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Nah der alten Büros von Charlie Hebdo: Messerangriff in Paris - taz.de
Nah der alten Büros von Charlie Hebdo: Messerangriff in Paris Bei einem Messerangriff in Paris wurden zwei Menschen schwer verletzt, ein mutmaßlicher Täter ist gefasst. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft ermittelt. Sicherheitskräfte am Tatort in Paris am Freitag Foto: Charles Platiauu/reuters PARIS ap/dpa/afp | Bei einem Messerangriff in der Nähe der früheren Büros der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris sind mindestens zwei Menschen verletzt worden. Die Polizei teilte am Freitag mit, dass der Tatverdächtige nahe dem Place de la Bastille im Osten der Stadt festgenommen worden sei. Wenig später wurde eine zweite Person im Bereich der Metrostation Richard-Lenoir in Nähe des Tatorts festgenommen, berichteten übereinstimmend verschiedene französische Medien. Es gibt Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund. Die französische Anti-Terror-Staatsanwaltschaft leitete am Freitag nach eigenen Angaben Ermittlungen wegen „Mordversuchs im Zusammenhang mit einer terroristischen Tat“ und „Bildung einer Terrorgruppe“ ein. Die Polizei hatte zunächst mitgeteilt, dass es vier Verletzte gebe. Aus Polizeikreisen wurde mitgeteilt, es gebe nur zwei bestätigte Verletzte, die allerdings schwere Verletzungen erlitten hätten. Frankreichs Premier Jean Castex hat eine Krisensitzung einberufen. Polizisten strömten in das Stadtviertel in der Nähe der U-Bahn-Station Richard Lenoir im Osten der französischen Hauptstadt, wie Reporter der Nachrichtenagentur AP vor Ort beobachteten. Polizisten hätten das Gebiet abgesperrt, in dem sich auch die früheren Büros der Zeitschrift befunden hätten, nachdem in der Nähe ein verdächtiges Paket entdeckt worden sei, verlautete aus Polizeikreisen. Mehrere Schulen in der Nähe des Tatorts wurden vorsichtshalber geschlossen. Der französische Premierminister Jean Castex kürzte einen Besuch in einem Vorort von Paris ab, um die Entwicklungen vom Innenministerium aus zu verfolgen. Zusammenhang mit dem „Charlie-Hebdo“-Prozess offen Islamische Extremisten hatten die Redaktion 2015 angegriffen und zwölf Menschen umgebracht. Das Motiv des Messerangriffs vom Freitag blieb offen. Die Satirezeitschrift zog nach dem Anschlag von 2015 in andere Büros um. Der Prozess gegen 14 Personen wegen Beihilfe zu dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ wird läuft seit Monatsbeginn in Paris. Bei der mehrtägigen Anschlagsserie waren im Januar 2015 insgesamt 17 Menschen getötet worden. Die Anschläge trafen nicht nur die Redaktion von „Charlie Hebdo“, sondern auch einen koscheren Supermarkt in Paris. Die drei Täter wurden damals von Sicherheitskräften erschossen. Den Angeklagten wird vorgeworfen, in unterschiedlicher Weise bei der Vorbereitung der Anschläge geholfen sowie einer terroristischen Vereinigung angehört zu haben. In den meisten Fällen drohen Haftstrafen von bis zu 20 Jahren. Beschuldigte sollen beispielsweise Waffen besorgt oder eine Unterkunft zur Verfügung gestellt haben. „Charlie Hebdo“ hatte zuletzt erneut Mohammed-Karikaturen veröffentlicht und ist daraufhin wieder bedroht worden.
taz. die tageszeitung
Bei einem Messerangriff in Paris wurden zwei Menschen schwer verletzt, ein mutmaßlicher Täter ist gefasst. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft ermittelt.
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28,089
Steinbrück in London: Peer und die Banker von morgen - taz.de
Steinbrück in London: Peer und die Banker von morgen Peer Steinbrück hätte gerne selbst an der London School of Economics studiert. Bei einer Rede vor LSE-Studenten fordert er, dass sie sich für die Gesellschaft interessieren. Wäre so gerne einer von ihnen gewesen: Steinbrück vor LSE-Studenten. Bild: dpa LONDON taz | Hier wächst der Banker-Nachwuchs der City heran. Rund 400 Studenten warten am Montag an der London School of Economics auf Peer Steinbrück, der vorbei kommt, um ihnen darzulegen, wie er sie – die zukünftigen Finanzmärkte – zu bändigen gedenkt. Bis Steinbrück dompteurartig losbändigen kann, falls er Kanzler wird, werden viele der Studenten bereits in Büros und Handelsräumen zu finden sein. Auf Studenten der LSE, wartet ein durchschnittliches Einstiegsgehalt von fast 70.000 Euro, wenn sie einen Abschluss in Finanzen haben. Sogar bis zu 190.000 Euro habe es schon gegeben, preist die Schule in einer Broschüre. Nirgendwo in Großbritannien winkt mehr Geld nach dem Abschluss als an der LSE. Fast alle Masterstudenten kommen aus dem Ausland. Nach Amerikanern und Chinesen zieht es die Deutschen hier hin. Eine Kaderschmiede. Peer Steinbrück kommt, stellt sich an den Rand der Bühne, knöpft sein Sakko zu und spricht frei, erst Englisch dann auf Deutsch. Einer seiner großen Fehler im Leben sei es gewesen, in den 70ern nicht auch an der LSE studiert zu haben, als er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, beginnt er seine Bändigung. Wenn das Vorurteil mit der Kaderschmiede stimmt, dann scheint es, als wolle ein Beinahe-Bock nun Gärtner werden. Dabei ist es ja genau diese Ahnung des bockartigen Banker-Stallgeruchs, die so genannte eher linksorientierte Leute über Steinbrück die Nase rümpfen ließ. Die angekündigte Bändigung kommt dann ebenso in gewinnenden Tönen daher statt als trampelnde Kavallerie. Die Vorwürfe der Profitjagd, oder dass manche Banken „Beihilfe zu Steuerhinterziehung als Geschäftsmodell“ betrieben, spart sich Steinbrück hier. Er zimmert einen Rahmen aus Wirtschaftskrise und Europa als Gesellschaftsmodell und hängt in ihn die wesentlichen Punkte seines Finanzmarktpapiers. So fordert er die Einführung einer Transaktionssteuer und gesteht ein, dass es dort zu seiner Vor-Krisen Position „wenn sie so wollen eine Revision“ gebe. Er fordert, dass Banken scheitern können und Schattenbanken reguliert werden und Bankgeschäft vom Investment getrennt werden müssten. Gerichtsverfahren gegen Banker, wie von der Regierung angekündigt, könnten nicht die Antwort auf die Krise sein, so Steinbrück. Eher Ermahnung als Bändigung In Großbritannien sind das keine Schocker. Am selben Nachmittag hatte der konservative britische Finanzminister George Osborne angekündigt, dass ein solches Trennbankensystem durchgesetzt und Institute, die sich nicht dran halten, aufgespalten würden. In London gab es im vergangenen Jahr ein Verfahren gegen mehrere UBS Händler und Vorstände von Barclays mussten wegen Fummeleien am LIBOR-Zins, Versicherungsskandalen und folgenden Strafzahlungen gehen. Steinbrück bietet den LSElern also weniger eine Bändigung als eine Ermahnung. „Ich erwarte von Ihnen, dass sie ein Interesse an der Gesellschaft haben“, sagt er. Wenn man nach oben ins Penthouse strebe, könnten einem die unteren Etagen nicht egal sein. Diejenigen, die man deklassiert, die würden handeln und unter Umständen auch irrationale und radikale Parteien wählen, wenn sie denn überhaupt noch wählten. Und abschließend – „ich habe ja eine Vorstellung, was sie über Politiker sagen, wenn ich nicht da bin“ – bittet Steinbrück die Ökonomen um mehr Respekt für Politiker und Parteien. Widerspruch gegen seine sanft vorgetragene Bändigung der Finanzmärkte schlägt Steinbrück kaum entgegen. Ein Student weist Steinbrück auf die Ironie hin, dass es ja die letzte Rot-Grüne Koalition gewesen sei, die jene Märkte, die er nun wieder zu bändigen versuche, überhaupt erst verzogen habe. Eine findige Ökonomin wirft ein, dass Steuern ja immer ineffizient seien, das lerne man ja schon im ersten Semester, weil die ja einen Keil zwischen Preis und Nachfrage trieben, und ob er da die Transaktionssteuer zu Gunsten einer Abgabe nicht lieber bleiben lassen wolle. Ein anderer Student verweigert schließlich den von Steinbrück gerade erbetenen Respekt und konstatiert, Politiker seien ja wohl schlimmer als Banker, denn zwar versähen sie ebenfalls anderer Leute Geld, könnten dabei aber nicht einmal etwas verlieren. „Im Vergleich mit Rösler war er jedenfalls der Hammer“, sagt eine Studentin. Der war vor wenigen Wochen da gewesen und habe einfach nur am Pult abgelesen.
