradei. An diesem entscheidenden Punkt bedürfe der alte Atomwaffensperrvertrag dringend der jetzigen Ergänzung: "Bisher ist einigen Staaten der Besitz von Atomwaffen gestattet und anderen nicht. Das ist absurd. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann beispielsweise Terroristen sich eine Atombombe verschaffen und sie einsetzen werden? Der einzige Weg, solche Risiken zu beseitigen, ist, die Nuklearwaffen zu beseitigen." Der ägyptische Diplomat Muhammad El Baradei. Zusammen mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) erhielt er 2005 den Friedensnobelpreis (imago / Independent Photo Agency) Die Hoffnung auf den neuen Anti-Atomwaffen-Vertrag ist groß. Fest steht aber: Alle neun Länder, die heute offiziell im Besitz von Nuklearwaffen sind, boykottieren ihn bisher geschlossen, so auch alle NATO-Mitgliedsstaaten. Zu ihnen gehört Deutschland. Friedensnobelpreisträger Muhammad El Baradei zeigt sich daher besorgt: "Wenn wir so weiter machen wie bisher, wandern wir mit geschlossenen Augen in die Apokalypse. Meiner Ansicht nach ist die negative Reaktion der Atomwaffen-Staaten und ihrer Verbündeten arrogant und nicht überzeugend. Man sollte von ihnen zumindest seriöse Verhandlungen erwarten, mit dem Ziel durch ausgewogene und vorsichtige Maßnahmen, die Zahl der Nuklearwaffen zu reduzieren, nicht diese negative Reaktion und Blockade. Wir können nur hoffen, dass diese Staaten sich nach und nach eines Besseren besinnen." Die internationale Gemeinschaft müsse dringend wieder eine gemeinsame ethische Basis finden, mahnt Izumi Nakamitsu. Sie hat als "Hohe Beauftragte für Abrüstungsfragen" seitens der Vereinten Nationen die Verhandlungen zu dem neuen Vertrag begleitet: "Ein nuklearer Konflikt ist heute mehr als eine abstrakte Idee. Die Zahl der Kriege nimmt zu. Es ist für die Menschheit lebensnotwendig, sich auf Normen zu verständigen, die solche Konflikte begrenzen. Der neue Vertrag gegen Nuklearwaffen ist wohl der wichtigste Vertrag, der in den letzten 70 Jahren verhandelt wurde. Denn der Einsatz dieser Waffen hätte für die Menschheit existenzielle Folgen. Die Normen, die der Vertrag setzt, sollten daher von so vielen Staaten wie möglich umgesetzt werden." "Man muss Prozesse in Gang setzen, die zu einer Abrüstungsspirale führen" Heinrich Bedford-Strohm appelliert an Deutschland, mit gutem Beispiel vorangehen. Denn auch auf deutschem Boden, so der Ethiker, lagern Nuklearwaffen: "Es ist wichtig, dass wir uns klar werden darüber, dass auch Deutschland beteiligt ist an der Drohung mit Atomwaffen, und deswegen mitverantwortlich ist, dass Atomwaffen abgebaut werden. Kein Mensch sagt, dass man von heute auf morgen diese Waffen einfach wegwerfen kann. Man muss Prozesse in Gang setzen, die zu einer Abrüstungsspirale führen." Das Thema dürfe nicht länger verdrängt werden, betont Nobelpreisträgerin Beatrice Fihn. Der neue Vertrag leistet dazu einen entscheidenden Beitrag. Vor allem aber stellt er Nuklearwaffen rechtlich auf dasselbe Niveau wie chemische oder biologische Waffen, die von der internationalen Gemeinschaft bereits erfolgreich geächtet wurden. "Keine Nation brüstet sich heute noch damit, Chemiewaffen zu besitzen. Keine Nation behauptet, dass es akzeptabel sei, Nervengas einzusetzen. Wir verdanken das dem Umstand, dass internationale Normen festgelegt wurden, die ein neues Bewusstsein schufen. Nun gibt es endlich eine vergleichbare ethische Norm gegen Atomwaffen. Und mit jeder weiteren Unterschrift unter dem Vertrag, gewinnt sie an Gewicht."
Von Corinna Mühlstedt
Mehr als 120 Staaten haben bei der UNO einen Vertrag vorgelegt, um Atomwaffen zu ächten. Auch Repräsentanten aller Weltreligionen unterstützen dieses Anliegen: Die Bombe gilt in ihren Augen als das Böse schlechthin, ihr Besitz als Sünde, ihr Einsatz als Apokalypse. Doch das Wettrüsten geht weiter.
"2018-04-18T20:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:46:59.341000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/atombombe-und-moral-die-waffe-die-nicht-sein-darf-100.html
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Anfänge der Pop Art im Museum
Auch der erste Pop Art Film "Pop goes the easel" von Ken Russel ist in der Ausstellung "This Was Tomorrow" im Kunstmuseum in Wolfsburg zu sehen. (picture alliance / dpa / Peter Steffen) Die Geburtsstunde der Pop Art war nicht besonders glamourös. Jedenfalls nahm seinerzeit kaum jemand von ihr Notiz. Eduardo Paolozzi, junger schottischer Kunststudent italienischer Abstammung, hat sich im Jahr 1947 für zwei Jahre an der Pariser Kunstakademie eingeschrieben und macht dort Bekanntschaft mit einigen Größen der französischen Moderne. Er lernt die Collagetechniken der Surrealisten und Dadisten kennen und findet Zeitschriftenmagazine aus den USA, die die GI's aus Übersee mitbringen. Designte Frauenkörper, designte Lebensmittel, Comics, Science Fiction. Paolozzi beginnt, diese Motive auszuschneiden und zu neuen Motiven wieder zusammenzusetzen. So entsteht die Collage "I Was a Rich Man's Plaything", die Überschrift verheißt "Intimate Confessions" und eine bekennende Ex-Geliebte eines Millionärs, eine Frau in verführerischem Outfit, ist zu sehen, eine Männerhand mit Pistole, in deren Rauchwolke das Wort "Pop" erscheint, man sieht knallrote Kirschen, einen US-Bomber und eine Flasche Coca-Cola. Zurück in London wird Paolozzi vier Jahre später zum Mitbegründer der "Independent Group", eines lockeren Zusammenschlusses aus Künstlern, Kritikern und Architekten. Im neu gegründeten Institute of Contemporary Arts diskutieren sie darüber, wie sich die Grenze zwischen Kunst und Leben, Trivialkultur und Massenmedien aufheben lässt. "Eine Urszene des Pop" Paolozzi hält dazu einen Vortrag unter dem Titel "Bunk", was soviel wie "Quatsch" bedeutet, und schiebt wortlos eine Bilderfolge von Collagen aus Illustrierten und Science-Fiction-Magazinen durch einen Projektor. Ralf Beil, Kurator und Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg: "Das sind eben dann die nackten Männer mit den Leopardenhosen, die ein Auto stemmen, daneben steht 'Bunk'/'Nonsens', da wird sozusagen mit Sexualität, mit Mobilität, mit Urbanität mit Science Fiction, mit Comics gearbeitet, das ist eben eine ganz andere Inhaltlichkeit, die eben dieses High and Low, was dann nachher bei der Pop Art ganz wesentlich ist. Pop Art avant la lettre, es war völliges Unverständnis, sie wussten nicht, was das eigentlich sein sollte, und bei Paolozzi, bei dieser Bunk-Serie ist es definitiv so, dass es eben eine Urszene des Pop ist." Ob Paolozzi und seine Mitstreiter wirklich nicht so genau wussten, was sie da taten, ist umstritten. Womöglich sahen sie sich als Avantgardisten, Künder einer neuen Kunstwelt, womit sie ja auch durchaus recht behalten sollten. "Verschmelzung von High und Low" Fast ein Jahrzehnt vor Allan Kaprows erstem Happening in den USA hatten sie eine Kunstform entwickelt, wie geschaffen, um das flüchtige Alltagsleben abzubilden und den Verlust des großen Fortschrittsglaubens der Moderne, der in der Nachkriegskonsumwelt wie eine Karikatur seiner selbst wiederkehrte. Kuratorin Uta Ruhkamp: "Es ist eine junge Generation von Künstlern und das ist eben auch das, was Lawrence Alloway als großer Theoretiker eben in der Zeit, der sagt, es ist das Ende einer Zeit, in der humanistische Ideale bestimmt haben, was bildwürdig ist, was die Ideale eben in der Kunst sind, und eine Longfront of culture sozusagen entsteht, eine ganz breite Kulturfront, wo sich dann, wie es sich in Amerika schon früher abgezeichnet hat, eine Verschmelzung von High und Low gegeben hat, die sich dann nachweislich in den sechziger Jahren auch in den Werken manifestiert." Die Überblicksschau im Kunstmuseum Wolfsburg stellt in einer fast szenischen Collage die wichtigsten Künstlerinnen und Künstler vor, die die Entwicklung in England weiter vorantreiben. Die Inszenierung mittels aufwendiger Ausstellungsarchitektur hat Direktor Ralf Bei schon während seiner Zeit an der Darmstädter Mathildenhöhe perfektioniert. Die Konsumwelt als ironisch glitzerndes Gesamtkunstwerk In der hohen Haupthalle des Kunstmuseums sind stilisierte Straßen, Plätze und Künstlerhäuser unterschiedlicher Zuschnitte entstanden, die die Nachbarschaften unterschiedlicher Positionen während der "Swinging Sixties" verdeutlichen. David Hockney und R.B. Kitaj, Peter Blacke und Allan Jones und die bislang kunsthistorisch schwer vernachlässigten weiblichen Positionen von Pauline Boty oder Jann Haworth. Hinter jeder Fassade steckt eine Geschichte: Wie David Hockneys Kampf um Respekt für seine Homosexualität und Pauline Botys feministische Entlarvung einer phallozentrischen Kunstgeschichte. Preziose im Zentrum ist freilich der seinerzeit vom Künstler selbst autorisierte Nachbau von Richard Hamiltons "Fun House", einer multimedialen Archi-Skulptur, die die Konsumwelt als ironisch glitzerndes Gesamtkunstwerk vorstellt – geboren aus dem Smog und den rauchenden Trümmern des kriegszerstörten Londons.
Von Carsten Probst
Pop Art, darunter werden für gewöhnlich Werke von US-Künstlern wie Warhol, Rauschenberg oder Lichtenstein zusammengefasst. Die Ausstellung "This Was Tomorrow" im Kunstmuseum Wolfsburg stellt nun klar, dass die Pop Art mehr als ein Jahrzehnt zuvor bereits in Europa begründet wurde - von britischen Künstlern in London.
"2016-10-31T17:35:00+01:00"
"2020-01-29T19:02:08.347000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wolfsburg-anfaenge-der-pop-art-im-museum-100.html
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"Big Bang" brachte riskante Transaktionen und riesige Gewinne
Blick über die Themse auf den Canary Wharf, den zweiten Londoner Finanzdistrikt. (AFP / Leon Neal) Die Londoner City. Schon seit Jahrhunderten von höchster kommerzieller Bedeutung: Die Geldhäuser finanzierten den Ausbau des Empire und arbeiteten stets eng mit der Regierung in Westminster zusammen. Hier hatten Banker das Sagen, die in den feinsten Privatschulen erzogen wurden, und eine Art Gentlemen-Kapitalismus pflegten: ein paar Stündchen handeln, dann ausführlich lunchen, und sich anschließend in einem Privatclub in der Nähe von Westminster erholen. Eine Tradition, mit der die konservative Premierministerin Margaret Thatcher nach ihrem Machtantritt 1979 gründlich aufräumte, sagt Paul Auerbach, Wirtschaftsdozent an der Universität Kingston. "Frau Thatcher wollte die Londoner City für ausländisches Kapital so attraktiv wie möglich machen, und so wurde Großbritannien eines der ersten Länder, in dem die Devisenkontrollen und die staatliche Überwachung von Kapitalbewegungen abgeschafft wurden. " Innerhalb weniger Jahre wurde die City zu einem Magneten für die internationale Vermögensverwaltung. Aber Frau Thatcher ging noch einen Schritt weiter. Am 27. Oktober 1986 trat ein Gesetz in Kraft, das den Wertpapierhandel von seinen regulativen Fesseln befreite. Die Trennung zwischen normalen Banken und Investmentbanken wurde aufgehoben, die Kontrolle von Kommissionen abgeschafft. Die City sprach von einer finanzpolitischen Revolution. Die Medien von einem "Urknall": dem "Big Bang". "Und plötzlich konnten die Banker mit den Geldern, die von den Kunden einbezahlt wurden, spielen und spekulieren, geradeso als wären sie Investmentbanker. Traditionelle Bausparkassen verloren ihren Sonderstatus und wurden von den großen Banken verschluckt. Ausländische Banken rieben sich die Hände: für sie galten plötzlich dieselben Bestimmungen wie für die britischen Banken. " Zahlreiche amerikanische Geldinstitute ließen sich in der Londoner City nieder. Und importierten ihre "Kultur". Riskante Transaktionen, riesige Gewinne, stratosphärische Boni. Der "Gentleman Banker" wurde zum Mythos und von einer neuen Spezies verdrängt, die Ex- Banker Geraint Anderson in seinem Enthüllungsroman "Cityboy" beschrieb: "Wer ist der Cityboy? Er ist der dreiste Idiot im Maßanzug, der dich in der U-Bahn aus dem Weg schiebt. Der egoistische Witzbold, der auf einer Dinner Party damit prahlt, wieviel Cash er auf dem Markt gemacht hat. Der gierige Dreckskerl, der dazu beiträgt, dass sich die Welt immer schneller in einen Misthaufen verwandelt." Gravierende Auswirkungen auf das ganze Land Großbritannien, noch in den 70er-Jahren als "Kranker Mann Europas" bezeichnet, feierte den großen Konsumrausch. Im Rückblick gibt selbst der damalige konservative Schatzkanzler Nigel Lawson zu... "Damals herrschte ein exzessiver Optimismus. Es gab völlig überzogene Erwartungen. Natürlich ist der Wirtschaft mit einer optimistischen Haltung besser gedient. Aber was wir damals erlebten, das ging eindeutig zu weit." Und hatte gravierende Folgen für den sozialen Zusammenhalt. In keiner anderen Metropole der westlichen Welt ist das soziale Gefälle so groß wie in London. Auch die Kluft zwischen dem Süden und dem Norden wird immer tiefer. Teile von Nordengland sind im Zuge der von Frau Thatcher vorangetriebenen De-Industrialisierung bitterarm. Großbritannien hängt inzwischen viel zu sehr von seinem Finanzsektor ab, sagt Paul Auerbach: "Während die USA einen enorm großen Industrie- und Landwirtschaftssektor besitzen, ist Großbritannien äußerst einseitig geworden. Das ist schlecht für den Arbeitsmarkt. Der Finanzsektor hat relativ wenig Arbeitsplätze, außerdem wirbt er wertvolle Nachwuchskräfte direkt nach dem Studienabschluss ab. Das sind junge Talente, die sich in der Wissenschaft oder in der Industrie viel nützlicher machen könnten." Nach dem Finanzcrash von 2008 wurden auch in der Londoner City neue Regelungen geschaffen. Kritiker können sich aber vorstellen, dass sie nach dem Brexit wieder gelockert werden könnten, um den globalen Finanzplatz London besonders attraktiv zu machen. "Kurz und mittelfristig wird das ausländische Kapital London nicht mehr als eine leicht zugängliche Plattform für Europa betrachten. Langfristig gesehen ist der Finanzplatz London aber weiterhin attraktiv. Wegen seiner Sprache, wegen seiner geopolitischen Lage, und wegen seines ausgesprochen freundlichen Geschäftsklimas."
Von Ruth Rach
Die Londoner City, die "Square Mile", ist zwar nur drei Quadratkilometer groß, aber dennoch seit Jahrhunderten von höchster finanzpolitischer Bedeutung. Mit dem sogenannten Big Bang wurde die enge Zusammenarbeit mit den Regierungen in Westminster erschüttert. Margaret Thatcher leitete eine finanzpolitische Wende ein - mit höchst umstrittenen Folgen.
"2016-10-27T09:05:00+02:00"
"2020-01-29T19:01:18.713000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/londoner-boerse-vor-30-jahren-big-bang-brachte-riskante-100.html
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"Ich bin kein radikaler Mensch"
Daniel Brühl in seiner Rolle als Wilfried Böse (imago/ZUMA Press/FocusxFeatures) Im Juni 1976 kaperten deutsche und palästinensische Terroristen in der ugandischen Stadt Entebbe eine Air-France-Maschine, um palästinensische Gefangene freizupressen. Die Geiseln überlebten, die Geiselnehmer wurden bei der Befreiungsaktion getötet. Schon mehrfach wurde dieser Stoff verfilmt, was den Brasilianer José Padilha nicht daran gehindert hat, es jetzt ebenfalls zu tun. Daniel Brühl spielt in "7 Tage in Entebbe" den Entführer Wilfried Böse. Sigrid Fischer hat Daniel Brühl zum Corsogespräch getroffen. "Ich bin sehr geschichtsinteressiert" Sigrid Fischer: Daniel Brühl, wenn ich mich richtig erinnere, ist das nicht der erste Filmtod, den Sie gestorben sind in "7 Tage in Entebbe", oder? Daniel Brühl: Tarantino. Und zwar zu Ennio Morricone. Was ich ja toll fand, habe ich mich damals bei Quentin bedankt. Einen schöneren Tod werde ich nicht haben. Und wenn ich das im Griff haben sollte, und wenn ich dann wirklich ins Gras beiße, werde ich dann vielleicht noch mal einen Ennio-Morricone-Song auflegen. Das finde ich ja immer schwierig, Leiche spielen. Fand ich gar nicht einfach. Dann flattert ja dann irgendwann der Wind über uns, und ich war ja ganz enttäuscht beim ersten Sichten. Ich dachte, ich seh doch ganz genau, wie ich atme. Aber dann hab ich gecheckt, dass es die Windmaschine ist. Ich dachte, ich Kurt kann noch nicht mal zehn Sekunden die Luft anhalten. Fischer: Okay, wir haben jetzt, glaube ich, nicht gespoilert, denn wie das Geiseldrama von Entebbe geendet hat, steht im Geschichtsbuch. Warum wollten Sie den Wilfried Böse spielen, Mitbegründer der sogenannten "Revolutionären Zellen", der 1976 mit anderen zusammen ein Flugzeug entführt, um Palästinenser freizupressen? Brühl: In diese Zeit tatsächlich einzutauchen. Bei der Anfrage erst mal musste ich mich orientieren, weil ich dachte automatisch an Landshut und Mogadischu. Und dachte: was war vorher, was war nachher und wer war noch mal genau daran beteiligt und so? Und ich hatte gleich ein gutes Gefühl bei dem Film, weil das in sehr guten Händen war, weil die sich jahrelang mit dem Thema Linksextremismus beschäftigt hatten und Rosamund und mich mit spannendem, brisantem Material versorgt haben, das man halt nicht in der Buchhandlung kriegt oder bei Amazon. Und ich bin sehr geschichtsinteressiert. Ich habe immer gerne über Geschichte gelesen, schon als Jugendlicher, weil mir das ja auch immer was bringt, zu kapieren, wer ich bin und wo ich heute lebe, in was für einer Welt und was für einer Zeit. Wenn man halt die Geschichtsglieder zurückverfolgt und in einige Kapitel dann noch mal eintaucht. Und bei uns, das fand ich auch spannend bei dem Film, ist der Perspektivwechsel zwischen den Deutschen, Palästinensern und Israelis. Das hat mich daran interessiert. Wenn das jetzt ein Film gewesen wäre über Gut und Böse, das sind die kaltblütigen Terroristenmonster und die heroischen israelischen Soldaten, dann hätte mich das natürlich nicht interessiert. "Man kann auch in einem Gespräch für seine Haltung kämpfen" Fischer: Ihre Figur Wilfried Böse glaubt ja fest daran, dass er für das Richtige kämpft mit diesen falschen Mitteln, er ist eher der Gemäßigte in der Aktion. Haltung zeigen und sich für etwas einsetzen - dafür gäbe es auch zurzeit viele Anlässe. Gibt es etwas, das Ihnen aktuell so wichtig wäre, dass Sie sich dafür stark machen würden? Brühl: Ja, sicherlich, aber ich bin kein radikaler Mensch, ich bin kein extremer Mensch und ich hab mit der Figur, die ich da spiele, tatsächlich auch recht wenig zu tun - ich verurteile Terrorismus jedweder Art. Aber man kann auch in einem Gespräch für seine Haltung kämpfen. Und ja, es ist in der geschichtlichen Auseinandersetzung immer ein bisschen traurig, wenn man sich den Status quo jetzt anguckt. Und denkt, wir sind ja nun wirklich gar keinen Schritt weiter, sondern vielleicht sogar noch einen Schritt zurückgegangen. Da gilt es auf jeden Fall zu kämpfen für bestimmte Werte, mit denen ich aufgewachsen bin in Europa. Ich bin jetzt selber Vater geworden, mein Sohn ist jetzt 15 Monate, der kapiert zum Glück noch nicht, was so los ist. Aber ich hoffe, dass wenn der ein bisschen älter ist, die Zeiten anders sind. Denn ich hatte das wahnsinnige Privileg, in einer Zeit aufzuwachsen, in der Mauern eingerissen werden und Grenzen aufgestoßen werden und ich mich in einer sehr solidarischen, europäischen Familie gefühlt habe. Und dass das jetzt alles wieder ganz anders aussieht, ist echt traurig. Wir haben noch länger mit Daniel Brühl gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Fischer: Sie haben sich letzten Herbst sehr ausführlich zum Konflikt in Ihrer anderen Heimat Katalonien geäußert, in der Süddeutschen Zeitung, damit haben Sie auch Haltung gezeigt. Brühl: Ja und deshalb wollte ich mich äußern. Ich meine, das ist jetzt kein Kampf, aber ich hatte schon das Bedürfnis. Ich wurde dann von den einschlägigen Fernsehformaten hier in Deutschland innerhalb eines Tages gefragt, ob ich mich in alle Talkshows reinsetze zu diesem Thema. Da hab ich gesagt: Gott bewahre! Aber ich wollte mich dazu äußern, weil ich dieses Bedürfnis und die Wut und die Frustration wirklich verspürt habe und immer noch verspüre. Und wie das dann heutzutage so ist, wird das dann falsch zitiert oder nicht in Gänze übertragen. Das heißt, in Katalonien kam das so an, als würde ich die spanische Sache nur verteidigen. Ich: Leute, da müsst Ihr Euch den Artikel ganz durchlesen. Weil ich sehr unzufrieden bin, extrem unglücklich bin über die Politik der Zentralregierung in Madrid - ich finde das den schlechtesten Präsidenten, den es je gab. Ich bin aber auch dagegen gewesen, was Puigdemont da veranstaltet hat, das war absolut unbesonnen und ein Witz. Und insofern finde ich das sehr problematisch auf beiden Seiten, und ich finde es sehr schade, dass jetzt diese Gräben wieder durch Familien, durch Freundeskreise durchgezogen werden. Und die Stimmung in der Gesellschaft so geschädigt wurde. Hoffentlich entspannt sich das. "Das ist absolut unmännlichstes Verhalten" Fischer: Wofür beziehungsweise wogegen zur Zeit auch viele Menschen aufstehen, ist der Machtmissbrauch, die sexuellen Übergriffe, unter anderem in der Filmbranche. In den USA sind die Debatten losgetreten worden, es gibt die "#MeToo"-, und die "Time'sUp"-Kampagne. Wie stehen Sie dazu? Brühl: Also, ich kann nur sagen, ich unterstütze diese Bewegung natürlich vollkommen. Es hat mich, ehrlich gesagt, schockiert, was ich alles lesen musste über die Männer. Das hat eigentlich nur die Schwäche des Mannes offenbart für mich. Also das ist absolut unmännlichstes Verhalten. Das hat mich irgendwie zutiefst irritiert. Fischer: Sie drehen sehr viel in den USA, haben Sie an Filmsets irgendwas mitbekommen? Brühl: Also, ich hatte dann mit einigen Leuten zu tun, die jetzt ja auch genannt wurden. Und in dem Beisein ist mir das aber - und vielleicht war ich da ein bisschen naiv - ist mir das jetzt nicht weiter aufgefallen, auch in meinem engeren Kreis auch an männlichen Freunden und Kollegen war das kein Thema. Vielleicht habe ich es einfach nicht gesehen, weil das für mich überhaupt nicht Teil meiner Art ist, war ich dann vielleicht auch blind für so was, weil ich einfach nicht verstehen kann, wie man so durch die Welt gehen kann und ein solches Verhalten an den Tag legen kann. Also diese Debatte und Bewegung, das war jetzt wirklich an der Zeit. Und dass da so ein Ruck durch geht. Aber es gibt natürlich dann bei solchen Fällen auch … Da muss man vorsichtig sein. Da muss die Presse vorsichtig sein, da muss Social Media vorsichtig sein. Das ist ja kaum mehr möglich. Man muss jeden einzelnen Fall intensiv und genau sich anschauen, bevor man dann ein Urteil fällt. Also da hab ich Sachen in der amerikanischen Presse gesehen, wo ich dachte, das ist nicht in Ordnung. Du kannst nicht den einen wirklich großen Fall mit einem anderen verbinden, da muss man vorsichtig sein. Der "Negativus Destructivus" und die Altersmilde Fischer: Daniel Brühl, Sie sprachen eben davon, dass Sie jetzt Vater sind - verändert das den Blick auf die Dinge, auf die Welt? Brühl: Vor allen Dingen, glaube ich, vielleicht für einen Schauspieler ist, was das mit dem Narzissmus macht und mit dem Gefühl zu sich selber, dass da jemand plötzlich ist, der dann doch noch wichtiger ist als man selber. Ist schon ein sehr schönes Gefühl, muss ich sagen. Das erfüllt mich extrem. Fischer: Na ja, ohne Narzissmus wird man vermutlich nicht Schauspieler. Wie äußert sich der denn bei Ihnen? Brühl: Ich wurde von - jetzt bei der amerikanischen Serie, die ich gedreht habe - von Dakota Fanning "Negativus Destructivus" immer genannt. Weil ich bin extrem hart mit mir in der Selbstkritik. Und ich bin auch selbst mit guten Sachen oft noch unzufrieden. Und das ist ja auch gut: besser so, als wenn man sagen würde: "Isch bin großartisch, war super mal wieder!" Das wär ja schlimm, aber man darf jetzt auch nicht übertreiben. Und da merke ich jetzt, also altersmilde, ich bin ja 39, nicht übertreiben, aber ich werde schon jetzt, und ich glaube, das hat auch was mit meinem Sohn zu tun, dass ich auch da mit mir jetzt so ein bisschen freundlicher geworden bin, ne. Fischer: Wie nehmen die Amerikaner Sie wahr? Sind Sie da der Deutsche oder sind Sie der aus Europa? Brühl: Eher Europa tatsächlich. Also jetzt schon, auch in Los Angeles sprechen ja so viele Spanisch, viele wussten, dass ich Spanisch spreche, und dann wirst Du auch auf Spanisch angesprochen. Viele kennen mich natürlich als Deutschen - also ich würde sagen, es ist gemischt, Deutsch und Spanisch. Aber es freut mich schon, dass man jetzt immer öfter auf der Straße tatsächlich angesprochen wird und erkannt wird. Das hätte ich ja jetzt auch nicht gedacht, als ich anfing. Als ich das letzte Mal, als ich jetzt da war, hingen ja diese riesen "Alienist"-Poster im ganzen Land - da habe ich mich wirklich gefühlt wie ein 12-Jähriger. Ich habe die ganze Zeit Fotos gemacht für meine Mutter. Das hat man halt auch nicht alle Tage, dass so was so omnipräsent riesig angeworben wird irgendwo. Und dann ist es schon ein Moment, in dem man kurz innehält. Ich habe dann auch mit einem Freund auf der Motorhaube gesessen, und dann haben wir noch irgendwie einfach nachts auf dieses Poster geguckt. Und dann dachte ich: Ja, ist schon irre, dass man das ab und zu mal erleben darf.
Daniel Brühl im Corsogespräch mit Sigrid Fischer
Er verurteile Terrorismus jedweder Art, sagte der Schauspieler Daniel Brühl über seine Rolle im Film "7 Tage in Entebbe" im Dlf. Beim Blick auf den Status quo sei er aber traurig - er sei in einer Zeit aufgewachsen, in denen Mauern eingerissen wurden, in einer sehr solidarischen, europäischen Familie.
"2018-04-30T15:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:50:18.828000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/daniel-bruehl-in-7-tage-in-entebbe-ich-bin-kein-radikaler-100.html
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Wenn die Infrastruktur auf dem Land vernachlässigt wird
Blick auf ein rückgebautes Gleis wegen komplexer Sanierungsarbeiten der Bahnstrecke bei Nachterstedt (Sachsen-Anhalt) (picture alliance / dpa / Jens Wolf) "Ja, der Bahnhof gehört keiner Stadt, keiner Kommune, niemandem – das ist unser Bahnhof!" Jörg Löffler ist stolz. Der 57-jährige Leiter einer Flüchtlingsunterkunft steht im Wartesaal des Bahnhof Eisleben. 2015 hat er zusammen mit knapp 40 anderen Mitsteitern eine Genossenschaft gegründet und den Bahnhof gekauft. Zu einer Zeit als das 1865 gebaute historische Bahnhofsgebäude nur noch eine runtergekommene Ruine war, die über Jahre leerstand. "Eisleben als besserer Haltepunkt, da hatte die Bahn kein Interesse und wäre auch gut mit einem kleinen Pavillion ausgekommen." 260 Bahnhofsretter Während man in Stuttgart, München oder Hamburg viel Geld in neue Bahnhofsprojekte steckt, lässt man die kleinen – meist auch architektonisch interessanten – Stationen im ländlichen Raum verfallen: Bahnhofsretter Löffler kann es nicht verstehen. Hätten die Bürger nicht das Zepter in die Hand genommen, würde es heute in Eisleben – immerhin Teil des UNESCO Weltkulturerbes – keinen klassischen Bahnhof mehr geben. Auch weil aufgrund der miesen Finanzlage, die Stadt das alte Gebäude nicht hätte kaufen können. Weshalb die Genossenschaft für Eisleben ein echter Glücksfall ist. 260 Mitglieder hat die Bahnhofsretter-Genossenschaft mittlerweile und die kommen nicht nur aus Eisleben, sondern aus ganz Deutschland, wie Köln, Hamburg und Berlin. Ein Anteilsschein kostet 200 Euro, doch damit wäre man nicht weit gekommen. Weshalb das Land der Genossenschaft unter die Arme griff und das Vorhaben mit 1,3 Millionen Euro unterstützte. Jetzt strahlt der Bahnhof wieder, den täglich etwa 1.000 bis 1.300 Fahrgäste frequentieren. Entree mit Fußbodenheizung Noch bis zum letzten Augenblick wurde gearbeitet. Nun ist aus der Bahnhofshalle ein lichtdurchflutetes helles Entree geworden. Ein warmer Willkommensgruß für jeden Besucher der Stadt Eisleben, die direkt an der Bahnstrecke Halle-Kassel liegt. Jörg Löffler steht auf dem edlen grauen Fliesen-Boden, darunter befindet sich eine Fußbodenheizung. Sein Blick kreist, die Augen strahlen. "Da oben kommt ein Beamer raus. Wenn sie dahinten sehen, die farbigen Stühle, das ist die Bestuhlung, die gehört hier rein. Haben 100 Sitzplätze, kleine Bühne. Was man so braucht für eine Veranstaltungshalle. Sie können hier Kino machen, wir haben Wände für Ausstellungen. Beschallung. Alles da." Nicht jammern, anpacken Auch SPD-Oberbürgermeisterin Jutta Fischer – eine warmherzige und herzliche Frau – ist Bahnhofsretterin und hat für das Projekt aus ihrer Privatschatulle einen vierstelligen Betrag gespendet. Ihre Maxime: Nicht jammern, sondern anpacken. "Wir haben die Spinnweben abgekachelt, haben etwas gemacht gemeinsam. Der Bahnhof erstrahlt. Na bitte schön: Herzlich willkommen in der Lutherstadt Eisleben." Mit dem Projekt könne man zeigen, was möglich ist, wenn die Bürgerschaft kurzerhand selbst die Dinge in die Hand nimmt, wie man einem verfallenen Bahnhof neues Leben einhaucht, ihn zum Glänzen bringt. Blick auf die evangelische Kirche St. Andreas in Eisleben. Dort hielt der Reformator Martin Luther (1483-1546) seine letzten vier Predigten vor seinem Tod. (picture alliance / dpa / Peter Endig) Ähnliche Projekte gibt und gab es zwar auch schon anderswo, wie beispielsweise in Leutkirch im Allgäu, wo man den Bahnhof mit einer Wirtshausbrauerei samt Biergarten wiederbelebt hat. Mit dem kleinen, aber nicht unerheblichen Unterschied, dass Eisleben im Landkreis Mansfeld-Südharz liegt, eine der ärmsten Regionen Deutschlands. Doch das lässt man hier nicht als Ausrede gelten. Die Besucher staunen, sind über das Vorgehen der Deutschen Bahn aber irritiert, die gerade kleine Bahnhöfe verfallen lässt. "Ich denke schon, dass die Bahn auf jeden Fall mehr in der Pflicht sein müsste, die Sachen in Ordnung zu halten." Die Bahn hat sich dazu nur in einem Einzeiler geäußert und schrieb in einer E-Mail, Zitat: "Das Empfangsgebäude in der Lutherstadt Eisleben wurde verkauft, da die DB es nicht mehr für den Bahnbetrieb benötigt." Ein höchst problematisches Kapitel Überhaupt: Die Deutsche Bahn und Sachsen-Anhalt, ein höchst problematisches Kapitel. Denn nicht nur viele Bahnhöfe, sondern auch viele Strecken, insbesondere die kleinen Nebenstrecken, sind in einem schlechten Zustand. Und als ob es das Vergehen das Landes sei, hat die Bahn deswegen jahrelang vom Land Sachsen-Anhalt höhere Nutzungsgebühren als üblich verlangt. "Speziell in Sachsen-Anhalt hat die DB-Netz AG seinerzeit festgestellt, dass die Trassen einen erhöhten Instandhaltungs- und Betriebsaufwand haben. Dann ist die DB-Netz AG hingegangen und hat gesagt, ich schlage auf die Nebenstrecken ein Zusatzentgelt drauf und das muss dann bezahlt werden. Andernfalls könne die Strecke nicht mehr vorgehalten werden." Von einer Droh-Gebärde der Bahn will Rüdiger Malter nicht sprechen. Er ist der Geschäftsführer der zuständigen Landesbehörde – dem Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt. Aber man fühle sich von der Bahn in gewisserweise schon vorgeführt. Kosten abwälzen Denn der Staatskonzern habe doch so versucht, erklärt der Landesbeamte Rüdiger Malter, die Folgen der schlechten Infrastruktur, die teilweise auch noch aus DDR-Zeiten resultieren, auf das kleine Land Sachsen-Anhalt abzuwälzen. Was man überhaupt nicht akzeptieren könne, denn nach dem Grundgesetz gibt es eine klare Trennung, wer für was verantwortlich ist. "Und für die Schienenstrecken des Bundes ist nach dem Grundgesetz Artikel 87e eindeutig der Bund zuständig. Und nicht die Länder." Weshalb das Land Sachsen-Anhalt vor dem Landgericht Frankfurt nun 155 Millionen Euro von der Bahn zurückfordert. Inklusive Prozesskosten würde sich das – nach Angaben des Landes – auf etwa 235 Millionen Euro summieren. Anfang Juli soll es eine Entscheidung geben. Ein Musterprozeß, auf den auch andere Länder mit Interesse schauen. Die Bahn selbst will sich dazu nicht äußern. Deutsche Bahn lässt sich Zeit Zurück nach Eisleben. Denn während der Bahnhof saniert ist, sind die Bahnsteige – die Eigentum der Bahn sind - noch immer in einem sehr schlechten, man kann auch sagen miserablen Zustand. 2017 sollten sie eigentlich bereits saniert sein, doch bis jetzt ist nichts passiert. Jetzt hat die Bahn das Jahr 2020 avisiert. Warum sich die Bahn so viel Zeit lasse, die Eislebener Rathauschefin Jutta Fischer kann es nicht verstehen. Startet aber einen dringenden Appell, der fast wie ein Hilferuf klingt: "Ich wünsche mir eins: Das Bahnhofsgebäude ist gemacht. Jetzt möge bitte alles, was an den Gleisanlagen zu rekonstruieren ist, zu sanieren ist, dann realisiert werden. Eisleben darf niemals abgekoppelt sein."
Von Christoph Richter
Der Sachsen-Anhalt-Tag wird heute in Luthers Geburts- und Sterbeort Eisleben gefeiert. Dabei rückt ein besonderes Bürger-Engagement in den Mittelpunkt: der kürzlich wiedereröffnete Bahnhof. Er steht für ein besonders schwieriges Verhältnis zwischen Land und dem bundeseigenen Staatskonzern Deutsche Bahn.
"2017-06-16T07:45:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:42.173000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sachsen-anhalt-wenn-die-infrastruktur-auf-dem-land-100.html
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Hilfe für pflegende Angehörige
Musik von früher. An die erinnert sich Elli Busch aus Dortmund noch ganz gut. Die 89-Jährige ist dement, ihre Tochter pflegt sie deshalb seit drei Jahren – rund um die Uhr. Selbst krank zu werden - das kann sich Marina Allemeyer als pflegende Angehörige eigentlich nicht erlauben:"Letztens zum Beispiel habe ich Zahnschmerzen gehabt. Und dann war das auch so ein heißer Tag, da habe ich gedacht, da kannst du sie jetzt nicht mitnehmen. Ja, da muss man sich spontan was einfallen lassen. Da habe ich die Nachbarin gebeten und die hat ein bisschen auf meine Mutter aufgepasst." Um Menschen zu entlasten, die ihre Angehörigen aufopfernd pflegen, hat die Uni Witten/Herdecke gemeinsam mit der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen ein Konzept entwickelt. Unter der Leitung von Prof. Angelika Zegelin ist in den Modellstädten Dortmund und Solingen ein Netzwerk entstanden. Pflegedienste, Beratungsstellen, Ärzte, Apotheken, städtische und kirchliche Einrichtungen ziehen jetzt an einem Strang. Sie unterstützen gemeinsam die pflegenden Angehörigen.Prof. Angelika Zegelin: "Es gab bisher kaum Angebote für die pflegenden Angehörigen direkt, sondern nur indirekt, das heißt, Informationen zur Erleichterung der Pflege und so etwas gibt es, aber uns geht es darum, dass der pflegende Angehörige selbst in den Fokus kommt und in unserer Gesellschaft mehr Wertschätzung und Anerkennung für diese Arbeit da ist." Das bedeutet, das Kinder oder Partner von Pflegebedürftigen einfacher Hilfe und Beratung finden. Mitarbeiter der Anlaufstellen sollen nicht nur ihr eigenes Angebot, sondern sämtliche Einrichtungen kennen und Tipps geben. Elli Busch kommt dank des Modellprojekts jetzt zweimal die Woche für ein paar Stunden in eine Betreuungsgruppe. Ihre Tochter Marina Allemeyer hat so auch mal Freizeit:"Ich treffe heute meine Freundin, wir gehen schwimmen, das haben wir jetzt gesagt, jeden Donnerstag, wenn meine Mutter in Betreuung ist, dann gehen wir schwimmen." Und samstags kann sie in Ruhe mit ihrem Mann die Einkäufe erledigen. Auch das geht, weil ihre Mutter vom Seniorenbüro der Stadt betreut wird. Das Modellprojekt der Uni Witten/Herdecke bietet aber noch mehr. Prof. Angelika Zegelin:"Wir arbeiten in beiden Städten stadteilbezogen. Die pflegenden Angehörigen haben wenig Zeit und da geht es darum, dass sie direkt vor Ort in ihrer Nähe Angebote finden und deswegen ist es wichtig, dass die Anbieter sich abstimmen und auch neue Angebote auf den Weg bringen." Auch gibt es jetzt die sogenannte Notfallkarte. Die ist eine Art Ausweis, mit der die pflegenden Angehörigen beim Arzt schneller an die Reihe kommen. Und sollte ihnen selbst mal etwas zustoßen, weist die Notfallkarte darauf hin, dass sich in ihrem Haus ein hilfloser Mensch befindet. Demnächst soll es auch eine Internetadresse geben, auf der pflegende Angehörige alle Angebote in ihrer Nähe auf einen Blick erhalten.Marina Allemeyer freut sich über die plötzliche Aufmerksamkeit. Ihre Mutter ist alt, niemand weiß, ob sie vielleicht nächstes Jahr im Rollstuhl sitzt und wie viel Kraft es dann kosten wird, sie zu pflegen. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch:"Man wächst da rein, man will es erst nicht wahrhaben, aber mit der Zeit wächst man da rein und muss es irgendwann akzeptieren. Es gibt viele Tränen, also ich hab ganz viel gesessen und geweint, weil ich nicht wahrhaben wollte, wie meine Mutter sich verändert."Ihr Herz ausschütten und ein offenes Ohr finden. Auch das soll das Modellprojekt bald bieten. Speziell geschulte Ehrenamtliche sollen Pflegetipps geben und Betroffenen Mut machen, mit der Situation besser umzugehen. Denn pflegende Angehörige werden künftig wohl noch mehr gebraucht.
Von Katja-Corina Bothe
Rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegen ihre Angehörigen - und werden darüber nicht selten selber krank. Für diese aufopfernden Pflegekräfte hat die Uni Witten/Herdecke gemeinsam mit der Unfallkasse ein Programm entwickelt, das ihnen unter die Arme greifen soll.