Johannes Himmelreich
Peer Steinbrück hätte gerne selbst an der London School of Economics studiert. Bei einer Rede vor LSE-Studenten fordert er, dass sie sich für die Gesellschaft interessieren.
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Kampf gegen Rechtsextremismus: Sachsens Demokratievereine sauer - taz.de
Kampf gegen Rechtsextremismus: Sachsens Demokratievereine sauer Seit Monaten warten Vereine darauf, dass die Sächsische Aufbaubank ihre Projekte für 2023 bewilligt. Das gefährdet die Existenz vieler Organisationen. Warten auf die Fördermittel: Martina Glass vom Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen Foto: Sonny Traut LEIPZIG taz | Zahlreiche Initiativen und Vereine, die sich in Sachsen für Demokratie und gegen Rechts­extremismus engagieren, sind sauer. Seit Monaten warten sie darauf, dass die Sächsische Aufbaubank (SAB) die Fördermittel für ihre Projekte bewilligt. „Im Monat März haben wir kein Verständnis mehr dafür, dass bei vielen Vereinen noch völlig unklar ist, von welchem Zeithorizonten bis zur Auszahlung der Mittel auszugehen ist“, sagte Martina Glass, Sprecherin des Netzwerk Tolerantes Sachsen. Der Vereinigung gehören mehr als 130 Demokratie-Initiativen an. Glass zufolge geht es nicht nur um die Existenz der Vereine, sondern auch um die Fachkräfte, „die nicht wissen, wie lang sie ihr Gehalt noch bekommen werden oder ob sie demnächst entlassen werden müssen.“ Viele der Demokratie-Initiativen erhalten für ihre Projekte Geld aus den Fördertöpfen „Integrative Maßnahmen“ und „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ des Sozialministeriums und „Orte der Demokratie“ des Demokratieministeriums. Die Anträge für die Förderung haben die Vereine im Sommer 2022 eingereicht. Zuständig für die Prüfung und Bewilligung der Anträge ist die SAB, die Förderbank des Landes Sachsen. Das Netzwerk Tolerantes Sachsen wirft der SAB vor, die Bearbeitung von Förderanträgen „seit mehr als einem halben Jahr aufgeschoben und ausgesessen“ zu haben. Rechnungshof prüfte Die SAB teilte auf Anfrage mit, die notwendigen Mittel für die drei Förderprogramme erst Anfang Januar – nach Beschluss des Doppelhaushaltes – erhalten zu haben, woraus sich eine Verzögerung von bis zu zwei Monaten ergebe. „Leider“ sei es zu weiteren Verzögerungen gekommen, weil der Sächsische Rechnungshof die Umsetzung des Förderprogramms „Integrative Maßnahmen“ geprüft habe. Als Grund für die verspätete Versendung der Förderbescheide aus dem Programm „Orte der Demokratie“ nannte die SAB fehlende „technische Voraussetzungen“. Diese habe die Bank erst schaffen müssen, weil sie erst seit diesem Jahr für den Fördertopf zuständig sei. Die SAB betonte, ihr sei bewusst, dass eine dreimonatige Förderpause die Träger vor große Probleme stelle. Die überwiegende Anzahl der Bescheide werde die Bank noch im März verschicken, hieß es in der Antwort weiter. Wie viele Bescheide sie inzwischen ausgestellt habe und wie viele Vereine noch warten müssten, wollte die SAB der taz nicht mitteilen. Verzichten auf Gehalt Das Dresdner Institut anDemos ist eine der Initiativen, die ihren Förderbescheid für 2023 nun endlich erhalten. Im Februar hatten zwei Mit­ar­bei­te­r:in­nen freiwillig auf ihr Gehalt verzichtet, damit das Institut weiter Miete und andere Kosten bezahlen kann. Die Gehälter können nun zurückgezahlt werden, teilte Geschäftsführerin Julia Schulze Wessel mit. Das Netzwerk für demokratische Kultur (NDK) in Wurzen hingegen wartet noch immer auf einen Förderbescheid. „Uns fehlt bisher die Finanzierung für neun Teilzeitstellen sowie Bürokosten, die wir ja trotzdem zahlen müssen“, sagte Martina Glass, die beim NDK arbeitet. Bisher sei der Verein noch so gerade über die Runden gekommen – dank privater Darlehen und Fördermittel anderer Projekte. „Allerdings sind wir nach drei Monaten eindeutig an der Grenze angekommen und müssen im schlimmsten Fall ins Minus auf unserem Konto gehen, was Zinsen kostet, die nicht erstattet werden“, beklagt Glass gegenüber der taz. Im Freistaat kommt es bei der Bewilligung von Demokratieprojekten fast jedes Jahr zu monatelangen Verzögerungen. Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen ruft die Verantwortlichen dazu auf, endlich „verlässliche Lösungen“ zu finden. Es dürfe nicht sein, dass Projekte erst drei Monate nach Laufzeitbeginn starten können. Das schade der Demokratiearbeit im Land.
Rieke Wiemann
Seit Monaten warten Vereine darauf, dass die Sächsische Aufbaubank ihre Projekte für 2023 bewilligt. Das gefährdet die Existenz vieler Organisationen.
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Muss die Bundeswehr jetzt raus aus Afghanistan? - taz.de
Muss die Bundeswehr jetzt raus aus Afghanistan? PRO THOMAS GEBAUER ist Geschäftsführer von medico international e. V. Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den Abzug der Bundeswehr zu schaffen. Angesichts des offenkundigen Scheiterns des militärischen Engagements in Afghanistan verbietet sich ein „Weiter so!“. Die Entscheidung für den Rückzug muss heute getroffen werden. Acht Jahre nach Entsendung der Bundeswehr ist der Frieden in Afghanistan in weite Ferne gerückt. Landesweit eskaliert ein Krieg, dessen Leidtragende vor allem diejenigen sind, in deren Namen die Intervention begründet wurde. Auf alarmierende Weise steigt die Zahl der zivilen Opfer an. Mit jeder Bombe, die heute fällt, stirbt auch die Hoffnung auf Wiederaufbau und Entwicklung. Nicht Demokratie und Wohlstand hat die Intervention den Menschen in Afghanistan gebracht, sondern Armut, Willkür und Gewalt. Die Enttäuschung der afghanischen Bevölkerung ist groß; der Westen und die von ihm gestützte Karsai-Regierung haben sich zunehmend diskreditiert. Kinder, die den Soldaten anfangs zugewinkt haben, bewerfen diese heute mit Steinen. Bei ihrer Vertreibung hatte kaum jemand den Taliban nachgeweint, heute ist es gerade die militärische Absicherung eines korrupten und von Warlords und Kriegsverbrechern dominierten Staatsapparats, die die Menschen wieder in die Hände der Terroristen und Aufständischen treibt. Weil der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde, war die Intervention von Anfang an falsch angelegt. Es ist höchste Zeit zur Umkehr. Gefordert ist eine Politik, die die Logik des Kriegs durchbricht. Notwendig ist ein umfassender Strategiewechsel, der zwar unterdessen von vielen gefordert wird, aber so lange nicht gelingen kann, wie die Alternativen selbst immer wieder in den Strudel des militärischen Scheiterns hineingezogen werden. Ohne Disengagement und Einleitung des Rückzugs der Nato-Truppen hat Frieden in Afghanistan keine Chance. Gefordert sind nicht zuletzt die Vereinten Nationen. Es gilt, einen Plan vorzulegen, wie den menschlichen Sicherheitsbedürfnissen der Afghaninnen und Afghanen jenseits einer von der Nato geführten Intervention entsprochen werden kann. CONTRARALF FÜCKS ist Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll- Stiftung Die Vereinten Nationen wollen Sicherheit und ein Mindestmaß rechtsstaatlicher Ordnung in Afghanistan. Ein gut Teil der afghanischen Bevölkerung will das offenbar auch. Sonst würden die Leute nicht unter Lebensgefahr wählen gehen. Aber die meisten Europäer geizen mit allem, was diesen Zielen zum Erfolg verhelfen könnte. So reicht die militärische Präsenz in der Fläche nicht aus, um den zivilen Aufbau abzusichern, und der zivile Aufbau geht nicht rasch genug voran, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Selbst die Ausbildung der afghanischen Polizei kommt nur im Schneckentempo voran. Dabei gibt es immer noch gute Gründe, sich für Afghanistan zu engagieren. Von dort ging der Anschlag vom 11. September 2001 aus. Und unter der Herrschaft der Taliban verwandelte es sich in eine Hölle für alle, die nicht in das Weltbild der Gotteskrieger passten, zuallererst für die Frauen. Auch das Schicksal des Atomwaffenstaats Pakistans ist untrennbar mit dem Nachbarn verbunden. Trotz aller Rückschläge waren die letzten 8 Jahre keineswegs erfolglos. Unter den Taliban lag das Bildungswesen in Trümmern, heute gehen wieder 6 Millionen Kinder zur Schule, davon 2 Millionen Mädchen. Die Gesundheitsversorgung hat sich deutlich verbessert. Nie gab es eine solche Medienvielfalt im Land. Frauen stellen 28 Prozent der Abgeordneten. Ein vorschneller Rückzug der internationalen Truppen würde einen neuen Bürgerkrieg auslösen. Und er wäre lebensgefährlich für alle, die sich im Vertrauen auf die internationale Gemeinschaft für ein neues Afghanistan engagiert haben. Ein Schuft, wer sich so aus seinen Verpflichtungen schleicht. Richtig ist: So wie bisher geht es nicht weiter. Wir brauchen eine Strategie, die schnellstmöglich die Verantwortung in die Hände der Afghanen legt. Eine internationale Afghanistankonferenz kann dabei hilfreich sein. Obama liegt richtig, wenn er eine allseitige Verstärkung des zivilen und militärischen Engagements betreibt. Nur so lassen sich die Voraussetzungen für einen verantwortlichen Rückzug schaffen.
THOMAS GEBAUER / RALF FÜCKS
PRO THOMAS GEBAUER ist Geschäftsführer von medico international e. V.
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Verhandlungen über Koalition: Ampel debattiert Energie-Ausgleich - taz.de
Verhandlungen über Koalition: Ampel debattiert Energie-Ausgleich Die Grünen schlagen Steuerentlastungen wegen der steigenden Energiepreise vor. Die würde den untersten Einkommensgruppen aber kaum helfen. Schön kalt: Eiszapfen an einem Wohnhaus in Berlin Foto: imago BERLIN taz | Wegen steigender Energiepreise debattieren die Ver­hand­le­r:in­nen der neuen Koalition über einen möglichen sozialen Ausgleich. Exumweltminister Jürgen Trittin, der für die Grünen mitverhandelt, hat einen höheren Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer vorgeschlagen. Dass Benzin, Diesel und Heizöl teurer werden hat mehrere Ursachen, weltwirtschaftliche Turbulenzen, steigende Nachfrage im Anschluss an die Coronakrise, den zunehmenden Kohlendioxidpreis in Deutschland. Diese Entwicklung spielt nun eine Rolle für die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP. Es geht darum, wie sich ein Ausgleich für die steigenden Kosten organisieren lässt, um Privathaushalte und Unternehmen zu entlasten. Eine Variante könnte darin bestehen, den Grundfreibetrag anzuheben. Dieser liegt momentan bei 9.744 Euro pro Jahr. Wer bis zu dieser Grenze verdient, braucht keine Steuern zu zahlen. „Das ist eine gute Idee, die sich schnell und unkompliziert umsetzen lässt“, sagte Martin Beznoska vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Sie kann dazu führen, dass alle Steuerzahlenden um den gleichen Betrag entlastet werden.“ Es kommt aber darauf an, wie die Entlastung umgesetzt wird. „Wenn man den Grundfreibetrag anhebt und den Steuertarif für alle nach rechts verschiebt, profitieren vor allem Haushalte mit hohen Einkommen“, sagte Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Geringverdienende haben nichts oder nur wenig davon. Die sind aber von den Energiepreiserhöhungen stark betroffen.“ Die Steuerdiskussion dürfte in den Koalitionsverhandlungen kompliziert werden. Während Grüne und SPD untere und mittlere Einkommensgruppen entlasten wollen, plant die FDP dies auch für Wohlhabende. „Ergänzend kann man daran denken, Sozialtransfers wie Arbeitslosengeld II und das Wohngeld zu erhöhen“, fügte IW-Ökonom Beznoska hinzu. Denn die Steuerdebatte betrifft nur Haushalte, die Steuern zahlen. Bevölkerungsgruppen, die Hartz IV beziehen oder auf Wohngeld angewiesen sind, hätten keine Vorteile von einem höheren Grundfreibetrag, von verbesserten Transfers aber schon. Im Sondierungsergebnis der drei Parteien kommen solche Varianten bisher nicht vor. Die Ver­hand­le­r:in­nen haben sich einstweilen auf die Abschaffung der Umlage für Ökostrom konzentriert, die alle Privathaushalte und die meisten Firmen im Rahmen ihrer Stromrechnung entrichten. Die EEG-Umlage beträgt derzeit 6,5 Cent pro Kilowattstunde. In den kommenden Jahren könnte sie komplett wegfallen, was Privathaushalte um teilweise mehrere Hundert Euro pro Jahr entlasten würde. Die Entlastungsoption begünstigt Bür­ge­r:in­nen mit niedrigen Einkommen stärker als Wohlhabende, weil erstere einen relativ höheren Anteil ihrer Verdienste für Elektrizität ausgeben. „Ein Vorteil der Abschaffung der EEG-Umlage besteht auch darin, dass die Unternehmen entlastet werden“, sagte der DIW-Forscher Bach.
Hannes Koch
Die Grünen schlagen Steuerentlastungen wegen der steigenden Energiepreise vor. Die würde den untersten Einkommensgruppen aber kaum helfen.
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Wohnen im Alter: „Hier bin ich nun mal verwurzelt“ - taz.de
Wohnen im Alter: „Hier bin ich nun mal verwurzelt“ Karla Feles hat eine große Wohnung in Hamburg für sich allein. Umziehen würde sie nach 40 Jahren nur, wenn es eine gute Alternative gibt. Einsam ist sie allein in der Wohnung nicht: Karla Feles Foto: Miguel Ferraz HAMBURG taz | Die Alten raus aus ihrer Wohnung, damit die jungen Familien mehr Platz bekommen? Ist das eine Lösung? Sicherlich brauchen viele Ältere nach dem Auszug der Kinder nicht mehr ganz so viel Platz. Die Idee des Wohnungstausches klingt also naheliegend. Doch viele, die etwas mehr Platz haben, wollen gar nicht ohne Weiteres raus – und die Gründe sind vielfältig. Gegen einen Umzug spricht in vielen Fällen eine ganze Menge. Es ist eine komplexe Frage, bei der die Argumente dafür und dagegen ernst genommen werden müssen. Karla Feles war früher Lehrerin, später begann sie als Liedermacherin „Feli“ Musik zu machen. Ihre Wohnung, die sie damals mit ihrem Mann und den drei Kindern teilte, bewohnt sie mittlerweile allein. Dort schreibt sie ihre Musik und ihre Texte, dort malt sie auch. Sie hat sich Gedanken darüber gemacht, ob sie sie gegen eine kleinere Wohnung eintauschen würde. Ein Protokoll: „Wir helfen uns hier gegenseitig“ „Seit 40 Jahren wohne ich in dieser Wohnung. Und nun noch in einen anderen Stadtteil umziehen? Na ja. Also, ungern würde ich das wohl gar nicht tun wollen, das ist das falsche Wort. Ich bin ja offen für Neues. Aber hier bin ich nun mal im Laufe der vielen Jahre verwurzelt. Ich habe hier im Haus eine wundervolle Nachbarschaft – ich bin genau richtig hier. Das sind ja alles gewachsene Beziehungen. Wir helfen uns hier gegenseitig. Jetzt in der Coronazeit versammeln wir uns an den Wohnungstüren zum Treppenhaus und ich spiele ein Konzert. Ich kann mir nichts ausdenken, deswegen ich hier ausziehen würde. Wobei ich kürzlich im Bus hier in der Nähe an einem Eilbekkanal entlanggefahren bin, da sah ich ein paar Hausboote und dachte mir: Das könnte ich mir vielleicht vorstellen. Was mir auch schon mehrmals durch den Kopf ging, ist ein Mehr-Generationen-Wohnprojekt. Mein Sohn fragte mich sogar letztens, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm in ein großes Haus ins Wendland zu ziehen. Das kann ich mir schon vorstellen, muss ich sagen. Aber unterm Strich: Noch mal im Leben umzuziehen, wäre für mich keine Option – außer es gäbe eine so schöne Alternative. Der Ort, um Musik zu machen: Karla Feles' Wohnzimmer Foto: Miguel Ferraz Ich werde jetzt 74 Jahre. Aber altersgerechtes Wohnen? Ich weiß gar nicht, was altersgerechtes Wohnen für mich bedeuten würde. Klar, wenn ich nach dem Einkauf die Treppen hoch muss, schnaufe ich schon mal tief. Aber das alles hält mich doch auch fit. Ich will gar nicht, dass mir das alles abgenommen wird. Der Mietvertrag ist zwar immer noch der von damals, aber die Miete macht heute mehr als die Hälfte meiner Pension aus. Selbst wenn ich umziehen würde, würde ich doch vielleicht sogar mehr als bisher zahlen. Deshalb ist das für mich auch illusorisch. Das ist doch in allen Großstädten so. Freunde von mir aus München, auch Musiker, sind jetzt nach Mannheim weggezogen, weil sie die Miete nicht mehr aufbringen konnten. Würde ich hier doch nochmal ausziehen, müsste ich wohl für deutlich weniger Platz deutlich mehr zahlen. Eine Nachbarin hat eine kleinere Wohnung und zahlt 300 Euro mehr als ich. Das könnte ich mir dann nicht mehr leisten. Wir haben hier zu fünft gewohnt – mein Lebensgefährte und drei Kinder. Ich habe heute noch viel Besuch. Es ist auch gut, noch mal ein kleines Zimmer mit einem Bett für Gäste zu haben. Aber sonst steht hier ja auch alles voll. Ich sammle halt gern. Mir ist das einfach nicht zu groß. „Wo soll ich die Bilder noch hinstellen?