"2011-08-23T10:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:25:01.799000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/hilfe-fuer-pflegende-angehoerige-100.html
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+++ Die Entwicklungen vom 19. bis 21. September +++
Regierungssprecher Steffen Seibert zu Gast im Funkhaus von Deutschlandfunk Kultur (Deutschlandradio / Manfred Hilling) Die aktuellen Entwicklungen finden Sie hier in unserem aktuellen Newsblog. Montag, 21. September +++ Bundesgesundheitsminister Spahn will Deutschland mit Fieber-Ambulanzen und einer Ausweitung der Corona-Schnelltests für den Winter wappnen. Er sagte im DLF, Deutschland sei deutlich besser auf alles vorbereitet als man das im Frühjahr war. +++ Regierungssprecher Seibert hat angesichts steigender Infektionszahlen zu "höchster Achtsamkeit" aufgerufen. Es komme aktuell vermehrt zu Ansteckungen und Übertragungen innerhalb Deutschlands, sagte er. Politik und Bürger hätten es jetzt in der Hand, ob sich das Virus wiedcer unkontrolliert ausbreite. Deutschland sei in einer Phase der Pandemie, "in der sich entscheiden wird, wie wir in diese Winter- und Herbstmonate hineingehen". +++ Bundeskanzlerin Merkel will kommende Woche mit den Bundesländern über Maßnahmen gegen die weiter steigenden Corona-Infektionszahlen beraten. Hintergrund sei der besorgniserregende Umstand, dass mehrere große Städte den wichtigen Grenzwert von 50 Neuerkrankungen pro 100 000 Einwohner in einer Woche überschritten hätten, meldet die Deutsche Presse-Agentur. +++ München führt eine Maskenpflicht auf bestimmten öffentlichen Plätzen und Straßen der Innenstadt ein. Das beschloss der Krisenstab. Die Regelung soll ab Donnerstag gelten. Zudem soll es wieder Beschränkungen im öffentlichen und privaten Leben geben."Es dürfen sich dann nur noch fünf Personen treffen, oder zwei Haushalte oder Verwandte in direkter Linie", sagt Oberbürgermeister Reiter. +++ Fußball-Nationalspieler Ilkay Gündogan ist positiv auf das Coronavirus getestet worden. Das teilte sein Verein Manchester City mit. +++ Der Schweizer Pharmakonzern Roche hat den in Aussicht gestellten Schnelltest auf den Markt gebracht. Der Antigen-Test sei nun in Ländern, die die CE-Kennzeichnung akzeptieren, verfügbar, erklärt Roche. Der Test sei zur Erkennung sowohl von symptomatischen als auch asymptomatischen Patienten gedacht und liefere in der Regel ein Resultat binnen 15 Minuten. +++ In Hamm, Gelsenkirchen und Remscheid beraten die Behörden wegen der gestiegenen Zahl von Corona-Neuinfektionen über strengere Maßnahmen. In Köln wird morgen der Krisenstab zusammentreten. +++ Das Formel-1-Rennen auf dem Nürburgring am 11. Oktober darf vor 20.000 Zuschauern stattfinden. Es ist das erste Rennen der Königsklasse auf dem Nürburgring seit 2013. +++ In Bayern soll es an Corona-Hotspots eine Maskenpflicht auch an öffentlichen Plätzen geben. Das will zumindest Ministerpräsident Söder. Auch plädiert er für ein Alkoholverbot an stark besuchten öffentlichen Plätzen und möchte, dass die Kommunen über Sperrzeiten reden. +++ Der tschechische Gesundheitsminister Vojtech hat seinen Rücktritt eingereicht. Wie in zahlreichen anderen Ländern nimmt auch in Tschechien das Infektionsgeschehen seit einiger Zeit deutlich zu. +++ In Indien kann das weltberühmte Grabmal Taj Mahal ab heute wieder besucht werden - und das trotz steigender Infektionszahlen im Land. In Indien gibt es mehr als 5,4 Millionen bestätigte Infektionen (bei 1,3 Milliarden Einwohnern). Das Taj Mahal in Agra (dpa / picture alliance / MAXPPP) +++ Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert Koch-Institut binnen 24 Stunden 922 neue Coronavirus-Infektionen gemeldet. Wegen der verzögerten Meldungen am Wochenende ist die Zahl nur bedingt aussagekräftig. Am Samstag war mit 2.297 neuen Ansteckungsfällen der höchste Wert seit April registriert worden. +++ Im Bundeskanzleramt finden heute Beratungen über die Lage der Schulen in der Corona-Krise statt. Themen sind Hygiene und Infektionsschutz sowie die Digitalisierung und die damit zusammenhängende Weiterbildung von Lehrkräften. +++ Mehrere Ministerpräsidenten der Länder sprechen sich dafür aus, Weihnachtsmärkte grundsätzlich zu öffnen. Thüringens Regierungschef Ramelow sagte, es gebe ein "seelisches Bedürfnis nach dieser Normalität". +++ Beim Fleischkonzern Tönnies sind laut dem WDR bereits Wochen vor dem dortigen Corona-Ausbruch Verstöße gegen Hygienevorschriften festgestellt worden. Unter anderem seien im gesamten Bereich der Schlachtung keine Mund-Nasen-Bedeckungen getragen worden. Mehr dazu hier. Sonntag, 20. September +++ Nach Zählung der amerikanischen Johns-Hopkins-University nähert sich die Zahl der registrierten Toten auf der Welt, die an oder mit dem Coronavrius gestorben sind, der Grenze von 1 Million. Aktuell verzeichnet die Bildungseinrichtung 960.000 Todesfälle. Die Zahl der weltweit gemeldeten Infizierungen hat die Marke von 30 Millionen überschritten. Nach wie vor gibt es in absouten Zahlen die meisten Fälle in den USA. Allerdings dürfte das Land bald von Indien überholt werden, dessen Zahl deutlich stärker ansteigt. Derzeit gibt es in den USA rund 6,8 Millionen Fälle, in Indien 5,4 Millionen. Danach folgen Brasilien (4,5) und Russland mit mehr als 1 Million. Hier haben wir für Sie die aktuellen weltweiten Rekord-Zahlen und die Hintergründe zusammengefasst. +++ In Düsseldorf sind einige tausend Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen vor den nordrhein-westfälischen Landtag gezogen. Der Veranstalter sprach von 5000 bis 6000 Teilnehmern. Die Polizei nannte keine Zahlen. Für die Demonstration galt keine Maskenpflicht, die Demonstrant*innen sollten aber einen Mindestabstand von 1,50 Metern einhalten. An einer Gegendemonstration der Initiative "Düsseldorf stellt sich quer" beteiligten sich einige Hundert Menschen. Unter ihnen waren der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) und sein Herausforderer bei der Stichwahl am kommenden Sonntag, Stephan Keller (CDU). Beide Kundgebungen verliefen nach Angaben der Polizei bis zum Nachmittag weitgehend friedlich. Es kam lediglich zu Rangeleien. +++ In Teilen der spanischen Hauptstadt Madrid gelten ab Montag strenge Corona-Beschränkungen. Die Maßnahmen sollen zunächst zwei Wochen in Kraft bleiben und betreffen rund 850.000 Menschen vor allem im Süden der Stadt. Sie dürfen ihre Bezirke nur noch verlassen, um zur Arbeit oder zu Ärzten zu gelangen oder um Kinder zur Schule zu bringen. Parks werden geschlossen, Versammlungen von mehr als sechs Personen verboten. Die Maßnahmen gelten vor allem für dicht besiedelte und einkommensschwache Viertel. Dort kam es zu Protesten. Einige der Bezirke im Süden Madrids hatten zuletzt mehr als 1000 Corona-Fälle je 100.000 Einwohner gemeldet - das ist etwa das Fünffache des nationalen Durchschnitts, der für sich bereits der höchste in der Europäischen Union ist. +++ In München hat das das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit eine sogenannte 7-Tage-Inzidenz von 55,6 gemeldet. Am Samstag hatte der Wert bei 54,2 gelegen. Er benennt die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. Der Wert war am Freitag erstmals wieder über die Grenze von 50 gestiegen, ab der zusätzliche Infektionsschutzmaßnahmen getroffen werden sollen. Die Stadt will morgen über das weitere Vorgehen beraten. Neben München sind nach Angaben des Landesamts auch Würzburg mit einer 7-Tage-Inzidenz von 79,8 und Kulmbach mit 50,1 über dem Grenzwert. Der bayernweite Durchschnitt liegt bei 21,7. +++ In einigen nordrhein-westfälischen Städten steigt die Zahl der Corona-Neuinfektionen weiterhin stark an. Die sogenannte 7-Tages-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche, lag am Sonntag in Gelsenkirchen bei 44,1. Sie war damit nach Angaben des Robert Koch-Instituts am höchsten von allen großen Städten und Kreisen in NRW. Vor einer Woche betrug sie noch 10,7. Am Montag will die Stadt entscheiden, ob in Gelsenkirchen die Anti-Corona-Maßnahmen verschärft werden. Die sogenannte Vorwarnstufe (7-Tage-Inzidenz über 35) haben am Sonntag auch die Städte Hamm und Remscheid erreicht. +++ Die SPD hat vorgeschlagen, benachteiligten Schülerinnen und Schüler während der Corona-Pandemie kostenlos Nachilfe zu geben. Die Parteivorsitzende Esken sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, möglich sei ein Abonnement auf einer qualitätsgeprüften Nachhilfeplattform. Bezahlt werden könne das mit dem Geld, das für ausgefallene Fahrten ins Schullandheim vorgesehen gewesen sei. Esken soll am Montag an Beratungen der Landesbildungsminister mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Kanzleramt teilnehmen. +++ Ungarn meldet die bisher höchste Zahl an Neuansteckungen mit dem Coronavirus. Erstmals wurden mehr als 1.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden positiv auf das Coronavirus getestet. Sechs Menschen starben an den Folgen der Lungenkrankheit Covid-19. Die Zahl der Infektionen steigt in Ungarn seit Ende August stark an. Die Hauptstadt Budapest gilt seit Mittwoch als Risikogebiet. Dort findet am Donnerstag das Spiel um den europäischen Supercup im Fußball zwischen Champions-League-Sieger Bayern München und Europa-League-Sieger FC Sevilla statt. Die Stadionkapazität von 67.000 Zuschauern soll bis zu 30 Prozent ausgelastet werden. Beiden Clubs stehen jeweils rund 3.000 Tickets zur Verfügung. Rund 2.100 Bayern-Fans wollen ihre Mannschaft begleiten. Sie müssen einen negativen Corona-Test vorweisen. Die mitreisenden Anhänger können sich auf Initiative des Vereins an diesem Montag und Dienstag in der Münchner Arena testen lassen. +++ Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und zwei afrikanische Organisationen haben die Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Untersuchungen von pflanzlichen Medikamenten gegen Covid-19 geschaffen. Sie sollen Forschungsstandards und Vergleichbarkeit auf internationaler Ebene garantieren. Die WHO erklärte, man hoffe, dass die Wissenschaft schnellstmöglich Gebrauch davon mache. Wenn sich ein Produkt der traditionellen Medizin als sicher, wirksam und von gesicherter Qualität erweise, werde die WHO eine groß angelegte und schnelle lokale Herstellung empfehlen, hieß es. Diese Siedlung aus Wellblechhütten in Kapstadt, Südafrika, wurde Covid-19 getauft. (Deutschlandradio / Adrian Kriesch) +++ Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert Koch-Institut für gestern 1.345 neue Corona-Infektionen gemeldet. Neu gemeldet wurden zudem zwei Todesfälle. Wegen der verzögerten Meldungen am Wochenende sind die Zahlen nur bedingt aussagekräftig. Rechnerisch sind derzeit etwa 21.300 aktive Infektionsfälle bekannt. Pro 100.000 Einwohner haben sich in den letzten sieben Tagen 12,8 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, die Zahl steigt leicht. +++ Die britische Regierung führt für England hohe Geldstrafen bei Verstößen gegen die Corona-Schutzregeln ein. Wer die Quarantäne-Pflicht nach einem positiven Corona-Test missachtet, dem drohen vom 28. September an Geldstrafen von mehreren tausend Euro, wie Premierminister Johnson in London ankündigte. +++ Bundesverkehrsminister Scheuer hat ein Hilfskonzept für die von der Corona-Pandemie stark betroffene Luftverkehrsbranche angekündigt. Der CSU-Politiker sagte der Funke-Mediengruppe, er werde dazu Vertreter dieses Wirtschaftszweigs schnellstens zu einem Treffen einladen. Es gehe vor allem um die 22 Flughäfen in Deutschland, die 180.000 Menschen beschäftigten. Bei einem Passagieraufkommen von nur 20 Prozent des normalen Niveaus habe er große Sorge, dass der Erhalt dieser wichtigen Infrastruktur in Gefahr sei. Einzelheiten zu den geplanten Hilfen nannte Scheuer nicht. Samstag, 19. September +++ Die Krankenhäuser in Deutschland halten einem Medienbericht zufolge immer weniger Betten auf ihren Intensivstationen für Covid-19-Patienten frei. So habe etwa Baden-Württemberg entschieden, dass künftig statt 35 Prozent nur noch 10 Prozent für diese Patienten reserviert werden sollen, meldet die "Frankfurter Allgemeine Sonntagsezeitung". Auch in Berlin und Niedersachsen seien bereits seit Längerem nur noch 10 Prozent der Intensivbetten reserviert. In Bayern und Brandenburg müssten die Kliniken seit dem Sommer gar keine Plätze mehr für Covid-19-Patienten freihalten. In anderen Bundesländern sehe es ähnlich aus. +++ Frankreich verzeichnet einen neuen Rekord bei den Neuinfektionen. Binnen 24 Stunden kamen 13.498 Corona-Fälle hinzu, wie das Gesundheitsministerium mitteilte. Die Zahl der Toten erhöhte sich um 26 auf 31.274. +++ In Deutschland ist die Zahl der Corona-Tests in der vergangenen Woche auf ein Rekordhoch gestiegen. Es seien 1,12 Millionen Tests durchgeführt worden, teilt das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage mit. +++ Im Iran sterben 90 Prozent aller an Covid-19-Erkrankten, die auf Intensivstationen beatmet werden. Das hat das Gesundheitsministerium mitgeteilt. Das Land meldet jetzt 24.118 Personen, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben sind. +++ Bundesjustizministerin Lambrecht hat den Entwurf für eine Reform des Sanierungs- und Insolvenzrechts vorgelegt. Vorgesehen ist unter anderem, dass einzelne Gläubiger ein Sanierungsvorhaben nicht mehr blockieren können, wenn das Konzept von der Mehrheit der Gläubiger unterstützt wird. Die Frist für einen Insolvenzantrag für überschuldete Firmen soll dauerhaft von drei auf sechs Wochen verlängert werden. Von der Neuregelung könnten insbesondere Unternehmen profitieren, die infolge der Corona-Pandemie in Schwierigkeiten geraten seien. Das Gesetz soll Anfang 2021 in Kraft treten. Christine Lambrecht (SPD), Bundesjustizministerin. (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka) +++ Polen verzeichnet einen Höchstwert bei Neuinfektionen. Die Behörden meldeten 1002 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden, wie das Gesundheitsministerium in Warschau mitteilte. In Polen haben sich nach offiziellen Angaben bislang 78.3330 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert. 2.282 Menschen starben demnach in Zusammenhang mit dem Virus. +++ Das Paul-Ehrlich-Institut geht weiterhin mit einer Zulassung von Corona-Impfstoffen für Ende 2020 oder Anfang 2021 aus. Institutsleiter Cichutek rechnet mit einer großen Impfbereitschaft in Deutschland. +++ Das deutsche Gesundheitssystem ist derzeit trotz steigender Corona-Infektionszahlen noch nicht überlastet. Mit fast 2.300 Neuinfektionen an einem Tag sei zwar der höchste Wert seit April erreicht worden, schrieb Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei Twitter. +++ Heute Mittag hätte es in München eigentlich geheißen "O'zapft is'" - aber in diesem Jahr fällt das Oktoberfest aus. Noch dazu meldet die bayerische Landeshauptstadt, dass der Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche überschritten wurde. Der Wert gilt als wichtige Schwelle im Kampf gegen das Coronavirus. +++ Fast 2.300 Neuinfektionen mit dem Coronavirus innerhalb von 24 Stunden: Das Robert Koch-Institut meldet damit die höchste Zahl seit Ende April. Die Gesundheitsämter meldeten dem Robert Koch-Institut 2.297 neue Fälle, das waren 103 mehr einen Tag zuvor. Der Höhepunkt bei den täglich gemeldeten Neuansteckungen hatte Ende März und Anfang April bei mehr als 6.000 gelegen. Danach sank die Zahl und stieg im Juli wieder an. Die Zahl der erkannten Neuinfektionen ist auch davon abhängig, wie viele Menschen getestet werden. Das RKI registrierte zudem sechs weitere Todesfälle. Damit stieg die Zahl der Menschen, die an oder mit einer Coronavirus-Infektion starben auf 9.384. Die Reproduktionszahl liegt derzeit bei 1,16. Das bedeutet, dass ein Infizierter rein rechnerisch etwas mehr als einen weiteren Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab. Viele Menschen tragen auch im Freien inzwischen Mund-/Nasenbedeckungen. (www.imago-images.de) +++ Die US-Gesundheitsbehörde CDC hat ihre umstrittene Empfehlung zurückgenommen, Coronavirus-Tests bei Personen ohne Symptome zurückzufahren. In einer Aktualisierung der CDC-Richtlinien vom Freitag heißt es nun wieder, dass auch sie getestet werden sollen, wenn sie Kontakt mit Infizierten hatten. +++ Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird bei der US-Wahl im November rund 40 Wahlbeobachter einsetzen - statt wie ursprünglich geplant 500. Grund für die Reduzierung ist die Corona-Pandemie, wie aus einem überarbeiteten Bericht der Organisation hervorgeht. +++ Wegen eines Datenlecks im staatlichen Gesundheitssystem der Slowakei sind persönliche Daten von nahezu 400.000 auf das Coronavirus getesteten Bürgern ungesichert ins Internet geraten. Das bestätigte das Nationale Zentrum für Gesundheitsinformationen NCZI am Freitag. Das Leck sei aber inzwischen repariert worden, erklärte NCZI-Chef Peter Bielik vor Journalisten. Auf den Fehler hatte eine Gruppe sogenannter ethischer Hacker aufmerksam gemacht. +++ Bundesgesundheitsminister Spahn will die Verteilung künftiger Corona-Impfstoffe in Deutschland Medieninformationen zufolge bis Ende Oktober regeln. Dazu sollten Ärzte, Ethikexperten und Sozialwissenschaftler Grundsätze erarbeiten, berichten die Zeitungen der Funke Mediengruppe unter Berufung auf Regierungskreise. Gesundheitsminister Jens Spahn (Christophe Gateau/dpa) +++ In Frankreich hat die Zahl der Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages einen neuen Höchststand erreicht. Die Gesundheitsbehörden meldeten mehr als 13.200 Fälle innerhalb von 24 Stunden. Nach Marseille und Bordeaux verschärften auch Paris, Nizza und Toulouse ihre Corona-Maßnahmen. Freitag, 18. September +++ Das Bundesligaspiel FC Köln gegen TSG Hoffenheim wird an diesem Samstag doch ohne Zuschauer stattfinden. Wegen der gestiegenen Zahl von Corona-Infektionen könne kein Publikum für das Spiel im RheinEnergieStadion zugelassen werden, teilte die Stadt Köln am Freitagabend mit. +++ Der französische Finanzminister Bruno Le Maire ist nach eigenen Angaben positiv auf das Coronavirus getestet worden. Er habe aber keine Symptome, teilt er auf Twitter mit. Er werde sich für sieben Tage in Selbstisolation begeben und seinen Pflichten weiter nachkommen. +++ Als erste deutsche Millionenstadt hat München bei der sogenannten 7-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner den kritischen Wert überschritten. Er liegt in der bayerischen Landeshauptstadt aktuell bei 50,7. Trauriger Spaßmacher (picture alliance / Presse-Bild-Poss / Uta Poss) +++ Schlechte Nachrichten für die Jecken in Nordrhein-Westfalen: Auf den traditionellen Straßen-, Sitzungs- und Kneipenkarneval müsse man in diesem Jahr weitgehend verzichten, hieß es nach Beratungen der Karnevalsverbände mit der Landesregierung in Düsseldorf. Das Landeskabinett in Düsseldorf wird am Mittwoch beraten. +++ Mit Blick auf die Corona-Krise will Finanzminister Scholz im Bundeshaushalt 2021 rund 96 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Das wurde aus seinem Ministerium bekannt. Demnach soll die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse auch im kommenden Jahr ausgesetzt werden. +++ In Großbritannien wurden 4.322 neue Corona-Fälle registriert, der höchste Wert seit dem 8. Mai. +++ In Madrid gelten wegen der gestiegenen Infektionszahlen wieder schärfere Restriktionen. So werden in besonders betroffenen Gegenden Parks und öffentliche Plätze gesperrt, es werden Ausgangsbeschränkungen verhängt sowie Obergrenzen für Treffen im Freien. +++ Hessen hebt die Besuchsbeschränkungen für Alten- und Pflegeheime auf. Es werde keine verbindlichen Vorgaben des Landes zur Dauer und Anzahl der Besuche mehr geben, teilten Staatskanzlei und Sozialministerium in Wiesbaden mit. Die neue Regelung gelte ab dem 29. September. +++ Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich nach Angaben von US-Wissenschaftlern weltweit mehr als 30 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Das geht aus Daten der Johns Hopkins Universität in Baltimore hervor. Die Zahl der Todesfälle liegt demnach bei 946.000. Am stärksten betroffen sind nach absoluten Zahlen die USA mit 6,6 Millionen Infektionen. An zweiter Stelle steht Indien. Dort haben sich bisher 5,2 Millonen Menschen infiziert. +++ Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem Robert Koch-Institut binnen 24 Stunden 1.916 neue Coronavirus-Infektionen gemeldet. Das waren 278 weniger als am Vortag. Damit sind rechnerisch derzeit etwa 19.700 aktive Infektionsfälle bekannt. Neu gemeldet wurden sieben Todesfälle. Die Zahl der Menschen in Deutschland, deren Tod mit Covid-19 in Verbindung steht, stieg auf 9.378. Insgesamt haben sich in Deutschland damit 267.773 nachweislich infiziert. +++ Der Bundestag hat in seiner heutigen Sitzung eine Milliarden-Finanzspritze für die deutschen Kliniken sowie eine Prämie für die dortigen Pflegekräfte bewilligt. Die Prämie sollen Mitarbeiter erhalten, die wegen der Corona-Pandemie besonderen Belastungen ausgesetzt waren. +++ Das New Yorker Brooklyn Museum hat zahlreiche Werke zur Auktion freigegeben, um die Instandhaltung der restlichen Sammlung gewährleisten zu können. "Das ist etwas, was für uns sehr schwer ist", sagte Direktorin Anne Pasternak der New York Times. "Aber es ist das Beste für unsere Institution und die Langlebigkeit und Pflege unserer Sammlungen." Zu den zwölf Werken, die im Oktober beim Auktionshaus Christie's versteigert werden sollen, gehören Stücke von Lucas Cranach dem Älteren und Gustave Courbet. +++ In Israel tritt ab heute um 13 Uhr MESZ der zweite landesweite Lockdown in Kraft. Die Regierung will damit eine weitere Ausbreitung des Coronavirus verhindern. Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und Ladenschließungen sollen mindestens drei Wochen gelten. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Donnerstagabend, angesichts der hohen Infektionszahlen der letzten Tage könnte sogar eine weitere Verschärfung der Maßnahmen notwendig werden. Die Opposition kritisiert den Corona-Kurs der Regierung und den zweiten Lockdown scharf. +++ Neuseeland hat zum ersten Mal seit fünf Wochen einen Tag ohne eine Neuinfektion gemeldet. Zudem seien alle Neuinfektionen der jüngsten vier Tage Menschen zuzuordnen, die von Reisen zurückgekehrt sind und sich in Quarantäne befinden. In dem Land gab es bislang rund 1.800 Infektionen, 25 Todesfälle werden mit dem Virus in Verbindung gebracht. +++ Gegner der Corona-Politik dürfen in Düsseldorf am Sonntag ohne Masken demonstrieren. "Es gibt keine Maskenpflicht", sagte ein Polizeisprecher zur für 12 Uhr geplanten Demonstration, die am Rheinufer im Stadtteil Oberkassel beginnen und dann durch die Innenstadt und zurück führen soll. Rund 10.000 Menschen werden erwartet. Die Veranstaltung wird von regionalen Gruppen der Initiative "Querdenken" getragen, wie aus einem Aufruf im Internet hervorgeht. Die Initiative "Düsseldorf stellt sich quer" rief zu einer Gegenveranstaltung für Sonntagnachmittag um 14 Uhr auf. +++ Die Corona-Krise hat offenbar für zahlreiche Arbeitnehmer in Deutschland zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf geführt. Von 750 befragten Unternehmen habe jedes zweite (51 Prozent) als Reaktion auf die Pandemie Arbeitszeitregeln eingeführt oder ausgebaut, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, zitiert das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) aus einer Studie für das Bundesfamilienministerium. Die Untersuchung soll heut offiziell veröffentlicht werden. Zu den neuen oder erweiterten Regelungen gehören demnach individuell vereinbarte Arbeitszeiten, flexible Tages- und Wochenarbeitszeiten sowie Heim- und Telearbeit. +++ Nach dem Start des Schuljahres in allen Bundesländern ziehen Lehrervertreter und Bildungsgewerkschaften eine durchwachsene Zwischenbilanz. Dass es unter Corona-Bedingungen bis jetzt so gut funktioniert habe, liege weniger an "vollmundigen Hygieneplänen" der Kultusministerkonferenz und der einzelnen Landesministerien, sondern daran, dass das Infektionsgeschehen in Deutschland derzeit noch überschaubar sei, sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, der Deutschen Presse-Agentur. Es gebe viel Verunsicherung, sagte Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Schulleitungen beschwerten sich, dass vieles an ihnen hängenbleibe und der Rückhalt von der Politik fehle. "Es gibt Vorgaben, die zum Teil - etwa wegen baulicher Gegebenheiten - nicht erfüllt werden können." +++ SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert neue konkrete Pläne zur Organisation des Schulbetriebs. Es müsse sichergestellt werden, dass der Präsenzunterricht an den Schulen weitergehen könne, sagte Lauterbach den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Der SPD-Politiker kritisierte, dass es bislang zu wenige Konzepte dafür gebe, wie der Schulbetrieb aufrechterhalten werden solle, sollten die Zahlen der Neuinfektionen weiter steigen und zugleich die bisherigen "Lüftungskonzepte" nicht mehr funktionieren. Er verwies darauf, dass bei den sinkenden Außentemperaturen in den kommenden Monaten die Fenster der Klassenzimmer nicht mehr ständig offen stehen können. Notwendig seien daher entweder Lüftungsanlagen oder Unterrichtskonzepte, um den räumlichen Abstand zwischen Schülern zu gewährleisten, sagte Lauterbach. +++ Eine frühere Beraterin von US-Vizepräsident Mike Pence hat schwere Vorwürfe gegen US-Präsident Donald Trump im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erhoben. Olivia Troye sagte der "Washington Post", Trumps Reaktion auf die Krise habe eine "völlige Missachtung menschlichen Lebens" gezeigt. Ihm sei es vor allem um die Wirtschaft und um seine Wiederwahl gegangen. -------------------------------- Hier geht es zu unserem Archiv.
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München führt eine Maskenpflicht auf bestimmten öffentlichen Plätzen und Straßen ein. Die Gesundheitsämter haben dem RKI 922 Neuinfektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Im Kanzleramt findet ein Schulgipfel statt. Mehr dazu in unserem Newsblog.
"2020-09-19T00:00:00+02:00"
"2020-09-24T16:16:22.965000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-zum-coronavirus-die-entwicklungen-vom-19-bis-100.html
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Standards für den Spracherwerb
Englisch in der Grundschule: Ab wann ist der Unterricht sinnvoll? (picture-alliance/ dpa/dpaweb) Jörg Biesler: Englischlernen, das wird immer wichtiger, auch wenn mancher sagt, wir sollten erst mal richtig Deutsch sprechen. International, und das gilt mittlerweile auch für deutsche Hochschulen, spricht die Welt Englisch, und damit auch Dozenten und Studenten, die Wirtschaft ohnehin. Grundschulen und sogar Kitas heben deshalb Englisch in den Lehrplan. Ob das sinnvoll ist, und wie es sinnvoll wäre, darüber machen sich am kommenden Wochenende Anglisten in Leipzig Gedanken. Eingeladen hat Professor Norbert Schlüter, Professor für die Didaktik des Englischen als Fremdsprache, wie es mit schönem deutschen Genitiv heißt. Guten Tag, Herr Schlüter! Norbert Schlüter: Schönen guten Tag, Herr Biesler! Biesler: Sie haben zum Kongress eingeladen, mit dem wiederum teil-englischen Titel: "Englisch ab Klasse 1 oder 3? Never mind!" Da wird die Frage gleich beantwortet, ob ab Klasse eins oder ab Klasse drei Englisch unterrichtet wird. Das scheint nicht so wichtig zu sein. Warum treffen Sie sich dennoch, um darüber zu reden? Schlüter: Das ist wirklich nur ein einziger Komplex. Natürlich geht es auf unserer Konferenz um sehr viele Dinge rund um das Fremdsprachenlernen in der Grundschule und im Kindertagesstättenbereich. Also, abgesehen von der Frage, ob man jetzt in Klasse eins beginnen soll oder in Klasse drei beginnen soll, gibt es natürlich auch weiterhin Untersuchungen dazu, mit welcher Methode man die Fremdsprache in der Grundschule vermitteln soll. Wir unterhalten uns auch oder wir vergleichen auch die unterschiedlichen Unterrichtsmaterialien und bewerten sie, die von den Verlagen vorgestellt werden. Und insofern ist diese Konferenz nicht von vornherein umsonst, nur, weil wir keine Unterschiede festgestellt haben, im Beginn des Englischlernens zwischen Klasse eins und Klasse drei. Biesler: Da sprechen Sie die Studie an, die Sie selber mit veranstaltet haben, wo Sie nämlich untersucht haben, wie wirksam der Englischunterricht eigentlich auch ist. Das ist ein Ergebnis, dass man eigentlich nicht sagen kann, es ist besser, in der Klasse eins anzufangen, oder es ist besser, in der Klasse drei anzufangen. Beides sind ja Praxen im Augenblick. Schlüter: Genau. Es gibt vier Bundesländer, die mit dem Englischunterricht in Klasse eins beginnen. Nordrhein-Westfalen etwas verzögert in der zweiten Hälfte der ersten Klasse, und die anderen Bundesländer beginnen in Klasse drei. Wir haben diese Studie auf den Weg gebracht, um eine Aussage machen zu können zum Lernstand der Grundschüler am Ende von Klasse vier. Es geht uns im Wesentlichen darum, die Grundlagen zu schaffen für ein vernünftiges, ein realistisches Abschlussprofil am Ende von Klasse vier, was dann zum Eingangsprofil für die weiterführenden Schulen wird. Und dabei haben wir einmal verglichen, die Leistungen im Leseverstehen und im Hörverstehen zwischen den Schülern, die in Klasse eins beginnen, und den Schülern, die in Klasse drei beginnen, und dort gab es, in unserer Studie zumindest, keinen Unterschied. Standards erstellen für das Fremdsprachenlernen Biesler: Sie haben gerade angesprochen, dass es Ihnen darum geht, dass es ein Abschlussprofil gibt, also was sollen die Kinder am Ende der Grundschule eigentlich können. Was sollen sie denn können? Schlüter: Was sollen sie können? Wir wollen gerne in den vier Fertigkeitsbereichen, die für das Sprachenlernen so wichtig sind, Standards erstellen, die es im Moment leider noch nicht gibt. Wir haben auf der Ebene der Kultusministerkonferenz Standards für die Lernbereiche Deutsch und Mathematik für den Abschluss der Grundschule, also am Ende von Klasse vier, aber für den Bereich Englisch oder erste Fremdsprache, Englisch, Französisch, gibt es diese Bildungsstandards nicht. Und wir wollen eigentlich die KMK dazu bringen, dass sie auch diese Standards jetzt, nach zehn Jahren Verzögerung für den Bereich Englisch erstellt. Wir versprechen uns davon, dass die Bundesländer und die Verlage sich dann an so einem Abschlussprofil orientieren können und auch langfristig dafür Unterrichtsmaterialien erstellen. Denn da geht es ja zunächst mal um das Hörverstehen. Sie sollen sprechen können, aber in einem bestimmten Aspekt sollen sie auch lesen können, aber es ist eben wichtig, dass man sich zunächst mal ein realistisches Bild davon macht, welche Leistung können Schüler am Ende von Klasse vier überhaupt erreichen. Das wissen wir bisher nicht, es gibt darüber keine bundesweiten Studien, nur Studien in einzelnen Bundesländern, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen hat so eine Studie durchgeführt, aber bundesweit wissen wir einfach nicht, wie sind da die sozusagen Bereiche, also was sind die besten Ergebnisse, die erreicht werden können, was sind die schlechtesten Ergebnisse. Grundsätzlich befürworten wir den Fremdsprachenunterricht Biesler: Das ist ja, von außen betrachtet, halbwegs originell, dass ein Englischunterricht an der Grundschule eingeführt wird in den Bundesländern, ohne dass man tatsächlich sagen könnte, ob das sinnvoll ist. Wie ist das denn aus Ihrer Sicht: Kann man grundsätzlich sagen, an der Grundschule Englischunterricht hat einen Sinn, weil wir stärker Englisch lernen müssen, und das ist die beste Zeit dafür? Und wie sieht es an der Kita aus? Schlüter: Also grundsätzlich befürworten wir den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule. Vor ungefähr zehn Jahren hat man damit begonnen, den Fremdsprachenunterricht vorzuverlegen. Es ist nur eine Frage natürlich der Kontinuität und der Intensität. Es macht sicherlich auch Sinn, in den Kindertagesstätten mit Englisch zu beginnen, wenn dort zum Beispiel Muttersprachler solche Gruppen betreuen. Und man erhofft sich eigentlich dadurch, dass die kognitive Entwicklung der Kinder gestärkt wird dadurch, dass sie schon in einem sehr frühen Alter mit einer Fremdsprache in Kontakt kommen. Biesler: Von heute Abend an treffen sich Anglisten in Leipzig, um darüber nachzudenken, wie und wann der Unterricht im Englischen an Grundschulen sinnvoll ist. Norbert Schlüter war das, der Veranstalter des Kongresses. Vielen Dank! Schlüter: Sehr gerne! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Norbert Schlüter im Gespräch mit Jörg Biesler
In Leipzig werden am Wochenende Anglisten über den Fremdsprachenunterricht in Grundschulen diskutieren. In welcher Klasse man beginne, sei weniger wichtig, sagt Veranstaltungsinitiator Norbert Schlüter im DLF, vielmehr gehe es darum, bundesweite Standards für den Fremdsprachenerwerb zu erarbeiten.
"2014-10-02T15:47:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:36.828000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/englisch-in-der-grundschule-standards-fuer-den-spracherwerb-100.html
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Klimaforscher: Erwärmung wird zu häufigeren Extremereignissen führen
Bei einem Anstieg der weltweiten Temperaturen auf bis zu fünf Grad könnte der mediterrane Raum wüstenartig werden (imago stock&people / blickwinkel M. Schaef) Lennart Pyritz: Viele dürften die derzeitige Hitze-Periode bereits als Heißzeit empfinden. Der Begriff wird in der Klimaforschung aber auch für ein globales Phänomen verwendet. Das wäre durch bis zu fünf fünf Grad Celsius höhere Temperaturen und einen Meeresspiegelanstieg von bis zu 60 Meter gekennzeichnet. Das schreibt ein Forschungsteam im Fachmagazin "PNAS". Und die Wissenschaftler warnen: Eine Heißzeit könnte sich auch dann einstellen, wenn das Pariser Klimaschutzabkommen eingehalten wird. Über die Einzelheiten der Studie habe ich vor der Sendung mit einem der Autoren gesprochen: Jonathan Donges vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Ich habe ihn zuerst gefragt, warum eine Heißzeit selbst dann eintreten könnte, wenn die globale Erwärmung auf 1,5 bis zwei Grad Celsius beschränkt würde? Jonathan Donges: Ja, wir haben eben in der Studie herausgearbeitet, dass es sogenannte selbstverstärkende Prozesse im Klimasystem gibt, die dazu führen können, dass es, wenn eine kritische Temperaturschwelle überschritten wird, in dem Fall zwei Grad globale Erwärmung, dass dann eben die Erwärmung, die durch den Menschen verursacht wird, noch mal durch das natürliche System verstärkt wird. Deshalb kann es sein, wenn man jetzt ganz knapp nur die zwei Grad des Pariser Klimaabkommens einhalten würde, dass man dann trotzdem diese Schwelle überschreitet. Eine kritische Schwelle bereits erreicht? Pyritz: Welche natürlichen Rückkopplungsmechanismen - oder Kippelemente nennen Sie das ja auch - könnten dabei eine Rolle spielen? Donges: Diese Rückkopplungsprozesse, die hängen eben, genau wie Sie sagen, mit sogenannten Kippelementen zusammen. Das sind Prozesse im Erdsystem, Subsysteme, die eben, wenn eine kritische Schwelle überschritten wird, in einen anderen Zustand übergehen können. Das sind zum Beispiel die großen Eismassen des Planeten, also das arktische Sommermeereis, das Grönland-Eisschild und auch das antarktische Eisschild. Bei dem westantarktischen Eisschild gibt es schon Hinweise, dass eine solche kritische Schwelle bereits überschritten sein könnte mit der globalen Erwärmung von einem Grad, die wir eben heute schon haben. Wichtige Mechanismen sind auch das teilweise Absterben der borealen Wälder in Russland und Kanada, boreale Nadelwälder. Was eben dann Kohlenstoff, der dort bisher gespeichert ist im Holz, selbst sich in der Biomasse freisetzen kann, sodass der in die Atmosphäre gelangt und damit den Klimawandel weiter verstärkt. Ein möglicher Prozess ist auch das Auftauen des Permafrostbodens, gerade auch im Norden Amerikas und Eurasiens, und dann auch noch andere Prozesse, die weniger gut verstanden sind, wie zum Beispiel sogenannte Methanhydrate - Kunststoff, Chemikalien, die auf dem Meeresboden liegen und die auch durch den Klimawandel in die Atmosphäre freigesetzt werden könnten. Im Mittelmeerraum eher wüstenartig Pyritz: Was würde denn so ein Szenario für die Ökosysteme und für Lebensprozesse auf der Erde bedeuten? Donges: Diese Rückkopplungsprozesse könnten eben auf lange Sicht dazu führen, dass eine globale Erwärmung von deutlich über zwei Grad, nämlich von im Vergleich zum vorindustriellen Zustand sogar vier bis fünf Grad erreicht werden kann, selbst wenn die Menschen die Emissionen begrenzen im Rahmen des Pariser Klimaabkommens. Und diese starke Erwärmung, die wird eben zu sehr viel stärkeren und häufigeren Extremereignissen führen, wie Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen zum Beispiel. Was natürlich große Auswirkungen hat auf die Landwirtschaft, aber natürlich auch auf Ökosysteme. Also auf lange Sicht werden sich Biome, Ökosysteme auch verschieben, sodass zum Beispiel im mediterranen Raum in vielen Gebieten es vielleicht eher wüstenartig sein wird und in Mitteleuropa das Klima dann vielleicht eher vergleichbar sein wird mit dem heutigen Klima in Italien. Pyritz: Wie genau lassen sich denn solche Effekte überhaupt berechnen oder vorhersagen, also mit was für einer Wahrscheinlichkeit können Sie so ein Szenario ansetzen? Donges: Ja, dass die Erde unter einer bestimmten Menge von freigesetzten Treibhausgasen eine bestimmte Erwärmung erreichen wird, das kann man sehr genau vorhersagen: Zum einen, weil man die zugrunde liegenden physikalischen Prinzipien sehr, sehr gut versteht. Also das sind im Grunde Dinge wie Energieerhaltung, Thermodynamik, die dahinterstecken, wo man gar keine großen Computer braucht. Aber eben auch die großen Computersimulationen mit Klimamodellen, wo man das eben viel mehr im Detail verstehen kann und untersuchen kann, die dann da zusätzliche Konfidenz geben und Detail. Man kann allerdings bei diesen sogenannten Kippelementen, diesen kritischen Schwellen, da kann man bisher nur Spannweiten angeben, wo denn diese Schwelle liegen könnte. Zum Beispiel kann man eben sagen, nehmen wir mal Grönland, da könnte sie zum Beispiel etwa zwischen 1,5 Grad oder auch drei Grad liegen, also eine relativ große Spanne. Und das ist bei den anderen Kippelementen in der Regel auch so. Das kann man heute noch nicht so genau sagen. Genügend Sicherheitsabstand zu kritischen Schwellenwerten halten Pyritz: Welche Handlungsempfehlungen lässt dann zumindest das reelle Risiko, dass es zu so einer Heißzeit kommen könnte, welche Handlungsempfehlungen lassen sich daraus ableiten - für die Politik, aber vielleicht auch für das Handeln von jedem Einzelnen, jeder Einzelnen von uns? Donges: Es ist ganz wichtig, auch zu betonen, dass weiterhin das Pariser Klimaabkommen zur Begrenzung des Klimawandels auf 1,5 Grad und höchstens zwei Grad eine sehr, sehr gute Strategie darstellt, um dieses Risiko einer Heißzeit zu minimieren. Insbesondere sollte man da auf das noch ambitioniertere Ziel von 1,5 Grad schauen, weil man damit nämlich genügend Sicherheitsabstand hält von diesen kritischen Schwellwerten, die eben in der Gegend von zwei Grad eher liegen, was unsere Studie zeigt. Dinge, die man jetzt ganz konkret machen muss, sind zum Beispiel ein Umbau des Energiesystems, also der schnelle Ausstieg aus der Kohleenergie, was ja gerade auch politisch auf verschiedenen Ebenen viel diskutiert wird. Und andere politische Instrumente, die diskutiert werden, wie zum Beispiel Kohlenstoffsteuern. Auf der zivilgesellschaftlichen Ebene gibt es auch viele Initiativen, die wichtig sind. Zum Beispiel weiß man, dass eine Ernährung mit weniger Fleisch, mehr Gemüse zum Beispiel sehr, sehr viel den Klimawandel abmildern kann. Also Ernährungsveränderung, Ernährungswandel ist zum Beispiel eine Sache, wo jeder etwas zu beitragen kann. Oder eben auch versuchen, auf die Politik einzuwirken und eben einen Wandel herbeizuführen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jonathan Donges im Gespräch mit Lennart Pyritz
Eine Heißzeit könnte sich auch dann einstellen, wenn das Pariser Klimaschutzabkommen eingehalten wird, sagte Jonathan Donges, Mitautor einer neuen Klima-Studie, im Dlf. Das könnte zu einer globalen Erwärmung von vier bis fünf Grad führen. Gerade deshalb sei es wichtig, an den Pariser Vorgaben festzuhalten.
"2018-08-07T16:36:00+02:00"
"2020-01-27T18:05:11.746000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/heisszeit-klimaforscher-erwaermung-wird-zu-haeufigeren-100.html
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Sind die 1920er-Jahre wieder da?