“ Mit einem der vorderen Zimmer habe ich noch Pläne: Das große Zimmer soll das Musikzimmer werden, dafür brauche ich noch ein neues Klavier. Das heißt: Ich nutze den Platz ja auch. Ich male und ich weiß schon nicht mehr, wo ich die ganzen Bilder hinstellen soll. Manche lagern gerade schon anderswo. Und die Kinder haben ja auch noch viele Sachen hier, kommen häufig zu Besuch und schlafen dann hier. Hier noch jemanden einziehen zu lassen, das weiß ich nicht genau. Es müsste schon jemand sein, den ich sehr gern mag. Dass ich in dieser Situation bin, dafür bin ich sehr dankbar. Ich weiß noch, wie beengt ich in meiner Kindheit aufgewachsen bin. Ich weiß, dass es ein großer Luxus ist, viel Platz zu haben. Das ist mir natürlich nicht immer bewusst, das weiß ich wohl. Zugleich: Ich habe so viele Wohnsituationen durchgemacht, habe früher auch in WGs gewohnt, ich denke schon: Ich habe mir das auch verdient. Ich war 40 Jahre im Schuldienst und auch da habe ich vor meiner Pensionierung gesagt: Ich habe hier meinen Beitrag geleistet, das habe ich mir nun verdient. Ich bin ja keine Millionärin und die Frage mit dem Luxus ist natürlich eine Frage der Perspektive. Natürlich genieße ich es auch sehr, den Platz zu haben. Es sind etwas mehr als 100 Quadratmeter. Ich hatte ja auch nie das Gefühl – selbst zu Coronazeiten nicht – dass ich hier einsam bin in dieser großen Wohnung. Mir ist das auch nie zu still hier. Ich mache das Radio an, höre Musik oder spiele selbst etwas auf der Gitarre. Und hier hängen ja auch viele Erinnerungen dran. In der Küche, am Türrahmen, sind noch die Striche, wie groß die Kinder waren. Es sind auch Erinnerungen an Momente, die es in dieser Wohnung mit den Kindern und meinem Mann gab.“
André Zuschlag
Karla Feles hat eine große Wohnung in Hamburg für sich allein. Umziehen würde sie nach 40 Jahren nur, wenn es eine gute Alternative gibt.
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Die beständige Angst vor dem nächsten Funken - taz.de
Die beständige Angst vor dem nächsten Funken ■ Fünf Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz in Peking stehen Chinas Militär und Geheimpolizei bereit, um jede Kundgebung zu unterdrücken. Die Regierung fürchtet heute aber vor allem die... Fünf Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz in Peking stehen Chinas Militär und Geheimpolizei bereit, um jede Kundgebung zu unterdrücken. Die Regierung fürchtet heute aber vor allem die immer häufigeren Arbeiterproteste. Die beständige Angst vor dem nächsten Funken Aus Protest gegen niedrige Bezahlung und elende Arbeitsbedingungen bestreiken 20.000 Bergarbeiter in der nordostchinesischen Provinz Heilongjiang die staatlichen Kohlegruben. In der nahe gelegenen Provinz Liaoning treten 6.900 Arbeiter einer japanisch geführten Autofabrik für zwei Tage in den Streik für höhere Löhne und mehr freie Tage. Mehr als 2.000 Fabrikarbeiter in der Zhuhai-Wirtschaftszone im südlichen Guangdong legen für drei Tage die Arbeit nieder, um eine Lohnsenkung abzuwenden. In Peking wenden sich dreihundert FabrikarbeiterInnen mit einer Petition an die Regierung, noch ausstehende Löhne anzuweisen. Ihr Protest wird gewalttätig, als ein frustrierter Arbeiter einen Funktionär mit einem Hackbeil angreift. Aus dem ganzen Land kommen in diesen Monaten die Nachrichten über Streiks und Arbeiterproteste – und sie werden immer häufiger. Vor genau fünf Jahren demonstrierten Millionen chinesischer BürgerInnen und StudentInnen gegen die Regierung und für mehr Demokratie. Heute fürchtet die Kommunistische Partei nicht die StudentInnen und Intellektuellen. Sie hat Angst vor ArbeiterInnen, die gegen die Inflation protestieren, die jene des Jahres 1989 noch übersteigt. Sie fürchtet deren Zorn über die Korruption der Funktionäre, über Entlassungen aus illiquiden Staatsbetrieben. Die Behörden sind so nervös, daß sie eine eiserne Kontrolle über die Hauptstadt verhängt haben: Die Wohnungen von Dissidenten sind zu wahren Polizeifestungen geworden. Ausländische JournalistInnen werden streng überwacht, Gespräche in Fabriken oder mit Arbeiteraktivisten werden aus Furcht vor Sanktionen abgesagt. Die ArbeiterInnen haben begonnen, sich dagegen zu wehren, daß ihre Arbeitsplätze – und die damit verbundene soziale Absicherung – verlorengehen. „Die Armut der Arbeiter ist wie trockenes Reisig. Ein kleine Funke kann einen Großbrand auslösen“, sagt ein Funktionär in Tianjin. Offiziell wird erwartet, daß sich die städtische Arbeitslosigkeit in diesem Jahr von 2,5 auf 3 Prozent erhöhen wird. Das sind 5 Millionen, die entlassen werden und 1,8 Millionen, die auf staatliche Sozialhilfe angewiesen sind, schreibt die Pekinger Volkszeitung. Schätzungsweise zehn Prozent der 120 Millionen Menschen, die in den maroden Staatsbetrieben arbeiten, werden nicht rechtzeitig – oder überhaupt nicht – bezahlt. Die große Zahl der Landflüchtigen verschärft die Lage: Auf dem Lande wird die Arbeitslosigkeit auf dreißig Prozent geschätzt. Die Regierung hat zugegeben, daß Arbeiterproteste im vergangenen Jahr um 52 Prozent auf mehr als 12.000 Fälle anwuchsen. Zusätzlich berichtete die Hongkonger Presse über weitere sechstausend illegale Streiks und zweihundert Aufstände. Alarmiert warnte Präsident Jiang Zemin kürzlich in einer Rede, daß „die Arbeiter nicht auf die Straße getrieben werden dürfen“. Um das zu verhindern, hat die Pekinger Führung die Abwicklung von staatlichen Unternehmen verlangsamt. Obwohl das Defizit des öffentlichen Haushaltes wächst, gibt die Regierung weiterhin viele Millionen für die Subventionierung der Staatsbetriebe aus – von denen mehr als die Hälfte Verluste machen. Um bis zum 4. Juni weitere Entlassungen und damit möglicherweise einhergehende Unruhen zu vermeiden, wurde der Verkauf pleite gegangener Staatsbetriebe vorübergehend gestoppt. Zwar hat die Regierung angeordnet, daß in allen Joint-ventures mit ausländischer Beteiliung Arbeitervertretungen eingerichtet werden sollen. Doch „bei den meisten Arbeitskonflikten in Joint- ventures stellen sich die lokalen Behörden auf die Seite der ausländischen Geschäftsleute. Sie fürchten, daß diese sonst ihre Investitionen abziehen“, sagt ein chinesischer Spezialist für Arbeiterfragen in Peking. Immer mehr Arbeiter geraten in die Verelendung, sagen chinesische Beobachter. Eine im vergangenen Jahr vom offiziellen Chinesischen Gewerkschaftsverband – der einzig legalen Gewerkschaft – in Auftrag gegebene Untersuchung zeigt, daß mehr als zwei Millionen ArbeiterInnen in neun Provinzen und Großstädten in Armut leben. „Wenn die Regierung und die Partei es nicht schaffen, sich um die Bedürfnisse der Arbeiter zu kümmern, dann widerspricht dies den kommunistischen Prinzipien“, sagt ein Regierungsfunktionär, der entlassene Arbeitskräfte betreut. In Tianjin, einem industriellen Zentrum gut hundert Kilometer östlich von Peking, versammeln sich immer wieder Gruppen von Arbeitslosen, die weniger als umgerechnet 20 Mark Stütze im Monat bekommen, vor den städtischen Ämtern, um um neue Jobs oder einfach nur Lebensmittel für ihre Familien zu bitten. Häufig kommt es unter den mehr als eine Million Arbeitskräften der 3.000 staatlichen Unternehmen zu Arbeitsniederlegungen. Ein Funktionär in der Stadt sagt, er habe sehr viele Familien besucht, wo es kaum etwas zu essen gab und kein Geld. Ein Rentner, ehemals Parteisekretär in einer Fabrik, verlor sein monatliches Einkommen, als der Betrieb dichtmachte. Er hat jetzt keinerlei Einkommen für sich und seine behinderte Tochter. „Er kann nichts anderes tun, als ruhig dazusitzen und auf den Tod zu warten“, meint der Funktionär. „1994 wird ein katastrophales Jahr für die Staatsbetriebe“, sagt ein chinesischer Gewerkschaftler voraus. „Große, landesweite Streiks sind jedoch unwahrscheinlich“, fügt er hinzu. „Bislang sind die Arbeiterproteste noch auf mittlere und kleine Staatsbetriebe beschränkt. Und es hat noch keine Streiks gegeben, die mit politischen Forderungen verbunden sind oder einen gesamten Industriezweig erfaßt haben. Streikende ArbeiterInnen sind bislang noch nicht klassenbewußt.“ Sheila Tefft, Peking
sheila tefft
■ Fünf Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz in Peking stehen Chinas Militär und Geheimpolizei bereit, um jede Kundgebung zu unterdrücken. Die Regierung fürchtet heute aber vor allem die...