Die Fernsehserie Babylon Berlin spielt in den "Goldenen 1920er Jahren" (Frédéric Batier X Filme Creative Pool, ARD Degeto, WDR, SKY, Beta Film 2019) Andreas Püttmann, Politikwissenschaftler und Publizist "Ja. Die Zwanziger Jahre sind zwar nicht zurückgekehrt, aber bestimmte Muster und Bewegungen, die man damals beobachtet hat, sind in anderer Form unter veränderten Rahmenbedingungen wieder zu beobachten. Ich denke zum Beispiel an die wachsende Polarisierung und Radikalisierung im politischen System. Ich denke an den Schwund der Mitte, den Schwund der Kompromissfähigkeit, an die Verbreitung von Hass und Lügen. Ich denke an den Aufwuchs von gewaltbereiten, insbesondere, Rechtsextremisten, die ungehemmter auftreten, einschüchtern und morden, wenn wir etwa an Halle und Walter Lübcke denken. Wir sind zu einem Sechsparteiensystem zurückgekehrt wie in der Weimarer Republik. Feindbilder werden gepflegt, besonders gegen eine bestimmte Religion. Wachsende Demagogie in Medien, eine erodierende Weltordnung, wachsende ökonomische Unsicherheit und schließlich eine zurückgehende Zufriedenheit mit der Demokratie – auch das gab es in den 1920er Jahren." Der Politikwissenschaftler, Journalist und Publizist Andreas Püttmann (privat) Birte Förster, Historikerin und Autorin des Buches "1919" "Entschiedenes Nein. Weder sind wir eine Nachkriegsgesellschaft noch sind wir ein Land, in dem große Teile der Bevölkerung die Republik bekämpfen wollen. Wir haben eine ganz andere Verfassung, in der das Parlament eine zentrale Rolle spielt. Was uns auch von der Weimarer Republik maßgeblich unterscheidet: Frauen sind als Politikerinnen – und nicht nur als Politikerinnen – in der ersten Reihe angekommen. Sie sind rechtlich inzwischen vollkommen gleichgestellt. Wir haben es auch nicht mit den gleichen sozialen Verwerfungen zu tun. Es gibt bessere Aufstiegschancen und der Zugang zu Bildung ist kostenfrei. Das heißt aber nicht, dass wir die aktuellen Gefährdungen unserer Demokratie – Rechtsterrorismus, Angriffe auf Büros von Abgeordneten, Bedrohung von Kommunalpolitikerinnen und -politikern – nicht ernstnehmen müssen. Aber das sind die Probleme des Jahres 2020 und nicht die des Jahres 1920." „1919. Ein Kontinent erfindet sich neu" von der Historikerin Birte Förster (Buchcover Reclam/ Hintergrund picture-alliance / dpa-Bildarchiv)
Moderation: Christiane Florin
Babylon Berlin, Weimarer Verhältnisse: Die Goldenen Zwanziger sind allgegenwärtig. Polarisierung und Radikalisierung kehren zurück, sagt der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann. Die Historikerin Birte Förster betont die Unterschiede: Die Demokratie habe heute andere Probleme als 1920.
"2020-01-25T17:05:00+01:00"
"2020-02-12T14:49:04.410000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/andreas-puettmann-vs-birte-foerster-sind-die-1920er-jahre-100.html
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UEFA droht mit Boykott von Weltmeisterschaften
UEFA-Präsident Aleksander Ceferin: "Wir können entscheiden, nicht daran teilzunehmen" (imago/Laurie Dieffembacq) Die Pläne für mehr WM-Turniere werden immer konkreter. In den vergangenen Tagen hat sich FIFA-Direktor Arsène Wenger mit mehr als 30 ehemaligen Spielern und Trainern getroffen, um einen neuen Zwei-Jahres-Rhythmus zu diskutieren - und dabei wohl sehr gutes Feedback bekommen: "Eine WM ist immer großartig. Wir wollen mehr davon. Die Fans wollen mehr davon", sagte etwa die brasilianische Fußball-Legende Ronaldo nach dem Treffen. Widerstand von UEFA und Fans Die Fans haben in den vergangenen Tagen allerdings gegen die Fifa-Vorschläge protestiert. Die Football Supporters Europe befürchten, dass die Balance zwischen nationalen und internationalen Wettbewerben kippt. Auch von Seiten der UEFA gibt es heftigen Widerstand. UEFA-Präsident Aleksander Ceferin droht mit einem Boykott der WM: "Wir können entscheiden, nicht daran teilzunehmen", sagte er in einem Interview der englischen Zeitung "The Times". Für ihn liegt der Wert der WM im Vier-Jahres-Rhythmus. Das Turnier öfter zu spielen, würde den Fußball töten, sagt er. Auch die südamerikanischen Clubs könnten sich einen Boykott vorstellen. Der DFB reagierte ebenfalls zurückhaltend auf die Pläne. FIFA-Präsident will rasche Entscheidung Fifa-Chef Gianni Infantino drängt währenddessen auf eine rasche Entscheidung. Ende des Jahres müsse über den neuen International Match Calendar entschieden werden, und somit auch über einen neuen WM-Rhythmus.
Von Christian von Stülpnagel
Der Widerstand gegen die Pläne des Weltfußballverbands FIFA, die WM künftig alle zwei Jahre auszutragen, sind groß. Vor allem vom europäischen Verband UEFA kommt Gegenwind, seit Tagen schwelt ein Streit. Nach einem Treffen von Arbeitsgruppen beider Verbände bleiben die Fronten verhärtet.
"2021-09-09T22:51:00+02:00"
"2021-09-10T08:56:23.077000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-haelt-an-wm-plaenen-fest-uefa-droht-mit-boykott-von-100.html
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Datenschutz auf Chinesisch
Zum fünften Mal hat in Wuzhen die Welt-Internetkonferenz Chinas getagt. (picture alliance/Zhejiang Daily/Imaginechina/dpa) Der Touristenort Wuzhen mit seinen vielen Wasser-Kanälen, Brücken und alten Häusern, verwandelt sich jedes Jahr in eine Internet-Oase. Fünf Tage lang funktionieren hier alle Apps und Webseiten, die sonst in China schwer oder gar nicht laufen. Die Bosse der High-Tech-Firmen, ihre Beschäftigten und zahlreichen Journalisten sollen es leicht haben beim Welt-Internetkongress. China und freies Internet, das ist eigentlich ein Widerspruch. Doch als Tagungsgast bekommt man den Eindruck: hier geht alles im Netz. Die Vorträge und Diskussionsforen sprühen vor Enthusiasmus über neue Chancen und schnelles Wachstum: Pony Ma, der Chef des Internet-Konzerns Tencent, eines der größten der Welt: "Wir strahlen positive Energie aus, wir schützen weiterhin Informationen und Inhalte. Wir beschützen auch Kinder vor negativen Inhalten im Netz. Und wir wachen über die Phase schneller Netz-Geschwindigkeit zu hoher Qualität im Netz." Mas milliardenschwerer Konzern betreibt das Soziale Netzwerk WeChat und ist außerdem der größte Handyspiel-Anbieter in China. Den Jugendschutz nimmt der Konzern so ernst, dass er ab Januar ein Zeitlimit für Handyspiele einführt. Kinder fliegen nach einer Stunde pro Tag raus. Dank Onlineregistrierung und Datenabgleich mit staatlichen Stellen weiß Tencent genau, wie alt die Kundschaft ist. Datenschutz auf Chinesisch. "Anderes Verständnis von Privatheit der Daten" Überhaupt stellt sich in Wuzhen an jeder Ecke die Frage: Was ist wichtiger - Profit oder Privatheit? Filippo Santelli berichtet für die italienische Zeitung La Repubblica vom Welt-Internet-Kongress: "Ich glaube, dass die Menschen in China ein komplett anderes Verständnis von Privatheit ihrer Daten haben als die Bürger in Europa oder den USA. Die Menschen in China begrüßen neue Technologie mit Enthusiasmus. Und sie sind auch deshalb so erfolgreich damit - in künstlicher Intelligenz zum Beispiel - weil sie keine Angst haben vor negativen Folgen." Gerade für künstliche Intelligenz brauchen Firmen riesige Datenmengen. Die gibt es in China, und die Menschen geben sie leichter her als anderswo. Neue Märkte dafür locken überall: selbstfahrende Autos, Online-Universitäten, Tele-Medizin. In einer Diskussion mit Web-Unternehmern stellt eine chinesische Journalistin eine Schlüsselfrage dazu: "Mich würde interessieren: Wie gehen Internet-Firmen um mit der Balance zwischen Effizienz im Netz und dem Schutz der Privatsphäre?" Die einfache Antwort gibt Hu Sua, Chef der Video-Sharing-Plattform Kuaishou mit mehr als 200 Millionen Nutzern: "Wir müssen unsere Kunden um Erlaubnis fragen. Wir sind eine offene Plattform, unsere Nutzer wissen, dass ihre Daten einsehbar sind. Sie müssen selbst aktiv werden und sagen, wer was sehen darf. Manche wollen mehr Privatheit, andere wollen berühmt werden." Das Gegenteil von Netzfreiheit? Eins allerdings haben die Größen von Chinas Internet-Industrie klargemacht: sie sind sehr interessiert an guten Beziehungen zu staatlichen Stellen. Die Frage, wie China mit dem Internet umgeht, lässt sich auch beim Blick auf das Motto der Konferenz beantworten: "Wir bauen eine digitale Welt mit gegenseitigem Vertrauen und kollektiver Führung." Das klingt für europäische Ohren wie das Gegenteil von Netzfreiheit. Für Journalisten, die in China arbeiten müssen, stellt sich die Frage regelmäßig neu, wie sie mit solchen Veranstaltungen umgehen. Samantha Vadas arbeitet als Videojournalistin für Reuters in Peking: "Wir haben eine gute Beziehung zur Regierung in Peking und wissen in der Regel, was wir sagen können und was nicht. Außerdem will man hier auch China nicht gegen den Strich bürsten. Wir sind ja schließlich in ihrem Land. Unser Job ist, zu berichten was wir sehen. Ich würde mich nicht als China-Expertin bezeichnen, da gibt es bestimmt bessere, aber unsere Aufgabe ist die Berichterstattung, und ob China das dann gefällt oder nicht, ist deren Entscheidung." Organisiert wird der Internet-Kongress übrigens jedes Jahr von Chinas Kommunistischer Jugend. In Zusammenarbeit mit dem Konzern Tencent. Die Wasserstadt Wuzhen vor den Toren von Shanghai wurde bewusst als Tagungsort gewählt. Sie soll mit ihren vielen Kanälen als Symbol dienen für das weltweite Netz. Und erklärtermaßen auch für einen Standort, der schon immer ein Marktplatz von Kaufleuten war.
Von Alfred Schmit
In China ist der Welt-Internet-Kongress zu Ende gegangen. Wie beim Weltwirtschaftsforum in Davos diskutieren die Teilnehmer die Zukunft des Netzes – allerdings mit dem Widerspruch, dass China kein freies Internet zulässt.
"2018-11-12T15:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:07.494000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/welt-internet-kongress-datenschutz-auf-chinesisch-100.html
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Wie geht es weiter in Thüringen?
Bodo Ramelow (Die Linke) nach der Wahl des neuen Ministerpräsidenten Kemmerich im Landtag. (dpa-Bildfunk / Martin Schutt) Wie stehen die Partein zu einer Neuwahl in Thüringen? Wer würde von einer neuen Landtagswahl momentan profitieren? Warum sind viele für eine Wiederholung der Ministerpräsidentenwahl? Wie viele Stimmen fehlen Bodo Ramelow zur absoluten Mehrheit? Wird die CDU für Ramelow stimmen? Wie stehen die Parteien zu einer Neuwahl? Die Linken streben perspektivisch eine Neuwahl des Landtags an. Voraussetzung dafür ist für sie aber eine handlungsfähige Regierung für die Übergangszeit. Auch die SPD befürwortet Neuwahlen. Aber erst, wenn Thüringen eine stabile Regierung hat. Die Grünen sind etwas verhaltener beim Thema Neuwahl. Sie wollen aber auch schnell eine stabile Regierung für Thüringen - mit Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten. In der CDU gibt es geteilte Meinungen. Die Bundespartei plädierte sofort für Neuwahlen, die CDU in Thüringen ist nicht von Neuwahlen überzeugt. Der AfD-Chef Alexander Gauland hatte nach Kemmerichs Rücktritt vorgeschlagen, bei einer erneuten Ministerpräsidentenwahl Bodo Ramelow zu wählen, damit der die Wahl nicht annehmen kann. Die Thüringer AfD-Fraktion erklärte inzwischen, dass sie das nicht vorhabe. Das berichtet Dlf-Korrespondent Henry Bernhard. Wer würde momentan von Neuwahlen profitieren? Von Neuwahlen in Thüringen würde nach aktuellen Umfragen (Stand 11.02.2020; Quelle infratest dimap) die Linke sehr profitieren, aber auch die AfD. Bei den Grünen gäbe es einen leichten Anstieg. Die SPD bliebe stabil bei acht Prozent. Die CDU würde deutlich einbrechen, die FDP aus dem Landtag verschwinden. Warum sind viele für eine Wiederholung der Ministerpräsidentenwahl? Eine Neuauflage der Landtagswahl braucht Zeit. Und auch die darauf folgende Regierungsfindung. In dieser Zeit wäre Thüringen ohne Regierung. Das würde viel Unsicherheit bedeuten: zum Beispiel keine Finanzsicherheit für Kommunen, Vereine und kulturelle Einrichtungen. Wie viele Stimmen fehlen Bodo Ramelow zur absoluten Mehrheit? Wenn Linke, Grüne und die SPD gemeinsam für Ramelow stimmen, fehlen noch vier Stimmen für eine absolute Mehrheit. Die fehlenden Stimmen werden jetzt bei CDU und FDP gesucht. Wird die CDU für Ramelow stimmen? Das ist noch nicht klar. Es gibt aber offizielle Gespräche zwischen CDU und den Linken über dieses Thema. Etwas, was die CDU bis vor einer Woche noch strikt abgelehnt hat. CDU-Generalsekretär Raymund Walk machte aber deutlich, dass seine Partei an den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU gebunden ist. Bodo Ramelow sagte, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten, die nicht Rot-Rot-Grün angehören "wissen, worauf es ankommt". Schon bei der vorherigen Wahl hatten mindestens zwei Abgeordnete - vermutlich aus den Reihen der CDU oder der FDP - für Ramelow gestimmt.
null
Nach dem Rücktritt von Thomas Kemmerich (FDP) direkt nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten muss sich der Landtag in Thüringen neu aufstellen. Neuwahlen stehen zur Debatte. Doch erstmal braucht das Land eine Regierung.
"2020-02-11T05:10:00+01:00"
"2020-02-18T15:28:41.875000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nach-kemmerichs-ruecktritt-wie-geht-es-weiter-in-thueringen-100.html
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"Die Frage des Zölibats ist völlig unabhängig von der Frage des Missbrauchs"
Bettina Klein: Muss das Zölibat überdacht werden in der katholischen Kirche als eine Reaktion auf die in vielen Institutionen in der Vergangenheit zu beklagenden Missbrauchsfälle? Papst Benedikt XVI. hat gestern bei einer Unterredung mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz noch einmal betont: Nein, die katholische Kirche sollte und werde daran festhalten. Anders äußert sich Alois Glück, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der heute Morgen bereits zitiert wird mit dem Vorschlag, eine Lockerung zu überdenken. Und was er sich da genau vorstellt, darüber möchte ich jetzt mit ihm sprechen, ich begrüße ihn am Telefon. Guten Morgen, Herr Glück!Alois Glück: Guten Morgen!Klein: Sie sprechen davon, das Zölibat sollte doch überdacht werden in der katholischen Kirche. Was meinen Sie damit?Glück: Zunächst ist für mich die Frage des Pflichtzölibats völlig unabhängig von dem Thema Missbrauch. Es wäre falsch, da einen unmittelbaren Zusammenhang herzustellen und das habe ich nie getan. Grundsätzlich ist das Thema sicher auf der Tagesordnung, wie auch die Stellungnahme der Schweizer Bischofskonferenz zeigt und viele andere Stellungnahmen. Ich hatte vor einigen Monaten zu überlegen gegeben, ob man als einen Schritt bewährten, verheirateten Diakonen den Weg öffnet zum Priesteramt. Aber wie gesagt, im Zusammenhang mit dem Thema Missbrauch ist das für mich kein vorrangiges Thema.Klein: Dennoch haben Sie das sozusagen der "Süddeutschen Zeitung" heute Morgen wohl gesagt und es scheint ja so, dass Sie das auf alle Fälle mit in die öffentliche Debatte eingeben wollen, die Überlegung.Glück: Es war entsprechend die Frage vonseiten des Interviewers und da bezog ich mich auf meine frühere Äußerung, aber in dem Interview habe ich ja ausdrücklich festgestellt, dass es im Zusammenhang mit dem Thema Missbrauch nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Thematik ist viel komplexer.Klein: Nun sprechen sich ja auch Sexualmediziner dafür aus, dass die katholische Kirche - und das sagt inzwischen auch der Missbrauchsbeauftrage der katholischen Kirche -, dass die Geistlichen, die Priester auch in der Ausbildung sich stärker mit dem Thema auseinandersetzen sollten, dass das in jedem Falle auf der Tagesordnung stehen müsse. Stimmen Sie da zu?Glück: Ja, insgesamt muss man sicher vieles überdenken, auch natürlich die Inhalte der Ausbildung, die Wege der Ausbildung. Das ist insgesamt etwas, was als nächster Schritt dann beraten werden muss. Zunächst geht es darum, und es braucht jetzt eine zeitliche Reihenfolge, gründlich aufzuklären, gegebenenfalls auch die Leitlinien zu überarbeiten, dort, wo es eventuell noch Unklarheiten gibt, auch etwas, was die Regeln der Zusammenarbeit mit dem Staat betrifft, den Opfern zu helfen, das Allerwichtigste ist, und ich glaube, das ist die große Veränderung im jetzigen Prozess, dass die Opfer im Mittelpunkt stehen. Manches ist wahrscheinlich verdrängt worden oder wollte man nicht wahrhaben, weil der Schutz der Kirche bei einzelnen oder bei vielen im Vordergrund stand. Das sind die Dinge, die jetzt vorrangig sind. Und dann muss man sich sicher intensiver auseinandersetzen mit den tieferen Ursachen solcher Entwicklungen. Das ist einmal natürlich ein Teil einer gesamtgesellschaftlichen Problematik, aber darüber hinaus muss man sich auch damit auseinandersetzen, ob es spezifische Ursachen und Gründe gibt innerhalb der katholischen Kirche, und das bitte auf einer sorgfältigen Beratung, und dazu gehören dann all die Fragen auch der Ausbildungsgänge und deren Inhalte.Klein: Wenn Sie davon sprechen, eine sorgfältige Aufklärung sei im Augenblick vorrangig - wird alles getan, um das zu gewährleisten?Glück: Ja, ich habe schon nicht nur den Eindruck, sondern ich denke, bei objektiver Betrachtungsweise muss man doch unterscheiden zwischen dem, was an Fehlern in der Vergangenheit war in der Reaktion, und dem, was jetzt für Konsequenzen gezogen werden. Und die sind, denke ich, wirklich sehr konsequent bis radikal, und deswegen habe ich auch Vertrauen, dass dies eine gute Entwicklung nimmt.Klein: Von welchen Konsequenzen, die radikal sind, sprechen Sie?Glück: Ja, beispielsweise, dass jetzt, wer sich so vergangen hat, generell nicht mehr als Priester sein darf. Früher wurde er nur in Aufgabenbereiche versetzt, wo er nicht mehr mit Jugendlichen zu tun hatte, wenn es gut gehandhabt wurde, also, dann nicht mehr in der Pfarrseelsorge war. Und das sind natürlich jetzt schon weitreichende Konsequenzen. Man muss natürlich im Zusammenhang auch sehen, dass es bis vor einigen Jahren auch nicht nur im kirchlichen Bereich eine Therapiegläubigkeit gab, und man erst in den letzten Jahren zu der Erkenntnis gekommen ist: Wer hier einmal straffällig geworden ist, wer, oder andersherum, wer diese Veranlagung hat, der ist auch über Therapie davon nicht wegzubringen. Das ist wieder eine ganz wichtige Erkenntnis für künftige Verfahrensweisen.Klein: Lassen Sie mich da noch mal kurz nachfragen, auch bezüglich eines Berichtes über einen weiteren Fall, der bekannt geworden ist in den 80er-Jahren und der sich abgespielt hat im Bistum München, als der heutige Papst Benedikt dort noch Bischof war, und es ging darum, dass er wohl mitgetragen habe die Versetzung eines schon mal auffällig gewordenen Geistlichen in sein Bistum. Er hat wohl nicht das mitgetragen, dass er in die Gemeindearbeit wieder geht, aber insgesamt der Versetzung zugestimmt, dass er weiter arbeiten darf. Ist dazu aus Ihrer Sicht jetzt alles gesagt, nachdem Rom Stellung genommen hat und gesagt hat, Papst Benedikt träfen in diesem Zusammenhang keinerlei Vorwürfe?Glück: In der "Süddeutschen Zeitung" lese ich heute, dass in der Sitzung des Ordinariatsrat beschlossen wurde, diesen Priester aus Essen die Therapie in München zu ermöglichen. Und es ist ebenso zu lesen und auch der frühere Generalsekretär sagt das selbst, dass er dann entschieden hat, dass er auch in der Seelsorge eingesetzt wird. Das ist nachvollziehbar, das ist plausibel und deshalb habe ich keinen Anlass, anzunehmen, dass der damalige Erzbischof in irgendeiner Weise damit noch zu tun hätte.Klein: Und da besteht auch für Sie kein weiterer Aufklärungsbedarf?Glück: Ich persönlich sehe da keinen weiteren Aufklärungsbedarf.Klein: Eine Kultur des aufmerksamen Hinschauens pflegen, das versprach Erzbischof Zollitsch gestern bei seiner Pressekonferenz nach dem Besuch im Vatikan. Wie müssen wir uns das genau vorstellen in der katholischen Kirche? Was wird sich ändern im Vergleich zu früher?Glück: Ja, dass jetzt eben auch mit einer anderen Wachsamkeit entsprechenden Anzeichen nachgegangen wird, wo früher vielleicht eher ein Nicht-Wahrhaben die Einstellung gewesen ist oder vielleicht auch die Solidarität untereinander - da ist jetzt sicher ganz eine neue Wachsamkeit da nach dieser Schockerfahrung, die wir ja alle miteinander in unserer Kirche damit haben -, und dass dann natürlich geordnete Wege beschrieben sind, dass klar ist, was dann zu tun ist, wer die Anlaufstelle ist, mit wem die Dinge auch zu klären sind, die Beteiligung des Staates, wenn das nicht nur irgendein vages Gerücht ist und so weiter, dass es dafür dann auch jetzt präzisere Regeln gibt und sicher ein geschärftes Bewusstsein.Klein: Sie sprachen es ja an, Herr Glück, dass die Regelungen in Zusammenarbeit mit dem Staat sich auch verändern sollten und würden. Bischof Zollitsch hat noch mal darauf hingewiesen, das kirchliche, innerkirchliche, Recht, das innerkirchliche Verfahren habe keinen Vorrang vor den staatlichen Ermittlungen, aber, frage ich jetzt noch mal, es bleibt zunächst dabei: Zunächst klären wir das intern, und diese Fälle unterliegen zunächst auch noch der Geheimhaltung, so wir Verdachtsmomente haben. Oder ist das jetzt abgeschafft?Glück: Nein. In dem Moment, wo es einen begründeten Verdacht gibt, ist natürlich der Staatsanwalt einzuschalten, sind die staatsanwaltschaftlichen Stellen einzuschalten. Ich denke, wir sollten hier miteinander, mit dem Staat präzise klären, was die Modalitäten sind, jetzt lebenspraktisch gesehen. Wenn meinetwegen in einer Firma oder wo auch immer entsprechende Gerüchte auftauchen, wird zunächst einmal der Personalverantwortliche, an den das herangetragen wird oder der davon hört, dann wird der ja vermutlich nicht als erstes die Polizei anrufen, sondern zunächst einmal von sich aus der Sache nachgehen, sei es in einer Gegenüberstellung oder wie auch immer. Wenn es aber begründete Verdachtsmomente gibt und die bleiben, dann ist der Staat und sind die staatlichen Stellen einzuschalten. Da gibt es und hat es möglicherweise Unklarheiten gegeben und das ist auch ein Punkt, wo viele sagen, da müssen die Leitlinien der Bischofskonferenz noch präziser gefasst werden. Das sind eben Dinge, die man jetzt sauber klären muss und aus meiner Sicht, bei aller jeweiligen Verantwortlichkeit, autonomen Verantwortlichkeit des Diözesanbischofs, sich die Bischofskonferenz und die katholische Kirche in Deutschland auf ein, wie gesagt, einheitliches Verfahren verständigen muss, das alle gleich handhaben, weil es sonst erneut Belastungen geben würde.Klein: Alois Glück, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Glück!Glück: Bitte sehr! Wiederhören.
Alois Glück im Gespräch mit Bettina Klein
Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Glück, hat wegen der Fälle von sexuellem Missbrauch weitreichende Konsequenzen gefordert. Wer sich an Kindern vergangen habe, dürfe generell nicht mehr als Priester tätig sein, sagte Glück. Er plädierte zudem dafür, dass die katholischen Kirche die Inhalte der Ausbildungsgänge überarbeite.
"2010-03-13T08:11:00+01:00"
"2020-02-03T18:08:55.511000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-frage-des-zoelibats-ist-voellig-unabhaengig-von-der-100.html
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Umstrittene Integration syrischer Flüchtlinge
Munir aus Aleppo hat es geschafft! Ein Job in der Türkei – das bedeutet für den jungen Architekten etwa so viel wie ein Sechser im Lotto. Nach zwei Jahren im südtürkischen Gaziantep hatte Munir gerade seine Rückkehr nach Syrien beschlossen. Gefahr hin oder her, die Ersparnisse der fünfköpfigen Familie waren aufgebraucht. Zuletzt mussten gar die einzigen Ohrringe der Schwester zum türkischen Juwelier, um dafür Reis, Bulgur und Öl kaufen zu können. "Ich habe überall vorgesprochen, aber das Erste, was mir die Leute sagten, war: Du bist kein Türke, du kannst hier nicht arbeiten." Die Stelle, die Munir schließlich über Bekannte in einem Architekturbüro fand, ist illegal. Keine Krankenversicherung, keine Rente – aber ein Lohn von knapp 300 Euro im Monat, der ihm und seiner Familie das Leben rettet. Munirs neuer Chef zuckt mit den Schultern. Wenn er könnte, sagt er, würde er gern noch mehr syrische Architekten einstellen. Aber das Risiko ist groß. "Wir restaurieren häufig historische Stätten. Darin sind die Syrer viel besser als wir, weil sie bis heute viel mit Stein arbeiten. Bei uns dagegen ist alles nur noch Beton. Das Wissen dieser Leute können wir also gut gebrauchen. Aber ich kann ja noch nicht mal ihre Löhne als Kosten angeben. Und weil sie keine Versicherung haben, können wir sie für bestimmte Arbeiten sowieso nicht einsetzen." 7.000 Lira Strafe, gut 2.000 Euro, müsste Munirs Chef zahlen, sollten die türkischen Behörden ihm auf die Spur kommen. Ein Risiko, dass die wenigsten Arbeitgeber eingehen wollen. Und wenn doch, dann soll es sich wenigstens lohnen: Gerade aus großen Städten wie Istanbul oder Gaziantep sind Fälle bekannt, in denen Syrer für wahre Hungerlöhne und zu ungleich schlechteren Arbeitsbedingungen als ihre türkischen Kollegen schuften. Beschweren können sie sich nicht. All das soll sich nun ändern. Ein neues Gesetz der AKP-Regierung sieht vor, dass jeder Syrer, der auf legalem Wege in die Türkei eingereist ist, Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten soll. Hunderttausende könnten davon profitieren. Doch des einen Freud ist des anderen Leid. Der Mann im bunt gestreiften T-Shirt sieht eigentlich nicht aus wie einer, der regelmäßig in ein Mikrofon spricht. Heute aber tut er es. Und er spricht nicht, er schreit. "Unser Problem ist, dass die türkischen Arbeiter in der Türkei schon jetzt von Syrern verdrängt werden. Nur, wenn du bereit bist, für noch weniger Geld zu arbeiten als die, dann kriegst du noch einen Job. Aber wenn morgen jemand noch billiger ist, dann feuern sie dich wieder." Der wütende Fabrikarbeiter weiß, wovon er spricht. Er und die knapp 100 Männer, die im Hof einer Schuhfabrik im westtürkischen Izmir demonstrieren, haben es am eigenen Leib erlebt. Von einem Tag auf den anderen waren sie ihre Jobs los. Denn, so ihre einzige Erklärung, billige Arbeitskräfte gibt es mehr als genug, seit die inzwischen fast 2 Millionen Syrer ins Land gekommen sind. "Wir haben kein Problem mit den Syrern an sich", stellt einer der Arbeiter klar.Aber wenn sie nicht wären, wäre unsere Arbeit wieder mehr wert. So nehmen sie uns die Jobs weg. Wenn wir Türken jetzt zu Opfern werden, was bringt es dann, wenn unser Land den Syrern hilft? Noch sind Demonstrationen wie diese die Ausnahme in der Türkei, deren Bürger sich bisher auffallend gastfreundlich gegenüber dem nicht endenden Strom an syrischen Flüchtlingen gezeigt haben. Immer häufiger aber kippt die Stimmung nun. Denn ausgerechnet in einer Zeit, in der das Gespenst einer drohenden Wirtschaftskrise umgeht und die türkischen Arbeitslosenzahlen steigen, will die AKP-Regierung den Syrern helfen. Zwar ist von Mindestlohn und maximal 10 Prozent Syrer-Anteil pro Betrieb die Rede. Doch die lautstarken Kritiker beruhigt das kaum. Schon jetzt hätten die syrischen Billigarbeitskräfte das soziale Gefüge im Land zerstört, wettert die größte Oppositionspartei CHP. "Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent. Die der Akademiker gar bei knapp 18",bemerkt ihr Abgeordneter Haluk Koc. "Da müssen wir doch zuerst an unsere eigenen Bürger denken!" Das sehen viele Türken ähnlich. Und nicht alle drücken sich dabei so zurückhaltend aus. Architekt Munir aus Gaziantep ist nicht der einzige Syrer, der in den letzten Monaten auf der Straße beschimpft und gar angespuckt wurde. Nach beinahe vier Jahren Krieg im Nachbarland sind Geduld und Gastfreundschaft vieler Türken am Ende.
Von Luise Sammann
Ein neues Gesetz der AKP-Regierung sieht vor, dass jeder Syrer, der auf legalem Wege in die Türkei eingereist ist, Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten soll. Hunderttausende könnten davon profitieren. Doch des einen Freud ist des anderen Leid.
"2014-12-01T09:10:00+01:00"
"2020-01-31T14:16:30.964000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-umstrittene-integration-syrischer-fluechtlinge-100.html
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Ein Wohnungsloser am Berliner Ensemble
Bettina Hoppe (von links), Alexandra Zipperer, René Wallner und Nico Holonics während der Probe zum Stück "Auf der Straße" im Berliner Ensemble (Imago) "Hier Isomatte, im Winter ein bisschen brauchbar, nicht wirklich. Und dann habe ich hier zwei kleine Ikea-Decken. Die eine kommt hier drunter, dann liegst du ein bisschen weicher und die zweite rolle ich mir hier so zusammen als Kopfkissen. Ja mein Schlafsack, brauchst du ja auch…" René Wallner bereitet sein Nachtlager vor. Auf einer Holzbank mitten auf der drehbaren Bühne im Berliner Ensemble. René Wallner, der eigentlich anders heißt, muss das nicht spielen, er muss nur er selbst sein und das tun, was er jeden Abend ohnehin tut. Als Obdachloser wohnt er auf den Treppen im Eingang einer Kirche in Berlin Mitte. Er ist Mitte 50, hat studiert und ist dann beruflich in der Musikszene gescheitert. In Berlin ist er hängengeblieben, seit über vier Jahren ist er obdachlos. Jetzt wirkt er mit im Stück "Auf der Straße" einer Produktion des Berliner Ensembles. Gemeinsam mit einer Frau, der von der Grundsicherung nach Abzug aller Kosten 70 Euro zum Leben bleiben und einem jungen Mann, der erst im Heim lebte und dann lange auf der Straße. Gute Resonanz beim Publikum Dass Betroffene selber mitspielen finden die begeisterten und auch ein wenig betroffenen Premierenzuschauer gerade beim Thema Wohnungslosigkeit besonders wichtig: "Wenn einer weiß wie Obdachlose wirklich leben und empfinden, dann sind das eben die Obdachlosen selber, das ist unbedingt ein Thema fürs Theater." "Dass die Leute zum nachdenken animiert werden, das ist wichtig" "Ich denke, dass es authentischer ist und näher am Leben dran ist". "Man sollte das noch deutlicher in die Öffentlichkeit bringen und wenn die sich selbst dafür engagieren, das finde ich super." Auf den obdachlosen René Wallner wurde die Regisseurin Karen Breeze durch einen Bericht im Deutschlandfunk aufmerksam. Er hat sich dann bereit erklärt, mitzuspielen und aus seinem Leben erzählt: "Ja die Texte haben wir gemeinsam erarbeitet aus Gesprächen, Karen hat immer ihr Mikro dabeigehabt und es ist sehr subtil geschrieben. Da erste Mal hat sie mir meine Passagen sozusagen vorgelesen, ich musste lachen, weil es so baff, ja genau so war, weil es stimmte und abends saß ich auf meinem Treppchen und habe geheult und habe gedacht, es kann nicht sein, dass ich über mein eigenes Leben lache, das geht nicht. Deshalb nenne ich mich in dem Stück auch René Wallner, weil als wir das erarbeitet haben, war mir das zu nah an mir dran." Abbild der Wirklichkeit Nichts ist ausgedacht in dem Stück, alles ist selbst erlebt, geschickt verwoben und schonungslos erzählt gemeinsam mit zwei professionellen Schauspielern: "Wann gehst Du immer so schlafen? Na, nicht vor zwei, drei Uhr, weißt du, da unten, da bei den Bänken, saufen sie, kiffen sie, bist nicht sicher, also das ist dann wie neulich Holzmarktstraße, da haben sie auch einen zusammengetreten, der lag da auch nur rum, vier Tage später war er tot. Oder in Schöneweide, ja Schöneweide, die zwei, die da gerade mal angefackelt wurden, kann man ja mal machen, sind ja nur Leute die da so liegen. Ja, Platte machen ist hart." Und Platte machen und gleichzeitg Schauspieler zu sein, ist noch härter. Allein schon, weil er jeden Probentag seit Juni pünktlich um zehn oder elf Uhr am Theater war, sagt Karen Breeze: "Ich bin begeistert, wie er das hinkriegt, ganz ehrlich, weil wir ja alle wissen, wann er ins Bett geht, weil er früher nicht ins Bett gehen kann, weil er einfach auch Angst hat, früher ins Bett zu gehen, weil er sich bedroht fühlt. Und insofern bleiben ihm nicht so viele Stunden. Wir haben natürlich bei den Proben nicht immer so früh angefangen, deshalb aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden und dann mussten einfach alle anwesend sein." René Wallners Leben hat eine andere Struktur bekommen. Uneingeschränkt gut findet er das nicht. Während der Proben blieb zum Beispiel keine Zeit mehr zum Flaschensammeln - die Bezahlung vom Theater soll den Verlust auffangen. Kein Weg aus der Obdachlosigkeit Sein Leben hat René Wallner nicht geändert. Nach der Vorstellung fährt er mit dem Fahrrad wieder zu seinem Nachtlager im Kircheneingang . Natürlich haben ihm die Menschen vom Theater Hilfe angeboten, aber er hat abgelehnt: "Warum soll sowas nur aus Mitleid, nur weil sich jetzt ein Obdachloser unter Künstlern und Intellektuellen befindet und die jetzt meinen, ihm da irgendwie ein Bett besorgen zu müssen. Das passt nicht, das passt nicht, da würdest du dich auch nicht wohlfühlen, garantiert nicht, geht nicht." Dennoch habe die gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe stattgefunden, betont Regisseurin Karen Breeze. Man habe gemeinsam gegessen, geprobt, gelacht und sei ehrlich miteinander umgegangen: "Es geht letztlich auch genau darum zu sagen, ein Mensch ist ein Mensch und es geht um diesen Menschen und nicht um seinen Status." Und wenn im Zuschauerraum das Licht ausgeht, jeder seinen Platz kennen und seinen Text wissen muss, dann sind sowieso alle gleich. René Wallner wirkt am Ende zufrieden- und auch ein bisschen stolz: "Also die Erfahrung, wie so eine Produktion entsteht, also diese Geburt, die zu begleiten, da ist schon cool. Die Chance muss man doch mitnehmen oder nicht? Ich wäre doch blöd, wenn ich das nicht gemacht hätte." Und wer weiß, was daraus noch wird – vielleicht. "Wenn ich Angebote kriege, gehe ich nach Hollywood, gestern hat mir jemand gesagt ,ich wäre der zweite Otto Sander. Otto Sander hat richtig viel Geld verdient, hat der zu mir gesagt, du redest wie Otto Sander."
Von Anja Nehls
Das Theaterstück "Auf der Straße", das gestern im Berliner Ensemble Premiere hatte, handelt von Obdachlosigkeit. Mit auf der Bühne: René Wallner - selbst seit mehreren Jahren wohnungslos.
"2018-09-14T14:00:00+02:00"
"2020-01-27T18:10:59.848000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/obdachlosigkeit-ein-wohnungsloser-am-berliner-ensemble-100.html
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Deutsch-Ukrainerin für Propaganda instrumentalisiert
Der Duden definiert Shitstorm als "Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht". (dpa / Jens Kalaene) Zuerst im Internet und dann auch im staatlichen russischen Fernsehen wurde eine Geschichte über Olga Wieber verbreitet, nach der sie an internationalem Organhandel beteiligt sei. Ihr sei vorgeworfen worden, als Ärztin - die sie nicht ist - Aufträge an ukrainische Politiker zu geben, damit diese Organe von lebenden Soldaten entnehmen sollen. Auftraggeber sei die deutsche Ärzteschaft, die damit in Verruf gebracht werde - zusammen mit der Bundesregierung, denn - so werde suggeriert - so etwas könne nur mit deutscher Unterstützung gelingen. Ziel ist es laut Wieber, europäische Werte zu diskreditieren. Durch die Aktion ist Olga Wieber zur weltweiten Hass-Figur geworden. Sie sei bedroht worden, auch mit dem Tod, ihre Freunde seien angeschrieben worden, im Internet werde diskutiert und die Texte in viele Sprachen übersetzt. Es gebe Links auf ihr Profil im Internet, unter anderem bei Facebook. Die Vorwürfe wies Wieber entschieden zurück. Sie sei noch nicht einmal Ärztin, dafür aber Deutsche mit ukrainischen Wurzeln. Die Aktivisten hätten jemanden gebraucht, der aus Deutschland komme, aber noch mit der Ukraine zu tun habe. "Mein Profil hat vielleicht gepasst." Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Der Konflikt um die Ukraine ist immer auch ein Konflikt um die Deutungshoheit, ein Kampf um die öffentliche Wahrnehmung. Wir haben hier im Deutschlandfunk schon mehrfach darüber berichtet, dass vor allem die russische Seite diesen Feldzug sehr geschickt führt, auch im Internet, mit Bloggern und Netzaktivisten, die die Ansichten des Kreml auch noch im hintersten Winkel des World Wide Web verbreiten. Dass dabei auch völlig Unbeteiligte schnell in Schwierigkeiten geraten, das zeigt der Fall einer Frau im badischen Waldkirch. Die Deutsch-Ukrainerin Olga Wieber ist von einem Tag auf den anderen zu einer weltweiten, kann man sagen, Hassfigur geworden, ohne dass sie wusste warum. Sie ist jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Frau Wieber! Olga Wieber: Guten Morgen. Armbrüster: Frau Wieber, was genau ist Ihnen passiert? Wieber: Im Internet wurde eine Geschichte verbreitet und dann auch im staatlichen russischen Fernsehen, als ob ich eine Beteiligte in einem illegalen Organhandel bin, und diese Geschichte wurde mit meinem Namen verbunden und auch ein Link gesetzt auf meine persönliche Seite. Armbrüster: Was genau wird Ihnen da vorgeworfen? Wieber: Mir wird vorgeworfen, dass ich eine Beteiligte bin, die Aufträge abgibt an die ukrainischen Politiker. Einer von denen ist der Rechtsanwalt von Julia Timoschenko, einer ist Kommandeur eines Bataillons im Donbass. Und das ist so, als ob ich eine Bestellung mache für die Organe und sage, die Organe sollen frisch sein, das heißt von lebenden Soldaten entnommen werden. Armbrüster: Und was genau ist Ihnen nach diesen Äußerungen im Internet passiert? Wieber: Ich wurde attackiert von allen Seiten, von speziellen Kommentatoren. Die haben mich beschimpft, mir gedroht. Sie haben mir geschrieben, wir wissen, wo Du wohnst, wir kommen, Du bist Faschistin und so weiter. Meine Freunde aus meinen Kontakten wurden auch angeschrieben und man hat versucht, auch denen Zweifel einzubringen, was für eine Freundin habt ihr, und so weiter. Im Internet wird überall diskutiert und diese Geschichte wird verbreitet im ganzen Netz und übersetzt in viele, viele Sprachen. Armbrüster: Wie haben Sie das gemerkt, Frau Wieber? Sie haben mir im Vorgespräch erzählt, dass da Ihr Postfach auf einmal regelrecht übergequollen ist. Wieber: Nein, umgekehrt. Niemand hat meine Seite gehackt. Es war so: Man hat einfach Links gemacht auf mein Profil im Internet, und mein Profil ist ganz normal wie von hundert Millionen Menschen in dieser Welt in Facebook und es gibt so eine Seite im russischen Facebook, und das hat gereicht, einfach einen Link zu machen auf mein Profil, und ich wurde deswegen attackiert. "Das hat mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun" Armbrüster: Jetzt lautet der Vorwurf, wenn ich Sie richtig verstehe, Sie arbeiten zusammen mit einem ukrainischen Politiker und fädeln mit dem einen illegalen Organhandel ein. Hatten Sie jemals in Ihrem Leben etwas mit Organtransplantationen zu tun? Wieber: Nein, gar nicht. Ich komme überhaupt nicht aus diesem Bereich. Ich habe auch keine Medizin studiert. Ich bin auch keine Ärztin, was in dieser Geschichte behauptet wird, oder Chirurgin. Das hat mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun und meine Person ist überhaupt falsch für diese Sachen ausgewählt worden. Armbrüster: Was glauben Sie denn, wie die Leute hinter dieser Netzattacke auf Sie gekommen sind? Wieber: Ich glaube, sie sind auf mich gekommen, weil ich Deutsche bin. Ich habe Wurzeln in der Ukraine, komme aus der Ukraine, und sie haben so eine Person gebraucht, die von deutschen Ärzten quasi kommt, aber mit der Ukraine noch etwas zu tun hat. Mein Profil hat vielleicht gepasst. Armbrüster: Und was sind das jetzt für Drohungen, die Sie zu hören bekommen? Wieber: Ich habe auch Drohungen von Menschen bekommen, die in Deutschland leben und im russischsprachigen Internet sich befinden, dass sie wirklich dann irgendwie zu mir kommen, mich töten, oder Beschimpfungen. Aber was mich so wütend macht ist nicht nur mein persönlicher Fall, sondern auch, dass im russischen staatlichen Fernsehen die deutsche Ärzteschaft als Auftraggeber für Mörder dargestellt wird, und man bringt damit nicht nur mich und die deutschen Ärzte, sondern ganz Deutschland mit seiner Regierung in Verruf. Genauer wurde berichtet, es handelte sich um ein ganzes logistisches System, und die Kommentatoren schreiben jetzt überall, das kann nur passieren, wenn es von Deutschland komplette Unterstützung gibt. Das macht mich auch wütend. Armbrüster: Wenn Sie jetzt so plötzlich im Zentrum einer solchen Verleumdungskampagne stehen, was sind denn Ihre eigenen Erkenntnisse? Gibt es da irgendeinen Weg, wieder herauszukommen? Gibt es irgendjemand, der Ihnen da schützend zur Seite stehen kann, oder diese Vorwürfe quasi rückgängig machen kann? Wieber: Ja. Ich glaube, der einzige Weg ist die Konsolidierung von der Gesellschaft. Ich muss sagen, ich habe unglaublich viele Freunde jetzt bekommen während dieser Zeit, weil die Leute verstehen, was passiert. Alle verstehen, dass die Propaganda zum Ziel hat, Europa, europäische Politik und Werte, europäische Regierungen zu diskreditieren, und man muss zusammenhalten und diese Fakes nicht so ernst nehmen und eventuell noch dagegen was machen. "Mein Leben hat sich schon verändert" Armbrüster: Hat sich Ihr Leben durch diese Kampagne verändert? Wieber: Ja, mein Leben hat sich schon verändert. Ich führe ein ganz normales Leben natürlich, weil ich muss für mein Brot arbeiten. Aber ich bin jetzt in die Öffentlichkeit gegangen und viele Leute schreiben mich an. Es gibt sogar einige, die einfach auf ihrer Webseite irgendwelche Beiträge, ganz gute Beiträge über die Situation lassen und versuchen, mit mir in Kontakt zu kommen, und ihre Hilfe anbieten, und ich glaube, dass sich rund um mich konsolidiert meine Umgebung und auch viele andere Leute überall in der Welt, von Amerika bis Europa, Ukraine, Russland und so weiter. Armbrüster: Haben sie Kontakt aufgenommen oder Zuschriften von Leuten bekommen, denen Ähnliches passiert ist? Wieber: Nein. Mein Fall ist interessant dadurch, dass ich jetzt die erste Person bin, die plötzlich mit der Geschichte verbunden wurde. So wie ich das gesehen habe, hat man bis jetzt immer Fakes gemacht, die man nicht prüfen kann. In meinem Fall war ich die echte Person und ich glaube, das war entweder nicht so durchgedacht, oder man hat erwartet, dass ich mich verstecke in diesem Fall, und dann geht die Geschichte auch in die Richtung, dass die Person es nicht mehr gibt, oder sie sich versteckt hat. Aber ich habe mich ein bisschen anders benommen in diesem Fall. Armbrüster: Indem Sie damit ganz offensiv an die Öffentlichkeit gehen? Wieber: Ja. Ich gehe in die Öffentlichkeit, weil mir war es schon bewusst, dass es so etwas gibt, zum Beispiel auch in meinem privaten Leben. Ich habe immer meinen Eltern zum Beispiel verboten, das russische Fernsehen anzuschauen, weil man merkt bei älteren Leuten von dieser älteren Generation, die nur Russisch verstehen und nicht so gerne deutsche Nachrichten schauen, die Leute werden einfach umprogrammiert von dieser Propaganda und dann leben sie in einer anderen Realität. Davon berichten auch viele zum Beispiel ehemalige Schüler von meinem Ehemann, die auch russische oder ukrainische Wurzeln haben und über ihre Eltern schreiben, sie können nicht mehr sprechen, sie leben in einer anderen Welt. Armbrüster: ..., sagt Olga Wieber. Sie ist Vorstandsassistentin im badischen Waldkirch und im Internet zu einer Zielscheibe von russischen Netzaktivisten geworden, völlig unerwartet und auch unberechtigt. Frau Wieber, vielen Dank, dass Sie uns heute Morgen hier Ihre Erfahrungen geschildert haben. Einen schönen Tag noch. Wieber: Vielen Dank! Danke, Ihnen auch. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Olga Wieber im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die Deutsch-Ukrainerin Olga Wieber sieht sich als Opfer einer Verleumdungskampagne aus Russland. Im Deutschlandfunk erzählte sie, wie russische Aktivisten falsche Informationen über sie verbreitet hätten. Das Ziel sei es, Deutschland und Europa zu diskreditieren. Es handle sich um ein ganzes logistisches System.