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28,136
Anschwellender Busverkehr - taz.de
Anschwellender Busverkehr Bus & Bike Wer mit dem Rad auf die Reise geht, ist häufig auf Überbrückungshilfen angewiesen. Ist der Fernbusverkehr dafür geschaffen – ist der Bus die neue Bahn? Gegen einen Aufpreis können bei einigen auch Liegerad oder Tandem mitgenommen werden Keine Frage, die Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland stieß bei vielen Radtouristen auf hoffnungsvolle Sympathie. Mittlerweile sind die Busnetze auf- und ausgebaut worden, so dass jetzt tatsächlich ein ständiger Fernbuslinienverkehr existiert, der weit über Deutschland hinausführt. Mit dabei zum Beispiel Eurolines, schon vor der Deregulierung bekannt für ihren europaweiten Linienverkehr. Doch welche Enttäuschung: Für den Fahrradtourismus ist das Unternehmen nach wie vor nicht zu haben. „Die Beförderung von Tieren, Fahrrädern und Einrichtungsgegenständen ist im internationalen und nationalen Linien­verkehr nicht gestattet“, heißt es unmissverständlich auf ihrer Website. Dann also der Postbus, einer der Newcomer. Seit einem Jahr kooperiert er mit Eurolines, gibt sich werbungsmäßig aber recht fahrradfreundlich: „Ihr Rad im Postbus! Gut verstaut im Gepäckraum.“ Pro Rad sind zehn Euro zu zahlen. Das Problem ist zum einen die Quotenregelung: Pro Bus werden maximal drei Fahrräder mitgenommen, verstaut im Gepäckraum. Zum anderen ist der grenzüberschreitende Fahrradtransport noch nicht möglich. Besondere Typen wie Liegeräder oder Tandems sind ohnehin davon ausgeschlossen. Europäischer Linienverkehr Auch FlixBus und MeinFernbus sind mit der Liberalisierung vor dreieinhalb Jahren als Start-ups aufgebrochen. Seit einiger Zeit sind sie verbandelt und nun nach eigener Aussage „klarer Marktführer in Deutschland“. Ihr grenzüberschreitender Linienverkehr geht in Richtung gesamteuropäisch, die Liste der Destinationen wird immer länger. Viele der Busse nehmen Fahrräder mit, sogar von hüben nach drüben, befördert auf Trägern und zum Stückpreis von neun Euro. Aber nicht alle Busse. Ob die Möglichkeit besteht, wird bei der Online­buchung sofort angezeigt. Sollte es sich allerdings um ein E-Bike handeln, wird gebeten, vorher telefonisch den Kundenservice zu kontaktieren. Weitere Linienbetreiber mit wie etwa DeinBus oder Berlin Linien Bus bieten die Fahrradmitnahme ebenfalls grundsätzlich an, haben ähnliche Preise und Bedingungen, insofern muss also auch immer wieder mit Linien ohne Radtransport gerechnet werden. Einen Überblick verschafft die Website www.radreisewiki.de/Fahrradtransport_im_Fernbus (die aber möglicherweise nicht vollständig und auf dem neusten Stand ist). Eine Art Shuttle-System Nicht so ganz in das Linienbus-Angebot passen die Veranstalter, die zumindest für die Sommermonate eine Art Shuttle-System organisieren. Zu den wenigen dieser Spezialisten zählt Rucksack Reisen in Münster, die ihr Segment Bike & Bus bereits seit rund 20 Jahren im Programm haben, wie sich Klaus Lange, einer der Gesellschafter, erinnert. „Von Mitte Juni bis Mitte September fahren wir nach Schweden, Juli bis Anfang September in die Region Burgund, jeweils im wöchentlichen Rhythmus.“ Decize heißt der Zielort in Frankreich, gleich drei gibt es in Schweden. Auf der Nordroute kann in Münster, Bremen, Hamburg und Puttgarden zugestiegen werden, Richtung Süden geht’s los in Münster oder Köln. One-way? Kein Problem. Und auch ohne Fahrrad wird man mitgenommen. Aber klar, dieser temporäre Busverkehr ist vorrangig auf Radreisende eingestellt. Also wird für ihre Fahrräder hier tatsächlich Besonderes geboten, nämlich der eigene Anhänger, „mit speziellen Halterungssystemen“, wie Klaus Lange betont. Gegen einen „kleinen Aufpreis“ können hier auch Liegeräder oder Tandems transportiert werden. hd
Helmut Dachale
Bus & Bike Wer mit dem Rad auf die Reise geht, ist häufig auf Überbrückungshilfen angewiesen. Ist der Fernbusverkehr dafür geschaffen – ist der Bus die neue Bahn?