"2014-07-22T08:10:00+02:00"
"2020-01-31T13:53:59.172000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verleumdung-im-netz-deutsch-ukrainerin-fuer-propaganda-100.html
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Auf der Suche nach datenschutzfreundlichen Alternativen
Thema auf der re:publica: Wie können freie und sichere Alternativen zu Google und Facebook geschaffen werden? (picture alliance / Bernd von Jutrczenka) Manfred Kloiber: Es ist Anfang Mai und damit auch Zeit für die re:publica - das alljährliche Klassentreffen der Netzgemeinde. So wird ja die nach eigenen Angaben größte europäische Konferenz zu den Themen Digitalisierung und Gesellschaft gerne auch beschrieben. Gestern Abend ging sie für die Teilnehmer mit einer großen Party zu Ende. Heute gibt es dann noch ein Netzfest am Berliner Gleisdreieck. Damit will sich die re:publica öffnen. Und für diese Öffnung stand auch das Motto "POP". Zusammen mit meinem Kollegen Jan Rähm habe ich die re:publica besucht. Wie groß war die Konferenz und was hatte es mit "POP" auf sich? Jan Rähm: Ja, fangen wir mit POP an: POP haben die Macher der Konferenz gewählt, weil das Internet im Mainstream angekommen und damit POP, also Popkultur geworden ist. In diesem Jahr wollte die re:publica in den Mainstream der digitalen Popkultur eintauchen. Dabei sieht sie sich, besser, sehen die Macher die Konferenz selbst noch gar nicht mal als Mainstream an. POP stand aber auch für "Power of the People", also die Kraft der Menschen. Man auf rief zu mehr Engagement und Tatkraft. Der Einladung zur re:publica gefolgt sind nach Angaben der Veranstalter rund 10.000 Besucher, also erneut deutlich mehr als im Vorjahr. Der Wunsch der Macher sich mit der Konferenz zu öffnen scheint also aufgegangen zu sein. Denn einerseits wollte man in Tiefe gehen und lockte Fachbesucher mit einem Fach-Konferenzbereich auf neuen Flächen abseits des Geländes, zum Beispiel auch mit einem extra Fachkonferenz-Track - so nennt man das - zum Wissenschaftsjahr 2018. Andererseits, und das passiert erst heute, will man sich der Allgemeinheit öffnen und veranstaltet heute erstmals ein großes Netzfest im Anschluss an die re:publica hier in Berlin. Gefahren der Algorithmen Kloiber: Genug der Rahmendaten, lassen Sie uns thematisch in die Tiefe gehen. Neben angestammten Themen wie Netzpolitik und Netzkultur standen in diesem Jahr vor allem die Künstliche Intelligenz und Algorithmen im Fokus. Und da ging es eindeutig weniger um die Möglichkeiten als um die Gefahren. Schon wenige Minuten nach Eröffnung machte eine New Yorker Wissenschaftlerin klar: Die Technik, sie werde häufig geradezu missbraucht um Fakenews und Populismus zu befördern. Aufreger würden belohnt, Fakten und Analyse dagegen nicht. Ins gleiche Horn stieß dann auch Star-Gast Chelsea Manning. Sie war mit minutenlangem Applaus begrüßt worden. Im Podiumsgespräch warb sie für die Idee, dass Programmiererinnen und Entwicklerinnen mehr Verantwortung für ihren Code und ihre Produkte übernehmen sollten. "Ich meine, wie sind in einer vergleichbaren Lage wie Ärzte. Und wie Ärzte sollten wir ethische Standards haben. Standards, die die Grundlage unserer Entscheidungen bilden und nach denen wir handeln. Wir schaffen nicht einfach nur Code, wir schaffen Produkte und wir wissen, wie sie gebraucht aber auch wie sie missbraucht werden können. Wir können nicht länger sagen, hier sind die Tools und ihr als Gesellschaft werdet schon sehen, wir ihr damit umgehen müsst. Das müssen wir selber tun." Forderte mehr Verantwortung von Programmierern und Entwicklern für ihre Codes und Produkte: Chelsea Manning (Deutschlandradio / Simon Detel) Massive Kritik, vor allem an der Politik, die äußerte auch in diesem Jahr wieder Markus Beckedahl, der Gründer der re:publica und bekannter Netzaktivist. Gleich im Anschluss an dem bewegenden Gespräch mit Manning blies er zum netzpolitischen Hallali und ließ kein gutes Haar an der Regierung, ja, er machte sich sogar ein bisschen lustig. "Eigentlich ist es nicht lustig dass wir eine Bundesregierung haben, die die Digitalisierung lange verschlafen hat, jetzt ein bisschen Aktionismus zeigt und nicht in der Lage ist eine kohärente netzpolitische Strategie auf die Beine zu stellen, die dringend notwendig wäre um zum Beispiel mal einen richtigen Breitbandausbau in Deutschland voranzubringen und allen Bürgern eine lebenswerte digitale Gesellschaft zu schaffen. Ohne zu große Abhängigkeit beispielsweise von einzelnen Plattformen wie Facebook, die wir erleben." Kloiber: Das haben sie ja auch verbunden mit der Forderung nach einer Person, die in der Bundesregierung einheitlich zuständig ist für Digitalisierung, die können sie nicht ausmachen? Markus Beckendahl: Es gibt schon insofern einen Fortschritt, dass Angela Merkel jetzt angekündigt hatte, Digitalisierung zur Chefsache zu machen. Das finde ich nach zwölf Jahren Kanzlerschaft schon ein bisschen bemerkenswert. Auf jeden Fall scheint es jetzt so zu sein, dass ihr Kanzleramtsminister Helge Brauns auch für Digitalisierung zuständig ist. Es gibt noch die Staatsministerin im Kanzleramt Dorothee Bär die aber laut Angela Merkel eher eine Grüßaugusta-Rolle ausfüllt. Insofern kann das zu mehr Koordinierung führen, aber man muss sich natürlich fragen, warum hat Angela Merkel nicht vor zwölf Jahren schon diesen Digitalisierungs-Trend entdeckt und entsprechend gestaltet? Zerschlagung von Facebook Kloiber: Kommen wir auf die Plattform-Diskussion zu sprechen in der sie ja auch sehr engagiert unterwegs sind. In der Plattform-Diskussion spricht man mittlerweile darüber, welche Alternativen gibt es eigentlich zu Facebook? Das geht sogar so weit, dass man sich der amerikanischen Forderung nach #deletefacebook sogar anschließen kann und eine Zerschlagung von Facebook fordert. Sie haben das hier auf der re:publica als eine Möglichkeit vorgestellt. Beckedahl: Ich finde wir müssen darüber nachdenken, ob wir die richtigen Werkzeuge haben mit Daten Macht einzelner Unternehmen wie Facebook umgehen zu können. Aber ich glaube Facebook, aber auch Google sind zu groß geworden. Facebook dominiert allein mit seinen Apps Instagram, Facebook, Facebook Messenger, WhatsApp das soziale Netz. Hier müssen wir über Wege nachdenken, wie wir diese Dominanz zerschlagen können. Dafür gibt es gute Beispiele aus der Geschichte der Telekommunikations-Industrie, die auch früher eine Monopolstellung hatte, wo in den USA durch Zerschlagung von zu mächtigen Playern mehr Wettbewerb und auch mehr Kommunikations-Freiheiten gewährleistet wurden. Alternative Infrastrukturen fördern Kloiber: Sehen Sie da einen Keim einer globalen Anti Facebook Bewegung? Beckedahl: Wir verfolgen schon seit einiger Zeit, dass es alternative Ansätze gibt, vor allem nach dem Open-Source-Prinzip freie, Datenschutz-freundliche und sichere Infrastrukturen zu schaffen. Aber diese Open-Source-Communities haben in der Regel das Problem, dass es keinerlei Förderung für sie gibt. Hier schlagen wir vor, entweder staatliche Investitionsprogramme, wie es ja im Startup- -Bereich und so weiter Realität ist, oder aber ein Teil der Haushaltsabgabe zu verwenden, quasi öffentlich-rechtlich neu zu denken, um neutrale sichere Infrastrukturen auf Basis nicht kommerzieller Netz-Innovationen zu fördern. Die besten Alternativen bringen natürlich nichts, wenn wir weiterhin diesen Lock-in-Effekt bei Facebook und Co. nicht berücksichtigen, das heißt, viele Menschen sind eher gefangen in dem Facebook-Universum, in einem WhatsApp-Universum, weil alle ihre sozialen Kontakte dort sind. Und wir müssen auch Wege finden, diese Plattform zu einer Interoperabilität zu verpflichten. Und wir müssen auch dahin kommen dass ich von WhatsApp aus, auch mit alternativen, sichereren Kommunikations-Werkzeugen wie zum Beispiel der Messenger Signal kommunizieren können muss. Das Facebook-Monopol zerschlagen - schlägt Republica-Mitgründer Markus Beckedahl vor (Deutschlandfunk / Simon Detel) Kloiber: Das würde ja auch bedeuten, dass man nicht nur mehr staatliche Fach- Regulierung machen müsste, sondern dass man auch staatliche Kompetenz haben müsste, um in diesem Thema überhaupt mitreden zu können. Beckedahl: Ja, das ist ein großes Problem, das wir in Deutschland haben, dass die Bundesregierung diese technologischen Entwicklungen übersehen hat, sich nicht so sehr darum gekümmert hat. Ich kann mir vorstellen dass wir auch neue Regulierungs-Behörden benötigen könnten, irgendwo zwischen Bundesnetzagentur, Kartellamt, Datenschutzbehörden, die einerseits für all die Fragen rund um Algorithmen und Daten macht, die natürlich auch technisch kompetent ausgestattet sein müssten. Damit würde man schon einen kleinen Schritt in die Richtung gehen können Facebook quasi die Marktmacht zu nehmen und damit auch mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Wie werden Scores berechnet? Markus Beckedahl war das, Gründer der re:publica und Netzaktivist. Zu deren Kernforderungen gehört auch Algorithmen-Transparenz. Denn immer mehr werden in unserer Gesellschaft Entscheidungen, die unser Leben betreffen ja von Computern getroffen, ohne dass wir genau wissen, auf welcher Grundlage und nach welchen Regeln die Maschine entschieden hat. Wer in Deutschland zum Beispiel einen Kredit möchte, einen Handy-Vertrag abschließen will oder selbst einfach nur die eine App zur Smarthome-Steuerung aktivieren möchte, der kommt an sogenannten Auskunfteien nicht vorbei. Die sagen dem Vertragspartner, mit welcher Wahrscheinlichkeit man den Vertrag seinerseits erfüllen wird. Sprich: Wird man pünktlich zahlen. Allerdings: Wie die Auskunfteien diesen sogenannten Score berechnen, das wissen nur die Auskunfteien und die Aufsichtsbehörden. Dieses best gehütetete Geheimnis zumindest in Teilen zu lüften hat sich das Projekt "Open Schufa" vorgenommen, das seine Pläne auch auf der re:publica 2018 vorstellte. Miete nicht gezahlt? Weniger Punkte. Mehr als ein Handy-Vertrag? Weniger Punkte. Wohnhaft im falschen Stadtteil? Weniger Punkte. So ähnlich könnte die Berechnung des Scores bei Auskunfteien aussehen. Sicher weiß das kaum jemand. Weil dieser Score heutzutage aber essenziell ist für viele Geschäfte und Transaktionen und weil die Algorithmen hinter den Scores eventuell Teile der Bevölkerung benachteiligen könnten, wollen es die Open Knowledge Foundation Deutschland und AlgorithmWatch genauer wissen. Sie wollen die Berechnung hinter dem Score knacken. Ihr Studienobjekt: Die wohl bekannteste Auskunftei, die Schufa. Lorenz Matzat vom Projekt OpenSchufa erklärt. "Wir werden, das ist zumindest unsere Hoffnung, zumindest in Teilen verstehen was passiert. Weil die Auskunft, die die Schufa einem erteilt, eigentlich nicht wirklich verständlich ist, was da drin steht." Schufa-Auskunft besser verstehen Die Auskunft, von der Mazat spricht, kann sich jeder Bundesbürger einmal im Jahr kostenfrei zuschicken lassen. Das Problem, so Lorenz Matzat: "Es stehen sehr viel Zahlen drin. Es sind ungefähr … In der Tabelle sind etwa 150 Felder drin, die irgendwelche Angaben enthalten, die nur sehr vage zum Teil beschrieben werden. Wie da wirklich was zusammenspielt und welche Gewichtung da Faktoren haben, ist nicht ersichtlich. Und das sind genau die Dinge, die wir zumindest versuchen wollen, besser zu verstehen." Das Projekt bittet darum, dass so viele Bürger wie möglich ihre Schufa-Auskunft und weitere Daten wie Alter, Geschlecht oder finanzieller Situation spenden. Damit will man dann die Berechnungen sozusagen reverse engineeren, also rückwärts entwickeln - von den Ergebnissen hin zur eigentlichen Berechnung. Generell infrage stellen wolle man die Schufa und ähnliche Institutionen nicht, erklärt Mazat: "Dass es so ein Verfahren geben muss, würden wir gar nicht bestreiten. Die Frage ist: Muss es so aussehen? Und die Schufa selbst nutzt die Wortwahl eines "Wohlverhaltens". Das heißt, da steckt sozusagen eine moralische Wertung drin, was ist richtiges Verhalten, was ist falsches." Die Schufa ist gar nicht erfreut. In einer Pressemitteilung heißt es wörtlich: Wer die Scoreformel gegenüber der Allgemeinheit offenlegen will, leistet Vorschub für Missbrauch und Betrug und führt die Allgemeinheit unter dem Deckmantel der Transparenz in die Irre. Helferlein für Briefträger: PostBot Kloiber: Soweit das Projekt OpenSchufa - wir hatten ja versprochen, zur Künstlichen Intelligenz zurückzukehren. Das tun wir jetzt - auch, wenn das Projekt, über das wir sprechen, eigentlich nur ein bisschen intelligent ist. Es geht um den PostBot, Jan, was ist das? Rähm: Der PostBot ist ein Roboter der Deutschen Post, der bei Postzustellung helfen soll. Der sieht aus wie ein Briefkasten auf Rädern: also knallgelb mit abgerundeten Ecken. Alle vier Räder sind angetrieben und zwischen Räder und dem Aufbau sitzt ein Licht-Radar, also das sogenannte LiDar. Und das sorgt für Rundumsicht. Die Intelligenz im Bot: Er erkennt Hindernisse und vor allem die Beine seines Post-Boten oder seiner Post-Botin. Ich habe mit dem Bot und seiner "Betreuerin" eine kleine Runde gedreht. Anastasia Romanowski: "Ich bin Anastasia Romanowski von der Deutschen Post und mit dem PostBot hier auf der re:publica. Ja ich laufe jetzt voraus. Der Postbote läuft mir in einem halben Meter Abstand hinterher, je nach Geschwindigkeit. Wenn ich schneller werde, fährt er auch schneller. Wenn ich langsamer werde, wird er auch langsamer. Wenn ein Hindernis kommt, sprich wenn jemand dazwischen läuft, würde er anhalten. Und ich kann zum Beispiel auch mal stehenbleiben, um ihn herumlaufen und in die andere Richtung wieder zurücklaufen. Da kommt er auch hinterher. Der PostBot ist mit Sensoren ausgestattet, scannt die Beine ab und folgt den Beinen an der Stelle. Der PostBot fährt einen ganz normalen Arbeitstag acht, neun Stunden mit den Kollegen mit. Ist auf sechs km/h gedrosselt, sodass er auf Fußgängerwegen ganz normal mitfahren kann. Also ist es so, dass die Kollegen morgens ihre Briefsendungen in den PostBot einladen. Dann damit loslaufen. Ihren Bezirk ablaufen. Sie waren total begeistert, ehrlich gesagt, weil sie dadurch natürlich die Entlastung hatten körperlich. Sie mussten die Handkarren nicht mehr schieben. Hatten die Hände frei und wollten nach den vielen Wochen den PostBot gar nicht mehr missen, gar nicht mehr abgeben. Kloiber: Eine praktische Angelegenheit, dieser Post-Bot für den Post-Boten oder die Post-Botin und auf der re:publica geht es ja traditionell auch um jede Menge andere praktische Dinge. Da gibt es zum Beispiel einen Praxisbereich, den Makerspace. Und Jan, da haben Sie sich umgeschaut und was entdeckt? Digitale Technologie kommt aufs Land Rähm: Also zuerst: Es gab in diesem Jahr sogar zwei Makerspaces. Es gab einen Innen und es gab einen auf dem Außengelände. Gerade draußen - oder auf beiden Makerspaces - haben sich eher praxisorientierte Projekte präsentiert und es gab zahlreiche Workshops. Hängen geblieben bin ich persönlich an einem großen schwarzen Bus auf dem Außengelände. Christian Zöllner: "Das ist das FABmobil. Das FABmobil ist eine fahrende "Kunst-Kultur-Technologie-Zukunfts-Labor-Werkstatt". So eigentlich alles was man so braucht. Und die beinhaltet digitale Technologien, mit denen man kreativ werden kann." Eigentlich war das ganze mal ein Musiker-Tour-Bus, erklärt Christian Zöllner vom Projekt "FABmobil". Seit Oktober letzten Jahres sind er und seine Mitstreiter mit dem Bus in der Oberlausitz unterwegs. Tiefschwarz lackiert, schwarz getönte Scheiben, zwei Etagen hoch. Heute reist der Doppeldecker nicht mehr mit Musikern an Bord, sondern mit modernster Maker-Technik. Christian Zöllner: "Wir haben im Erdgeschoss drei 3-D-Drucker, mit denen man Kunststoff 3D-drucken kann. Das bringen wir den Kids bei. In Kursen oder auch in offenen Formaten lernen die, wie sie digital 3D-Modelle erstellen können und wie sie sie dann selber selbstständig ohne große Anleitung hier in die Welt holen können sozusagen. Gleichzeitig haben wir noch einen Lasercutter. Der funktioniert nicht dreidimensional wie ein 3D-Drucker sondern eher zweidimensional. Dem gibt man einfach Grafiken. Und die kann man ausschneiden und gravieren. Das ist super um einzusteigen, schnelle Sachen zu lernen." Es geht eng zu im Inneren, aber weil alles gut durchdacht platziert ist, findet auch eine ganze Schulklasse bequem Platz zum löten, drucken und entwickeln. Im Obergeschoss geht es etwas weniger eng zu. Doch bevor man das sieht, steht man erst einmal vor einer kleinen Bücherwand. Christian Zöllner: "Eine Bibliothek. Da haben wir vor allem so Bücher drin, die beschreiben und Beispiele zeigen, was eigentlich alles so geht mit dem was hier drin ist. Also manchmal sind hier bis zu 20 Leute drin. Dann ist es voll und man kann nicht mit allen gleichzeitig reden. Und dann sagen wir, komm mal her, greif mal rein und schau mal, wie du mit LEGO und Elektronik was bauen kannst. Oder es gibt ein Buch, das heißt "Der Maker Guide für Zombies". Und da kann man sozusagen einfach so Survival- Technik-Sachen, wie man programmiert man das sozusagen. Das ist einfach so ein großer Wissensspeicher, der inspiriert und Teil des Projektes ist." Ansonsten gibt es oben noch eine CNC-Fräse, alle möglichen Werkzeuge und Maschinen und passgenau gefertigte Regale. Christian Zöllner: "Da ist vor allen Dingen alles drin, was man fürs Programmieren braucht. Also kleine Mikrocontroller Boards also Arduino, Raspberry Pi, alles was man zum Löten braucht, Kabel, Motoren, Sensoren, LEDs. Eigentlich alles zum geiles Zeug mit Internet und Digital zu machen." Christian Zöllner erklärt: FAB Labs, also Fertigungswerkstätten, und Makerspaces - so was gebe es nur in den großen Städten, in den Metropolen. Auf dem weiten Land gibt es nichts Vergleichbares. "Deswegen haben wir gesagt: Wir fahren direkt zu den Jugendlichen und zu den Leuten hin, die eigentlich den Bedarf nach Digital-Technologie haben und bringen das denen vor die Tür, sodass niemand in der Region sagen kann, wir sind eine abgehängte Region. Wir sind da und bringen sozusagen offene Digital-Kultur, Internet-Kultur zu den Leuten direkt hin." Kloiber: Ein rollender Makerspace zu Gast auf der re:publica. Erklärt hat Ihnen das ein Mann, Jan. Ich betone das, weil ein Schwerpunkt der diesjährigen re:publica die Förderung von Frauen und die Förderung der Diversität war. Wie zeigte sich dieser Schwerpunkt? Rähm: Als unter der Überschrift "Fe:male Digital Footprint" gab es eine ganze Reihe an Vorträgen und auch kleine Workshops. Man wollte nicht nur Frauen, sondern auch Lesbian-, Gay-, Bi-, Trans-, Inter-, Queer- und sich anders definierenden Menschen ermutigen, einfach sichtbarer zu werden in der digitalen, oft Männer-bestimmten Welt. Und in diesem Programm-Zweig präsentierte sich auch "She*Fix, ein Gemeinschaftsprojekt der she*fix-Gruppe und des TINT-Filmkollektivs: "Hallo, ich bin Maj von She*Fix. She*Fix ist ein Zusammenschluss von Frauen, die die Sichtbarkeit von Frauen in technischen Bereich erhöhen wollen. Es ist schon so, dass in technischen Bereichen oft die Dinge aus der Hand genommen werden, wenn du einem bestimmten Geschlecht entsprichst. Und daher die Motivation mehr Sichtbarkeit und auch einfach eine, eine andere Form von Reparieren und Technik erklären zu zeigen. Also viele Frauen, mit denen ich bereits gesprochen habe, haben gezeigt, wie wichtig für sie auch ist, andere Vorbilder zu haben, andere Möglichkeiten zu reparieren zu sehen. Und wir möchten gerne zeigen, dass Frauen ebenso, also es ist Geschlechter unspezifisch, möglich ist, technische Berufe auszuführen, Technik zu erklären, aber auch Sachen zu reparieren, technische Probleme zu lösen. Wir sind Zusammenschluss von Ingenieurinnen und Technikerinnen, Mechanikerinnen und wir haben ein Projekt, da wird es auch eine Serie zu geben. Das ist einmal: Wie repariere ich eigentlich ein Auto? Da wird's erst mal einen Reifenwechsel geben. Was mache ich eigentlich, wenn ich eine Reifenpanne habe? Dann gibt es noch ein zweites Tutorial von einer Fahrrad-Mechanikerin, die uns erklärt, wie funktionieren eigentlich Bremsen am Fahrrad und wie kann ich die reparieren, richtig einstellen. Was sind häufige Probleme oder Fehler. Und zuletzt: die Cloud Rähm: Die Anstrengungen der republica-Macher scheinen sich auszuzahlen, denn bei den Besuchern gab es nahezu eine 50-50-Verteilung mit sogar einem leichten Plus für die Frauen und ganz ähnlich sah es bei den Vortragenden aus. Ein Thema, ein Dauerbrenner sozusagen, das fehlt noch: die Cloud. "Ich bin Saad aus Singapur. Wir bauen eine Do-It-Yourself-Mini-Cloud. Wenn man Cloud hört, denkt man an die Wolken am Himmel oder - vor allem hier auf der re:publica - an die Daten-Cloud, die virtuelle Wolke. Wir bauen hier aber kleine, physische, tragbare Wölkchen. Ich habe mir schon lange gedacht, wie könnte man das virtuelle Gebilde Cloud greifbar machen. Und irgendwann, nach einem langen frustrierenden Tag im Büro, fuhr ich in einen Makerspace. Dort lang viel Baumwolle rum und ich dachte: Das ist perfekt! Lass uns eine echte Wolke bauen, die mit der Datenwolke vernetzt ist! Und ich habe eine große, echte Wolke für die re:publica gebaut. Ich habe sie "John Cloud" getauft. John Cloud ist eine Cloud-Cloud. Es ist eine Wolken-Lampe mit Twitter-Anbindung. Immer wenn jemand John Cloud twittert, leuchtet die Wolke. Entdeckt John Cloud Hate Speech, dann gibt es Blitz und Donner. Die kleine, ebenfalls leuchtende Version, ist allerdings ohne Cloud-Anbindung, aber man könnte sie anschließen."
Von Manfred Kloiber
Bei der Konferenz für digitale Gesellschaft re:publica standen in diesem Jahr vor allem Künstliche Intelligenz und Algorithmen im Fokus. Dabei ging es weniger um die Möglichkeiten der Technik als um die Gefahren. Angedacht wurden Wege, die Dominanz von Anbietern wie Facebook zu zerschlagen.
"2018-05-05T16:30:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:03.119000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/re-publica-2018-auf-der-suche-nach-datenschutzfreundlichen-100.html
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Flüchtlinge gegen die Überalterung
Die drei jungen Syrer Raman, Abdulmoeen und Bahi vor dem Ratsgymnasium in Goslar. (Deutschlandfunk, Bastian Brandau) "Guten Tag, vom Deutschlandfunk, mit Herrn Dress verabredet." "Hallo, und mit Herrn Kwasniok und den Syrern. Wenn Sie mal kurz hier durchschauen, bitte." Montagfrüh am Ratsgymnasium in Goslar. An einem runden Tisch im Zimmer des stellvertretenden Schulleiters sitzen drei junge Männer mit schwarzen Haaren, modisch frisiert. Bahi, Raman und Abdulmoeen, alle 17 Jahre alt. Seit drei Monaten besuchen sie das Ratsgymnasium. Bahi gibt sogar schon Interviews auf Deutsch. Nach dem spektakulären Vorschlag des CDU-Oberbürgermeisters Oliver Junk, die Abwanderung in Goslar mit Flüchtlingen aufzufangen, waren Zeitungen und auch das Fernsehen da. Bahi erzählt gerne von seinem neuen Leben in Deutschland: "Ich finde Goslar ist eine sehr schöne Stadt und eine sehr schöne Stadt zum Studieren und zum Lernen." Und Abdulmoeen ergänzt: "Wir sind hier Ausländer, aber ich fühle mich nicht so. Die Leute behandeln mich wie jemanden, der hier geboren ist." Auf Empfehlung von syrischen Freunden sind die drei nach Goslar gekommen. Geflohen vor Gewalt und Bürgerkrieg. Unbegleitet, minderjährig tauchten sie hier vor rund drei Monaten auf. Im Gepäck: Übersetzte und beglaubigte Zeugnisse von einem sehr guten Gymnasium in Aleppo. Und einen großen Wissensdurst. Es wirkt wie Schüleraustausch – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen. Flüchtlinge wie Bahi, Raman und Abdulmoeen hätten viele Kommunen gerne mehr: jung, gebildet, zielorientiert – und das trotz großer traumatischer Erlebnisse. Gemeinsam wohnen und lernen sie in einer WG, werden von einem Vormund betreut. Der hat jetzt verfügt, dass dies erst einmal das letzte Interview ist. Sie brauchen Ruhe, um sich einzugewöhnen – und sollen nicht herhalten, um positive Geschichten von Flüchtlingen zu erzählen. Dabei könnte Goslar mal wieder eine positive Geschichte brauchen, das weiß auch Oliver Junk. Geschichten wie sie das Glockenspiel am Marktplatz erzählt, vor dem täglich die Touristen stehen. Mechanische Figuren zeigen Ritter des Mittelalters, die Bergleute in den Silber-Minen. Das, was Goslar einst groß und reich machte. Heute kämpft Oberbürgermeister Oliver Junk mit den Folgen des demografischen Wandels. Junge, gut ausgebildete Flüchtlinge, so glaubt Junk, könnten dieses Problem lösen. "Die Jungs die wir hier gerade aktuell exzellent in Goslar integrieren und die sich wohlfühlen, und die hier ihren Schulabschluss machen, und um die wir uns extrem gut kümmern, da besteht natürlich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die sagen: Das ist eine tolle Stadt. Ich könnte mir vorstellen, hier in der Nähe zu studieren, und muss nicht nach Hamburg oder Aachen gehen." Junk hatte vor einem halben Jahr einmal öffentlich davon geträumt, das schrumpfende Goslar könnte noch mehr Flüchtlinge aufnehmen: aus Großstädten mit Wohnungsnot. Eine logische Idee, sagen die Unterstützer. Der Profilierungsversuch eines potenziellen Ministerpräsidenten, sagen Junks Kritiker. Doch sein Vorschlag, der bundesweit diskutiert wurde, stieß ziemlich schnell an seine Grenzen: im Landkreis. Ehrgeizige Pläne Denn obwohl Junk seine Idee lautstark verkündet hatte, ist er dafür schlicht nicht zuständig. Es ist der Landkreis Goslar, in dem die Stadt Goslar eben nur eine von zehn Gemeinden ist. Landrat Thomas Brych von der SPD hat vor zwei Jahren ein eigenes Flüchtlings-Konzept entwickeln lassen – und ist darauf ziemlich stolz. Für jeden Flüchtling steht ein Platz in einer Wohnung zur Verfügung. Massenunterkünfte in ehemaligen Kasernen oder in Turnhallen gibt es im Landkreis Goslar nicht, sagt Brych im Landratsamt. Dieses Konzept aber, so Brych, ist schon jetzt am Anschlag. "Voriges Jahr, als der Vorschlag von Herrn Junk kam, lagen wir noch bei 500 Flüchtlingen, dieses Jahr sind wir in der Prognose schon weit über 1000. Und nächstes Jahr werden wir weit über 1000 kommen. Ich sag dann in aller Deutlichkeit, dass wir für diejenigen zuständig sind, die uns zugewiesen worden sind weil wir da 'ne Verantwortung haben, bevor wir anderen Kommunen helfen." Landrat Brych hat klar gemacht, dass Flüchtlingspolitik in Goslar in seiner Zuständigkeit liegt – und nicht in der des Oberbürgermeisters. Der hat das zähneknirschend akzeptiert. "Das ist die Verabredung zwischen uns und ich hoffe, dass wir da insgesamt noch weiter kommen." Allerdings: Mehr Flüchtlinge nach Goslar – die Forderung erfüllt sich aktuell angesichts steigender Zahlen von selbst. Allerdings sind es nicht die jungen dynamischen Syrer oder gut gebildete Iraker, die Junk gerne hätte. 90 Prozent Flüchtlinge im Landkreis Goslar kommen vom Balkan: "Ich bin gegen diesen Nützlichkeitsrassismus, also nur ein Flüchtling, der Steuern zahlt, ist ein guter Flüchtling, sondern die Menschen haben verschiedene Gründe zu kommen. Die fliehen vor Katastrophen, die fliehen aus wirtschaftlichen Gründen, und es sind auch oft bildungsferne Menschen dabei. Aber: Man kann nicht sagen: Du bist ein guter Flüchtling und du bist ein schlechter und du darfst bleiben und du darfst nicht bleiben." Susanne Ohse kümmert sich ehrenamtlich um Flüchtlinge. Bei der Arbeit im Verein "Leben in der Fremde" bekommt sie es regelmäßig mit der Kehrseite der gut gemeinten Worte und der bunten Bilder zu tun. Nicht bei allen läuft es so gut wie bei Bahi, Raman und Abdulmoeen am Goslarer Ratsgymnasium. Die wollen in den Ferien fleißig Deutsch lernen und dann bald das Abitur machen, sagt Raman. Und dann in Goslar bleiben? "Wir wollen studieren, wie alle, an der Universität, aber in Goslar gibt es glaube ich keine Universität." Sie werden ihren Weg in Deutschland gehen. Auch wenn OB Junk hofft, dass sie bleiben: Bahi, Raman und Abdulmoeen können nicht die Probleme von schrumpfenden Kommunen wie Goslar lösen. Erstmal müssen die drei sowieso ihre eigenen Probleme angehen: Ihre Eltern sind noch in Syrien. Hier immerhin zeichnet sich allerdings eine Lösung ab: Bald schon sollen sie nachkommen, aus Syrien nach Goslar.
Von Bastian Brandau
In Goslar werden Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Der Bürgermeister der altehrwürdigen Stadt will so gegen den demografischen Wandel ankämpfen – und das Image von Goslar ein wenig aufpolieren.
"2015-07-23T19:15:00+02:00"
"2020-01-30T12:49:36.474000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/willkomenskultur-in-goslar-fluechtlinge-gegen-die-100.html
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Vorerst keine Friedensgespräche
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier warb in der Ukraine für ein Treffen der Kontaktgruppe. (picture alliance/dpa/Roman Pilipey) Im Ukraine-Konflikt wird es nicht noch an diesem Wochenende Friedensgespräche geben. Die prorussischen Separatisten teilten nach einer Videokonferenz der Ukraine-Kontaktgruppe mit, es sei keine Einigung erzielt worden. Gerungen werde aber weiter um ein Treffen noch vor Jahresende in Minsk. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte ein Treffen von Abgesandten der Beteiligten am Sonntag in der weißrussischen Hauptstadt Minsk in Aussicht gestellt. Dabei solle über die nächsten Schritte bei der Umsetzung der geltenden Waffenruhe beraten werden. Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machten sich für rasche neue Friedensgespräche mit der ukrainischen Regierung stark. Zur Kontaktgruppe gehören neben den Konfliktparteien die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie Russland. Das letzte Treffen hatte Anfang September stattgefunden. Damals wurden Schritte zu einer Konfliktlösung vereinbart, die bisher nicht umgesetzt sind. Steinmeier stellt Sanktionen infrage Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte bei einem Kurzbesuch in der Ukraine für Poroschenkos Vorschlag geworben. Steinmeier sagte, bei dem Treffen der Konfliktparteien sollte es um konkrete Vereinbarungen zum Gefangenaustausch, zur Einrichtung einer Pufferzone in der Ostukraine und um humanitäre Hilfe gehen, berichtet Jan Pallokat im DLF. Dies wäre gerade in den Tagen vor Weihnachten ein "Zeichen der Hoffnung". Anders als Angela Merkel beim EU-Gipfel zweifelt der SPD-Politiker an dem Erfolg der Sanktionen gegen Russland. In einem vorab veröffentlichten Gespräch mit dem "Spiegel" warnte er vor den Folgen der Strafmaßnahmen. Auf die Frage, ob er besorgt sei, dass Russland destabilisiert werde, falls Europa die Sanktionen nicht lockere, erklärte der Minister: "Die Sorge habe ich." Ukraine treibt Nato-Beitritt voran Gegen alle Warnungen Russlands trieb die Ukraine ihr Projekt eines Beitritts zur Nato voran. Präsident Petro Poroschenko brachte im Parlament einen Gesetzentwurf zur Aufhebung der Blockfreiheit der Ex-Sowjetrepublik ein. Der Text wurde auf der Internetseite der Obersten Rada veröffentlicht. Die Annahme des Gesetzes in der kommenden Woche gilt als sicher. Russland sieht in einem Beitritt der Ukraine zum westlichen Militärbündnis eine Gefahr für seine Sicherheit. (bor/ach)
null
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte in Kiew noch auf einen baldigen Termin gedrängt - vergebens: Vorerst kommt ein neues Krisentreffen der Ukraine-Kontaktgruppe nicht zustande. Voran schreiten dagegen die Nato-Bemühungen der Ukraine.
"2014-12-19T18:30:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:53.956000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-konflikt-vorerst-keine-friedensgespraeche-100.html
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Der Weihnachts-Box-Set-Konsum-Wahnsinn
Je kompletter, desto besser für den Musikliebhaber, oder? (Musik-CDs) Was haben Creedence Clearwater Revival, die Beatles, Abba und The Who gemeinsam? Richtig: Sie sind nicht mehr jung und sie brauchen das Geld. Und deshalb - deshalb sollen wir ihre Musik immer wieder kaufen. Und was eignet sich dazu besser als das Weihnachtsgeschäft? "Rolling Stone"-Redakteur Maik Brüggemeyer: "Also früher war's ja zu Weihnachten so, dass immer Best-Of-Platten rauskamen. Das ergibt aber keinen Sinn mehr, weil, wenn man die besten Lieder eines Künstlers haben will, dann geht man auf iTunes, dann guckt man, was sind die meistruntergeladenen, dann lädt man sich die runter und hat eine Best-Of. Also Compilations ergeben keinen Sinn mehr. Also muss man irgendwelche Superlative finden, die noch größer, noch wichtige sind als 'Best of'." Die Lösung dieser Misere: das Box-Set – gewichtige Gesamtwerke inklusive aller Outtakes, "The Complete Complete". Denn je kompletter, desto besser für den Musikliebhaber. Oder? "Und das führt dazu, dass die Boxen immer größer werden und dann auch häufig immer unsinniger werden." Drei bis vier Alben plus eine Raritäten-Scheibe Denn: Muss man wirklich jeden verworfenen Test-Mix eines Tracks besitzen? Muss man seine Lieblings-LP wirklich in Mono und in Stereo hören können? Muss alles, was man früher auf Vinyl hatte und sich dann auf CD kaufte, jetzt wieder als Vinyl-Box im Schrank stehen? Und dann sind da noch die Archiv-Veröffentlichungen – dieses Jahr ganz vorne weg Bob Dylan mit den "Complete Basement Tapes" und die Stones mit zwei Live-CDs. Am liebsten aber kauft der Fan eine Box mit drei bis vier regulären Alben und einer zusätzlichen Raritäten-Scheibe, die es natürlich nur hier gibt. Das doppelt sich dann so schön im Regal. So wie in diesem Jahr bei der Captian Beefheart-Box "Sun Zoom Spark". Den Preis "Aufgeblasenste Lieblingsplatte 2014" bekommt übrigens das dritte Album von Velvet Underground, das sich nun über vier CDs erstreckt: "Und wie das dann ist, an Heilig Abend ist man ganz stolz, dass man die hat, guckt sich das Buch an und all die Sachen, die dabei liegen, und dann hat man das nächste Jahr keine Zeit, das alles durchzuhören." Hören scheint bei Box-Sets zweitrangig Und das scheint dann auch der Sinn zu sein: Booklets angucken und sich freuen, dass man die Musik hat. Hören ist da zweitrangig. Und wer weiß, wo das noch hinführt. Wahrscheinlich sitzen wir in 20 Jahren als Rock-Opas und -Omas unter dem Baum und mischen uns unser Lieblingsalbum selbst zusammen – auf die Idee, die Spuren eines klassischen Albums einzeln zu veröffentlichen, ist die Industrie noch gekommen. Oder man bekommt ein neues Hörgerät mit mp3-Player, auf dem die Boxen gleich enthalten sind. Oder wie wäre es mit dem Box-Set "Keith Richards' schönste Raucherpausen während der Aufnahmen zu Exile On Main Street?" Oder "Sämtliche Gitarrensoli von Eric Clapton von 1972 bis 1978" auf 20 CDs? Oder - "Oder vielleicht einfach mal Ruhe. Stille. Stille. Stille Nacht ist ja auch schön, stille Nacht, heilige Nacht, lesen... Musikanlage... ausstellen."
Von Ralf Bei der Kellen
Von Freddy über Hermann van Veen bis zu Billy Idol und Sting - jeder Künstler, der etwas auf sich hält, hat schon ein Weihnachtsalbum aufgenommen. Mittlerweile hat jedoch die Tonträgerindustrie einen neuen Verkaufsschlager zu Weihnachten entdeckt: das Box Set - gewichtige Gesamtwerke inklusive aller Outtakes.