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Theaterstück über Hannelore Kohl: Die große Sprachlosigkeit - taz.de
Theaterstück über Hannelore Kohl: Die große Sprachlosigkeit Ist ein solches Leben heute noch denkbar? „Schatten::Frau“ ist eine Etappenreise durch das Leben der Hannelore Kohl – und durch Bad Godesberg. Entschied sich gegen das Leben: Hannelore Kohl (Archivbild, 1997). Bild: dpa Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau, heißt es. Eine, die die Fassade wahrt, die Kinder großzieht, die Abwesenheit erträgt, ohne sich direkt auf den Leibwächter zu stürzen – mag das früher bedeutet haben. Heute ist Partnerschaft Verhandlungssache, living apart together ein Lebensstil, der Leibwächter eingeplanter Teil der Polyamorie. Dazwischen liegen keine zwanzig Jahre. Oder? „Schatten::Frau“ heißt das „Projekt für je einen Zuschauer“ am Theater Bonn, das Beziehungsrationalisten auf die Probe stellt. Es zeigt, was passiert, wenn der moderne Mensch zurückgeworfen wird in die Welt der Hannelore Kohl. Fängt er an, mit ihr zu verhandeln? Oder erträgt er die Vorwürfe, die Demut und Selbstdemütigung in stoischer Gelassenheit? Das Stück von Bernhard Mikeska (Regie) und Lothar Kittstein (Autor) ist an keinem anderen Ort besser aufgehoben als in Bad Godesberg, dem ehemaligen Bonner Botschaftsviertel, wo alte Villen und biedere Bauten die allabendlich leeren Straßen säumen. Hier ist das „Ria Maternus“, die Kneipe, in der Konrad Adenauer saß. Im benachbarten Vorort, der hübsch ist und Pech heißt, wohnt der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Immer noch. Ein Ort mit Vergangenheit, in einer Stadt, die in der Erinnerung lebt. Hannelore Renners Weg nach Bonn ist ein schmerzhafter: 1933 in Berlin geboren, verbringt sie ihre Kindheit in Leipzig. Durch den Krieg verliert die Familie ihren Reichtum und unternimmt bei Ludwigshafen einen Neuanfang. Beim Tanztee lernt sie als Teenager den gerade 18-jährigen Kohl kennen, sie heiraten 1960, zwölf Jahre später. Als Helmut Kohl 1982 Kanzler wird, ist sie die deutsche „First Lady“ – und ihr Leben erschöpft sich im Blick zurück. Fahrt in die innere Enge Die Reise in diese goldene Zeit Bonns beginnt in einem kleinen Container neben dem Theater in Bad Godesberg. Ein Bett, eine Pillenpackung, ein Wasserglas stimmen ein auf die Fahrt in die innere Enge. Über den Kopfhörer rieseln die Gedanken einer Depressiven in den eigenen Kopf: „Was hast du denn auch erwartet, Püppi?“ Von Bonn, dieser kleinen Stadt, dem engen Haus, dem Leibwächter, der den Schlaf überwacht. Der Ehemann ist ja draußen und macht Politik. Dann wird der beengte Raum dramatisch aufgelöst: Ein alter Mercedes bringt den Betrachter zum Rhein. Beinahe Sorgen muss man sich machen um das parfümierte Mädchen Hannelore (Julia Keiling), das sich hier am Rheinufer erst anbietet, dann schmollt. Knappe zwei Millimeter bleiben zwischen eigenen und fremden Lippen, knallrot gemalt – und jetzt? Ist das nicht strafbar? Das zumindest wird sich der junge Kohl, dem dieses Angebot galt, nicht nur einmal gefragt haben. Die nächste Szene, Hannelore altert, trägt nun Kostüm statt Sommerkleid. Schauspielerin Mareike Hein hat sich die Blicke so genau angeeignet, dass sie fast Angst macht. Erneutes Spiel mit körperlicher Nähe, doch diesmal auch der nervtötend vorgebrachte Wunsch nach seelischer Intimität. Nach Stunden des Wartens auf den Gatten, hatte Hannelore Kohl einmal im Interview gesagt, könne man nur von einem Hund erwarten, dass er sich über die Rückkehr des Hausherren freue. Hier entwickelt der Zuschauer nun überhaupt kein Mitleid mit der Figur, eher einen gewissen Sadismus. Aber nein: Man muss ja trösten, richtig. Todtraurig, dass es wehtut Der Mercedes ruckelt vorbei an erleuchteten Jugendstilfenstern. Erneut im Theater, empfängt eine Hannelore (Birte Schrein) im Endstadium, so todtraurig, dass es wehtut. Man steht nun einem Menschen gegenüber, der erloschen ist, ohne je zu brennen. Es ist halb zehn, die Vorhänge sind zugezogen. Was, fragt diese letzte Begegnung, ist nur aus dem Kind geworden? Das Selbstverständnis ist nun das einer Frau, die nichts zu erwarten hat. Selbst das Locken, Wegstoßen und Führen des Zuschauers hat sich verloren. Mehr als Händchenhalten ist nicht drin. Nun muss niemand überlegen, in welcher Gefühlswelt – ironisch, sadistisch oder väterlich – er sich befindet. Mitleid unter Kreaturen ist die einzige Option. Ist ein solches Leben heute noch denkbar? In jeder Szene geht es darum, wann für Hannelore Kohl der Zeitpunkt gekommen wäre, gerade noch aus dem Lauf der Geschichte aussteigen zu können. Und hätte ihr, dieser Figur aus der Vergangenheit, ein Ausstieg überhaupt geholfen? Wohl nicht in der damaligen Zeit, muss man einräumen. Das Stück stellt aber auch eine weitere Frage: Hat der Zuschauer, dieser mit allen Beziehungsformen der modernen Zeit vertraute Besucher aus der Gegenwart, die Wahl, sich dieser längst vergangenen Romantik zu entziehen? Sich gegen Hannelores Verführung, Generve und Verzweiflung abzugrenzen? Manchem wird das Leben wohl beigebracht haben, genau das zu tun – durch Spott, Ironie, Gelächter oder Verachtung. Den Darstellern gelingt es aber auch oft genug, eine große Sprachlosigkeit zu vermitteln. Mehr Selbstbefragung kann niemand von eineinhalb Stunden Leben erwarten.
Hanna Schmeller
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Konsum bricht ein: Düstere Aussichten - taz.de
Konsum bricht ein: Düstere Aussichten Wegen weiterhin hoher Preise halten sich Ver­brau­che­r*in­nen beim Lebensmittelkauf zurück. Im zweiten Halbjahr könnte es noch schlimmer werden. Konsumklima eisig: Handel erleidet größten Umsatzeinbruch seit 1994 Foto: Carsten Koall/dpa BERLIN taz | Noch gibt es keine handfeste Krise in Deutschland. Die Wirtschaftskraft schrumpfte im zweiten Quartal laut Statistischem Bundesamt um 0,4 Prozent, aus Ökonomensicht stagniert die Wirtschaft damit. Doch einige Branchen trifft es jetzt schon hart. Der deutsche Einzelhandel verzeichnete im Juni einen realen Umsatzeinbruch um 8,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Das ist der stärkste Umsatzeinbruch seit 28 Jahren, teilte das Statistische Bundesamt mit. Einschließlich der Preiserhöhungen (nominal) nahm der Umsatz lediglich zwar um 0,8 Prozent ab, für den Einzelhandel ist das dennoch wenig beruhigend. Dem Einzelhandel sagen Ökonomen für die zweite Jahreshälfte weitere schwierige Zeiten voraus. Die hohe Inflation ist nach Angaben der Wiesbadener Statistiker der Grund für die allgemeine Kaufzurückhaltung. Lebensmittel wurden im Vergleich zum Juni 2021 um fast 12 Prozent teurer. Bei einer Inflationsrate von zuletzt mehr als 7 Prozent kämpfen viele Ver­brau­che­r*in­nen derzeit mit entsprechend hohen Realeinkommensverlusten. Denn abgesehen von einigen Sonderzahlungen sind die meisten Löhne bislang nicht im ähnlichen Ausmaß gestiegen. Viele Tarifauseinandersetzungen stehen noch bevor. Haupttreiber der Inflation sind wiederum die hohen Energiepreise im Zuge des Ukrainekrieges. Vor allem bei Nahrungsmittel wird gespart Gespart wird vor allem bei Waren des täglichen Bedarfs. Der Lebensmitteleinzelhandel verbuchte reale Rückgänge zum Vormonat von einem Minus von 1,6 Prozent, zum Vorjahresmonat gar ein Minus von 7,2 Prozent. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen des Marktforschungsunternehmens GfK, das regelmäßig Ver­brau­che­r*in­nen befragt. So seien in den Monaten Januar bis Mai 8,2 Prozent weniger Fleisch- und Wurstwaren, 8,5 Prozent weniger frisches Obst oder Gemüse und 7 Prozent weniger Backwaren gekauft worden. Der Umsatz mit Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren betrug im Juni dem Statistischen Bundesamt zufolge 5,4 Prozent weniger als im Vormonat. Auch der Internethandel, der in der Corona-Pandemie geboomt hatte, lag deutlich im Minus. Bei Reisen werde in diesem Sommer dagegen nicht gespart. Die Buchungszahlen für private Urlaubsreisen sind dem GfK zufolge in der aktuellen Sommersaison vergleichbar mit dem Vor-Pandemie-Jahr 2019, teils gingen sie sogar darüber hinaus. Die Reiseausgaben sind allerdings ungleich verteilt. Mehr als jeder Fünfte in Deutschland kann sich Daten von Eurostat zufolge nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr leisten, unter Alleinerziehenden ist es fast jeder Zweite. „Das war nicht die letzte schlechte Konsumnachricht“, sagt der Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank AG, Alexander Krüger. Die Gasumlage – die für viele Deutsche spätestens im Herbst einen neuerlichen Preisschub bedeutet – dürfte den Konsum noch weiter beschneiden. Wirtschaftsminister Robert Habeck bezifferte die Mehrkosten auf mehrere Hundert Euro pro Haushalt.
Felix Lee
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Was bedeutet eigentlich „Durchschnitt“?: Zu Tisch im Garten des Vermessers - taz.de
Was bedeutet eigentlich „Durchschnitt“?: Zu Tisch im Garten des Vermessers Der Durchschnitt ist der Ausgangspunkt des Denkens. Und manchmal auch Blödsinn. Das sagt der Statistiker Walter Krämer. Wer das Grobe erfasst hat, hat weniger Arbeit mit den Abweichungen. Foto: dpa Rheinländer sind fröhlich, Niedersachsen stur. Argentinier lieben den Tango, Franzosen das Essen, und in den USA verdient man mehr als in Simbabwe – im Garten von Walter Krämer in Steinhude sind Pauschalierungen kein Tabu. Denn bei ihm geht es um Durchschnitt. Den soll er erklären – an der Universität in Dortmund ist er Statistikprofessor. Und mehr: Hobbygermanist, BVB-Fan, Wirtschaftskritiker. „Der Durchschnitt ist etwas sehr Gutes“, meint Krämer und lässt sich den mit Blumen verzierten Salat munden. Warum? „Es spart uns viel Hirnschmalz.“ Die Sinnlichkeit des Wortes, der Ausblick auf den Garten und die Köstlichkeiten auf dem Tisch machen es schwer, seiner Erklärung zu folgen. Sinngemäß geht sie so: Wer das Grobe erfasst hat, hat weniger Arbeit mit den Abweichungen. Das leuchtet ein: Jeden Rheinländer auf Frohsinn und jeden Niedersachsen auf Sturheit zu untersuchen wäre aufwendig. Dieser Krämer ist übrigens beides. Sieht aus wie aus Stein – „eine deutsche Eiche“ nennt ihn seine Frau –, aber die Antworten kommen aus der Hüfte. Also hilft der Durchschnitt, sich zurechtzufinden? „Sicher“, antwortet er, „wenn man weiß, dass man im Einzelfall sehr danebenliegen kann.“ Wie bei ihm. Denn an diesem Statistikprofessor, der einen so stabilen Eindruck macht, hatten schon einige Leute zu schlucken. Rechte, Linke, die dazwischen, ach, viele. Weil er es besser weiß, mit Zahlen schlägt und gern das Gegenteil von dem behauptet, worauf sich eine Mehrheit geeinigt hat. Er sagt etwa: „Raucher belasten das Gesundheitssystem nicht.“ Warum nicht? Sie sterben früher. „Lungenkrebs ist ein billiger Tod.“ Ökonomisch gesprochen. Aber wie ist es beim Passivrauchen? Wie bei Babys von Rauchermüttern? Das sind halt Sonderkriterien. Etwas bei Forschungsfragen auszuklammern, kann Statistik anfällig machen für Halbwahrheiten und Manipulation. Krämer hat Bücher darüber geschrieben. Gerade ist eines neu aufgelegt worden. „So lügt man mit Statistik“, heißt es. Die Deutschen haben 1,99 Beine Zurück zur Nachhilfe im Garten: Nachdem der Durchschnitt hier also als sinnvolle Notwendigkeit gedeutet wird, muss man sich mit den Abweichungen beschäftigen: „der Variabilität“. Sein Standardbeispiel: „Das Steinhuder Meer ist im Durchschnitt 1,50 Meter tief, man kann es durchwandern. Trotzdem ertrinken Leute darin.“ Und was sagt sein Beispiel? Dass der Durchschnitt, bezogen auf die Abweichung, mitunter keine Aussagekraft hat. Der Median ist Krämers Lieblingsdurchschnitt Woran also könnte es liegen, wäre dann so eine Abweichungsfrage, dass Menschen in einem Gewässer ertrinken, das an den meisten Stellen nur knietief ist und das man tatsächlich durchwandern kann, sofern man weiß, wie man die tieferen Stellen umgeht? Krämer hat Antworten: Die meisten Ertrinkenden sind besoffen und fallen ins Wasser, weil ihnen auf ihren Segelbooten der Mast gegen den Kopf knallt. Besoffen und betäubt – da helfe auch der Überlebensinstinkt nicht. Aber das geht jetzt zu weit. Das Beispiel mit dem Steinhuder Meer – einem Gletschersee aus der Eiszeit, wie er erklärend einflicht – soll eigentlich nur verdeutlichen, dass das, was allgemein als „Durchschnitt“ gefasst wird, das arithmetische Mittel – diese Technik, dass man die Ergebnisse aller Messpunkte addiert und die Summe durch die Anzahl der Messpunkte teilt –, manchmal zu falschen Schlüssen führt. Um es zu verdeutlichen, gibt er noch ein Beispiel. Im Durchschnitt haben die Deutschen 1,99 Beine – weil es eben auch ein paar Einbeinige gibt. „Blödsinn das.“ Und noch ein Beispiel: Vier Menschen haben ein Einkommen von je 1.000 Euro, ein fünfter hat 6.000 Euro. Im Durchschnitt hat jeder in dieser Gruppe also 2.000 Euro. Dass das in der Theorie so ist, wird die vier Ärmeren kaum freuen. Alternative Nivellierungen Weil manche Durchschnittsberechnungen also in die Irre führen, haben Statistiker ein Repertoire an alternativen Nivellierungen: etwa das harmonische Mittel, das geometrische Mittel, den Nominalwert. Und den Median. Der Median ist Krämers Lieblingsdurchschnitt. Für den nimmt man bei einer bestimmten Anzahl immer genau den Wert der Position, die in der Mitte steht. Bei den vier Leuten mit 1.000 Euro Einkommen und dem fünften mit 6.000 Euro ist der Median also 1.000 Euro, weil der Mensch an dritter Stelle so viel hat. Bezogen auf die Einkommenssituation in Deutschland, gibt der Median ein realistischeres Bild als der arithmetische Durchschnitt. taz.am wochenendeWir könnten uns anstrengen und was Großes werden. Wir könnten aber auch liegen bleiben. Zum achten Monat in diesem 15. Jahr des neuen Jahrtausends eine 08/15-Ausgabe, in der taz.am wochenende vom 22./23. August 2015. Mit viel Liebe zum Mittelmaß. Wir treffen eine Frau, die „Erika Mustermann“ heißt. Wir reden mit einem Statistiker über Durchschnitt. Und lernen, warum genormte Dinge wie Plastikbecher uns im Alltag helfen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Die anderen Durchschnitte seien für die Einstiegslektion zu kompliziert. Zumal es noch weiteres zu bereden gibt. Eine Überlegung etwa, die sich Statistiker zu eigen machen, habe damit zu tun, dass man Abweichungen gern vom Status quo aus denkt. Werde man beispielsweise gefragt, wie das Wetter wird, solle man antworten: Wie gestern. „Meistens stimmt es, nur manchmal nicht.“ Der Mensch“, so Krämer, „will eigentlich, dass alles bleibt, wie es ist.“ Jemand, der wie Krämer Ordnung ins menschliche Chaos bringen will, zudem Volkswirtschaft studiert hat und ein überzeugter Liberaler Lambsdorffscher Prägung ist, mischt sich gerne in viele Debatten ein. Er ist dringend für den Austritt Griechenlands aus dem Euro, weil mit der jetzigen Lösung nur die Banken alimentiert werden, aber nicht die Menschen. Gleichzeitig findet er, dass die Griechen Inseln als Pfand für Kredite einsetzen sollen. Er ist ein Freund von Bernd Lucke und plädiert dafür, dass die Politik die Gehälter von Vorständen begrenzt. Er ist für Freihandel, geht jetzt jedoch auf die Barrikaden, weil TTIP die Sprache als Handelshemmnis ausgemacht hat. Die deutsche Sprache ist sein Hobby. Er ist gegen deren Verhunzung durchs Englische. Als er nach einem Auslandsaufenthalt wieder in Düsseldorf landete und sich vorkam, als wäre er in einer amerikanischen Stadt, regte ihn das so auf, dass er Handlungsbedarf sah. Er gründete den „Verein Deutsche Sprache“. „Wenn alles auf Englisch ist, da wird mir übel, da krieg ich Achselschweiß.“ Dabei sei er kein Wörterfresser, 30 Prozent der Wörter im Deutschen kämen aus anderen Sprachen. 30 Prozent – das Vermessen hört beim Smalltalk nicht auf. Darauf angesprochen, dass bald ein paar türkische Wörter ins Deutsche rutschen könnten, fragt er, welche das sein sollen. „Anne“ für Mutter oder „Baba“ für Vater interessieren ihn nicht. Als er jedoch „Abi“ hört, das Wort bezeichnet den „älteren Bruder“ und kann auch genutzt werden, wenn Jüngere einem älteren Mann Respekt erweisen, wird er aufgeregt. Ja, so ein Wort ginge. „Weil wir kein eigenes dafür haben“.
Waltraud Schwab
Der Durchschnitt ist der Ausgangspunkt des Denkens. Und manchmal auch Blödsinn. Das sagt der Statistiker Walter Krämer.