"2014-12-04T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:17:10.577000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musikindustrie-der-weihnachts-box-set-konsum-wahnsinn-100.html
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Dollar-Milliardäre werden mehr und reicher
Die Zahl der Milliardäre wächst (picture alliance / dpa / Xie Zhengyi) Der typische deutsche Milliardär stammt aus einer Familie, die auf viele Generationen ihrer Ahnen zurückblicken kann. Wer sich selbst in den exklusiven Club empor arbeiten will, der sollte sich in den Bereichen Konsum, Einzelhandel, Immobilien oder neuerdings auch Biotechnologie versuchen. Unter anderem das kann man in der Studie über die Milliardäre nachlesen. Vor allem aber stellen die Studienautoren aus der UBS-Bank und der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers fest, dass die Anzahl der Milliardäre und deren Vermögen stark gestiegen sind. Auch der Chefvolkswirt der Allianz, Michael Heise, hat sich die global steigenden Vermögen kürzlich genauer angeschaut. "Das hat damit zu tun, dass die Bewertung von Aktien und anderen Wertpapieren stark gestiegen sind. Aber die Menschen haben auch mehr zurückgelegt". In China bestehen gute Chancen Milliardär zu werden Steigende Börsenkurse, in die Höhe schießende Immobilienpreise und niedrige Zinsen haben das Vermögen von Milliardären im vergangenen Jahr um satte 19 Prozent steigen lassen – auf eine Rekordsumme von knapp 9 Billionen US-Dollar. Dieses Vermögen teilen sich der Studie zu Folge aktuell knapp 2200 Männer und Frauen auf der Welt. Vor allem in China stehen die Chancen gut, Milliardär zu werden: Chinas Superreiche sind mit einem Anstieg ihrer Vermögen um fast 40 Prozent Weltspitze – und auch die Anzahl chinesischer Milliardäre wächst rasant. Drei neue Milliardäre kamen 2017 pro Woche allein in Asien dazu – zwei davon aus China. Da es sich hierbei zum überwiegenden Teil um Selfmade-Milliardäre handelt, liegt der Schluss nahe, dass diese Milliardäre zumindest zum Teil einen starken Anteil an Innovationen haben. Ökonom kritisiert Ungleichverteilung Der Anstieg der Superreichen hat aber natürlich auch eine Kehrseite: Denn seit Jahrzehnten driftet die soziale Schere in den meisten Gesellschaften immer weiter auseinander. "Es ist nicht ganz einfach. Weil auf der einen Seite Selfmade-Milliardäre die Innovationstätigkeit widerspiegeln. Auf der anderen Seite wissen wir, dass gerade im Bereich Kapitalvermehrung, Kapitalanlage, Vermögende leichteren Zugang haben, ihr Kapital zu vermehren als weniger Vermögende - und das natürlich einen Multiplikator-Effekt auslöst in der Ungleichverteilung. Irgendwo muss man da ein Korrektiv einführen." Sagt der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Ludwig von der Universität in Frankfurt. Auch in Deutschland ist der Studie zu Folge übrigens die Zahl der Milliardäre gewachsen – von 117 auf 123. Damit stammt jeder fünfte Milliardär in Europa aus Deutschland.
Von Mischa Ehrhardt
8.900.000.000.000 Dollar für knapp 2.200 Menschen: Die Reichsten sind im vergangenen Jahr noch reicher geworden. Boomende Aktienmärkte und steigende Immobilienpreise ließen die Vermögen der Dollar-Milliardäre weltweit weiter steigen, vor allem in Asien.
"2018-10-26T13:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:17:26.756000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rekordvermoegen-dollar-milliardaere-werden-mehr-und-reicher-100.html
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Von Großmächten umgarnt
Luftaufnahme von Australien. (Google Maps) Unterwegs im Regierungsviertel von Canberra. Durch ein beschlagenes Autofenster zeigt Anti-Terrorexperte Athol Yates die etwas anderen Sehenswürdigkeiten der australischen Hauptstadt: Bombensichere Stahltore, tiefe Schutzgräben vor Regierungsgebäuden, schussfeste Bürofenster. Rund um das Parlament zieht sich eine hüfthohe, 40 cm dicke Betonmauer. Man könnte meinen, Staatsgeheimnisse wären hier gut aufgehoben. Doch ausgerechnet das ASIO-Hochsicherheits-gebäude, das brandneue Hauptquartier des australischen Geheimdienstes, ist so löchrig wie ein Schweizer Käse. Kein Kommentar der australischen Regierung. Was war passiert? Ende 2013 war es chinesischen Computerhackern bei einem Cyber-Angriff gelungen, an die Baupläne der neuen Agenten-Zentrale zu kommen. An Daten über die Verkabelung, die Raumanordnung und welche Geheimnisse wie und wo gespeichert werden. Womöglich wurden sogar Computerviren eingeschleust. "Peinlich, fahrlässig und gefährlich", fasst Bob Breen von der Abteilung für Verteidigungsstudien an der Universität Canberra den Vorfall zusammen. Das fast 500 Millionen Euro teure ASIO-Hauptquartier könnte genauso gut aus Glas sein. "Mit Hilfe der Pläne können Abhör- und weitere Cyber-Angriffe geplant werden. Die Chinesen wissen wo vertrauliche Gespräche stattfinden und wie diese Räume am besten zu verwanzen sind.” Das Parlamentsgebäude im Regierungsviertel der australischen Hauptstadt Canberra. (imago / Danita Delimont) Jeder wollte Antworten: Die Opposition, die Presse, Australiens Verbündete – aber niemand redete. Aus Geheimnisträgern wurden Geheimniskrämer. Für Tim Morriss von der Hacker-Spezialeinheit der australischen Polizei ist die chinesische Cyber-Attacke auf das Hauptquartier des australischen Geheimdienstes weder eine Überraschung noch eine Ausnahme. "Das China-Syndrom" "Die Cyber-Angriffe aus China häufen sich. Erst war es das Außenministerium, dann die Notenbank. Sogar an unseren Universitäten wird spioniert. Niemand ist sicher: Weder die Regierung, noch Unternehmen." Sicherheitsbehörden, Wirtschaftsverbände und die Medien nennen es "Das China-Syndrom". Seit der Öffnung der Volksrepublik strömen Menschen und Kapital nach Australien. Fast 150.000 Chinesen studieren an australischen Universitäten, das Amt für Auslandsinvestitionen schätzt, dass Milliarden Euro in China auf der hohen Kante liegen - bestimmt für Australien. Investitionen aus dem Ausland brauchen in Australien eigentlich erst eine Genehmigung, doch die Finanzbehörden sind unterbesetzt und überfordert. Denn immer mehr wohlhabende Chinesen wollen sich ihre eigene Scheibe Australien abschneiden. Egal wie und um jeden Preis. Monika Chu ist in ihrem Element, umgeben von Luxus. Für ihre Makler-Agentur führt sie – exklusiv, versteht sich - reiche Klienten aus China durch Sydneys teuerste Villen. "Das Geschäft geht ausgezeichnet. Australien wird bei Käufern in China immer beliebter. Ich wollte dieses Jahr Häuser im Wert von 100 Millionen Dollar verkaufen, jetzt bin ich schon bei 120 Millionen." Koffer voller Bargeld, Versteigerungen bei denen nur Mandarin gesprochen und mit Hilfe von Strohmännern geboten wird. Sydneys und Melbournes Immobilienmarkt ist Wildwest für Millionäre aus Fernost. Einheimische bleiben oft außen vor. Ausländer dürfen in Australien nur neu gebaute Appartements oder Häuser besitzen, nicht aber bereits existierende. Doch Kaufen ist eine Sache, darin leben eine andere. Viele neue Wohnungen in Melbourne und Sydney stehen leer. "Das ist Geldwäsche", meint John Schmidt von der Investitionsagentur Austrac. Die Besitzer in China nutzten die Immobilien um ihr Vermögen in Australien zu parken. "Australien hat eine stabile Wirtschaft. Schmutziges Geld wird da gewaschen, wo es geregelte Finanzsysteme und einen Rechtsstaat ohne böse Überraschungen gibt. Und Australien ist ein solches Land." Sind es nicht Immobilien, dann ist es Infrastruktur: Mautstraßen, Stromnetze oder Kohleminen – und immer wieder Farmland. Je tiefer chinesische Investoren in die Tasche greifen, desto öfter wird selbst Australiens Tafelsilber meistbietend verscherbelt. Kein Wunder, dass chinesische Investoren längst auch Schlachthöfe, Molkereien, verarbeitende Betriebe und Hafenanlagen kaufen oder pachten. Sogar Australiens strategisch wichtigste Anlegestelle hoch im Norden, an der der Spitze des Kontinents ist in chinesischer Hand. Aus Geldgier die nationale Sicherheit aufs Spiel setzen Es ist ein ruhiger Morgen im Hafen von Darwin. Da wo sonst Bodenschätze, Getreide oder Lebendvieh verladen werden, hat nur ein Kreuzfahrtschiff angedockt. Am anderen Ende des Piers liegt eine Fregatte der australischen Marine. "Verglichen mit Sydney oder Melbourne sind wir ein kleiner Fisch", gesteht Hafenmeister Terry O‘Connor, aber Darwin ist Australiens Tor nach Asien. "Darwin liegt strategisch günstig – von hier aus ist es nicht weit nach Singapur, Indonesien und die anderen asiatischen Ballungszentren. Nördlich von uns leben Milliarden von Menschen. Von Darwin aus ist es ein Katzensprung in die asiatischen Märkte und umgekehrt." O’Connor hat seit sechs Monaten einen neuen Chef. Die Staatsregierung in Darwin suchte einen finanzkräftigen Betreiber für den Hafen: 99 Jahre Pacht für 350 Millionen Euro. Den Zuschlag bekam "Landbridge", ein chinesisches Infrastruktur-Unternehmen mit Verbindungen zur kommunistischen Führung in Peking. Weder die Finanzaufsichtsbehörde noch das Verteidigungsministerium protestierten. Peter Jennings vom Institut für Strategiefragen in Canberra aber hat Bedenken. Australiens wichtigste Handelsroute nach Fernost und der nördlichste Heimathafen der australischen Marine würden nun über Jahrzehnte von den Chinesen kontrolliert. Jennings wirft den Verantwortlichen vor, aus nackter Geldgier die nationale Sicherheit aufs Spiel zu setzen. "Niemand weiß, welche Folgen dieses Geschäft haben wird. Das hätten wir vorher überlegen sollen, bevor wir 99 Jahre Nutzungsrechte für den Hafen abgeben. Egal, was wir wirtschaftlich oder militärisch dort machen – nichts wird den Chinesen verborgen bleiben. Denn die kommunistische Partei kann nach Belieben die Geschäfte chinesischer Unternehmen im Ausland zu ihrem Zweck nutzen. So funktioniert China nun einmal." Australien steckt in einem Dilemma. China ist der größte Handelspartner und die USA sind der wichtigste militärische Verbündete. In Darwin liegen die Prioritäten beider Großmächte in der Region nur ein paar Kilometer weit auseinander. Die Vertreter der Pazifik-Anrainer bei den letzten Verhandlungen über das TTP-Abkommen in Atlanta 2015. (picture alliance / dpa) Frühsport in der Robertson-Kaserne, nicht einmal 15 Autominuten vom Hafen entfernt. Die Soldaten sind US-Marines, die dort seit fünf Jahren zusammen mit australischen Truppen für Fronteinsätze trainieren. Mehr als 1200 Marines sind in Darwin stationiert, bald sollen es doppelt so viele sein, denn das Pentagon überlegt zusätzlich B1-Bomber, Tank- und Überwachungsflugzeuge zu schicken. "Nicht als Zeichen der Stärke", meint der australische Verteidigungsexperte Hugh White, sondern als symbolische Geste der Solidarität. Der designierte US-Präsident will TPP-Abkommen aufkündigen "Die US-Amerikaner wollen China und der übrigen Welt zeigen, dass Australien beim Tauziehen um die Vorherrschaft im Südpazifik an ihrer Seite steht. Die USA sehen den wachsenden Einfluss Chinas in der Region und in Washington macht man sich Sorgen, dass Australiens Wirtschaft zu sehr von den Chinesen abhängig ist." Australien war gerade dabei sich wirtschaftlich mehr von China abzunabeln. Mit elf weiteren Ländern hatte man die Trans-Pazifische Partnerschaft, kurz TPP, ratifiziert – ein Freihandelsabkommen von Pazifikanrainern, darunter die G7-Staaten USA, Kanada und Japan aber auch kleinere Länder wie Brunei oder Singapur. Staaten, die für fast 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung stehen, wollten gemeinsam den Handel im Pazifikraum ankurbeln – ohne China. Doch seit den US-Wahlen ist die Vereinbarung nicht mehr das Papier wert auf dem sie geschrieben steht. Der designierte US-Präsident hat versprochen das TPP-Abkommen an seinem ersten Tag im Amt aufzukündigen. Mit Donald Trump im Weißen Haus befürchtet Philipp Lowe rote Zahlen. Australiens oberster Währungshüter hält 45 Prozent Zölle auf chinesische Importe, wie von Trump angekündigt, für untragbar. Denn wenn sich die Chinesen revanchierten, wäre es mit dem Export-Boom von australischen Bodenschätzen nach China vorbei. "Ein Rückzug aus offenen Handelbeziehungen hätte katastrophale Folgen. Das wäre verheerend für die Weltwirtschaft und für die Australiens." Während die australische Regierung zu retten versucht, was von der Trans-Pazifischen Handels-Partnerschaft noch zu retten ist, weiß niemand in Canberra, wie die Rolle der USA im Südpazifik unter Präsident Trump aussehen wird. Barack Obama wollte eine Annäherung an Asien. Der Slogan im Trump-Lager aber ist: "Amerika zuerst". Peter Jennings vom Institut für Strategiefragen in Canberra glaubt, dass die USA künftig mehr vom Alliierten Australien verlangen werden als nur, wie bisher, im Gleichschritt mitzumarschieren. China setzt vor Australiens Haustür auf Scheckbuch-Diplomatie "Ich denke Australien wird einen Anruf aus Washington bekommen, in dem uns die USA dazu auffordern das Seerecht des freien Schiffsverkehrs im südchinesischen Meer zu testen – oder im Klartext: Patrouille zu fahren. Unsere Regierung sagt selbst, dass der Gebietsstreit dort auch Konsequenzen für Australiens Sicherheit hat. Trotzdem haben wir uns bisher darum gedrückt uns einzumischen, denn Präsident Obama war anderweitig beschäftigt." Während Peking beim Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer ungeniert mit dem Säbel rasselt, setzt China vor Australiens Haustür auf Scheckbuch-Diplomatie. Ob in Fiji, Papua Neuguinea oder Samoa: Durch Kredite und Großprojekte für kleine Inselstaaten kaufen sich die Chinesen in der Südsee immer mehr Einfluss und Respekt – auf Kosten Australiens. Blick auf Apia - Samoa (picture alliance / Karl-Heinz Eiferle) Morgens in Apia. Jeden Wochentag marschiert das Polizeiorchester in schneeweißen Helmen und kniefreier Uniform durch die Hauptstadt Samoas und hisst punkt acht Uhr die Nationalflagge – direkt vor dem Regierungsgebäude. Darin sind Samoas Verwaltung und Ministerien untergebracht. Finanziert und gebaut aber haben den sechsstöckigen Betonklotz die Chinesen. Genau wie das neue Hallenbad, den modernen Sportkomplex und bald kommt ein weiterer 80 Millionen Euro-Regierungsbau dazu. Samoas Staatschef Tuialepa Sailele hat damit kein Problem. Australien ist für sein Land und auch für die anderen Inselstaaten im Südpazifik der große Bruder, China aber ist der reiche Onkel aus Übersee. "Ich höre immer wieder laut und deutlich, dass vor allem Australien sich um den wachsenden Einfluss Chinas in der Südsee Sorgen macht. Aber die Chinesen helfen uns – nicht die Amerikaner. Vor fünf Jahren haben sie uns Staatsschulden in Höhe von 80 Millionen US-Dollar erlassen.” Jahrelang ging es bei Chinas Finanzhilfen im Südpazifik um Verbündete gegen die Anerkennung Taiwans oder um den Zugang zu Rohstoffen: Kupfer, Zink und Nickel aus Papua Neuguinea, Holz von den Solomon Inseln, Mangan und Kobalt vor Tahiti. Dann verdoppelte China den Warenexport in die Region. Doch die australische Politologin Jenny Hayward-Jones ist sicher, dass Peking weit mehr als nur wirtschaftliche Interessen im Südpazifik hat. Infrastrukturprojekte werden mit chinesischem Geld abgewickelt "Im südpazifischen Raum gibt es 14 unabhängige Inselstaaten und jeder hat eine Stimme bei den Vereinten Nationen. Papua Neuguinea mit sieben Millionen Einwohnern genauso wie Niue mit nur tausend. Diese Länder haben winzige Außenministerien und es ist leicht ihnen ihre Unterstützung bei den Vereinten Nationen abzukaufen." Samoa ist kein Einzelfall: Ein Kongresszentrum in Vanuatu, ein Universitäts-Campus in Papua Neuguinea, Straßen, Brücken und ein Stadion in Fiji oder auch nur Motorräder für das Kabinett der Cook Islands: China kleckert nicht, es klotzt – nur Australien gibt mehr Entwicklungshilfe im Südpazifik. Canberra setzt auf Zusammenarbeit vor Ort, Peking auf Alleingänge. Infrastrukturprojekte werden mit chinesischem Geld, mit chinesischen Arbeitern und Materialien schlüsselfertig abgewickelt. Samoas Wirtschaft geht dabei leer aus, protestiert Papu Va’aii, ein Politiker der regierungskritischen Tautua-Partei. Er vermutet, dass dabei eine Hand die andere wäscht. "All die Kredite, die Samoa von China bekommt, müssen wir in der Regel nicht zurückzahlen. Es wird nicht offen ausgesprochen, aber wir alle wissen, dass wir damit der chinesischen Regierung etwas schulden. Unser Volk denkt wir bekommen etwas geschenkt, aber nichts in dieser Welt ist umsonst. Gar nichts." Ein Drachentanz für die mächtigste Frau im Land. Australiens Außenministerin Julie Bishop ist Ehrengast eines Empfangs für eine chinesische Handelsdelegation in Sydney. Es wimmelt vor Lobbyisten und Dolmetschern. Draußen vor dem Luxushotel wird gegen den Ausverkauf australischen Farmlands protestiert und dass chinesische Immobilien-Spekulanten nur die Wohnungspreise hoch trieben. Drinnen stehen Wirtschaftsbosse Schlange, um mit der Ministerin zu sprechen. Julie Bishop lächelt verbindlich und bleibt unverbindlich. Denn sie weiß, dass Australien Peking und Washington bei Laune halten muss. Australiens Außenministerin Julie Bishop und Chinas Pendant Wang in Peking am 17. Feb. 2016 (imago / Kyodo News) "Wir werden diese konkurrierenden Interessen unter einen Hut bekommen, so wie das andere Länder auch tun. Wir sind nicht dabei unsere Identität an China zu verscherbeln oder unsere westlichen Freunde zu verkaufen. Australiens Wirtschaft braucht Investitionen aus dem Ausland. Aber darum kümmern wir uns genauso verantwortungsvoll wie um die Allianz mit den Vereinigten Staaten." Frieden im Südpazifik gewährleisten Australien steckt in einer historischen, außenpolitischen Zwickmühle. Der wichtigste Handelspartner ist zugleich der größte strategische Rivale des engsten Verbündeten. China hat Australien wohlhabend, die USA haben es sicher gemacht. Beide Großmächte wollen die strategische Kontrolle im Südpazifik und beide wollen Australien an ihrer Seite. Sich entweder für China oder die USA zu entscheiden, wäre so töricht wie naiv, warnt Verteidigungsexperte Hugh White. Australien wird wohl nichts anderes übrigbleiben als den Ringrichter zu spielen. "Australien muss aktiv und diplomatisch zwischen den Supermächten vermitteln. Nur ein Nebeneinander wird den Frieden im Südpazifik gewährleisten. Die Amerikaner müssen in Asien präsent bleiben und China muss damit einverstanden sein. Das funktioniert aber nur, wenn beide Seiten zu großen Kompromissen bereit sind."
Von Andreas Stummer
Australien steckt in einer außenpolitischen Zwickmühle: China hat den fünften Kontinent wohlhabend gemacht, die USA sorgten für die Sicherheit. Beide Staaten wollen die strategische Kontrolle im Südpazifik - und Australien an ihrer Seite. Das Buhlen um Down Under könnte den Frieden im Südpazifik gefährden.
"2016-12-18T18:40:00+01:00"
"2020-01-29T19:09:07.583000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/australien-von-grossmaechten-umgarnt-100.html
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Wenn die Schleuse zum Konzertsaal wird
Doppelschleuse bei Hohenwarthe: Wenn die Excellence Coral einfährt, wird der Wasseraufzug zum Open-Air-Konzertsaal. (picture alliance / dpa / Peter Förster) "Ja ne, wunderschöne gute Nachmittag..." Ungewohnte Töne auf dem Schwielowsee bei Potsdam. Standesgemäß begrüßt Anna ihre Gäste heute, schließlich stammt die bunte Kreuzfahrt-Gemeinde an Bord der Excellence Coral zum ganz überwiegenden Teil aus der Alpenrepublik. "Wanderungen durch die Mark Brandenburg!" "Wasser"-Wanderungen sind es diesmal gewissermaßen – unterwegs auf einem schwimmenden Hotel. Und wer könnte besser solche Touren begleiten als die 37-jährige Anna von Schrottenberg? Die Schauspielerin wurde in Zürich geboren, lebt und arbeitet aber schon seit Jahren in Berlin. Ganz von selbst bringt sie damit ein besonderes Faible für Theodor Fontane und seine ländlichen Exkursionen mit. Einmal in jener Landschaft zu lesen, den der Text beschreibt, das macht für sie einen ganz besonderen Reiz aus. Und so bringt Anna die knapp 90 Gäste auf dem Sonnendeck der Excellence Coral in die richtige Stimmung, als das Schiff ganz langsam auf das Örtchen Petzow zusteuert. Blau der Himmel, in fettem Grün präsentiert sich das Schilf am Ufer, dazwischen schimmert gelb die Fassade des kleinen Schlösschens, das Fontane einst beschrieb. Die Coral kommt gerade aus Prag, ist auf dem Weg nach Berlin, dem Ziel des einwöchigen Törns. Mit seinen 82 Metern Länge und dem Tiefgang von nicht einmal anderthalb Metern gehört sie zu den wenigen Kabinenschiffen, die sich in die flachen Gewässer rund um Berlin vorwagen können. Aber was wäre Fontane ohne die Musik seiner Zeit? Der Schweizer Reiseveranstalter Mittelthurgau verspricht akustische und literarische Genüsse gleichermaßen. Ehe das Schiff am späteren Abend auf den Tegeler See fährt, steht noch ein Höhepunkt auf dem Programm: Burkhard von Puttkamer, Opernsänger aus Berlin, lädt zum Konzert in die kleine Schinkel Kirche von Petzow. Der Kapitän aus Tschechien manövriert seine Lady vorsichtig an den eigentlich viel zu kleinen hölzernen Steg vor Schloss Petzow. Eine gute Stunde dürfen sie hier festmachen, die meist älteren Herrschaften schlendern hinauf zur malerisch auf einem kleinen Hügel gelegenen Backsteinkirche. Ein paar Minuten nur dauert der Weg durch den 1838 vom preußischen Landschaftsgärtner Peter Joseph Lenne anlegten Park mit seinen riesigen Buchen und Eichen, die wohl einiges aus der Zeit der Romantik erzählen könnten. Gemütliches Schiff mit Konzerten Der 49-jährige Bariton startet ein ambitioniertes Programm. Schumanns "Dichterliebe", gewissermaßen die musikalische Interpretation der Gedichte Heinrich Heines, haben von Puttkamer stets fasziniert. Wo wenn nicht hier könnte es gelingen, für dieses deutsche Liedgut zu begeistern? Wann, wenn nicht im Rahmen einer Kreuzfahrt, bei der doch Ruhe und Besinnlichkeit, die Langsamkeit des Reisens, oberste Devise ist? Andrea Marie Baiocci begleitet von Puttkamer durch den Abend. Die Pianistin stammt aus den USA. Auch sie liebt es, an ganz besonderen Orten aufzutreten, und Andrea gerät ins Schwärmen, als sie auf den für eine Klavierspielerin wohl ausgefallensten aller Orte zu sprechen kommt, die Schleuse. Zum Abschluss seines Kirchen-Konzerts macht von Puttkamer Werbung in eigener Sache, für seinen Auftritt in einer Schleuse. Es ist wohl absolut das Verrückteste, was sich dieser Musiker je ausgedacht hat: Ein Schiff fährt in eine Kammer ein, ein Flügel wird per Kran an Deck gehievt, und Sänger und Pianistin verwandeln diesen engen Schlauch mit seinen bis zu 30 Metern hohen Mauern in einen gewaltigen Konzertsaal ohne Dach, aber mit gewaltiger Akustik. Ich werde von Puttkamer auf seiner ungewöhnlichen Reise begleitet, die Schleuse Hohenwarthe bei Magdeburg verspricht besonderen Musikgenuss, dort wo die Schiffe von Berlin kommend über die Elbe gehoben werden, um den Fluss in Richtung Mittellandkanal über eine gewaltige Trogbrücke zu queren. Doch auch die gewaltigen Schleusenkammern des Main-Donau-Kanals gehören zu den ungewöhnlichen Bühnen des Sängers. Erst einmal aber geht es nun Richtung Berlin, der Reiseleiter führt mich über sein Schiff. Gemütlich ist´s, das Zimmer mit Fluss- und Seeblick, wer in der Kabine im Bett liegt, sieht Natur und Kultur ganz gemächlich an sich vorüberziehen, gerade blicken wir auf das Gemünd von Caputh, Einstein lebte und segelte hier einst, wenig später passieren wir Potsdam, die Glienicker Brücke, havelaufwärts geht es bis nach Tegel, so lässt es sich reisen! "Man sitzt an Deck, man sieht die Landschaft im Fußgangertempo an sich vorbeigleiten, man entschleunigt, das haut einen um!" Der, der da so begeistert von einer Flusskreuzfahrt erzählt, hat sein halbes Leben auf schwankenden Planken verbracht. Peer Schmidt-Walther ist ein alter Seebär, von Jugend an fuhr der 70-Jährige zur See, auf der Gorch Fock, auf Frachtern, auf Kreuzfahrtschiffen. Viele Bücher hat er geschrieben, als wir uns auf einen Wein – natürlich an Bord - treffen, blättert er in seinem jüngsten Werk "Flussschiffreisen", gerade erschienen im Köhler-Verlag. Wo ist dieser Mann nicht überall per Schiff hingereist... "Ich denke gerade an die kleine Liberte, die hier auch heute in der Nähe ist, mit dem Schiff kann man sogar bis nach Celle fahren, die Aller rauf, wir sind die Warthe gefahren, wir sind die Netze gefahren – also in polnische Gewässer – man kann von Berlin sogar bis nach Danzig fahren, nicht außen rum, sondern über Flüsse und Kanäle, das ist ein ganz entscheidender Trend, weg von den Massenprodukten, ich sage mal Rhein oder Donau, wo also bis zu 500 Schiffe auf dem Fluss herumfahren... man bekommt Appetit, an Bord zu gehen... Apropos Appetit! Hier ist ein schöner Beitrag – Essen gehört dazu – weiße Lady mit klassischen Rezepten, also wer zum Beispiel gerne gut isst, dem sei die Classic Lady empfohlen, die über die masurischen Seen fährt – da heißt es eben ostpreußische Küche wie bei Oma, schöne Königsberger Klopse, Barsch auf polnische Art, also mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen!" Spaß an der Schleuse Gourmet-Reisen sind ein Renner auf den Flusskreuzfahrtschiffen, und natürlich gibt es auch viele, die prominente Musiker an Bord holen, das kennt auch Peer Schmidt-Walther, aber bei der Schleusenkonzert-Kultur, da muss selbst er passen. Ehe Burkhard von Puttkamer in einer solchen Schleusen-Kammer die Begegnung von Technik und Kultur vollzieht und im Frack auf die kleine Bühne eines Schiffes steigt, verbringt er mit seinem Team oft viele Stunden im Auto. Von Berlin aus machen wir uns auf den langen Weg zum Main-Donau-Kanal. Zwei Auftritte auf der Excellence Queen, dem deutlich größeren Schwesterschiff der Coral sind gebucht. Übernachtung in Riedenburg im Altmühltal, in einigen Stunden wird die Excellence Queen auf ihrem Weg nach Passau, den Berg mit der Rosenburg passieren, in Sichtweite wird gerade ein Flügel in einen Lastwagen verladen, dazu schwere Stromkabel, Lautsprecherboxen, Mischpulte, Stative... Dorothea, Ringo, James und Martin machen sich an die Arbeit. Alle tragen schwarze Hosen und schwarze T-Shirts, darauf in weißem Schriftzug "Zwischenakt – Bühne und Konzert" - so nennt sich das Team des Burkhard von Puttkamer. Heute Abend wird die Excellence Queen auf ihrer Reise von Straßburg nach Passau ganz in der Nähe in der Schleuse Hilpoltstein zum Konzert stoppen. Per Kleintransporter ist der Flügel inzwischen von Brandenburg hier her geschafft worden, Lautsprecher, Mischpulte, Kisten mit Stativen, Stromkabeln und Scheinwerfern werden verladen, und dann wird noch einmal gefachsimpelt, denn allein das Wetter will hier nicht wirklich mitspielen "Selbst wenn es in Strömen regnet, gehen wir darauf aufs Deck, ich stell mich dahin mit Frack und Regenschirm und singe denen drei Arien mit Klavier-Playback. Ich würde wahrscheinlich Schubert der "Wanderer" singen, vielleicht noch Wagner, um diese Schleusenakustik zu zeigen. Das Ganze findet auf dem Vorschiff statt, die Gäste kriegen keine Bestuhlung, sie werden bei Regen stehen mit Schirm, aber sie haben das Gefühl, der Schleusensänger in der Kammer, während das ganze Ding da hochfährt." Es schüttet wie aus Eimern, als wir uns auf den Weg zum Schiff machen, an ein Open-Air-Konzert dürfte heute wahrlich nicht zu denken sein. Burkhard von Puttkamer lässt sich aber nicht beirren, eine Regenvariante hat er längst im Kopf. Und dann erzählt der Bariton erst einmal, wie er auf seine verrückte Idee gekommen ist." "Es war wirklich so, dass ich mit einem Schiff unterwegs war mit dem Theaterleiter des Stadttheaters Minden, wo ich engagiert war damals für eine Oper, und am Schleusenrand stand die Wasserschutzpolizei, da meinte er zu mir, Burkhard sing doch mal ein bisschen, wir müssen uns gut stellen mit der Polizei, dann habe ich da eine Arie gesungen und habe gedacht: Hola! Das Klingt ja gar nicht schlecht! – Was ist das Besondere an der Schleusenkammer? – Die Schleusenkammer ist gefährlich, sie müssen sich vorstellen, man schaut in eine Schlucht aus Stahlbeton, die 190 Meter lang ist, das ist ungefähr dreieinhalb mal so große wie die Semper-Oper in Dresden vom Raumvolumen her. Die Gefahr ist eben, dass man denkt, jetzt muss ich Gas geben, diese Psychologie der Größe des Raumes und des trotzdem unangestrengten lyrischen Gesangs, das ist das, was man eigentlich lesen muss. Das besonders Schöne ist, dass man einen leichten Nachhall aus 190 Meter hat, das kommt aber nur einmal zurück, das ist also kein Dauerecho, und das gibt dem Ganzen eine unglaubliche räumliche akustische Tiefe! – Jetzt haben wir nicht darüber gesprochen, wie der Name 'Zwischenakt' zustande gekommen ist? – Ja, der Zwischenakt kommt aus dem 17./18. Jahrhundert. Es sind kleine Einsprengsel, unterhaltsame Stücke, die man zwischen den großen Akten hineingegeben hat, und so sehe ich uns auch. Wir sind ein bisschen Liederabend, wir sind ein bisschen Konzertsaal, das Magische ist ja eigentlich, und das ist schon mystisch, dass dieser Konzertsaal nach dem Konzert unter Zigtausenden Litern Wasser versinkt. Wagner hatte diese Vision, dass man eigentlich nach dem Ring das ganze Festspielhaus abbrennen müsste, und dann ist da noch ein bisschen Rauch in der Luft und dann ist das vorbei. Ein bisschen hat es so etwas. Das Wasser ertränkt das Schleusenkonzert unter uns, und die Erinnerung bleibt eigentlich unter Wasser..." Spaß an der Schleuse hat auch der erste Mann an Deck. Kapitän Christoph Hug lässt das Schiffshorn beeindruckend ertönen, um mir die besondere Akustik vor Augen zu führen. Der Schweizer hat viel übrig für die kleine Kammermusik, erst einmal aber steuert er seine Queen nun wieder einmal behutsam in eine Schleuse hinein. Mehr als 50 sind zu passieren auf dem Weg vom Rhein zur Donau. Auch Chansons zu hören 11,40 Meter ist seine Königin breit, zwölf Meter misst die Schleusenkammer. Mit dem Funkgerät in der Hand steht Hug auf der Brücke, von unten geben ihm seine Matrosen zentimetergenau die Abstände zur Wand durch. Für Martin Kupski wird es jetzt langsam ernst. Wenn sein bestes Stück auf Reisen geht, dann ist der Klavierbauer aus Minden meist dabei. Ihre Ohren werden Augen machen, ist sein Motto ... und auf der Excellence Queen kommt so mancher aus dem Staunen nicht mehr heraus. Gerade ist sein Steinway-Flügel per Kran an Bord gehievt worden, jetzt macht sich Kupski daran, das schwarz-glänzende, 90.000 Euro teure Instrument für ein Konzert in der Schleuse zu stimmen. Wieder machen sich achteraus bedrohliche dunkle Wolken breit, wer nach vorn über das Sonnendeck der Excellence Queen schaut, kann immerhin ein paar blaue Flecken am Himmel ausmachen. Heute endlich soll es dieses ganz besondere Konzert in der Schleuse geben, Bariton Burkhard von Puttkamer macht sich gerade mit seiner Pianistin Dunja Robotti an die Generalprobe. "Martin wischt sich den Schweiß von der Stirn, kurz durchschnaufen." "Das Wetter scheint tatsächlich mitzuspielen, doch dem Team von Zwischenakt rennt die Zeit davon... eigentlich sollte es gleich nach dem Abendessen losgehen, doch selbst der Konzertbeginn um 22 Uhr, den der Reiseleiter gerade angekündigt hat, ist nicht mehr zu halten. Kreuzfahrtsschiff-Stau vor der Schleuse, es wird noch zwei Stunden dauern, ehe der Konzertsaal erreicht ist, Fachsimpeln mit dem Kapitän, Planänderung! Der Abend soll während der Fahrt erst einmal im Salon beginnen, der Flügel muss mit dem Bordkran nach unten geschafft werden." Kapitän Hug ist für solche Aktionen zu haben, sofort macht er sich mit seinem Team daran, den Flügel an den Haken zu nehmen, das teure Gerät muss außen an der Bordwand vorbei runtergeschafft werden in den Salon. Es dauert keine halbe Stunde, ehe Burkhard von Puttkamer seinen ersten Auftritt im Innern des Schiffes beginnen kann. Gemütlich ist es unter Deck, jeder Tisch besetzt, Sekt, Wein und Bier werden gereicht. Kein Ort für Classic von Beethoven oder Schumann, statt Opernarien, mit denen er in der Schleusenkammer eigentlich beginnt, setzt von Puttkamer erst einmal auf Chansons aus den Wilden Zwanzigern. Der Saal ist voll, der Gast zufrieden, meint Reiseleiter Maik, auch wenn das versprochen Konzert zwischen Schleusenmauern erst einmal nicht stattfindet. "So schnell lässt sich ein Burkhard von Puttkamer nicht entmutigen, und die Gäste auch nicht! Max Meier aus der Nähe von Zürich ist regelrecht aus dem Häuschen." Kaum fassbar, was sich in Deutschlands Schleusenkammern um Mitternacht so abspielt, insbesondere in der von Bachhausen am Main Donau. Als die Queen endlich kurz nach 24 Uhr in ihre Semper-Oper einfährt, ist der Flügel bereits wieder aus dem Salon mit dem Kran auf das Deck gebracht worden. Oben an den Rändern der Kammer, 20 Meter über dem Wasser, machen sich die Leute des Zwischenakt-Teams daran, armdicke Stromkabel aufs Schiff zu lassen, die Queen wird gleich abgeschaltet und elektrisch von Land versorgt, kein Motorengeräusch, kein Kühlschrank, keine Klimaanlage, darf die besondere Akustik der Kammermusik stören. Bei den Recherchen zu diesem Beitrag nächtigte der Autor zweimal kostenlos auf der "Excellence Coral".
Von Frank Capellan
An Bord der 'Excellence Coral' gibt es Kreuzfahrten mit hohem Kultur-Faktor. Ob zu den Versen von Fontane oder zu Liebesliedern von Schubert, Schumann und Brahms – zu bildreichen Worten und malerischen Klängen durch charakterstarke Landschaften zu fahren, ist ein Genuss.
"2015-08-23T11:30:00+02:00"
"2020-01-30T12:55:24.976000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/musik-und-literatur-auf-binnenschiffen-wenn-die-schleuse-100.html
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Zum Stand der Inklusionsdebatte in Deutschland
Regelschulen schlagen Alarm, weil Inklusion von ihnen oft zum Nulltarif erwartet wird (picture alliance / Frank May) "Mir geht’s am meisten um Gerechtigkeit. Dass andere Kinder auch eine Chance haben, egal welches Kind es ist. Dass es auch die gleiche Chance bekommt, wie jeder andere auf eine normale Schulausbildung, sodass sie in ihrer Karriere in Zukunft auch eine Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt haben können. Und ich bin auch kein Einzelfall. Es gibt viele andere Schüler so wie ich." Erklärt Nenad Mihailowitsch - heute 22 Jahre alt - in einer Prozesspause vor dem Kölner Landgericht. Als ehemaliger Förderschüler klagte er 2017 gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen entgangener Bildungschancen. Es ist eine Musterklage, einmalig bislang in der Bundesrepublik. Hier klagt jemand, der aufgrund einer Fehldiagnose zum Förderschüler wurde. Noch in seiner Grundschule in Bayern erfolgte die verhängnisvolle Weichenstellung. Nenad erinnert sich: "Wie alt ich da war, weiß ich nicht, aber ich war definitiv ein kleines Kind. Das Problem bei mir war, ich ging auf eine normale Grundschule. Aber da ich kein Deutsch konnte, weil bei mir zu Hause nur Romanes gesprochen wurde, ich konnte kein Deutsch, worauf die dachten: Er macht nicht mit, meldet sich nie, macht keine Hausaufgaben, bleibt immer nur ruhig - ist der vielleicht geistig behindert? Machen wir einen Test!" Versäumnisse in der Förderschule Ohne Dolmetscher, ohne Übersetzer wurde der IQ-Test in der Grundschule durchgeführt. "Und da hat sich rausgestellt: Ich hab einen IQ von 59. Und dann haben die mich auf eine Schule eingestuft für die Schule geistige Entwicklung. "Zu der ersten Diagnose muss man natürlich sagen - mit seinen eigenen Worten - er verstand nur 'Bahnhof'. Er konnte kein Deutsch." Hält dazu die Professorin Irmgard Schnell fest, die vom Gericht bestellte Gutachterin im Prozess. "In jedem Test gibt es Aufgaben, die, wenn sie im Kindergarten mit Material zu tun hatten, wie Puzzle, Bauklötzen und Lego und so weiter, dass sie da ganz andere Voraussetzungen haben. Er verstand die Sprache nicht. Er hatte kein Aufgabenverständnis, weil er nicht im Kindergarten war und von daher ist ja der IQ mit 59 sowieso sehr fraglich." "Aber da die ja schwarz auf weiß etwas haben, das besagte, ich sei geistig behindert, dachten sie, ich wäre ernsthaft geistig behindert." Zu Unrecht auf eine Förderschule für geistige Behinderung geschickt: Nenad M. (dpa / Oliver Berg) Doch ein aktueller IQ-Test sowie der mittlerweile nachgeholte Hauptschulabschluss lassen keinen Zweifel: Nenad hat keine geistige Behinderung. Punkt für Punkt zeigt denn auch das Gutachten die Versäumnisse der zuständigen Sonderpädagogen an der Förderschule, zu der Nenad noch in der Grundschule wechseln musste. Sie hätten die Diagnose geistige Behinderung regelmäßig hinterfragen müssen; hätten Förderpläne entwickeln und deren Wirksamkeit prüfen müssen. All das unterblieb. Das Gericht erkannte darin schwere Pflichtversäumnisse der Förderschule, die nachteilig für den Bildungsweg des Jungen wurden. Irmgard Schnell: "Die Feststellung des Förderbedarfs "geistige Entwicklung" ist ja nicht trivial. Das bedeutet ja die Zuschreibung eines Bildungsganges, der mit erheblichen Einschränkungen gegenüber anderen Bildungsgängen verbunden ist. Es gibt keine Fremdsprache. Man kann keinen Hauptschulabschluss machen. Das ist ja eine ganz konkrete Einschränkung der Bildungschancen und daher der Lebenschancen eines Kindes. Und das in einem einzigen Satz, einmal im Jahr festzuhalten, das leuchtet jedem Menschen ein, dass das eigentlich nicht geht." Kinder mit Multiproblemlagen Dasselbe Gericht, das vor Prozessbeginn noch den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt hatte, weil "keine Aussicht auf Erfolg der Klage bestünde", gab jetzt dem Kläger Recht. Das Land NRW muss Schadenersatz leisten. Und das System Förderschule muss erklären, warum es - gut ausgestattet mit Personal und Fördermöglichkeiten - elf Jahre lang den Fehler nicht sah. Irmgard Schnell, die pensionierte Sonderpädagogin und Professorin für Sonderpädagogik an der Goethe Universität Frankfurt, übt Kritik: "An vielen Stellen in den Zeugnissen, hatte ich das Gefühl, das Problem des Kindes sei, dass es nicht so geistig behindert ist, wie man sich das an einer Schule für geistige Behinderung vorstellt. Es gibt ein Bild von einem Kind. Und die Verpflichtung, den Kopf zu drehen und zu fragen: Ist das so? Ist das wirklich die richtige Schule für ihn? Diese Verpflichtung ist wirklich zu gering." Verbände von Eltern behinderter Kinder sowie zahlreiche weitere Betroffene, die angeben, dass es ihnen an ihrer Förderschule ähnlich ergangen sei, melden sich jetzt in den sozialen Medien zu Wort. Einige bereiten ähnliche Klagen wegen mangelhafter Diagnosen und unzureichender Förderpläne vor. Der Fall Nenad erinnert außerdem daran, dass insbesondere die "Förderschule Lernen" sozial selektiv ist. Conny Melzer, Professorin für Sonderpädagogische Grundlagen an der Universität Köln dazu: "Das scheint tatsächlich so zu sein, dass in den Förderschulen eher Kinder landen - also wirklich landen - aus Familien mit Multiproblemlagen: Armut, sozioökonomischer Status, also die ganzen verschiedenen Ausgangslagen, die bei uns in Deutschland durchaus zu einer Bildungsbenachteiligung führen, dass die Schülerinnen und Schüler in Förderschulen sind." Auch in Nenads Fall wurden die Etiketten "sozial schwach" und "bildungsfern" ein Teil der Diagnose. Eine Bildungsstudie des Verbandes der deutschen Sinti und Roma zeigt auf, dass Kinder aus Sinti- und Romafamilien mehr als zweimal so häufig auf die Förderschule festgelegt werden als andere Kinder. Fast jeder zweite dieser Schüler hat am Ende keinen Schulabschluss und damit nahezu keine Aussicht auf eine Berufsausbildung. So wie Nenad. Dass es zwischen den Diagnosen Lernbehinderung und "Normalbegabung" durchaus nicht trennscharf zugeht, weiß Conny Melzer, die angehende Lehrkräfte auf den Einsatz in Förderschulen und auf den inklusiven Unterricht an Regelschulen vorbereitet. "Nicht umsonst - jetzt nehme ich wieder die Förderquoten, also Förderquoten sind die Kinder, die einen Bedarf an Unterstützung haben, egal ob in der Inklusion, den Allgemeinschulen oder in den Förderschulen - da haben wir beispielsweise in NRW 7 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern 11 Prozent. Und das kann mir jetzt keiner sagen, dass es in Mecklenburg Vorpommern mehr Kinder mit Behinderung und mit Beeinträchtigung gibt. Sondern da scheint es unterschiedliche Kriterien zu geben, ab wann ist da ein Förderbedarf und ab wann nicht." Zahl der Kinder an Sonderschulen kaum gesunken Und doch werden - ganz so als gäbe es diese Unschärfen in der Diagnose nicht - Förderschulen in der öffentlichen Diskussion vor allem als Schonraum bezeichnet. Inklusion dagegen - also der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern wird überwiegend kritisch beurteilt. Der Deutsche Lehrerverband forderte kürzlich gar ein Stopp der Inklusion: Zu heterogen sei die Schülerschaft, zu schlecht die finanziellen Bedingungen, zu wenig vorbereitet die Lehrkräfte. Die Kritik ist nur zu berechtigt. Inklusion in einer Schule in Mannheim (picture alliance/dpa/Foto: Uwe Anspach) Die große Inklusionsskepsis trage aber auch zum Erhalt der Förderschulen bei, bilanziert in seiner aktuellen Buchveröffentlichung Hans Wocken, Professor für Sonderpädagogik an der Universität Hamburg. "Es wird viel geklagt über "zuviel" Inklusion und auch "schlechte" Inklusion. Wenn man sich aber die offiziellen Zahlen der Kultusministerien ganz genau anschaut, muss man zwei große Feststellungen machen. Die erste Feststellung besteht darin, dass die Anzahl der behinderten Schüler in Förderschulen in acht bis neun Jahren kaum zurückgegangen ist. Die ist um ganze 0.6 Prozent zurückgegangen." Kinder an Regelschulen werden "umetikettiert" An der Separation, also der Sonderbeschulung, also der Separation von Kindern mit besonderem Förderbedarf, habe sich in den letzten Jahren kaum etwas verändert, bemerkt auch die Monitoring-Stelle Inklusion des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin. "Das zweite Ergebnis besteht darin, dass der Anteil jener Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen sich nahezu verdreifacht hat. Wir hatten etwa um 2009 einen Anteil von inkludierten Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf von 12 Prozent. Wir liegen jetzt bundesweit ungefähr bei 36 Prozent." Dass die Anzahl an Kindern mit hohem Förderbedarf in kurzer Zeit derart hochgeschnellt sein soll, ist kaum anzunehmen. Hans Wocken erklärt das Phänomen so: So genannten "Problemkindern", "Risikokindern", Kindern, die im Sozialen oder beim Lernen Probleme haben, werde immer häufiger in den Regelschulen sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt. Bildungswissenschaftler beobachten seit Längerem geradezu eine "Umetikettierung" von Schülerinnen und Schülern an Allgemeinschulen - also an denen, die inklusiven gemeinsamen Unterricht machen. Für die Kölner Professorin Conny Melzer ergibt sich dieser Effekt aus den Rahmenrichtlinien. "Wenn ich jetzt Kinder habe in der Inklusion und ich weiß, ich kann einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung für die Kinder bekommen und bekomme dann zusätzlich noch Stunden, dann kann es durchaus sein, dass ich mal das ein oder andere Kind mehr in den Prozess reinbringe, um zusätzliche Unterstützung zu bekommen, was ich früher vielleicht nicht gemacht hätte, einfach weil es dann zusätzliche Stunden gibt." "Es gibt ja einen Wettbewerb der Bundesländer nahezu um diese sogenannte Inklusionsquote, also den Anteil der Kinder an allgemeinen Schulen mit sonderpädagogischem Förderbedarf." Ergänzt Prof. Hans Wocken, Mitglied der deutschen UNESCO-Kommission "Inklusion". Bildungspolitik belege gern mit den angeblich hohen Inklusionsquoten, dass etwas getan werde und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gelinge. Doch in Wahrheit seien die Länder unterschiedlich weit vorangekommen mit dem inklusiven Unterricht an der Regelschule. "Die Länder mit den höchsten Inklusionsquoten sind die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. In Bremen sind 80 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen. Das hört sich so an als hätten wir in Deutschland zumindest in einigen Bundesländern nahezu Vollinklusion! Ist nicht wahr. Also löbliche Ausnahmen sind die Stadtstaaten, Schleswig-Holstein und zum Teil auch Thüringen. Aber ansonsten ist die Separation nicht nur konstant geblieben, sondern in den süddeutschen Ländern sogar noch um 0,2 Prozent gestiegen. In Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz." Wie kann gute Inklusion gelingen? Durchaus vorstellbar, dass die vermeintlich hohen Inklusionsquoten wiederum für die aktuelle Unruhe unter Eltern sorgen dürften, und manche den Eindruck haben, ihre Kinder würden im Kreis der vielen Kinder mit Förderbedarf schulisch untergehen. Der öffentliche und der wissenschaftliche Diskus driftete hier immer weiter auseinander, stellt Professor Conny Melzer dazu fest. "Die wissenschaftliche Diskussion diskutiert nicht mehr, ob überhaupt Inklusion sein muss, sondern die Frage ist das "Wie". Wie können wir es gut umsetzen. Also wie gestalten wir ein inklusives System, wie gestalten wir den Unterricht. Und es gibt gute Schulen, die erfolgreich sind und es gibt Schulen, die sind nicht erfolgreich. Und die gibt es sowohl bei allgemeinen Schulen und es gibt die bei Förderschulen. Und das ist jetzt genau das, wo es um das "Wie" geht. Wie machen die Lehrkräfte das? Was machen denn die guten Schulen?" Für die Inklusion an Regelschulen wird geschultes Personal gebraucht, um Kinder mit Behinderungen gezielt zu betreuen (dpa / Oliver Berg) Mehr Personalstellen oder mehr Geld allein machen es nicht. Gute Kooperation der Lehrkräfte dagegen steigert laut Studien den Unterrichtserfolg in heterogenen Lerngruppen. Solche Kooperation braucht vor allem zusätzliche Zeit für Abstimmung in den Kollegien, was für Förderschulen ebenso gilt wie für die Regelschule. Aber auch Vormeinungen zur Inklusion tragen dazu bei, ob sie gelingt oder scheitert. Wenn Lehrkräfte der Inklusion grundsätzlich offen gegenüber stehen, erleben sie ihren Unterricht auch eher als erfolgreich, und ihre Belastung sinkt. Wichtig findet Conny Melzer außerdem: "Schulleitung! Wissen wir, ist ein absoluter Gelingensfaktor. Wenn Schulleitungen hinter dem Thema Inklusion stehen und sagen: Das ist wichtig und das will ich, dann ist das oft in den Schulen auch so und mit einer guten Schulführung kann ich auch viel bewirken." "Also wir verteilen vier Klassen auf sechs Räume, also das ist ne supergünstige Situation. Und jeder Raum hat einen Sitzkreis und eine Arbeitszone." Schulleiter Andreas Niessen geht vor, auf die Etage der Jahrgangsstufe fünf. Mit vier Klassen startet hier die neue Helios-Gesamtschule im Kölner Norden. 39 Eltern hatten sich auf zwölf Plätze für das inklusive Lernen beworben. Entgegen der Klage von der Inklusionsmüdigkeit ist die Nachfrage nach inklusiver Bildung hoch, sagt Niessen. Er war vormals Schulleiter an dem für Inklusion ausgezeichneten Geschwister- Scholl-Gymnasium in Pulheim. "Deswegen freuen wir uns jetzt drauf, hier eine Schule entwickeln zu können, wo wir von Anfang an ein gemeinsames Inklusionsverständnis haben und eben nicht davon sprechen: Da gibt's behinderte Kinder und normale Kinder. Sondern wo wir - so gut das geht - es gibt ja immer noch die Unterscheidung der Kinder in "Förderkinder", die ein Etikett bekommen und solche, die keins haben. Und dann gibt’s ja noch die ganz schlimmen Wörter, die wir uns von Anfang an verboten haben: die U-Boot-Kinder, von denen man vermutet, dass da irgendwie was im Busche ist, die aber noch kein Etikett von der Grundschule haben." Ein eigenes didaktisches Konzept Neu für das Kollegium der Heliosschule ist nicht Inklusion - echter gemeinsamer Unterricht - sondern der Status Universitätsschule. Hier sollen angehende Lehrkräfte lernen, wie es geht, heterogene Gruppen zu unterrichten. Dass eine inklusiv arbeitende Schule ein anderes didaktisches Konzept braucht als die Regelschule, ist die Gründungsidee. Es gelten dieselben Bedingungen wie an allen Kölner Sekundarschulen: 27 Kinder pro Lerngruppe, darunter je drei mit anerkanntem sonderpädagogischen Förderbedarf. Niessen und sein Team wollen eine reformorientierte Schule. Klassenübergreifendes Arbeiten im Team, Lernformate, die allen Kindern mehr Freiräume bieten - vor allem aber denen, die es nicht schaffen, 45 Minuten lang still zu sitzen. "So wie Schule traditionell strukturiert ist mit einem klaren Zeitkorsett, mit unfassbar viele Vorgaben, die die Kinder einfach zu erfüllen haben. Die können sich nicht aussuchen, wann sie morgens anfangen, mit welchem Fach sie anfangen, mit welchen Menschen sie sechs Jahre in einer Klassengemeinschaft verbringen. Das ist ja alles gesetzt. Und ich glaube ein Teil der Kritik an der Inklusion bezieht sich darauf, dass es natürlich Kinder gibt, die in diesen engen Vorgaben nicht funktionieren können. Da muss man sich dann immer fragen: Wer muss sich denn jetzt ändern? Müssen sich diese Kinder geändert werden, oder muss eben auch Schule, dieses gerade so beschriebene System - muss es nicht auch geändert werden?" Diese Änderungen aber brauchen mehr Zeit als viele gehofft haben. Ein Blick zurück - in das Jahr der Behinderten-Rechtskonvention 2009. Deutschland hatte sich eben verpflichtet, den Weg zu einer Schule für alle Kinder zu gehen. Luzie von Kirschbaum war damals noch Grundschulkind - das erste im Rollstuhl an ihrer Regelschulgrundschule im Stadtteil. "Und dann haben die extra hier unten eine Rampe hierhin gebaut." Die Regelschule für ein körperbehindertes Kind wurde damals noch als zu große Herausforderung von einigen Schulen angesehen. In der Fröscheklasse selbst dagegen ging Inklusion blitzschnell. "Sie mussten es auch erst lernen, aber dann haben sie es schon verstanden, okay hier ist jemand, der kann nicht so gut laufen, ich muss ein bisschen Rücksicht nehmen. Und ich find es auch sehr schön, dass die Kinder mir manchmal helfen, mir die Tür aufhalten und wenn ich hingefallen bin, dann kommen auch direkt immer alle Kinder angerannt und fragen, Lucie was ist los, hast du dir wehgetan?". Kritik an der Inklusion wächst Gegen diverse Schulgutachten und eine Schulbehörde, die noch nicht an Inklusion dachte, mussten Luzies Eltern den Besuch der Regelschule damals erstreiten, erinnert sich Christine von Kirschbaum, die Mutter. Ein Elternwahlrecht wie heute gab es noch nicht. Und auch keine Ressourcengleichheit zwischen Regelschule und "Sonderschule". Noch immer ärgert es die Mitgründerin des Kölner Elternvereins "Mittendrin e.V.", dass die Schule für körperbehinderte Kinder damals so viel mehr anbieten konnte als die Regelschule. Die Kritik an der Inklusion wächst - und Förderschulen fürchten um ihren Fortbestand (picture alliance / dpa) "Für mich hätte das bedeutet, die Lucie wird morgens um sieben abgeholt, nachmittags therapiert, versorgt, beschult um 16 Uhr wieder nach Hause gebracht, also für eine berufstätige Mutter ist das ein sehr attraktives Angebot. Nur ich wollte das nicht. Letztendlich ist ja die Idee nicht nur behinderte Kinder zu fördern, zu integrieren, sondern zu sagen: Da wo Vielfalt ist, ist auch ein besserer Unterricht und umso erfolgreicher ist auch die Bildung unserer Kinder." Doch der Trend scheint in die andere Richtung zu gehen. Inklusionskritik ist weit verbreitet - während Förderschulen Rückendeckung bekommen. In Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen werden aktuell kleine Förderschulen wieder belebt, die eigentlich geschlossen werden sollten. Förderschulen für Sehbeeinträchtigte berichten von vermehrtem Zuspruch. Wegen der dort besseren Ausstattung ziehen Eltern sie der Regelschule vor. Andere wählen "vorsichtshalber" die Förderschule für ihr Kind, weil sie der Inklusion an Allgemeinschulen nicht vertrauen. Für die Professorin Conny Melzer dagegen, steht der gesetzliche Auftrag Richtung einer inklusiver Schule für alle Kinder fest. Inklusion an Regelschulen nicht zum Nulltarif "Aber: Ich glaube, dass es nicht damit getan ist, einfach zu sagen, wir machen jetzt keine Förderschulen mehr. Sondern ich glaube, wir müssen anders denken: So wie wir es bis jetzt hatten, brauchen wir es nicht unbedingt. Wir brauchen kein Doppelsystem. Wir brauchen aber ein inklusives System, was allerdings auch sonderpädagogische Angebote hat - aber in einem System, nicht in einem Doppelsystem. Mit sonderpädagogischer Kompetenz." Zurzeit noch haben Eltern das Recht selbst zu entscheiden und somit das Recht auf das Parallelsystem Förderschule und inklusive Regelschule. Die Debatte pro und contra Inklusion beziehungsweise Förderschule ist nicht zuletzt auch ein Streit um die knappen Bildungsbudgets in den Ländern. Allgemeine Schulen schlagen zurecht Alarm, wenn Inklusion von ihnen zum Nulltarif erwartet wird und fordern dieselbe Ressourcenausstattung, wie sie in der Förderschule gilt. Die wiederum fürchtet um ihren Fortbestand, wenn Regelschulen Sonderpädagogen für inklusiven Unterricht abwerben. Der akute Lehrermangel spitzt das Thema einmal mehr zu, sagt Schulleiter Andreas Niessen:. "Also es ist auch schon eine Ressourcenfrage. Da darf man sich nichts in die Tasche lügen. Aber das aufzubrechen, da gibt so viel Lobbyismus und so viel verkrustete Strukturen, ich bin da nicht sehr optimistisch, dass wir das bald schaffen."
Von Katrin Sanders
In das Pro und Contra zur Inklusion an Regelschulen kommt neue Bewegung, während gleichzeitig in den Schulen die Angst vor einer Überforderung wächst. Doch der massenhafte Exodus von Förderschülern in die Regelschule ist eine Mär - und Deutschland vom Ende des Parallelsystems Förderschule weit entfernt.
"2018-09-22T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T18:12:12.332000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/foerderschule-oder-regelschule-zum-stand-der-100.html
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Blatter, Katar, Machtgeschacher
Fifa-Präsident Joseph Blatter bei der Bekanntgabe der WM-Ausrichter 2018 und 2022 (afp / Philippe Desmazes) Marrakesch im Dezember – Die letzte Pressekonferenz des Jahres für den FIFA-Präsidenten. Sepp Blatter, steht mal wieder im Sturm der öffentlichen Entrüstung. Er ist eitel, es trifft ihn. Der Chef des Weltfußballs ist angeschlagen. Blatter muss Zugeständnisse machen. "Der Vorsitzende unser Compliance-Kommission Herr Scala hat uns empfohlen, "ja" zur Veröffentlichung des Garcia-Berichts zu sagen, aber unter bestimmten Bedingungen." Die Fußball-Welt will wissen, was drin steht, ob der Report weitere Antworten liefert auf die Frage, die seit Jahren im Raum steht: Haben Katar und Russland die WM-Turniere 2018 und 22 gekauft? Der Umgang mit seinem Bericht hat den Chefermittler der FIFA-Ethikkommission Michael Garcia zum Rücktritt bewogen. (Walter Bieri, dpa) Lange hat sich FIFA-Präsident Blatter dagegen gesträubt, die brisanten 430 Seiten zu veröffentlichen. Jetzt gibt er dem Druck nach, doch es ist nur ein minimales Zugeständnis. Eine Neuvergabe der Weltmeisterschaften werde es nicht geben. "Es müsste schon jetzt ein Erdbeben kommen, oder neue Elemente hineintreten, dass man das ändern könnte oder müsste, aber im Moment sieht das Exekutivkomitee keinen Bedarf irgendwas zu ändern." Und auch darüber hinaus sollte man keine allzu große Transparenz vom Weltverband erwarten, sagt Guido Tognoni, langjähriger FIFA-Marketing-Direktor und mittlerweile einer der größten Kritiker des Weltverbandes. "Wenn auch heute die Publikation beschlossen wurde, dann heißt das noch nicht, dass er morgen schon auf dem Tisch liegt, weil dann muss man sicher noch Anonymisierungen vornehmen, da wird noch einiges passieren, und die FIFA hat sicher noch ein bisschen Zeit, um diesen Bericht richtig vorzubereiten." Richtig vorbereiten: Das kann viel bedeuten. Denn nicht der gesamte Untersuchungsbericht soll veröffentlicht werden, sondern wie Blatter in einem Statement verbreiten ließ, Zitat: "Nur der Bericht in einer angemessenen Form". So ist es wahrscheinlich, dass alle der Korruption beschuldigten Personen in der veröffentlichen Fassung nicht namentlich genannt sein werden. Der Richter Hans-Joachim Eckert ist Vorsitzender der rechtsprechenden Kammer der Ethik-Kommission der FIFA (picture alliance / dpa - Walter Bieri) Damit wäre der Erkenntnisgewinn für die Fußball-Welt nicht größer als nach dem umstrittenen Urteil des Münchener Strafrichters Hans Joachim Eckert. In seiner Rolle als Vorsitzender Richter der FIFA-Ethikkommission hatte der Deutsche Katar und Russland nach Durchsicht von Garcias Report freigesprochen - aus Mangel an Beweisen. Ein Urteil, das FIFA-Chefermittler Garcia nicht auf sich sitzen lassen wollte. Fehlerhaft und unvollständig sei Eckerts Zusammenfassung seines Untersuchungsberichts gewesen. Doch sein Einspruch wurde von der FIFA abgebügelt - aus formalen Gründen. Zu viel für den ehemaligen New Yorker Staatsanwalt. Er trat zurück und fällte dabei sein persönliches Urteil – über Eckert: "Durch Eckerts Entscheidung habe ich das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Rechtssprechenden Kammer verloren." Und über die FIFA: "Keine unabhängige Ethikkommission, kein Ermittler, kein Schiedsgericht kann die Kultur einer Organisation ändern." Zurück bleibt Hans-Joachim Eckert, maximal beschädigt. Der Münchener Richter habe sich zum Schoßhündchen des FIFA-Präsidenten gemacht, finden viele Kritiker. Guido Tognoni: "Ich glaube, seine Rolle hat er jetzt noch nicht gefunden. Er hat wahrscheinlich einen riesen Respekt vor den vier Buchstaben FIFA. Herr Eckert kam einfach aus einer ganz anderen Ecke. Er kannte den Sport nicht erkennt die FIFA nicht, er kennt die Mechanismen nicht, er kennt vor allem die Geschichte der FIFA nicht. Und wenn man das alles nicht kennt, dann begibt man sich auf ein unerhörtes glattes Eis. Da ist er gewissermaßen in eine Mausefalle geraten und ist voll reingefallen." Wüstenemirat steht am Pranger Denn es gibt es viele Anhaltspunkte, dass bei der WM-Doppelvergabe im Dezember 2010 Schmiergeldzahlungen eine Rolle gespielt haben. Sowohl bei der Entscheidung für Russland: "And the winner is Russia." Als auch für Katar "And the Winner is Katar." Vor allem das Wüstenemirat steht am Pranger. In tausenden Dokumenten, die der Londoner Zeitung Sunday Times zugespielt wurden, ist zu lesen, wie sich der ehemalige katarische FIFA-Funktionär Mohammad Bin Hammam die Gunst zahlreicher afrikanischer und asiatischer Top-Funktionäre mit viel Geld erkaufte. Auch Whistleblower plaudern. Die wichtigste Kronzeugin: Pheadra Almajid. Die US-Amerikanerin mit arabischen Wurzeln war Pressesprecherin der katarischen Bewerbung. Sie kooperierte mit Michael Garcia: "Bevor ich ihn überhaupt getroffen habe, hat er meinem Anwalt 100-prozentige Anonymität zugesagt, und ich habe ihn auch noch einmal daran erinnert. Worauf er antworte: Keine Sorge, sie werden niemals erfahren, dass du mit uns kooperiert hast." FIFA-Richter Eckert fühlte sich allerdings nicht an Garcias Versprechen gebunden. Warum ist ein weiteres Rätsel. Als er vor einem Monat Katar von allen Vorwürfen freisprach, enttarnte er Almajid als Kronzeugin. Und stellt sie zudem als unglaubwürdig dar. "Ja, ich werde zukünftig in Angst leben, weil ich viele Menschen gegen mich aufgebracht habe und immer noch eine Bedrohung für die Kataris bin. Ja, ich lebe in Angst." Denn ihre Vorwürfe gegen die katarische Bewerbung könnten brisanter nicht sein: "Ich war im Raum als katarische Offizielle drei afrikanischen Mitgliedern der FIFA-Exekutive 1,5 Millionen Dollar geboten haben für Ihre Stimmen bei der WM-Vergabe." Luftaufnahme von Doha in Katar am Persischen Golf. (picture alliance / ZB / Britta Pedersen) Klassische Korruption à la FIFA. Der Vorgang soll sich im Januar 2010 während eines Kongresses der Afrikanischen Fußballföderation in Angola abgespielt haben – also ein knappes Jahr vor der Vergabe nach Katar. "Zunächst lag das Angebot bei einer Million, das lehnten sie ab. Als auf 1,5 Millionen erhöht wurde, haben sie dann angenommen." Wer die drei afrikanischen FIFA-Funktionäre sind, die nach Darstellung von Almajid geschmiert wurden, steht in Garcias Untersuchungsbericht. Allerdings ist der Kreis der Verdächtigen extrem klein, denn dem Exekutivkomitee gehörten nur vier Afrikaner an. Da ist Amos Adamu aus Nigeria: Er wurde wenige Monate später von britischen Undercover-Journalisten der Korruption überführt und noch vor der Doppelvergabe von der FIFA suspendiert. Außerdem: Hany Abo Rida, Ägypten, Jacques Anouma von der Elfenbeinküste und: Issa Hayatou. Der Kameruner ist nicht nur Präsident des afrikanischen Fußball-Verbandes, sondern im Weltverband die Nummer 2 hinter Blatter. Sein Name tauchte schon einmal, im Schmiergeldgeldskandal um den Rechtehändler ISL, auf der Liste der Geldempfänger auf. Doch belangt wurde Hayatou nicht – als einziger aus der Riege der der Korruption überführten Funktionäre. Der Mann aus Kamerun ist mächtig. Eine Schlüsselfigur für Sepp Blatter bei der Präsidentenwahl kommenden Mai. Kaum vorstellbar, dass bis dahin der Untersuchungsbericht von Garcia veröffentlicht wird. "Sepp Blatter möchte ja in erster Linie wieder gewählt werden. Und er ist sicher beriet im Hinblick auf diese Wahl mit Issa Hayatou oder anderen Fußballführern aus den Kontinenten Absprachen zu treffen. Diese Absprachen würde er wahrscheinlich nur einhalten, bis die Wahl vorbei ist und nachher ist es ihm egal, was damit passiert. Aber es ist wahrscheinlich, dass da Absprachen getroffen sind: Ich verhindere die Publikation, du bringst mir die Stimmen." Niemand beherrscht das Spiel mit der Macht so gut wie der bald 79-jährige. Blatter hat seine Macht hat er längst abgesichert. UEFA-Präsident Michel Platini hat eine Aufteilung der Austragungsorte für die EM 2020 vorgeschlagen. (AFP PHOTO / Fabrice Coffrini) Als einzige Konföderation im Weltverband hat sich der Europäische Fußballverband UEFA gegen den allmächtigen FIFA-Boss gestellt. Doch UEFA-Chef Michel Platini - einst Blatter-Zögling, nun erbitterter Gegner - weigert sich in ein aussichtsloses Rennen zu gehen. Ein Fehler, findet Tognoni. "Die UEFA muss einfach daran denken, dass es nicht nur die Wahlen 2015 gibt, sondern auch 2019 und die UEFA müsste eigentlich auch damit spekulieren, dass es theoretisch möglich ist, dass sich Sepp Blatter in letzter Minute von der Wahl zurückzieht, sei es aus Überzeugung sei es weil er bedrängt wird, sei es weil er nicht mehr so fit ist. Es ist alles möglich bis Mai, und wenn die UEFA dann mit leeren Händen dasteht und kein Konzept hat, blamiert sie sich ziemlich." Auf der Suche nach einem Blatter-Herausforderer Doch die Europäer wirken seltsam kopf- und ratlos bei der Suche nach einem Blatter-Herausforderer. Sie eiern herum, wie kürzlich DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. "Die Frist läuft ab Ende Januar. Ich habe gesagt, es ist nicht auszuschließen, dass es einen europäischen Gegenkandidaten gibt." Philipp May: "Aber sollte Europa nicht, wenn man sich schon gegen Blatter positioniert, dann nicht zumindest auch eine Alternative da hinstellen?" "Ja, das ist naheliegend. Die Fragestellung kann ich absolut nachvollziehen, aber es nicht entschieden." Zwar könnte die UEFA allein gegen den Rest der Fußball-Welt Sepp Blatter nicht verhindern. Doch der Europäische Fußball-Verband hätte die Macht, Veränderungen bei der FIFA durchzusetzen. Zumindest theoretisch: Die besten Nationalteams, die besten Clubs und die besten Profis spielen in Europa. Allein die Androhung eines Boykotts der Europäer könnte die FIFA zur Implosion bringen. Allerdings: Soweit wird es nicht kommen, ist sich Tognoni sicher. "...und zwar weil die UEFA nie unter sich einig ist mit seinen 50 Verbänden oder sogar jetzt mehr, also die UEFA ist politisch nicht halb so versiert als Ganzes wie Blatter ganz alleine. Und dafür muss sie immer wieder büßen, weil sie ist einfach nicht vorbereitet auf diese oder jene Situation. Sie hat keine Strategie, sie hat vielleicht auch nicht die richtigen Persönlichkeiten." Zumal auch einige europäische Funktionäre im Verdacht stehen, von Katar gekauft worden zu sein. Der Belgier Michel D'Hooge zum Beispiel. Er galt einst als Saubermann, bis herauskam, dass sein Sohn kurz nach der Katar-Kür einen Job als medizinischer Berater der Kataris angenommen hat. Oder Marios Lefkaritis aus Zypern, der durch mysteriöse Grundstückdeals mit Katar ein Vermögen machte. Selbst UEFA-Boss Platini ist befleckt. Er gibt offen zu, für Katar gestimmt zu haben. Sein Sohn arbeitet nun für den katarischen Investmentfonds. Bis zuletzt hatte Michael Garcia auch gegen den Spanier Angel Villar Llona ermittelt, und gegen Franz Beckenbauer, damals für den Deutschen Fußballbund im FIFA-Exko. "Wer will auch an mich herantreten und mich zu irgendwelchen Dingen verleiten? Ist doch lächerlich. Ich habe nichts damit zu tun. Ich bin der falsche Ansprechpartner." Franz Beckenbauer steht im Verdacht, von Russland gekauft worden zu sein. (picture alliance / dpa / Inga Kjer) Sagt Beckenbauer. Es ist unklar, ob er für Katar gestimmt hat. Doch Deutschlands Fußballkaiser steht im Verdacht, von Russland gekauft worden zu sein. Fakt ist: Ein halbes Jahr nach der Doppelvergabe hat Beckenbauer einen millionenschweren Botschaftervertrag für die russische Gasindustrie unterschrieben. Ein Deal, der schon vor der Kür von Katar und Russland in englischen Zeitungen angekündigt worden war. "Damals als der Entscheid gefallen ist, sind innerhalb von einer Stunde, am gleichen Ort, von den gleichen Leuten zwei Entscheidungen gefallen. Eine pro Katar, eine pro Russland. Und es ist schwer vorstellbar, dass die eine absolut sauber und die andere absolut schmutzig von sich gegangen ist." Dennoch: Von der Fußballwelt wird das Turnier in Russland weitgehend akzeptiert. Die WM in Katar ist dagegen zum Fanal für den Weltverband geworden. Eine Weltmeisterschaft im Hochsommer in der Wüste - es ist die absurdeste Entscheidung des Weltfußballs. Im März will sich die FIFA in der äußert schwierigen Terminfrage festlegen. Denn eine Verlegung der Sommer-WM in den Winter würde den gesamten Sportkalender über Jahre durcheinander wirbeln. Ebenso heikel: Die Menschenrechtslage im Land. Besonders betroffen, die rund 1,5 Millionen Gastarbeiter, die bei der WM-Vorbereitung eine entscheidende Rolle spielen. Doha in Katar. Schon jetzt gleicht die Stadt einer riesigen Baustelle. Das Land erschafft sich praktisch neu für 2022. Es ist später Nachmittag. Einbruch der Dunkelheit. Der Muezzin ruft zum Gebet. Schichtwechsel. Klapprige Busse kommen, um die Arbeiterkolonnen einzusammeln. Wir folgen einem der Busse. Er fährt ins Industriegebiet am Rande Dohas. An einem heruntergekommenen Backsteinbau, ihrer Unterkunft, lässt er die Menschen aus Bangladesch, Sri Lanka, China oder Indien heraus. Als die Gastarbeiter uns bemerken, bildet sich eine Traube um uns. Sie wollen reden. Ihr Arbeitgeber, eine ägyptische Firma, sei schlecht. Einmal habe er sich schwer verletzt, berichtet einer der Männer. Doch niemand habe ihm geholfen, er habe sich selbst um seinen Transport zum Krankenhaus kümmern müssen. Wenn sie sich bei den katarischen Behörden über die Zustände beschweren, melden die das dann dem Arbeitgeber weiter, sagt ein anderer. Und der würde zur Strafe das Gehalt von umgerechnet circa 200 Euro monatlich noch einmal kürzen. Dann zeigen die Gastarbeiter uns ihre Unterkunft: bis zu zehn Menschen in einem Zimmer. Das eigene Bett ist gleichzeitig Schrank. Die Wände voller Schimmel. Die sanitären Anlagen: versifft. Es riecht nach Fäkalien. Man läuft durch Abwasser aus undichten Rohren. Dritt-Welt-Zustände im reichsten Land der Welt. "Das, was Sie da erlebt haben, ist gang und gäbe. Die Arbeitsbedingungen in Katar sind im Allgemeinen katastrophal", schimpft Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Solange sich nichts ändert, am rechtlichen Rahmen, so lange wird sich da nichts tun." Katar träumt von der Fußball-WM. (dpa / picture alliance / Andreas Gebert) Vor allem Katars Rechtssystem hält mit dem atemberaubenden Modernisierungstempo des Emirats nicht Schritt. So können katarische Arbeitgeber Ausländern die Ausreise aus dem Land verbieten. Das Sponsorensystem, die sogenannte "Kafala", macht es möglich. Moderne Sklaverei, der nicht nur Menschen aus Entwicklungsländern zum Opfer fallen. Zum Beispiel: Der französische Fußballtrainer Stephane Morello. Er kam 2007 nach Katar - als Fußball-Entwicklungshelfer in der 2. Katarischen Liga. Im Januar 2009 wurde Morello gefeuert, ein halbes Jahr vor Ablauf seines Vertrages. Der Franzose klagte auf die Auszahlung seines restlichen Gehalts - und wurde damit zum Gefangenen Katars. Weil er auf sein Recht pochte. "Vielen Spielern ist das Gleiche passiert wie mir. Richtig berühmten Spielern. Aber die haben so viel Geld verdient, die haben einfach direkt unterschrieben, dass sie auf ihr ausstehendes Gehalt verzichten, damit sie raus können. Mitglieder der französischen Weltmeistermannschaft waren darunter. Christoph Dugarry zum Beispiel." Hilfe von der FIFA hat der Fußballtrainer nicht erhalten. Erst nachdem Morello französische Medien einschaltete und nach der Fürsprache von Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande beim Emir erhielt Morello sein Ausreisevisum. "Sie haben mich hier 5 Jahre hier festgehalten. Meine Trainerkarriere ist zerstört. Viele schlechte Dinge sind deshalb passiert. Ich und meine Familie haben wirklich gelitten." Geschichten von ausgebeuteten Arbeitern, Geschichten von Menschen wie Stephane Morello haben den Druck auf Katar enorm wachsen lassen. Aufstrebendes Emirat Die Fußball-Weltmeisterschaft, eigentlich dazu auserkoren das aufstrebende Emirat in ein strahlendes Licht zu setzen, ist zur Image-Falle für Katar geworden. Der junge Emir versucht nun gegenzusteuern. Neue Arbeitsschutzgesetze sollen bald in Kraft treten. Human-Rights-Watch-Mann Michalski bleibt skeptisch. "Es gibt einige wenige, die dort an den organisatorischen Hebeln sitzen und die vielleicht tatsächlich was machen wollen, aber die können sich gegen die wirklich erzkonservative Mehrheit in Katar durchsetzen und das sind harte Hunde dort." Andere sehen die Entwicklung positiver. "Katar ist heute das einzige Land im Golf, das ins Gespräch tritt mit seinen Kritikern", sagt der renommierte Journalist James Dorsey, weltweit anerkannt als großer Kenner des arabischen Raums. Er glaubt daran, dass der Emir seinen Worten Taten folgen lassen werde. "Die meisten Weltmeisterschaften haben ja nicht wirklich eine Legacy. Es gibt, soweit ich nachgehen kann, sehr wenige Vorbilder von solchen Events, wo wirklich eine soziale oder politische Veränderung stattgefunden hat. Und die Tatsache, dass Katar es gewonnen hat, hat schon eine Veränderung gebracht." Eine Legacy, ein Vermächtnis für die gesamte Region. Das sei die Chance, die diese Weltmeisterschaft in Katar bietet, so argumentieren Befürworter wie Dorsey. Doch ist das winzige Emirat überhaupt in der Lage, das mit Abstand größte Sport-Event der Welt zu stemmen? Eine Weltmeisterschaft, die, Olympischen Spielen gleich, praktisch in einer Stadt so groß wie Düsseldorf über die Bühne geht. Schon jetzt erleidet Doha den täglichen Verkehrskollaps. Damit bei der Fußball-WM zehntausende Menschen von Stadion zu Stadion können – baut Katar gerade ein U-Bahnnetz. Geplant von der Deutschen Bahn. Im gläsernen Büroturm der Katar-Rail-Company belegt die Bahn-Tochterfirma DB International eine ganze Etage. Hans Günther Jäger ist der technische Leiter des Projekts. Aus seinem Büro kann er auf eine der vielen U-Bahnbaustellen Dohas schauen. Nach seinen Plänen werden derzeit die Stadt untertunnelt und Straßenführungen geändert. "Wir sind überall am Bauen. Jetzt ist 2014. ich gehe auch davon aus, gut, wenn es jetzt nicht 2019 wird, dann wird es 2020, dass wir rechtzeitig vor der FIFA(-WM) das Metronetz in Betrieb nehmen." Doch Katar hat ein ganz anderes logistisches Problem: Piekfein ist der neue Hamad International Airport. Bis zur WM soll er eine Kapazität für bis zu 50 Millionen Fluggäste erreichen. Zum Vergleich: Allein der Flughafen in Frankfurt schafft bei maximaler Auslastung 65 Millionen. Doch in Katar ist der Flughafen der einzige Weg, um ins Land zu kommen. Amnesty International hat in Katar, Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft 2022, ein "alarmierendes Ausmaß an Ausbeutung bis hin zu Zwangsarbeit" festgestellt. (dpa / Amnesty International) "Auf dem Landwege ist kaum was möglich, wir leben hier quasi auf einer Insel. Man kann nur mit Transitvisum nach Abu Dhabi rüber. Eine Brücke die nach Bahrain gebaut werden sollte, ist schon seit zig Jahren in der Diskussion, aber da läuft uns auch die Zeit weg. Am Ende muss alles über diesen Flughafen." Sagt DB-Mann Jäger. Und „alles" bedeutet in diesem Fall mindestens eine halbe Millionen WM-Touristen aus aller Welt zusätzlich. Das ist kaum zu bewältigen, auch nicht für ein Land mit den unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten Katars. "Also so wie man das vielleicht bei uns kennt. Man geht zu einem WM-Spiel und fährt da mal schnell hin kurzentschieden und guckt, dass man 'ne Karte kriegt. Ich denke hier wird sehr viel mehr Planung vorauseilen müssen und sehr viel mehr logistische Überlegung." Anders gesagt: Eine WM in Katar wird eine WM für eine kleine, zahlungskräftige Minderheit, die sich teure VIP-Pakete, inklusive Flug, Hotels und Eintrittskarten leisten kann. Normale Fans könnten dagegen schon beim Versuch während der WM ins Land zu kommen, scheitern. Doch dass die absurdeste Weltmeisterschaft aller Zeiten wirklich stattfindet, ist trotz FIFA-Freispruch längt nicht ausgemacht. Acht Jahre sind es noch bis 2022. Acht Jahre, in denen der Druck auf Katar weiter wachsen wird. Das amerikanische FBI ermittelt im Zuge der WM-Vergabe wegen Geldwäsche gegen FIFA-Funktionäre und wird wohl auch auf die Erkenntnisse des im Zorn zurückgetretenen Ex-FIFA-Ankläger Michael Garcia zurückgreifen. Die Drähte sind kurz. Garcia Frau arbeitet: beim FBI.
Von Philipp May
Die Frage, ob Katar und Russland die WM-Turniere 2018 und 2022 gekauft haben, ist noch immer weitgehend unbeantwortet. Denn um den Bericht des inzwischen zurückgetretenen Chefermittlers der Ethikkommission Michael Garcia war ein Streit entbrannt. Die FIFA will den Bericht nun doch veröffentlichen. Doch unklar bleibt, was wirklich ans Licht kommt.
"2014-12-20T18:40:00+01:00"
"2020-01-31T14:20:01.668000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fifa-blatter-katar-machtgeschacher-100.html
90,905
"Wichtig, Flüchtlinge auch in das Arbeitsleben aufzunehmen"
Bundespräsident Joachim Gauck (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm) Natürlich ist Angela Merkels mittlerweile berühmt gewordener Satz "Wir schaffen das" an diesem Vormittag auch im Berliner Loewe-Saal gegenwärtig. Rund 400 Gäste sind gekommen zum Festakt aus Anlass des 125-jährigen Bestehen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie. Auch der Bundespräsident ist dabei: "Wir dürfen auch manchmal sagen: Ja, das trauen wir uns zu, das werden wir schaffen", sagt Joachim Gauck. Allerdings nicht mit Blick auf die Situation der Flüchtlinge in Deutschland und das Versprechen der Bundeskanzlerin, sondern mit Blick auf Wachstum und Innovation. Doch auch Joachim Gauck kommt an diesem Tag nicht um das Thema Flüchtlinge herum. Gauck geht dabei vor allem auf die berufliche Situation der Flüchtlinge ein: "Viele Menschen, die derzeit zu uns kommen, werden lange Zeit bleiben. Deshalb ist es so wichtig, sie auch in das Arbeitsleben aufzunehmen." Deutschland brauche ja dringend zusätzliche Fachkräfte, so Gauck. Von den Asylbewerbern, die nun herkämen, seien viele hoch qualifiziert. Trotzdem stünden sie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oft vor erheblichen Schwierigkeiten. "Natürlich, die Sprache, sie ist oft eine Hürde. Dann gibt es aber auch noch zahlreiche rechtliche Fragen. Und es gibt oft noch bürokratische Hindernisse. Ich weiß, dass daran derzeit viel gearbeitet wird. Aber das ist die Situation, wie sie uns augenblicklich darstellt." Gauck dankt in seiner Rede den Gewerkschaften und Unternehmen, die die in Deutschland ankommenden Flüchtlingen unterstützen. Als Beispiel verweist der Bundespräsident auch auf Firmen, die ihr Angebot an Praktikumsplätzen für Flüchtlinge erweitern würden. Dass sei ein schöner Anfang - aber er wünsche sich noch mehr Initiative, so Gauck. Zur Ausbildung und zur Beschäftigung sagt Gauck etwas, was wie eine Unterstützung der Gewerkschaften - aber der Bundeskanzlerin klingt: "Wir wissen, es ist eine Herausforderung. Wir wissen, es ist eine Problem belastete Herausforderung. Aber wir haben in der Geschichte dieses Land und Ihrer Gewerkschaft gelernt: Vor Herausforderungen muss man nicht einfach die Segel streichen, sondern mit Kraft und Energie und der Haltung der Solidarität an die Dinge herangehen." Wie könne ein besserer Einstieg für Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt gelingen? Aber auch, wie lassen sich Bemühungen um die Erwerbsarbeit von Flüchtlingen kombinieren und harmonisieren? Diese seien einige der drängenden Fragen sagt Gauck, die sich nun stellten. Erst gestern hatte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise davor gewarnt, dass die stark steigende Zahl von nach Deutschland kommenden Flüchtlingen bald auch deutliche Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen dürfte. Wenn nichts passiere, werde die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr deutlich steigen, sagte Weise der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Weise warnte gegenüber der "FAZ" auch vor zu hohen Erwartungen an Integrationserfolge.
Von Johannes Kulms
Zum Festakt aus Anlass des 125-jährigen Bestehens der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie hat Bundespräsident Joachim Gauck eine Rede gehalten. Darin ging er auf die berufliche Situation von Flüchtlingen ein und forderte mehr Initiative bei ihrer Integration in den Arbeitsmarkt.
"2015-09-18T12:10:00+02:00"
"2020-01-30T13:00:23.196000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/joachim-gauck-wichtig-fluechtlinge-auch-in-das-arbeitsleben-100.html
90,906
Die Brückenbauerin
Elisabeth Humbert-Dorfmüller bereut es nicht, dass sie bei der Sozialistischen Partei Frankreichs geblieben ist (Deutschlandradio / Ursula Welter) "Das ist hier also das Zimmer der Direktion." Elisabeth Humbert-Dorfmüller kann die Tür nicht öffnen, hinter der sie selbst an ungezählten europäischen Treffen teilgenommen hat. Hier sitzt normalerweise der Parteichef. "Ist keiner da." Drei Pässe, drei Parteibücher In diesem Zimmer hat die Tochter aus deutsch-griechischem Elternhaus, die mit einem Franzosen verheiratet ist, griechische und deutsche Parteigrößen getroffen, hat analysiert, übersetzt, vermittelt zwischen Parti Socialiste, den Sozialdemokraten von Pasok und der SPD. Sie hat drei Pässe, drei Parteibücher. Nur noch Plakate erinnern an die großen Zeiten der Sozialistischen Partei Frankreichs unter François Mitterrand (Deutschlandradio / Ursula Welter) Die tatkräftige Sozialdemokratin führt von einem Saal in den nächsten, hier, im Salle Georges-Dayan, lächelt dessen Freund und Weggefährte François Mitterrand von den Wänden. Vor der Kamin-Attrappe der große Sitzungstisch, hier bereitete Mitterrand seinen Wahlsieg 1981 vor. "Jetzt können wir herunter gehen." Die Sozialisten sind nur noch vorübergehend Herr in ihrer Parteizentrale. 45,5 Millionen Euro hat der Verkauf des prächtigen Stadtpalais eingebracht. "Nicht schlecht … ein paar Schulden sind ja auch aufgelaufen, die werden abgebaut werden, es sind ja auch Kosten entstanden durch den Sozialplan." Kleiner und Bescheidener Man muss jetzt "downsizen", sagt die französische Sozialistin mit deutsch-griechischen Wurzeln. Kleiner, bescheidener ist also angesagt bei den französischen Sozialisten, die im Wahlkampf 2017 mehr als 250 Parlamentssitze verloren hatten. Elisabeth Humbert-Dorfmüller führt über den Hof der Parteizentrale, sie gehört in Paris zum Team der internationalen Sektion. Bei den letzten Europawahlen war sie Kandidatin für die Region "Ile de France." Sparmaßnahmen: Der historische Stammsitz der Partei in der Rue de Solférino in Paris wurde verkauft (Deutschlandradio / Ursula Welter) Das Licht ist ausgeschaltet, Stühle stehen unsortiert herum, auch dieser Konferenzraum strahlt Endzeitstimmung aus. Er trägt den Namen der Feministin Marie-Thérèse Eyquem. "Es findet noch ein bisschen was statt, aber viele Leute arbeiten ja auch gar nicht mehr hier. Viele Büros werden nicht mehr benutzt, vielleicht werden sie auch nicht mehr benutzt, ich weiß es nicht." Wie schwer war es für die Sozialistin der Partei treu zu bleiben, nicht ins Lager von En Marche überzulaufen, wie so viele andere? "Das ist in der Tat eine gute Frage. Also es war ein bisschen schwierig für mich zu bleiben. Ganz persönlich, mein Mann zum Beispiel hat versucht, mich zu überreden, damit ich bei En Marche eintrete, das Kapitel bei der PS sei jetzt abgeschlossen. Ich hätte da jetzt 12-14 Jahre lang viel geleistet und die neue Richtung sei En Marche und Macron." Prominente Sozialisten schlossen sich En Marche an So wie Humbert-Dorfmüller führten viele Sozialisten ab Ende 2016 Debatten, im privaten, im beruflichen Umfeld als die Bewegung des Präsidenten Macron die politische Landschaft aufwühlte, das ist bis heute spürbar. Viele sozialistische Schwergewichte entschieden sich fürs Gehen, sitzen heute am Kabinettstisch von Macron. Ein ideologischer Spagat. "Gut, ich war nicht hundertprozentig abgeneigt, denn wenn wir über politische Linien reden, ist es ja so, dass ich vieles sehr interessant gefunden habe, beim Kandidaten Macron und als er gewonnen hat, habe ich mich sehr gefreut. " Nun, es ging ja auch gegen die extreme Populistin Marine Le Pen im zweiten Wahlgang 2017 … " …ich muss zugeben, was ich meinen sozialistischen Freunden nicht offen sage, ich habe in beiden Wahlgängen Macron gewählt, weil ich vom sozialistischen Kandidaten nicht besonders überzeugt war." Frankreich braucht Reformen Dieser sozialistische Kandidat hieß Benoît Hamon, kam vom linken Flügel der Partei und scheiterte mit kläglichen 6,36 Prozent im ersten Wahlgang. Elisabeths Stimme bekam er nicht, stattdessen Macron: "Ich meinte, es wäre die bessere Lösung für Frankreich." Der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten Benoît Hamon scheiterte kläglich (AFP/Archambault) "Warum bleibe ich jetzt weiterhin bei den Sozialisten?" Wo doch viele ihrer Parteifreunde Macron eine wirtschaftsliberale, gewerkschaftsfeindliche Politik ankreiden: "Ich bin nicht ganz auf dieser Linie, ich bin zwar der Meinung, dass er sich im Wahlkampf anders dargestellt hat, als er jetzt regiert. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass das Land Reformen benötigt. Ich befürworte die meisten der Reformen, wenn auch nicht alle. Ich wundere mich etwas, dass Macron noch keine Gesten gegenüber den Wählern, die von links gekommen sind, gezeigt hat. Und deshalb bin ich noch in einer Erwartungshaltung." Macron oder Tradition: überzeugte Linke zwischen zwei Welten Wie so viele überzeugte Linke in Frankreich bewegt sich die erfahrene Europäerin und SPD-Politikerin Humbert-Dorfmüller zwischen zwei Welten: Jener Macrons, der alle Parteigrenzen aufbrechen will und jener der Traditionsparteien, die um ihr ideologisches Erbe, aber eben auch um ihr Überleben kämpfen, bei der Urwahl des neuen PS-Vorsitzenden hat sie den Gewinner, Olivier Faure unterstützt – den Fraktionschef, einer aus der Ära Hollande, der geübt ist, Scherben aufzusammeln, aber auch ein wenig blass und bei Abstimmungen im Parlament nicht immer klar in seiner Abgrenzung zu Macron war: "Ich bereue nicht, bei der PS zu bleiben. Es wird wahrscheinlich eine marginale Partei werden." Sie hofft auf eine Politik der französischen Sozialisten, ähnlich der Politik der deutschen Sozialdemokraten. Viele in der SPD seien allerdings von Macron "verführt" worden und ließen die alte Schwesterpartei, den Parti Socialiste, links liegen. "Das heißt, institutionell werden sie weiterhin Schwesterparteien bleiben, aber natürlich gibt es ausgestreckte Hände von der SPD Richtung Regierung, also es wird ein bisschen schwierig." Die Brückenbauerin zwischen Frankreich und Deutschland verlässt den kühlen, abgedunkelten Raum in der Rue Solférino. Damit das Band zwischen der SPD und der alten Sozialistischen Partei Frankreichs nicht komplett reißt, wird sie einiges leisten müssen: "Ich werde versuchen, die Verbindung wieder herzustellen, ja!"
Von Ursula Welter
PS, SPD und Pasok: Elisabeth Humbert-Dorfmüller besitzt drei Pässe und drei Parteibücher. Die überzeugte Linke sagt, Frankreich brauche dringend Reformen und hofft auf eine Annäherung an die deutschen Sozialdemokraten. Doch das dürfte schwierig werden.
"2018-04-05T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T17:44:08.544000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frankreichs-parti-socialiste-3-5-die-brueckenbauerin-100.html
90,907
"Ein gut eingestellter Blutdruck hilft dem Körper gegen das Virus"
Wenn der Blutdruck gut eingestellt ist, hilft das dem Immunsystem. (Pexels / rawpixel) Das Coronavirus SARS-CoV-2 kann jeden erwischen. Aber es gibt Gruppen von Menschen, deren Gesundheit stärker gefährdet ist als bei anderen. Sie sind häufiger von einem schweren Krankheitsverlauf betroffen. Zu dieser Gruppe gehören ältere Menschen und chronisch Kranke – insbesondere Herzpatienten, aber auch solche, die unter Bluthochdruck leiden. Und das ist immerhin jeder Fünfte in Deutschland. Viele Bluthochdruck-Patienten schlucken regelmäßig Medikamente, die den Blutdruck senken. Diese sind nun in die Kritik geraten. Vermutungen machen die Runde, dass so genannte ACE-Hemmer das Risiko einer Virusinfektion erhöhen. Was ist dran? Gestern haben sich auf einer Pressekonferenz des Science Media Centers in Köln mehrere Spezialisten dazu geäußert. Warum sind Bluthochdruck-Patienten besonders gefährdet? Bluthochdruck ist grundsätzlich ein Risikofaktor für viele Herzkrankheiten. Man kann sagen, Bluthochdruck schwächt das Herz. Und das geschwächte Herz beeinträchtigt eben auch die Abwehr einer Virusinfektion. Um den Blutdruck zu senken haben sich Blutdrucksenker wie ACE-Hemmer bewährt – das ist in vielen großen Studien bestätigt. Diese Medikamente halten den Blutdruck niedrig, was auch im Falle einer Virusinfektion hilfreich ist. Ob es zusätzliche Risiken durch ACE-Hemmer bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 gibt, ist hingegen ungeklärt. Alle Beiträge zum Coronavirus (imago / Science Photo Library) Wie kam der Verdacht auf, dass insbesondere ACE-Hemmer in Zusammenhang mit COVID-19 stehen? Die Idee dazu kam aus der Biochemie. Man hat sich angeschaut, wie das Virus eigentlich in eine Zelle gelangt. Dazu nutzt das Virus SARS-CoV-2 einen Rezeptor für das Hormon Angiotensin 2. Das Virus nutzt also einen Eingang, der für dieses Hormon gedacht ist. Und dieses Hormon spielt eine Rolle im Wirkmechanismus verschiedener Blutdrucksenker. ACE-Hemmer reduzieren die Menge an Angiotensin 2 und es könnte sein, dass die Zellen versuchen gegenzusteuern. Um den Mangel an Angiotensin 2 auszugleichen, könnten die Zellen mehr Eingänge für das Hormon öffnen – und das wären dann auch mehr potenzielle Eingänge für das Virus. Den Effekt haben Forscher in Tierversuchen schon gezeigt, wie relevant er für die medizinische Praxis ist, ist allerdings noch unklar. Die Wechselwirkungen sind kompliziert, so dass sich Wirkungen schwer voraussagen lassen Sind Blutdrucksenker nun ein Risikofaktor oder nicht? Gibt es klinische Studien? Es gibt eine große Studie aus Wuhan, die festgesellt hat dass 30 Prozent der Corona-Infizierten mit starken Symptomen unter Bluthochdruck leiden. Daraus folgt: Bluthochdruck ist auf jeden Fall ein Risikofaktor. Ob Medikamente dagegen noch einmal ein zusätzliches Risiko sein können, dazu gibt es keinen Nachweis. Möglicherweise liegt das auch daran, dass ein solcher Effekt schwer nachweisbar ist. Denn da gibt es viele Wechselwirkungen. Es ist für Forscher sehr schwierig, den negativen Effekt, den der Bluthochdruck hat, von möglichen zusätzlichen negativen Effekten der Medikamente zu trennen. Außerdem ist ein höheres Alter ein Risikofaktor für stärkere Symptome bei einer Erkrankung an COVID-19. Gleichzeitig nehmen ältere Menschen deutlich mehr Blutdrucksenker als junge Menschen. Um Effekte der Medikamente isolieren zu können, bräuchte es zusätzliche groß angelegte Studien. Macht es vor diesem Hintergrund Sinn, diese Medikamente jetzt abzusetzen? Der Parmakologe Thomas Eschenhagen vom Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg hat dazu gestern klar gestellt: "Ein gut eingestellter Blutdruck hilft dem Körper gegen das Virus. Man sollte das Medikament auf keinen Fall selbstständig absetzen." Und da haben ihm gestern alle Experten einhellig zugestimmt. Möglichweise könnte man die Medikamente umstellen – aber unbedingt in Abstimmung mit einer Ärztin oder einem Arzt. Gestern wurde im Fachmagazin eLife eine weitere Studie zum Thema veröffentlicht. Bringt die jetzt Klarheit? Diese Studie hatte ein klares Ergebnis: Blutdrucksenker während einer Therapie abzusetzen bringt nichts. Im Gegenteil, wenn der Blutdruck dann aus dem Ruder läuft, gefährdet das die Patienten zusätzlich. Das gibt behandelnden Ärzten eine Leitlinie: Blutdrucksenker während der Behandlung nicht absetzen. In Italien wurde beobachtet, dass die Zahl der Herzinfarkte seit Beginn der Corona-Epidemie zurückgeht. Wie kommt das? Es ist eindeutig nicht der Fall, dass das Virus das Herz schützt. Es sind wohl eher statistische Effekte, die zu den Zahlen führen. Professor Steffen Massberg, Klinikdirektor an der LMU München vermutet dazu: "Während der Coronakrise wurden Herzinfarkte in Italien seltener diagnostiziert, weil Patienten bei Anzeichen nicht ins Krankenhaus kamen." Es könnte zudem auch sein, dass Ärzte durch die Fokussierung auf Corona Hinweise auf einen Herzinfarkt übersehen. Das ist ein zusätzliches Risiko der Coronakrise, dass andere – durchaus auch sehr gefährliche Krankheiten – aus dem Blick geraten.
Von Michael Lange
Möglicherweise erhöhen blutdrucksenkende Medikamente das Risiko einer Erkrankung an COVID-19. Mediziner raten aber dennoch entschieden davon ab, die Medikamente abzusetzen. Denn ein unkontrollierter Blutdruck parallel zu einer Virusinfektion ist das deutlich größere Risiko.
"2020-04-07T09:35:00+02:00"
"2020-04-08T09:31:42.343000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/corona-und-das-herz-ein-gut-eingestellter-blutdruck-hilft-100.html
90,908
"Pegida" erreicht Berlin
In Dresden gingen Tausende Pegida-Anhänger auf die Straße (picture alliance / dpa / Arno Burg) "Das, was Pegida veranstaltet, ist nichts anderes als widerlich." Heiko Maas wünscht sich, dass Vertreter aller Parteien zu Gegendemonstrationen aufrufen. Stanislaw Tillich, Regierungschef in Sachsen, hat genau das getan, doch er will mehr: Der Christdemokrat will mit den Protestierenden ins Gespräch kommen. Klarmachen, dass die meisten Asylsuchenden Menschen sind, die dem Krieg in Syrien im Irak oder in anderen Krisenregionen entkommen sind, darum muss es gehen, so Tillich gegenüber der Welt. Ähnlich der Christdemokrat Wolfgang Bosbach im ZDF-Morgenmagazin: "Es gibt in der Bevölkerung doch viele nachvollziehbare, auch verständliche Ängste und Sorgen. Und ich kann der Politik nur raten, diese Ängste und Sorgen auch ernst zu nehmen." Parteifreund Thomas de Maizière schlägt allerdings am Rande des CDU-Parteitages auch andere Töne an, verweist darauf, dass Zuwanderer, die straffällig werden, aus Deutschland künftig noch schneller als bisher ausgewiesen werden sollen: "Ich habe gerade ein entsprechendes Gesetz vorgelegt, von daher verstehe ich ein Teil dieser Sorge." De Maizière: Weder Patrioten noch Abendland Der Name der Protestbewegung allerdings ist für den in Dresden lebenden Innenminister eine Provokation. Die Teilnehmer sind in seinen Augen weder Patrioten, noch stehen sie hinter den Werten des Abendlandes, schon gar nicht hinter denen des christlichen. Die "Alternative für Deutschland" hat da weniger Berührungsängste mit der "Pegida"-Bewegung. Parteichef Bernd Lucke findet die Demos gut. Vorstandsmitglied Alexander Gauland betrachtet seine AfD sogar als natürlichen Verbündeten des Protestes gegen die Zuwanderung. "Wir wollen das nicht mitorganisieren, aber wir unterstützen diese Bewegung, die da in Dresden entstanden ist." Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit. AfD-Mitglied Alexander Heumann hat die jüngste Demonstration in Düsseldorf organisiert. Der Rechtsanwalt mischt bei den Protesten aktiv mit, trat auch als Redner auf - in Hannover etwa, bei der "Hooligans gegen Salafisten"-Veranstaltung. Auch das dürfte führende Unionspolitiker darin bestärken, nicht mit der AfD zu kooperieren. Unionsfraktionschef Volker Kauder am Morgen im Deutschlandfunk: "Wir müssen immer wieder bekräftigen, dass wir eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen. Wer der AfD auch nur eine geringe Chance anbieten würde, dass da etwas gehen könnte, würde sie nur stärken." Belehrungen von der SPD verbittet sich der Christdemokrat im gleichen Atemzug. Wer der Linkspartei in Thüringen auf den Regierungssessel verholfen habe, sollte sich zurückhalten, wenn es um Ratschläge im Umgang mit den Rechtspopulisten geht.
Von Frank Capellan
10.000 Demonstranten in Dresden haben die Politik aufgeschreckt. Dass überall in der Republik Menschen auf die Straße gehen und Stimmung gegen Flüchtlinge machen, treibt nun auch die Politik in der Hauptstadt um. Bundesjustizminister Maas (SPD) äußert sich besonders entsetzt.
"2014-12-10T05:05:00+01:00"
"2020-01-31T14:18:07.684000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/anti-islam-bewegung-pegida-erreicht-berlin-100.html
90,909
Zwischen Herdenschutz und Verschwörungstheorie
Wie sinnvoll wäre eine Impfpflicht? (imago) Diskutiert wird deshalb eine Impfpflicht für Deutschland. Befürworter meinen, damit könne der nötige Herdenschutz endlich erreicht werden, der auch nicht geimpfte Menschen wie etwa Neugeborene vor der Ansteckung schützt. Kritiker warnen allerdings: Der Zwang könne Eltern in die Arme von radikalen Impfgegnern treiben. Die nutzten vermehrt das Internet, um Angst vor Nebenwirkungen von Impfungen zu schüren. Stephanie Gebert beschäftigt sich im "Wochenendjournal" mit einem Reizthema, das auf den ersten Blick nur zwei Seiten kennt und deshalb regelmäßig für überhitzte Diskussionen sorgt.
Moderation: Stephanie Gebert
In Industrienationen gibt es immer mehr Eltern, die ihre Babys und Kleinkinder nicht gegen Krankheiten wie Masern oder Keuchhusten impfen lassen. Auch in Deutschland sinken die Impfraten. Gleichzeitig registrieren Gesundheitsämter wieder Fälle von eigentlich ausgerotteten Krankheiten.
"2018-09-22T09:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:35.549000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reizthema-impfen-zwischen-herdenschutz-und-100.html
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Sanktionen sind keine Lösung
Christoph Heinemann: Eine pro-russische Regierung, eine pro-europäische Opposition, dabei auch eine rechtsnationalistische Gruppierung, Unruhen im Westen und in der Zentral-Ukraine, Gewalt auf beiden Seiten und drei Tote. Am Abend trafen der bekannteste Oppositionsführer Vitali Klitschko und zwei weitere Vertreter der Protestbewegung mit dem Präsidenten zusammen. Unterdessen wird in Washington über Konsequenzen und in Brüssel laut über Sanktionen gegen die ukrainische Regierung nachgedacht. EU-Kommissar Stefan Füle will heute nach Kiew reisen. - Am Telefon ist Pavlo Klimkin, der Botschafter der Ukraine in Deutschland. Guten Morgen. Pavlo Klimkin: Schönen guten Morgen. Heinemann: Herr Botschafter, warum bewegt sich die Regierung nicht? Klimkin: Ja, es ist wichtig, dass man miteinander spricht, und zwar insbesondere in den letzten zwei Tagen haben zwei Runden der Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und drei Oppositionsführern stattgefunden. Man hat auch angekündigt, am 28., am Dienstag, da tagt außerordentlich das ukrainische Parlament, und bei dieser Sitzung kann man auch viele umstrittene Fragen dann klären. Heinemann: Zum Beispiel die Frage nach einem Rücktritt der Regierung. Nun hat die Regierung im Parlament die Mehrheit. Klimkin: Ja, man hat gesagt, alle Fragen, die im Moment auf dem Tisch sind, können bei dieser Sitzung besprochen werden, und zwar über die Verantwortung der Regierung, aber auch um die Gesetze, die im Eilverfahren am 16. Januar beschlossen wurden. Heinemann: Gibt es eine Chance dafür, dass das Parlament den Forderungen der Demonstranten zustimmen wird? Klimkin: Ja, es gibt einige Forderungen, und wie Sie in Ihrem Bericht auch mitgeteilt haben, hat man auf Majdan gestern Abend die Lage sich angesehen und hat gesagt, im Moment braucht man weitere Verhandlungen. Heinemann: Spielt der Präsident auf Zeit? Klimkin: Nein, glaube ich nicht. Bei diesen Gewaltexzessen kann man auf Zeit einfach nicht spielen. Das entspricht nicht der Lage. Heinemann: Gewaltexzesse, Herr Botschafter. Ein Video geht zurzeit um die Welt: Sogenannte Sicherheitskräfte zwingen einen Mann, sich zu entkleiden, bei minus zehn Grad, und sie verpassen ihm Ohrfeigen. Sind solche Demütigungen in der Ukraine normal? Klimkin: Nein, das ist schockierend und abscheulich. Das Innenministerium hat schon gesagt, sie werden auf diese Sache eingehen. Sie haben sich auch entschuldigt. Aber was da passiert hat, ist wirklich schockierend und abscheulich. Heinemann: Es waren offenbar Sondereinsatzkräfte der Berkut. Dass die das vor laufenden Kameras gemacht haben, bezeugt nicht ein hoch ausgebildetes Unrechtsbewusstsein. Klimkin: Ja, das ist ein Einzelfall. Aber wie gesagt, das ist wirklich eine Ausnahme, aber wirklich schockierend, und man muss da wirklich prüfen und auch alle möglichen Schritte dann unternehmen, damit so was Ähnliches nie einfach passieren könnte. Heinemann: Sie sagten Einzelfall. Wir haben im Bericht von Hermann Krause gehört, dass Verwundete aus den Krankenhäusern geholt und ins Gefängnis gesteckt werden. Sind das auch Einzelfälle? Klimkin: Ja, man prüft eigentlich jeden Einzelfall. Es gibt viele Berichte im Moment. Aber wie gesagt: Die Stimmung ist wirklich schwierig und angespannt und man muss einfach dafür sorgen, dass diese Gewalt nicht angewendet wird, von allen Seiten. Sie haben über die angebliche pro-russische Regierung und pro-westliche Opposition berichtet, aber es gibt zwei Seiten in diesem Sinne auch nicht. Es gibt Zivilgesellschaften zwar auf dem Majdan in der Ukraine, man muss irgendwie die Lage in der Ukraine besser verstehen. Heinemann: Stichwort Gewalt: Wer ist verantwortlich für die Toten von Kiew? Klimkin: Man versucht jetzt, das zu klären. Man hat gestern Abend gesagt, dass zwei Menschen auf Majdan beispielsweise mit Jagdgeschossen, angeblich mit Jagdgeschossen getötet wurden, und diese Jagdgeschosse benutzt das Innenministerium selbstverständlich nicht. Man muss da ganz klar ermitteln, wer ist dafür verantwortlich. Heinemann: Vitali Klitschko sagt heute in der "Bild"-Zeitung, es seien Scharfschützen in Position gegangen. Klimkin: Ja, deswegen prüft man das. Und das ist gerade das, was die ganze Lage auch zugespitzt hat. Heinemann: Wieso sind denn Scharfschützen in Stellung, wenn sie nicht schießen sollen? Klimkin: Nein, man spricht im Moment nicht über die Scharfschützen. Das ist nicht bestätigt. Aber das ist wirklich eine Entwicklung, die man gleich prüfen muss. Und wie gesagt: Diese Information, dass mit Jagdpatronen getötet wurde, das muss ganz, ganz schnell geprüft werden. Heinemann: Schließen Sie aus, dass die Polizei gezielt auf Demonstranten schießt, oder Sicherheitssondereinsatzkräfte der Berkut? Klimkin: Ja, absolut! Heinemann: Da sind Sie ganz sicher? Klimkin: Man hat Gummigeschosse zwar angewendet, aber auf keinen Fall dann gezielt geschossen. Heinemann: Da sind Sie ganz sicher? Klimkin: Absolut! Heinemann: Herr Botschafter, die Regierung hat in Windeseile ein Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit und des Versammlungsrechts beschlossen. Das sind Reaktionen, wie man sie aus Moskau kennt. Ist Putins Russland Maßstab für die ukrainische Regierung? Klimkin: Nein! Die Gesetze wurden zwar in diesem Eilverfahren beschlossen. Das hat viele Stimmen dann in der Ukraine ausgelöst. Und da spricht man gerade darüber, was man mit diesen Gesetzen weiter macht. Eine der praktischen Ideen ist, dass man das bei der außerordentlichen Sitzung des Parlaments weiter besprechen soll, und es gibt auch ganz viele Stimmen in der Ukraine, dass man dies nicht nur im Parlament, sondern auch mit der Zivilgesellschaft in der Ukraine absprechen soll. Heinemann: Aber das kann man doch nicht erreichen, indem man Demonstrationen verbietet. Klimkin: Ja, selbstverständlich nicht. Heinemann: Wieso dann diese Gesetze? Warum werden die nicht zurückgenommen? Klimkin: Weil diese Gesetze dann jetzt beim Parlament weiter besprochen werden sollen. Das Parlament kann ja sagen, okay, diese Gesetze müssen absolut neuverhandelt werden. Aber ich kann ja nicht sagen, was für eine Entscheidung das Parlament am Dienstag trifft. Heinemann: Bei den Mehrheitsverhältnissen, die dort herrschen, kann man das sich an fünf Fingern abrechnen, abzählen. Klimkin: Nein. Ich glaube, das ist eine Frage des Konsenses. Das ist keine Frage der Mehrheitsverhältnisse. Das geht einfach weiter. Heinemann: Herr Botschafter, US-Vizepräsident Joe Biden und EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso schließen Sanktionen beziehungsweise Konsequenzen nicht aus, zum Beispiel Einschränkung von Visa oder Konten sperren. Wie würde die ukrainische Führung auf solche Sanktionen reagieren? Klimkin: Ich glaube, die Sanktionen sind nie eine Lösung. Sie haben zwar so eine Art Signalwirkung, aber sie können in dem Sinne nichts bewirken. Und das Wichtigste ist nicht, über die Sanktionen nachzudenken, sondern die Lage in der Ukraine so schnell wie möglich zu stabilisieren und auch zu gewährleisten, dass man miteinander spricht, dass keine Gewaltexzesse, und zwar nachhaltig, nicht passieren, und dass man einen Konsens, und nicht nur einen politischen Konsens, sondern einen gesellschaftlichen Konsens in der Ukraine schnell findet. Heinemann: Könnten denn Sanktionen diese Suche nach einem Konsens beschleunigen? Klimkin: Nein, ich glaube nicht. Wir, die Ukraine, wir müssen diesen Konsens finden. Heinemann: Herr Botschafter, Deutschland musste nach dem Krieg die Demokratie lernen oder wieder lernen. Hat die Ukraine das noch vor sich? Klimkin: Ja ich glaube, so eine Art demokratische Besinnung, so eine Art demokratische Mentalität gab es in der Ukraine immer. Das begründet auch die ukrainische Geschichte mit vielen historischen Zügen. Aber die klassische europäische Demokratie mit so einem Konsensgefühl, mit dieser Konsenskultur muss die Ukraine weiter lernen, und das ist gerade unsere Aufgabe. Heinemann: Pavlo Klimkin, der Botschafter der Ukraine in Deutschland. Danke schön für das Gespräch, Kompliment für Ihre Deutschkenntnisse und auf Wiederhören. Klimkin: Vielen Dank. Auf Wiederhören. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Pavlo Klimkin, schließt aus, dass die Polizei in Kiew scharf auf Demonstranten geschossen hat. Im Deutschlandfunk sagte Klimkin auch, dass Sanktionen gegen sein Land nichts bewirken würden.
"2014-01-24T07:15:00+01:00"
"2020-01-31T13:23:02.124000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-sanktionen-sind-keine-loesung-100.html
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"In Deutschland lernen gerade mal 40 Prozent zwei Fremdsprachen"
Die direkte Ansprache in der Muttersprache der Menschen "schließt buchstäblich die Herzen sofort auf", sagte Didaktikprofessor Jochen Plikat im Dlf (picture-alliance/ ZB / Arno Burgi) Thekla Jahn: Eines ist wirklich ein Gewinn: Egal in welchem Land wir arbeiten oder – je nachdem, wie unser Job gestrickt ist - mit welchen Mitarbeitern wir es bei Großunternehmen in unterschiedlichen Ländern zu tun haben, mittlerweile können sehr, sehr viele Menschen eine gemeinsame Sprache. "Global Engish" ist das Stichwort. Aber, und das ist die Frage, die sich aktuell stellt: Sollte es in der Schule deshalb nur noch Englisch als Fremdsprache geben? Sind Latein, Französisch, Spanisch, Italienisch oder vielleicht auch Chinesisch uninteressant? Eine heute an der Uni Dresden beginnende Tagung beschäftigt sich genau damit und ich habe einen der Initiatoren vorab gesprochen: Jochen Plikat, Juniorprofessor für Didaktik der romanischen Sprachen an der TU Dresden, der selber übrigens fünf Fremdsprachen spricht. Von ihm wollte ich wissen, warum man sich denn in Zeiten, in denen man gut mit Englisch durch die Welt kommt und ansonsten auf Übersetzungsapps zurückgreifen kann, überhaupt noch die Mühe machen sollte, andere Fremdsprachen als English zu lernen. Und wäre das so schlimm, wenn man es nicht täte? Jochen Plikat: Ich denke, dass uns da ein großer Reichtum verlorengeht, den wir in Europa haben und den wir auch pflegen sollten. Wir haben ja insgesamt circa 90 Sprachen in Europa, die gesprochen werden, und das ist nun mal der Kontinent, auf dem wir leben. Und ja, man muss in vielen Gegenden nur wenige Kilometer fahren, um in einen anderen Sprachraum zu gelangen, insofern lohnt sich das durchaus. Dazu kommt aber noch, dass die Sprachen, die in Europa gesprochen werden – also gerade auch die Sprachen, mit denen ich mich beschäftige, zum Beispiel Französisch, Italienisch, Spanisch … Gerade Französisch und Spanisch haben ja als Weltsprachen auch eine ganz wichtige Bedeutung – nach Englisch, zugegeben, klar –, aber denken Sie beispielsweise an Afrika, da ist Französisch eine sehr wichtige Verkehrssprache. "Ich interessiere mich für deine Welt" Thekla Jahn: Okay, aber dennoch, auch in Afrika, die meisten Menschen sprechen Englisch. Welchen Mehrwert bringt das denn da, eine andere Fremdsprache außer Englisch zu sprechen? Plikat: Ja, das ist natürlich richtig, aber die Qualität der Verbindung zu einem Menschen, den ich direkt in seiner Muttersprache ansprechen kann, die ist natürlich eine ganz andere, als wenn sich beide dann in oft ganz passablem Englisch inzwischen, zugegeben, aber eben doch in einer Fremdsprache unterhalten müssen. Die direkte Verbindung bekommt eine neue Qualität. Ich signalisiere ja auch meinem Gegenüber, ich habe deine Sprache gelernt, ich interessiere mich für deine Welt, das sind ganz starke Signale. Sie haben vielleicht selbst schon mal die Erfahrung gemacht, wenn Sie eine Sprache sprechen, die eben nicht Englisch ist, und mit einer Person dann in dieser Sprache sprechen können, das schließt buchstäblich die Herzen sofort auf. Übersetzungsprogramme ermöglichen rudimentäre Kommunikation Jahn: Jetzt kann man natürlich einwenden, ich bin jetzt so ein bisschen der Advocatus Diaboli und sage, ja, es gibt ja Übersetzungsprogramme heutzutage. Es gibt Software, und da gebe ich dann eine Phrase ein, die ich übersetzen möchte in eine fremde Sprache, also nicht Englisch, sondern in eine andere Sprache, und ich habe dann einen relativ passablen Satz, und damit kann ich mich ja auch unterhalten. Plikat: Das mag sein, und das stimmt auch immer mehr. Diese Übersetzungsprogramme werden auch immer leistungsfähiger, aber gerade dieser direkte Kontakt zu den Menschen, der ist natürlich nicht möglich, wenn ich da sozusagen eine Prothese zwischenschalten muss. Die rudimentäre Kommunikation ist möglich, aber vieles, was darüber hinausgeht, dann eben nicht. Ziel in Europa: Muttersprache plus zwei Fremdsprachen Jahn: Das sind gute Argumente für Mehrsprachigkeit und genau aus dem Grund hat ja die EU seinerzeit empfohlen, dass jeder Bürger, jede Bürgerin der EU mindestens zwei Fremdsprachen lernen sollte. In Luxemburg oder Finnland ist das bereits Realität, wie ist das bei uns in Deutschland? Plikat: Wenn Sie sich den internationalen Vergleich ansehen, dann haben wir im EU-Schnitt in der Sekundarstufe I sechzig Prozent der Schüler, die zwei oder mehr Fremdsprachen lernen. In Italien sind es sogar fast hundert Prozent, in Deutschland sind es gerade mal 40 Prozent, die zwei Fremdsprachen lernen. Also, wir haben sechzig Prozent der Schüler, die eben nur Englisch in der Regel lernen, und das ist zu wenig, denke ich, wenn man dieses Ziel Muttersprache plus zwei Fremdsprachen in Europa ernst nimmt. Die kulturelle Bereicherung einer Fremdsprache Jahn: Woran liegt das, haben Sie eine Erklärung dafür? Plikat: Ich denke, es hat sich gerade in den letzten Jahren auch so ein starker Nützlichkeitsgedanke in Bildungssystemen durchgesetzt, also man fragt immer mehr, was kann ich damit jetzt konkret tun mit dem, was ich in der Schule lerne, aber das ist oft kurzfristig gedacht. Der Gewinn, den ich aus einer Fremdsprache ziehe, der ist oft gar nicht so direkt, sagen wir mal, Arbeitsmarktüberlegungen zu übersetzen, sondern der spielt sich oft auf einer ganz anderen Ebene ab. Denken Sie an die enorme kulturelle Bereicherung, die es darstellt, wenn ich eine Fremdsprache lerne – beispielsweise Spanisch, Französisch, Italienisch, Russisch –, das schließt mir einen ganz neuen Kulturraum auf und nebenbei natürlich auch den Zugang, den direkten Zugang zu mehreren hundert Millionen Menschen in den Fällen, die ich jetzt genannt habe als Beispiel. Und das ist schon eine enorme persönliche Bereicherung, die man in der Schule vielleicht noch gar nicht direkt vorhersehen kann, aber die auf jeden Fall kommen wird, wenn man dann den Menschen aus diesen Sprachräumen eben direkt begegnet. Zweite Fremdsprache gekippt: "sehr unglückliche Entwicklung" Jahn: Wie wollen Sie mit Ihrer Tagung, aber auch darüber hinaus, die Attraktivität von Fremdsprachen, also neben dem Englischen, in der Schule erhöhen? Haben Sie da Rettungsstrategien parat? Plikat: In erster Linie wollen wir die Diskussion über dieses aus meiner Sicht sehr wichtige Thema anstoßen. Es gibt manchmal Entwicklungen, die sozusagen nebenbei auf administrativer Ebene passieren und dann doch ganz erhebliche Auswirkungen haben. Denken Sie an die Verpflichtung in der gymnasialen Oberstufe, eine zweite Fremdsprache auch weiterzuführen – das ist in manchen Bundesländern, zum Beispiel in Sachsen, inzwischen gekippt worden. Also nach der zehnten Klasse können die Gymnasialschüler dann die zweite Sprache abwählen, und genau das passiert auch. Und ich denke, das ist tatsächlich eine sehr unglückliche Entwicklung, wenn wir dieses europäische Ziel der Muttersprache plus zwei, also dieser pfiffigen Formel Muttersprache plus zwei, erreichen wollen. Das bekommen wir natürlich nicht hin, wenn wir zulassen, dass Muttersprache plus eins der Normalfall ist für viele. Jahn: Ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit. Das war Jochen Plikat, Juniorprofessor für Didaktik der romanischen Sprachen an der Technischen Universität Dresden, an der in diesen Tagen eine Tagung zur Mehrsprachigkeit stattfindet. Danke Ihnen für das Gespräch! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jochen Plikat im Gespräch mit Thekla Jahn
Im internationalen Vergleich hinken die Deutschen beim Sprachenlernen hinterher. Jochen Plikat, Didaktikprofessor für romanische Sprachen, plädiert jedoch für das europäische Ziel "Muttersprache plus zwei". Fremdsprachen bedeuteten eine enorme kulturelle Bereicherung, sagte er im Dlf.
"2019-04-04T14:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:45:45.021000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/didaktikexperte-ueber-weltsprachen-in-deutschland-lernen-100.html
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"Vorbild für andere Länder"
Noch 2020 sollen die ersten Braunkohle-Kraftwerke in Deutschland stillgelegt werden. Andere europäische Länder seien noch nicht so weit, sagte (dpa / picture-alliance / Andreas Franke) Mit der Einigung von Bundestag und Bundesrat steht fest: Bis spätestens 2038 soll in Deutschland das letzte Kohlekraftwerk stillgelegt sein. Mit dem Ende des Stroms aus Kohle will die Bundesregierung dafür sorgen, dass Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen kann. Denn: Der Energiesektor mit seinen rund 100 Kohlekraftwerken stößt in Deutschland immer noch fast ein Drittel der Klimagase aus. Der deutsche Kohleausstieg sei ein "mutiger und richtiger Schritt", sagte CDU-Europapolitiker Peter Liese im Dlf. Dieser könne als Vorbild für andere Länder dienen, die - wie beispielsweise Polen - noch an der Braunkohle festhalten. Im Gegensatz zu Frankreich würde man in Deutschland vorab auch noch aus der Kernenergie aussteigen. Dies sei ein großer Schritt, der von vielen anderen Ländern noch gar nicht nachvollzogen wird. Das mache den Kohleausstieg in Deutschland anspruchsvoller. In Polen würden noch 80 Prozent des Stroms aus Kohle gewonnen - ein Kohleausstieg werde noch gar nicht ins Auge gefasst. "Die Länder, die schneller sind als wir, haben einen hohen Anteil an Kernenergie", so Liese weiter. Klimaschutz - Worum es beim Kohleausstiegsgesetz gehtBis 2038 soll in Deutschland auch das letzte Kohlekraftwerk stillgelegt sein. Mehr als 50 Milliarden Euro wird das Ende der Kohleverstromung voraussichtlich kosten. Was sind die Knackpunkte und wer stellt sich dagegen? "Weitere Maßnahmen im Verkehr und Gebäudesektor nötig" Es sei aber kritisch zu hinterfragen, warum man bisher so lang auf die Kohle gesetzt habe. Nach der Wiedervereinigung habe man einen großen Schritt gemacht, indem man die Hälfte der Braunkohle in Ostdeutschland abgeschaltet habe. Er hätte sich gewünscht, dass man auch in Westdeutschland schneller gehandelt hätte. "Wir haben als EU versprochen, dass wir den CO2-Ausstoß um 40 Prozent reduzieren wollen, die erreichen wir locker mit dem deutschen Kohleausstieg. Das ist ein wichtiger Beitrag", so der CDU-Europapolitiker. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens bis 2030 zu erreichen, sei der deutsche Kohleausstieg dennoch nicht ausreichend. Hier seien weitere Maßnahmen im Verkehr und Gebäudesektor nötig, sagte Liese. Man solle sich hier anspruchsvolle Ziele setzen: "Ich will, dass wir auf 50 bis 55 Prozent gehen", sagte Liese. Um die gesteckten Ziele bis 2030 zu erreichen, soll die Energiewirtschaft den Ausstoß von Treibhausgasen um etwa 62 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 verringern. Baerbock: "Viele kleine Fallstricke in diesem Gesetz"Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock hält einen Kohleausstieg 2038 klimapolitisch für zu spät. Das Kohleausstiegsgesetz erschwere aber einen früheren Ausstieg, kritisierte sie im Dlf.
Peter Liese im Gespräch mit Stephanie Rohde
Der Kohleausstieg in Deutschland sei anspruchsvoll, weil man vorab auch noch aus der Kernenergie aussteige, sagte CDU-Europapolitiker Peter Liese im Dlf. Dieser Schritt werde von vielen anderen Ländern noch gar nicht nachvollzogen. Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, seien aber weitere Maßnahmen nötig.
"2020-07-04T07:15:00+02:00"
"2020-07-06T17:11:51.752000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/liese-cdu-zum-deutschen-kohleausstieg-vorbild-fuer-andere-100.html
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US-Teenager in Frankfurt festgehalten
Passkontrolle am Flughafen Frankfurt am Main (dpa / picture-alliance / Marius Becker) Der Vorfall am Flughafen in Frankfurt am Main ereignete sich schon am Wochenende. Nachdem sich die besorgten Eltern aus dem US-Bundesstaat Colorado bei den Behörden gemeldet hatten, waren die Mädchen nach der Ankunft in Deutschland festgehalten worden. Es wird vermutet, dass die Älteste der Gruppe die Reise organisiert und dazu auch etwa 2.000 US-Dollar von ihren Eltern gestohlen hat. Die Familien der Mädchen sollen nach Angaben des Fernsehsenders CNN Wurzeln im Sudan und Somalia haben. Die drei wurden unter Aufsicht des amerikanischen Inlandsgeheimdienstes FBI bereits am Sonntag wieder in die USA geflogen. Dass die Justizbehörden gegen sie vorgehen werden, ist unwahrscheinlich. Kerry in Berlin eingetroffen In Deutschland ist inzwischen ein anderer Besucher aus den USA eingetroffen - und es geht ihm ebenfalls um den IS: US-Außenminister Kerry wurde in Berlin von seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier empfangen. Anschließend rief er alle Staaten zu verstärkten Bemühungen auf, um die Ausreise einheimischer Islamisten in den Krieg im Irak und Syrien zu verhindern. Das US-Verteidigungsministerium gab inzwischen bekannt, dass seine Waffenlieferungen an die Kurden in Nordsyrien nicht komplett ihr Ziel erreicht hätten. Mindestens eines der Bündel mit Waffen sei nicht wie geplant gelandet. Dass IS-Kämpfer nun im Besitz der Lieferung seien, könne man aber nicht bestätigen, so ein Sprecher des Pentagons. Das hält aber wiederum die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte für wahrscheinlich. Schwere Vorwürfe gegen IS Die Stelle äußerte sich auch zu neuen Vorwürfen kurdischer Kämpfer gegen den IS. Danach soll die Miliz Chemiewaffen in Kobane eingesetzt haben. Dafür gibt es derzeit aber keine Belege. Ärzte vor Ort könnten einen solchen Angriff nicht bestätigen. Rami Abdel Rahman von der Beobachtungsstelle in London ergänzte außerdem: "Ich werde keine solche Behauptung aufstellen, bevor es keine Bestätigung von Befehlshabern der kurdischen Volksschutzeinheiten gibt." (pr/bor)
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Sie sind nicht einmal volljährig, wollten sich offenbar aber der Terrormiliz Islamischer Staat anschließen. Drei Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren wurden von den Sicherheitsbehörden am Frankfurter Flughafen gestoppt. Das FBI geht davon aus, dass sie auf dem Weg nach Syrien waren.
"2014-10-22T10:57:00+02:00"
"2020-01-31T14:09:38.450000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-is-terror-us-teenager-in-frankfurt-festgehalten-100.html
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Top oder Flop
In besagtem Experiment wird eine stehende Schallwelle in flüssigem Aceton erzeugt. Vorher sind in der Flüssigkeit die Wasserstoffatome durch das schwere Isotop Deuterium ersetzt worden. Die Schallwelle sorgt abwechselnd für Über- und Unterdruck im Aceton. Dadurch kommt es zyklisch zur Bildung von Dampfblasen. Zum Zeitpunkt des maximalen Unterdrucks wird das Becherglas nun mit schnellen Neutronen beschossen. Rusi Taleyarkhan, der ausführende Ingenieur von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana, erläutert, was dann geschieht:Durch den Neutronenbeschuss wird das Aceton in seine atomaren Bestandteile geteilt. Die Deuteriumblasen wachsen für 27 Mikrosekunden um das 100.000fache, was man mit bloßem Auge beobachten kann. Wenn dann der Schalldruck positiv wird, beginnt ein Implosionsprozess. Binnen Nanosekunden schrumpfen die Blasen wieder zu ihrer Ausgangsgröße. Zu diesem Zeitpunkt werden Lichtblitze ausgesandt. Und wenn die Bedingungen heiß und komprimiert genug sind, messen wir die Produktion von Neutronen.Diese gemessenen Neutronen hätten genau die Energie, die sie haben müssten, wenn sie die Produkte einer Fusionsreaktion wären, berichtet Taleyarkhan. Zusätzlich sei im Aceton nach Ablauf des Experiments Tritium nachweisbar. Aufgrund dieser Messungen schließen die Forscher aktuell in den "Physical Review Letters" auf die Fusion von Deuteriumkernen. Als das Team 2002 erstmals von der Fusion im Becherglas berichtete, hagelte es Kritik von allen Seiten. Die ernsthafteste kam aus Taleyarkhans damaligem Forschungslabor:Wir wurden damals kritisiert, unser Neutronendetektor sei falsch kalibriert gewesen. Diesmal haben wir komplett neue Messgeräte benutzt, die in Summe 20 Mal effizienter sind. Wir können nun die Dynamik der Blasen über ihre gesamte Lebensdauer überwachen. Das gleiche gilt für die Messung der Neutronen und der Gammastrahlung. Wir müssen nun nicht mehr auf die statistische Auswertung warten. Die Daten bauen sich vor unseren Augen auf. Dadurch können wir sämtliche Prozesse in ihren ursächlichen Zusammenhang stellen.Lee Riedinger vom Oak Ridge National Laboratory hat Taleyarkhans Experiment damals wie heute kritisch begleitet. Wer in dem Streit vor zwei Jahren nun falsch lag, weiß er bis heute nicht. Wenn auch die neuen Daten "viel besser" seien als 2002, betont Riedinger, dass eine Fusion bisher weder bewiesen noch widerlegt sei. Riedinger weist auf ein besonderes Messergebnis hin, das manchen schon zu eindeutig ist, um richtig zu sein:Es gibt da eine Veränderung im vermeintlichen Neutronen-Spektrum. Aber sind das wirklich Neutronen? Es könnte auch Gammastrahlung sein, die auch entsteht - wenn keine Fusion stattfindet. Nun haben wir im Labor Möglichkeiten, diese zu unterscheiden: Gammastrahlung aus der Reaktorzelle erreicht den Detektor viel schneller als Neutronen. Taleyarkhan hat hier einen elektronischen Impulsunterscheider eingesetzt, um entweder Gammastrahlung oder Neutronen zu messen. Eine Sorge, die manche haben, ist, wie genau ist dieser Unterscheider? Ich glaube, er hat es korrekt gemacht. Doch weitere Messungen sind nötig, um sicher von einem Neutroneneffekt sprechen zu können.Um Klarheit zu schaffen, hatte Riedinger Taleyarkhan vorgeschlagen zu versuchen, das Neutronensignal "verschwinden zu lassen". Etwa, indem Absorber zwischen Reaktorzelle und Messgerät platziert werden. Dieses sei jedoch nicht möglich, sagt Taleyarkhan, da das ganze Experiment sehr kompakt ist. Was sein Team jedoch gemacht hat, sind Kontrollexperimente. Als normales Aceton ohne Deuterium beschallt und bestrahlt wurde, verlief die Fahndung nach Fusionsprodukten jenseits des allgegenwärtigen Rauschens erfolglos. Taleyarkhans Team ist sich auch daher sicher, dass es sich tatsächlich um Fusion handelt - zumal Berechnungen dieses auch vorausgesagt haben. Ob sich der Prozess eignen könnte, um daraus tatsächlich einmal Energie zu gewinnen, diese Frage will Taleyarkhan aber nicht eindeutig beantworten:Wir können dazu nur eine Aussage treffen: Es gibt interessante Zeichen, dass die Neutronenproduktion und somit die Energieausbeute exponentiell mit der Schallamplitude steigt. Es gibt keine Garantie, dass wir die Rentabilitätsgrenze irgendwann erreichen werden. Im selben Atemzug will ich aber auch sagen, dass es keinen Grund gibt davon auszugehen, dass dieses nicht der Fall sein könnte.
Von Haiko Lietz
Die kalte Kernfusion im Wasserglas ist ein alter Traum der Kernphysiker. Mehr als Träume sind bislang jedenfalls nicht produziert worden, wann immer die so genannte Bläschenfusion wieder einmal als geglückt gemeldet wurde, und es waren Träume, die obendrein schnell platzten. Ein Forscherteam aus den USA und Russland hat vor zwei Jahren entsprechendes in "Science" berichtet, wurde damals heftig kritisiert, hat erneut nachgemessen und - bleibt bei seinen Ergebnissen.
"2004-04-15T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:38:59.136000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/top-oder-flop-102.html
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Der Informationsfilter
Ständig werden die Algorithmen bei Facebook angepasst - da fließt auch Wissen ein, das das Unternehmen über seine Nutzer ansammelt (Hans-Jörg Brehm / epict.de) Im Jahr 2012 führte Facebook ein Experiment an knapp 700.000 seiner Nutzer durch. Forscher veränderten den Algorithmus, der auswählt, welche Beiträge die Nutzer angezeigt bekommen. Manche Nutzer bekamen daraufhin mehr positiv konnotierte Beiträge angezeigt als üblich, andere mehr negative. Das Ergebnis der Studie war, dass sich diese kleine Veränderung auf das Verhalten der Nutzer auswirkte. Die Arbeit erschien 2014 im renommierten Fachblatt PNAS. Was folgte, war ein Aufschrei: Wie konnte Facebook seine Nutzer nur derart manipulieren? "Das zeigt ja, wenn so einfach quasi durch das Verschieben von irgendwelchen Parametern man Stimmungen dort beeinflussen kann, dass es Facebook die ganze Zeit macht. Nur vorher wird es als normal empfunden. Und wenn es Abweichungen gibt, erzeugt es Aufregung." Alter, Geschlecht, Vorlieben, Wohnort - alles fließt ein Der Punkt, den Lorenz Matzat von der Organisation Algorithm Watch anspricht, ist folgender: Tatsächlich muss Facebook irgendwie auswählen, welche Beiträge es seinen Nutzern anzeigt. Denn wann immer einer der über eine Milliarde täglichen Nutzer seinen Nachrichtenstrom aufruft, könnte das soziale Netzwerk ihm 1.500 bis 15.000 mögliche Beiträge anzeigen – je nachdem, wie viele Freunde er hat. Facebook kanalisiert diese Informationsflut, indem Algorithmen entscheiden, was einen bestimmten Nutzer am meisten interessieren dürfte. Diese Filter-Algorithmen werden – auch unabhängig von irgendwelchen Experimenten, die gerade laufen mögen – ständig angepasst. Lorenz Matzat: "Der kriegt zum einen natürlich erst einmal die Inhalte rein, die alle möglichen Leute zur Verfügung stellen: Das sind die Texte und mittlerweile viele Videos, natürlich Fotos und auch Audio. Und Werbung nicht zuletzt. Und dann gibt es Wissen über die einzelnen Nutzer. Also, mein Alter, mein Geschlecht, mein Wohnort, meine Vorlieben und Interessen. Dann kennt Facebook von mir mein Verhalten im Vorherigen, was ich geliked habe." Angeblich 100.000 Faktoren Aus all diesen Informationen errechnet der Algorithmus, wie wahrscheinlich es ist, dass ein bestimmter Nutzer mit einem bestimmten Inhalt interagiert. Diese Einschätzung basiert darauf, wer den Inhalt erstellt hat: War der Nutzer in der Vergangenheit interessiert an dieser Person? Sie basiert darauf, was für ein Inhalt es ist: Reagiert der Nutzer eher auf Fotos oder Videos? Sie basiert auf den bisherigen Reaktionen auf den Inhalt: Wurde er oft weitergeleitet? Sie basiert auf der Aktualität. Und so weiter. Ein Facebook-Entwickler wird oft damit zitiert, dass es 100.000 Faktoren gibt, die in die Berechnung einfließen. Lorenz Matzat: "Der Output sind eben diese Inhalte, die aus verschiedenen Quellen stammen." Oder besser gesagt: Die Reihenfolge, in der die Inhalte dem User angezeigt werden. Facebook passt die Gewichtungen in seinem Algorithmus dabei ständig an. Ein paar Beispiele: Januar 2017: Das Ansehen langer Videos fällt stärker ins Gewicht.März 2017: Angaben zu Emotionen werden stärker gewichtet als Likes. August 2017: Schnell ladende Seiten werden bevorzugt. Dezember 2017: Inhalte, die aggressiv um Reaktionen betteln, werden herabgestuft. Januar 2018: Inhalte, die Interaktionen mit Freunden anregen, werden bevorzugt.März 2018: Lokale Nachrichten werden bevorzugt. Und so geht es ständig weiter. Wie gut diese Änderungen sind? Facebook testet das auf zwei Arten: Erstens analysiert das Unternehmen, wie oft Nutzer mit Inhalten interagieren. Zweitens lässt es Testnutzer Beiträge von Hand sortieren und vergleicht deren Sortierung mit den algorithmischen Vorschlägen. Lorenz Matzat: "Ziemlich gut würde ich sagen, weil es gibt ja sehr viele Leute, die Facebook nutzen. Wenn Facebook so schlecht wäre, oder als schlimm oder nervig empfunden würde, dann würden es nicht so viele Leute nutzen." Kritiker fürchten Filterblasen Es gibt eine Umfrage, die das unterstreicht: Ein Fünftel der Internetnutzer in Deutschland informiert sich aus sozialen Netzwerken über das Weltgeschehen, bei den jungen Menschen ist das ein sogar ein Drittel. In Amerika nutzen einer anderen Umfrage zufolge über 40 Prozent der Erwachsenen Facebook als Nachrichtenquelle. Das soziale Netzwerk wählt die Nachrichten also offensichtlich so aus, dass die Nutzer das ansprechend finden. Kritiker befürchten allerdings, dass dadurch Filterblasen entstehen. Dass also Leute, die etwa einem bestimmten politischen Lager angehören, irgendwann nur noch Beiträge aus diesem Lager zu sehen bekommen, und so ein schiefes Weltbild entwickeln. Im Magazin Science erschien 2015 eine Studie, die diesen Vorwurf entkräften sollte. Ihr Ergebnis: Facebooks-Filteralgorithmen haben nur geringen Einfluss darauf, dass Nutzer weniger Inhalte des anderen politischen Lagers zu sehen bekommen. Die Studie wurde damals allerdings scharf kritisiert, auch, weil sie von Facebook-Forschern gemacht wurde. Aber externe Forscher kommen nicht an die wichtigen Daten. So kamen Wissenschaftler aus Amsterdam 2016 zu dem Schluss, dass es derzeit nicht genug empirische Belege gibt, um sich wegen Filterblasen Sorgen zu machen, dass sich das aber ändern könnte, wenn personalisierte Nachrichten zu einer dominanteren Informationsquelle werden. Lorenz Matzat sieht aber ein ganz anderes Problem. "Was generell ein Problem ist bei technischen Lösungen, ist die Zwischentöne, auch Humor zu erkennen. Wenn ich jetzt jemand bin, der auf schwarzen Humor steht. Dann kriege ich wahrscheinlich eher aus statistischen Gründen viel davon zu sehen, aber nicht weil Facebook erkannt hat, dass das mein Humor-Typ ist." So kann es sein, dass sich manche Nutzer am Ende doch falsch verstanden oder sogar bevormundet fühlen von den automatischen Informationsfiltern. Wozu das führen kann, zeigt das Beispiel des Facebook-Konkurrenten Twitter. Der Kurznachrichtendienst ließ den Nachrichtenstrom lange Zeit völlig ungefiltert passieren. Aber seit 2016 sortiert ein Algorithmus auch dort die Posts, die Nutzer angezeigt bekommen. Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Und 2018 ruderte das Unternehmen zurück: Mit nur zwei Klicks können Twitter-Nutzer sich ihren Nachrichtenstrom wieder ganz ohne algorithmisches Zutun in rein chronologischer Reihenfolge anzeigen lassen.
Von Piotr Heller
Facebook wählt genau aus, welche Beiträge es seinen Nutzern anzeigt. Dafür nutzt das Unternehmen seine berüchtigten Algorithmen. In deren Berechnungen fließen unzählige Faktoren ein - doch bis heute hat das Unternehmen diese Kriterien nicht offengelegt.
"2019-04-17T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T22:47:48.911000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/algorithmen-im-alltag-10-12-der-informationsfilter-100.html
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Darm-Bakterien schützen vor Lebensmittelallergien
In der Periode der Gewöhnung an feste Nahrung entwickeln viele Kinder Lebensmittelallergien (imago/Photocase) Alle Dinge, die in den Körper gelangen, können potenziell gefährlich sein. Doch ohne Luft und Nahrung können wir nicht überleben. Deswegen muss das Immunsystem lernen, manches anzugreifen, anderes aber zu tolerieren. Nahrung zum Beispiel oder Pollen und Milben aus dem Hausstaub. Wie der Körper das macht, war lange unklar. Doch immer deutlicher zeichnet sich ab: Die nützlichen Bakterien, die unseren Körper besiedeln, helfen dem Immunsystem, sich an Erdnüsse oder Eier zu gewöhnen. Und das schon sehr früh im Leben, erklärt Talal Chatila von der Harvard Medical School in Boston: "Die Periode, in der Babys von der Muttermilch entwöhnt und an feste Nahrung gewöhnt werden, ist eine kritische Phase. Und in dieser Zeit entwickeln viele Kinder Lebensmittelallergien. Studien haben gezeigt, dass bestimmte nützliche Bakterien dabei sehr aktiv sind. Deswegen denke ich: In dieser Zeit werden über die Bakterien die Weichen gestellt, so dass Lebensmittel toleriert werden. Und alle Störungen begünstigen Lebensmittelallergien - wie zum Beispiel Antibiotika oder ein fehlender Kontakt zu den Müttern, die Bakterien auf ihre Kinder übertragen." Gute Mikroben, schlechte Mikroben Tatsächlich konnten Talal Chatila und sein Team zeigen: Bei Kindern mit Lebensmittelallergien kommen im Darm andere Bakterien vor als bei unempfindlichen Menschen. Und als die Forscher diese Mikroben in Mäuse verpflanzten, entwickelten die Tiere ebenfalls eine Überreaktion gegen bestimmte Lebensmittel. Als die Forscher den Mäusen hingegen die Bakterien unempfindlicher Kinder einpflanzten, konnten die Tiere Lebensmittel tolerieren: "Das war für uns der erste Hinweis, dass es möglicherweise bestimmte 'gute Bakterien' gibt, die vor Lebensmittelallergien schützen. Wir haben den Mäusen dann einen Mix von fünf bis sechs verschiedenen Bakterienstämmen verabreicht und haben gesehen, dass wir auch damit verhindern konnten, dass die Tiere allergisch gegen Lebensmittel werden." Bakterienkur kann Allergie rückgängig machen Das zeigt, dass es ausreichen könnte, einzelne Bakterienstämme zu verabreichen, um Überreaktionen zu vermeiden. Und nicht nur das: Den Forschern gelang es sogar, eine Lebensmittelallergie bei Mäusen durch eine Bakterienkur wieder rückgängig zu machen. "Das war eine sehr spannende Entdeckung, denn es deutet an, dass wir auf diesem Weg Lebensmittelallergien beim Patienten erfolgreich mit Bakterien behandeln können." Bisher gingen Forscher davon aus, dass sich Überreaktionen nicht mehr umkehren lassen, wenn ein Mensch bereits allergisch ist. Auf der anderen Seite verschwinden Lebensmittelallergien bei manchen Kindern auch wieder von selbst. Über die nützlichen Bakterien im Körper öffnet sich nun möglicherweise ein Weg, das Immunsystem zu besänftigen und nicht mehr allergisch auf Lebensmittel zu reagieren. Immunsystem braucht frühen Kontakt mit Allergenen "Wir wissen jetzt, dass bestimmte Mikroben diese Toleranz wieder herstellen können. Nun wollen wir nach der idealen Mischung von Bakterien suchen, die wir bei Patienten nutzen können. Und wir wollen herausfinden, ob es nicht vielleicht sogar ausreicht, wenn wir nur Bestandteile von Bakterien verabreichen oder Stoffwechselprodukte, die sie herstellen." Allerdings muss sich erst noch zeigen, ob solche Bakterienkuren auch beim Menschen funktionieren. Momentan ist es sinnvoller, kleine Kinder frühzeitig an Nahrungsmittel zu gewöhnen und sie auf diesem Weg vor Allergien zu schützen. Denn auch das haben Studien gezeigt: Babys am Kontakt mit der Umwelt zu hindern, ist genau der falsche Weg. Ihr Immunsystem braucht die Auseinandersetzung mit Erde aus dem Garten, Pollen aus der Luft und Eiweißen aus der Erdnuss.
Von Christine Westerhaus
Allergien gegen Lebensmittel werden immer häufiger. Doch warum manche Menschen so heftig auf Erdnüsse oder Milchprodukte reagieren, ist noch nicht in allen Einzelheiten erforscht. Eine aktuelle Studie zeigt: Offenbar sorgen Bakterien in unserem Darm dafür, dass unser Immunsystem Lebensmittel toleriert.
"2019-07-01T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:01.889000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/immunsystem-darm-bakterien-schuetzen-vor-100.html
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Räuber im Norden
Sie kommen aus der ganzen Welt. Manche von ihnen reisen sogar extra aus Neuseeland an. Jeden Sommer treffen sich Millionen von Zugvögeln an der Nordküste von Alaska, um dort in den feuchten Wiesen der Tundra ihre Eier abzulegen und auszubrüten. So zum Beispiel die Pfuhlschnepfe, verschiedene Arten der Strandläufer und andere Watvögel. Dass sie solch einen langen Weg auf sich nehmen, hat einen Grund, sagt Steve Zack von der Wildlife Conservation Society in Portland, Oregon."”"Eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese Region so abgelegen ist. Weit entfernt von menschlichen Eingriffen und von Fressfeinden. Denn der Winter dort ist sehr hart. Die Vögel kommen während der extrem kurzen Wachstumsphase an und pflanzen sich sehr schnell fort, alle gleichzeitig. Innerhalb von zwei Monaten ist da oben alles vorbei.""Aber wegen der Ölförderung im Norden von Alaska ist es bald aus mit der Ruhe. Denn im Erdreich lagern noch unerschlossene Vorkommen. Schon jetzt pumpen die Amerikaner den begehrten Rohstoff aus dem Untergrund. Zack:"”Wir haben dort unsere eigenen Ölfelder, die zu den wenigen Bauwerken gehören, die man vom Weltall aus erkennen kann. Schon heute, in der Prudhoe Bay. Diese Entwicklung wird weitergehen. Sowohl an Land, vor allem in Richtung Westen, und in die Ozeane hinein. Weil Amerikas Durst nach Öl weiter nicht gestillt ist und unsere Vorräte zur Neige gehen.""Doch im Gefolge der Menschen dringen immer mehr Tiere in die Polarregion vor, die den Zugvögeln gefährlich werden könnten. Vor allem drei Arten sind es, die die Nester der Bodenbrüter plündern könnten: der Kolkrabe, die Eismöwe und der Polarfuchs. Zack:"Diese drei Arten haben mit der Landerschließung zusammen zugenommen. Das liegt an den Abfällen der Menschen, von denen sie sich ernähren und an den Bauwerken, die ihnen Schlupfwinkel und Nistmöglichkeiten bieten. So etwas finden wir überall auf der Welt unter verschiedenen Bedingungen: Es gibt Tierarten, die dort auftreten, wo Menschen bauen. Und das gilt auch für die Arktis."Zusammen mit Partnern aus der Erdölindustrie hat Steve Zack untersucht, ob die Polarfüchse, die Raben und die Möwen tatsächlich den Nachwuchs der Watvögel dezimiert haben. Die Ergebnisse waren nicht unbedingt eindeutig. An ein und demselben Ort haben sie über verschiedene Jahre hin geschwankt. Weil auch die äußeren Bedingungen nicht immer gleich waren. Stürme haben die Ergebnisse zum Beispiel auch beeinflusst. Und die Nesträuber sind nicht die einzige Bedrohung für die Vögel. So trocknen zum Beispiel die Feuchtgebiete langsam aus, in denen sie ihre Eier ablegen. Zack:"”Als Organisation sind wir nicht gegen die Erdölförderung. Aber wir denken, dass es Orte gibt, die davon ausgenommen sein sollten. Und dass es Vorkehrungen geben sollte, so dass die Art und Weise, wie das Öl gefördert wird, nicht die Zahl der Fressfeinde und der Belastungen erhöht an diesem internationalen Sammelort für Zugvögel.""
Von Arndt Reuning
Die bisher geschützten arktischen Küsten Alaskas sollen jetzt doch für die Erdölexploration und –förderung geöffnet werden. Das wird auch Folgen für die arktische Tierwelt, darunter zahllose Zugvögel, haben. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Naturschutzbiologie, die heute in Chattanooga zu Ende geht, wurden sie diskutiert.
"2008-07-18T16:35:00+02:00"
"2020-02-04T12:47:50.797000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/raeuber-im-norden-100.html
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Flaute beim europäischen Schüleraustausch
Schulpartnerschaften und Schüleraustausch: Für einen Förderantrag müssten rund 100 Stunden Arbeit investiert werden, sagt Klaus Sautmann, Europakoordinator an der Gesamtschule in Brühl. (picture alliance / Frank Leonhardt) Europa steht sich selbst im Weg. Bürokratische Hürden der besonderen Art müssen Schulen bislang nehmen, wenn sie Fördermittel für Schulpartnerschaften in Europa beantragen. Von der Idee bis zum fertigen Projektantrag sollte man vier bis fünf Monate Zeit einplanen, sagt Klaus Sautmann, Europakoordinator an der Gesamtschule in Brühl. "Also ich hab jetzt hier vor mir liegen einen Antrag von 2014 mit insgesamt 43 Seiten. Der neue für das Projekt 2017/2019 hat 51 Seiten. Das ist nicht alles Text! Aber es ist schon so, dass es eine aufwendige Geschichte ist. So ein Antrag – wenn er dann sehr gut werden soll – das sind schon so mit allem Drum und Dran 100 Stunden, die da investiert werden müssen." Grundschule hat denselben Aufwand wie eine Universität Deutlich aufwendiger sind die Anträge geworden, seit aus dem früheren Comenius "Erasmus plus" wurde. Ein Name für alle Austauschprogramme, so hatte es die Europäische Kommission gewollt. Das gemeinsame Dach brachte vor allem gleiche Regeln für alle und das heißt: Zurzeit muss eine kleine Grundschule für die Projektförderung beim Schulaustausch soviel Papier ausfüllen wie eine Universität. "Und ich weiß von vielen Kollegen und Kolleginnen aus anderen Schulen, die gesagt haben: Das mach ich nie wieder, das war wahnsinnig viel Arbeit, das tu ich mir nicht mehr an." Und so fällt die Halbzeitbilanz des laufenden Erasmus plus entsprechend mau aus: Mehr Mittel im Topf und weniger Anträge, zählt Thomas Spielkamp vom Pädagogischen Austauschdienstes (PAD) bei der Kultusministerkonferenz: "Wir müssen leider konzedieren: Die Erfolgsquoten in den ersten Jahren waren sehr schlecht. Die Schulen ziehen sich aus dem Programm zurück. Wir hatten 585 Schulen in der Förderung und haben in diesem Jahr 325 Schulen in der Förderung. Bei 40 Prozent Programmaufwuchs! Das versteht eigentlich niemand." Mindestens drei Schulpartner müssen zusammenkommen Die geforderten Projektideen bei Erasmus plus sind anspruchsvoll. Mindestens drei Schulpartner in Europa müssen zusammenkommen. Die thematischen Vorgaben macht die Kommission in Brüssel. Es sind attraktive Projekte, die so entstehen, betont Klaus Sautmann - bei aller Kritik. In seinem letzten Erasmus plus Projekt haben Schülerinnen und Schüler aus vier Ländern eine Firma gegründet, Projektmanagement gelernt und vermarkten bis heute Fairtrade T-Shirts aus Biobaumwolle in einer Schülerfirma länderübergreifend. Klaus Sautmann: "Bei unserem neuen Projekt geht es um Fakenews. Das ist der EU im Moment sehr wichtig. Es geht um Mediennutzung, Medienerstellung, die Schüler sollen später zur Europawahl eine eigene webbasierte Zeitung machen, und eine Facebook-Seite mit dann von ihnen gecheckten und geprüften Nachrichten, um diesem Phänomen Fakenews dann etwas entgegen setzen zu können." "Es gibt also unheimlich viele thematische Anknüpfungspunkte. Gedacht war immer daran, möglichst nicht zusätzliche Arbeit zu machen, sondern die Arbeit, die man an der Schule ohnehin erledigen muss, im Rahmen eines europäischen Projektes zu erledigen und dabei noch erhebliche Fördergelder in Anspruch nehmen zu können." Das Prozedere soll schlanker werden So wirbt Thomas Spielkamp für die Chancen des Programms. Damit wieder Schwung in die Antragszahlen kommt, soll ab jetzt das Prozedere schlanker werden. Auch andere Länder, etwa Frankreich, haben dasselbe Problem mit zurückgehenden Anträgen und sind – wie der PAD – im streitbaren Austausch dazu mit der Kommission: "Diese Erwartungen sind einfach zu hoch. Und deswegen fordern wir, dass Verträge auf ein Minimum reduziert werden: 20 Seiten, zehn im Idealfall. Dass wir eine Globalbezuschussung für die Projekte wieder hinbekommen, also die Schule soll im Idealfall eine Summe bekommen und soll daraus dann finanzieren können - Mobilitäten und Projektarbeit -, aber nicht weiter über unterschiedliche "Budgetkategorien" berichten müssen." Es wird dauern, befürchtet Spielkamp, bis bei den Schulen das verlorene Vertrauen in die Machbarkeit des Austauschprogramms zurückkehrt. Der PAD bietet mit Hotline, Veranstaltungen vor Ort und Beratung Unterstützung, damit aus Projektideen Anträge mit vertretbarem Zeitaufwand werden: "Wir wollen Projekte ermöglichen und Hindernisse abbauen. Wir bieten Projektskizzenberatung, wo auf einem verkürzten Formular die Projektidee vorgestellt werden kann. Dann sprechen wir das inhaltlich durch: Unser Part ist zu helfen und Unterstützung zu geben."
Von Katrin Sanders
40 Millionen Euro - so viel Geld wie nie zuvor - stellt die EU in einem speziellen Fördertopf deutschen Schulen zur Verfügung, damit Kontakte zu Partnerschulen im europäischen Ausland möglich werden. Doch während die Summe steigt, sinkt die Zahl der Schulen, die sich auf die Reise machen. Der Aufwand ist oft zu groß.
"2017-11-02T14:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:59:19.354000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buerokratie-als-abschreckung-flaute-beim-europaeischen-100.html
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Im Paradies der Handwerker
Werkstätten der Theatermaler an der Oper Frankfurt. (Deutschlandradio/ Sylvia Systermans) Mein Tag als Praktikantin startet mit ohrenbetäubendem Lärm. Ich stehe in der Schlosser-Halle. Es wird geschweißt, gelötet, gehämmert, gefräst. In der Luft hängt der Geruch von Maschinenöl und erhitztem Metall. Auf einer Werkbank liegt ein etwa fünf Meter langer und anderthalb Meter breiter Aluminiumrahmen. Einer der vielen Rohlinge, aus denen die hohen Kulissenwände in Vincenzo Bellinis "Norma" angefertigt werden. "Das ist jetzt eine Wand von ganz vielen. Das bauen wir dann mal neun, ergeben dann eine große Wand, die dann 13 Meter breit ist und sechseinhalb Meter hoch", sagt Werkstättenleiter Hinrich Drews. Großer Maßstab ist Theateralltag. Ein junger Schlosser schraubt eine Zwinge fest. Sie soll eine gerade frisch verlötete Querverstrebung in Form halten. "Unten ist mein Muster und ich leg die Teile, die gleich sind, obendrauf und kann die mit den Zwingen dann einfach fixieren, damit das wirklich millimetergenau exakt wieder so wird." Schwere Maschinen und Lärm in der Schlosserei Schwere Maschinen, Lärm – die Schlosserei ist eher nichts für zarte Gemüter. Ich atme ein wenig auf, als es auf meinem Praktikums-Rundgang durch die Werkstätten der Bühnenbildner an der Oper Frankfurt weiter geht. Hinter schweren Brandschutztüren liegt die Schreinerei. Mit Werkstättenleiter Hinrich Drews durchquere ich den Maschinenraum. Der Geruch von frisch gesägtem Holz steigt mir in die Nase. Hobelspäne bedecken den Boden. An den Wänden meterlange Regale mit hellen Holzplatten. Auf einer Werkbank liegt einer der Alurahmen aus der Schlosserei. Hier wird er fürs Bühnenbild zu Vincenzo Bellinis Norma weiterverarbeitet. "Die wird jetzt hier mit Sperrholz belegt. Das ist bei Aluminium nicht so schön. Man muss mit einer Vielzahl von Schrauben alles festschrauben. Bei der klassischen Kulissenwand, die wir aus Holz bauen, kann man nageln, mit einem Druckluftnagler, der geht schneller. Aber hier, die müssen verbindungssteif sein, die müssen sehr leicht sein, die werden im Schnürboden hochgezogen, die wird sich auf und absenken, die wird fest verbunden." Alle zehn Zentimeter eine Schraube über den ganzen Aluminiumrahmen samt Querverstrebungen verteilt, mit einem Spax-Schrauber und viel Geduld geht ein junger Kollege zu Werke. Jetzt kann ich als Praktikantin aktiv werden. Schließlich habe ich schon schwedische Sperrholzmöbel erfolgreich aufgebaut. Da dürfte das Zusammenschrauben von Holz und Aluminium kein Problem sein. Schreiner: "Versuchen, gerade zu halten. Ein bisschen Druck dann mehr Druck draufgeben." So reibungslos wie erwartet, klappt es dann doch nicht. Noch Versuche, dann gebe ich den Schrauber zurück. Zum Üben ist heute keine Zeit. Die Dekorateure warten schon auf Nachschub. Die Raumausstatter und Dekorateure werkeln ein Stockwerk höher in einem hellen Raum mit breiten Fensterfronten. Vorhänge nähen, Wände bespannen, Möbel polstern fällt in ihr Ressort. - "Hier die Wand erkennen Sie wieder, die war eben noch in der Schreinerei, die ist noch warm, die Schrauben."- "Da ist die Schraube, die ich eben reingedreht habe."- "Ja, durften Sie?"- "Was passiert jetzt hier?"- "Wir schmieren die Wand mit Kleber ein, so ein spezieller Stoffkleber, wird der Stoff eingeschmiert dünn und dann wird der Stoff gespannt." Eine dicke Rolle an einem langen Stab in einen Eimer mit Spezialkleber tauchen und auf den Stoff verteilen. Jetzt bin ich dran, die Praktikantin. Die letzte Renovierung ist zwar schon etwas her. An das schmatzende Geräusch, wenn Farbe über Raufaser rollt, erinnere ich mich aber noch gut. Unter der wohlwollenden Aufsicht der Profis tunke ich die Rolle beherzt in den Eimer. Schnell werden mir die Arme lahm und ich fange bei den ohnehin sommerlichen Temperaturen heftig an zu schwitzen. Dankbar gebe ich die Rolle zurück. Ein Paradies für Handwerker Die vier Kollegen sind ein eingespieltes Team. Der restliche Kleber ist schnell aufgetragen, eine lange Bahn aus schwarzem Samt mit geschickten Griffen faltenfrei aufgezogen. Zwischendurch machen Scherze die Runde. Die Stimmung ist entspannt. "Für Handwerker ist das hier ein Paradies. Sowohl von den Arbeitszeiten als auch von diesem Kollegium. Ich hab immer in kleinen Werkstätten gearbeitet mit 4, 5 Mann. Hat auch seinen Reiz, ist sehr familiärer. Hier hat es einen anderen Reiz, hier hat man eine riesen Familie und man lernt auch viel, man auch sich viel Informationen holen, wenn man was braucht und insofern ist das hier für einen Handwerker ein Paradies." Ein handwerkliches Paradies ist die Arbeit an der Oper Frankfurt auch für die Theatermaler. Die letzte Station an meinem Praktikumstag. Bei den Theatermalern der Oper Frankfurt (Deutschlandradio/ Sylvia Systermans ) "Das ist der große Mal-Saal. Der ist 800 Quadratmeter groß, da liegen ganz viele Wände von denen, die wir brauchen. Das ist hier mit Tageslicht, die Fenster sind nach Norden ausgerichtet, dass wir hier niemals Schatten haben, dass die Theatermaler immer gleiche Bedingungen haben. Eine fast fertige Wand fürs Norma-Bühnenbild hängt an Eisenketten aufgerichtet in der Luft. Über eine Fernbedienung setzt ein Theatermaler einen Flaschenzug in Gang. Die meterlange Wand soll weiter nach rechts bewegt und dort wieder auf den Boden abgesenkt werden. Früher mussten die Theatermaler ihre Bühnenbilder mit reiner Muskelkraft bewegen. Kein Problem, als noch überwiegend Männer in dem Beruf gearbeitet haben. Heute, das erfahre ich von einem der älteren Kollegen, haben deutlich mehr Frauen den Pinsel in der Hand. Da ist die Hilfe von Maschinen zum Heben und Schieben sehr willkommen. "Geschafft! Meine Güte! Die Wände wiegen, ich schätze mal, 150 Kilo." Gekonnter Umgang mit Pinsel und Farbe Bei der eigentlichen Arbeit kommt es aber natürlich nicht auf Muskelkraft an, sondern auf den gekonnten Umgang mit Pinsel und Farbe und ein geschultes Auge. Sechs Norma-Wände liegen fertig bemalt nebeneinander. Die dunkelbraune Holzmaserung wirkt täuschend echt. Von einer Empore aus begutachtet eine Theatermalerin das gemeinsam geschaffene Werk. "Die Holzmaserung muss eine Fernwirkung haben. Wenn man das bei sich daheim hätte, würde man denken, ist ja viel zu grob, aber es muss halt auf die Ferne gut aussehen." Von der Empore aus schaue ich zu, wie die Leiterin der Theatermaler beim finalen Feinschliff vorsichtig eine der liegenden Wände betritt und mit einer Farbrolle an einem langen Stab besagte Stellen nachbessert. Fertig. Für die Theatermaler ist die Arbeit damit getan. Zur Premiere wird die Wand, mit anderen zusammengefügt, an einen überdimensionalen, hochkant aufgestellten Schuhkarton erinnern. Ein karges Bühnenbild, in dem sich das Drama der Frankfurter "Norma" abspielt, mit Elza van den Heever als Druidengöttin, Liebhaberin, Mutter. Ich konnte als Praktikantin erleben, wie viele verschiedene Gewerke hierfür Hand in Hand gearbeitet haben. Mit Ruhe und Konzentration, höchster handwerklicher Präzision und Expertise und großer Liebe zum Detail.
Von Sylvia Systermans
In den Werkstätten der Bühnenbildner arbeiten viele verschiedene Gewerke Hand in Hand - mit Ruhe und höchster handwerklicher Präzision. Dlf-Redakteurin Sylvia Systermans hat einen Tag lang in der Oper Frankfurt Schlossern, Theatermalern und Raumausstattern über die Schulter geschaut.
"2018-08-06T20:10:00+02:00"
"2020-01-27T18:04:59.214000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/buehnenbildner-im-paradies-der-handwerker-100.html
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Europas Bürger gegen Ackergift
Traktor spritzt Glyphosat zur Unkrautvernichtung im Sommer in Rheinland Pfalz. (imago /Blickwinkel) Es klingt bizarr, gibt Martin Pigeon zu, aber Glyphosat sei zu erfolgreich. Das Mittel sei in Europa der meistgenutzte Unkrautvernichter, weil recht günstig und im Gegensatz zu anderen Mitteln nicht so giftig. Aber die Auswirkungen auf den Boden seien verheerend, erklärt der Mitarbeiter des Corporate Europe Observatory – einer Gruppe von Aktivisten, die den Einfluss von Unternehmen auf Entscheidungen der EU kritisch hinterfragen, insbesondere im Bereich Umwelt und Ernährung: "Glyphosat ist ein Unkrautvernichter mit einer breiten Wirkung. Es tötet alle Pflanzen, wo man es anwendet und das bedeutet, dass das Potential von Glyphosat, ein ganzes Öko-System zu zerstören, riesig ist. Denn: Wenn man alle Pflanzen tötet, dann tötet man auch alles andere. Alle Insekten, alle Pilze, alle Tiere, alle Bakterien."* Unbrauchbarer Boden Und das mache den Boden auf Dauer unbrauchbar, sagt Pigeon. Fünf Organisationen, darunter Greenpeace, das Pesticide Action Network Europe und das Corporate Europe Observatory, setzen sich für ein Verbot von Glyphosat ein. Hierfür haben sie eine Europäische Bürgerinitiative gestartet. So eine Initiative muss von der EU-Kommission genehmigt werden, dann haben die Organisatoren ein Jahr Zeit, um eine Million Unterschriften zu sammeln. Diese müssen aus mehr als sieben Staaten der Europäischen Union stammen. Mit einem Verbot von Glyphosat wäre es aber nicht getan, erklärt Martin Pigeon. Es würde beispielsweise bloß dazu führen, dass Bauern auf andere Unkrautvernichter umstiegen. "Wenn man ihnen nicht hilft, dann werden sie andere Produkte benutzen, die möglicherweise noch giftiger und ein bisschen teurer sind. Dadurch macht man die Situation eigentlich nur schlechter." Ruf nach mehr Transparenz Darum fordert die Bürgerinitiative, dass die EU-Staaten den Einsatz von Pestiziden im Allgemeinen rechtsverbindlich beschränken. Außerdem setzt sie sich dafür ein, dass die Studien, auf deren Basis die Umwelt- und Gesundheitsschädlichkeit eines Unkrautvernichters beurteilt wird, in unabhängigen Laboren angefertigt und veröffentlicht werden müssen. "Der wissenschaftliche Beweis, auf den sich öffentliche Behörden berufen, gehört der Industrie und wird nicht veröffentlicht. Im Fall von Lebensmittelsicherheit gibt es darum keine wissenschaftliche Überprüfung von dem, was EU-Behörden entscheiden." Martin Pigeon meint damit beispielsweise die Arbeit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, kurz EFSA. Sie war zu dem Schluss gekommen, es sei unwahrscheinlich, dass Glyphosat krebserregend wirke, wenn es mit der Nahrung in den menschlichen Körper gelange. Grundlage für diese Einschätzung waren Studien, die nicht veröffentlicht worden waren. Nach anhaltenden Protesten hatte die Behörde die Rohdaten an einige Abgeordnete des EU-Parlaments geschickt, die eine Einsicht beantragt hatten. Martin Pigeon sieht darin einen kleinen Anhaltspunkt, dass die EFSA ihren Umgang mit Studien in Zukunft ändern und möglicherweise transparenter arbeiten könnte. Möglicherweise krebserregend für Bauern An der Antwort auf die Frage, ob Glyphosat krebserregend ist, hängt viel, da Glyphosat dann in der EU verboten würde. Die internationale Agentur für Krebsforschung, IARC, war zu dem Schluss gekommen, dass Glyphosat möglicherweise Krebs verursachen könne, wenn man, wie beispielsweise Bauern, häufig mit dem Mittel umgeht. Die EFSA hatte dieser Studie widersprochen. Die Ergebnisse seien aber nicht vergleichbar, meint Pigeon, da die eine Studie Bauern betreffe, die andere den Verbraucher. Martin Pigeon hat schon einmal eine Europäische Bürgerinitiative mit mehr als einer Million Unterschriften bei der EU-Kommission eingereicht. Die Reaktion damals sei ernüchternd gewesen. Zugespitzt: "Thank you, have a good day.” Denn die vielen Unterschriften und die Forderungen der Initiative haben keine bindende Kraft wie ein Referendum. Trotzdem hofft der Mitarbeiter vom Corporate Europe Observatory, dass ihre Forderungen von den Mitgliedstaaten gehört und umgesetzt werden. * Die ursprüngliche Übersetzung in dem Audio-Beitrag ist nicht eindeutig gewesen. Daraus man hätte man fälschlicherweise verstehen können, dass Glyphosat Tiere und Insekten tötet. Das macht es ursächlich nicht.
Von Susann El Kassar
Die EU-Kommission hatte im Juni 2016 die Verwendung des Unkrautvernichters Glyphosat für weitere 18 Monate zugelassen. Gegner des Mittels haben nun eine Europäische Bürgerinitiative gestartet und in Brüssel mehr Transparenz und eine rechtliche Beschränkung von Pestiziden gefordert.
"2017-02-08T11:35:00+01:00"
"2020-01-28T09:35:26.574000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/glyphosat-europas-buerger-gegen-ackergift-100.html
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