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Mit Robotern gegen den Pflegenotstand: Kann man Liebe programmieren? - taz.de
Mit Robotern gegen den Pflegenotstand: Kann man Liebe programmieren? In der Pflege gibt es zu wenige Fachkräfte. Roboter könnten den Notstand lindern. Was halten SeniorInnen von der Idee? Menschliche Nähe und Mitgefühl: Roboter können in der Pflege nicht jede Aufgabe übernehmen. Foto: dpa BERLIN taz | Mit einem Roboter zusammenzuleben, das klingt noch immer nach Science-Fiction. Auch im Jahr 2018. Aber es ist eben etwas anderes, das Smartphone mit ins Bett zu nehmen, als sich von einem humanoid aussehenden Metallwesen mit Beinen, Armen und Gesicht aus ebenjenem heben zu lassen. Dennoch sind Pflegeroboter die Zukunft – jedenfalls wenn man Menschen aus Politik und Wirtschaft fragt. Doch was sagen diejenigen, die vielleicht bald von Maschinen gepflegt werden? „Der Roboter kann Kaffee kochen und Essen machen, meinetwegen. Aber die menschliche Zuwendung, die jeder irgendwann braucht, die können Pflegeroboter sicherlich nicht ersetzen“, sagt Axel Birsul. Er und vier weitere SeniorInnen sitzen um einen langen Tisch im Besprechungsraum des Deutschen Senioren-Computer-Clubs e. V. in Berlin-Lichtenberg. Der 69-Jährige ist der Präsident des Vereins, in dem viele RentnerInnen ihre Vor- und Nachmittage verbringen – beim Videoschnitt, bei Flugsimulation oder für ein Update ihres PC-Wissens. Heute sind sie hier, um über Pflegeroboter zu philosophieren. Denn ihre Generation könnte die erste sein, bei der diese Robotik zum Einsatz kommt. Schon jetzt sind viele PflegerInnen überlastet. Die Bundesagentur für Arbeit hat in einer Analyse von 2017 einen bundesweiten Mangel an Fachkräften und Spezialisten in der Altenpflege festgestellt. Obwohl die konkrete Zahl der fehlenden Kräfte von Studie zu Studie variiert, sprechen viele von einem „Pflegenotstand“. Auch deshalb wird gerade an Pflegerobotern geforscht. Die Politik fördert diese Projekte. Die Wirtschaft sieht einen wachsenden Markt. Aktuell sind beinahe 3 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig – und es werden immer mehr. Viele sind 65 Jahre und älter. Was halten die Senioren in Lichtenberg von Pflegerobotern? „Schon der Begriff ‚Pflegeroboter‘ – da müsste man was anderes überlegen“, sagt Stefan Streicher, 68 Jahre alt, und für Organisatorisches im Computerclub zuständig. Vor ihm liegen Bilder von drei Robotern: Robear aus Japan, der schwer heben kann, zum Beispiel auch bettlägerige Patienten. Giraff, ein fahrbares Kommunikationsgerät, mit dem man ähnlich wie bei Skype über einen Bildschirm miteinander reden kann. Und Care-O-bot, eine Haushaltshilfe, die ein Glas Wasser bringen, sich aber auch auf eine gestürzte Person zubewegen und eine Videoverbindung zu einem Notfallcenter aufbauen kann. „Immerhin hat der hier ein Gesicht, nicht unsympathisch“, findet Gabi Bothin, 65 Jahre alt. Sie war bis vor drei Jahren als Soziologin tätig und zeigt auf Robear, der aussieht wie ein Bär. „Es gab ja früher Roboter, die gar kein Antlitz hatten.“ Es kommt auf die Aufgabe an „Ich habe zu dem Thema ein gespaltenes Verhältnis“, sagt Hans-Peter Specht,; er ist 75 Jahre alt und hat 1986 in der DDR zum ersten Mal vor einem PC gesessen. „Meine Mutter ist vor fünf Jahren in einem Pflegeheim in Dresden gestorben. Wie eine alte Frau, die inkontinent ist, behandelt werden muss, um zumindest einen gewissen Stand der Hygiene beizubehalten, das kann ein Roboter gar nicht machen.“ Viele dieser Roboter werden oder wurden bereits in Altenheimen oder anderen pflegerischen Einrichtungen erprobt. Die Akzeptanz von Pflegerobotern ist bei den SeniorInnen hier in Lichtenberg, aber auch deutschlandweit sehr unterschiedlich. Laut einer ­Umfrage des Bundesforschungsministeriums von 2015 kann sich in Deutschland jeder vierte die Pflege durch einen Roboter vorstellen. Dabei kommt es aber darauf an, was der Roboter tut – wie eine Forsa-Studie von 2017 zeigt. Während 68 Prozent der Befragten das Heben und Umlagern durch einen Roboter okay finden, liegt die Akzeptanz bei Aufgaben wie Essenreichen oder Waschen nur bei 25 Prozent. Mitglied im Senioren-Computerclub„Ein Roboter sagt niemals: Sie haben ja schon wieder das Bett versaut. Das sagt aber eine Pflegekraft, wenn sie überanstrengt ist“ „Ich habe mich im Internet ein bisschen umgeguckt“, sagt Hans-Peter Specht. „In Japan hatte man eine Maschine erfunden, da wurde der alte Mensch reingepackt, Deckel zu. Dann wurde er wie in der Spülmaschine gereinigt. Wobei die Leute das dort gut finden, weil der Roboter eben auch den Intimbereich reinigt und kein Pfleger.“ Gabi Bothin meint, man könne auch gegenüber einem Roboter Schamgefühl empfinden. Mehrere am Tisch widersprechen: „Ich habe das bei meiner Mutter festgestellt. Gerade wenn ein junger Pfleger eine ältere Frau intim reinigen soll – da gibt es ein Schamgefühl. Außerdem wird ein Roboter niemals sagen: Sie haben ja schon wieder das Bett versaut. Das sagt aber eine Pflegekraft, wenn sie überanstrengt ist“, sagt Specht. Schutz privater Daten muss gewährleistet sein Eine weiterer Aspekt ist das Thema Datenschutz. Den Senio­rInnen im Computerclub ist Datenschutz sehr wichtig – sie fragen sich mit Blick auf Giraff und den Care-O-bot: Können die Roboter und Maschinen gesundheitliche Informationen vor dem Zugriff von Unbefugten schützen? Wie gehen die hinter den Maschinen stehenden Unternehmen mit den Daten um? „Selbst wenn ich mich von einem Computer waschen lasse“, erklärt Hans-Peter Specht, „ich bin mir nicht sicher, dass meine Intimbilder nicht übermorgen im Internet sind. Und ich kann nichts dagegen tun! Also da ist auch noch eine technische und gesetzliche Grauzone, die bedacht werden muss.“ Bei der Pflege im Alter gebe man ohnehin viel von seiner Privatsphäre ab, sagen einige SeniorInnen am Tisch, ein gewisses Maß an Kontrolle müsse aber sein. Axel Birsul ergänzt: „Solange ich selbstbestimmt in meiner Wohnung bin, will ich auch Kontrolle über die Technik haben. Dass heißt, ich muss wissen, dass sie das, was bei mir im Hause passiert, für sich behalten kann.“ Stefan Streicher zeigt auf das Bild mit dem Robear. „Hinzu kommt noch eine weitere rechtliche Komponente. Nehmen wir mal das Bild hier, mit der jungen Frau und dem Roboter. Der Roboter hat jetzt plötzlich einen Kurzschluss, sackt ab und die Frau knallt hin. Wer übernimmt die Haftung? Da lauern doch schon lauter Rechtsanwälte.“ taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Gerade in der häuslichen Pflege können die Roboter aber tatsächlich hilfreich sein, finden die fünf. Unterstützt von der Technik sei es möglich, länger autonom zu leben. Von anderen Clubmitgliedern wissen sie, wie schnell das gehen kann, wie schnell man im Alter körperlich abbauen kann und Hilfe braucht. „Ich kann mir vorstellen, dass es Roboter gibt, die den Kontaktpersonen des zu Pflegenden helfen“, erklärt Marianne Birsul, die Frau von Axel Birsul. „Ich würde mich zum Beispiel weigern, so eine schwere Arbeit zu machen, wenn mein Mann ein Pflegefall werden sollte. Wenn ich aber jemanden hätte, der mir diese schweren Arbeiten abnimmt, also Heben, Hinstellen, in den Stuhl setzen, diese Sachen – das würde ich als eine ganz große Hilfe empfinden.“
Christine Stöckel
In der Pflege gibt es zu wenige Fachkräfte. Roboter könnten den Notstand lindern. Was halten SeniorInnen von der Idee?
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Der "politisch mitdenkende" Bombenwerfer - taz.de
Der "politisch mitdenkende" Bombenwerfer ■ Die 'Bunte'läßt sich von einem Viersternegeneral a. D. den Krieg erklären Auch die Burda-Illustrierte 'Bunte‘ tat bereits eine Woche vor Ablauf des Ultimatums am Golf das Menschenmögliche an medialer Aufrüstung. Unter der Überschrift »Herr General, ist töten und töten zweierlei?« konnte der Viersternegeneral a.D. Gerd Schmückle die letzten Skrupel vor dem Losschlagen aus dem Weg räumen. Wir dokumentieren auszugsweise Fragen und Antworten. Ist töten und töten zweierlei, Herr General? Natürlich ist es zweierlei, ob zum Beispiel ein Verbrecher seine Geisel tötet oder ob einem Polizisten befohlen wird, einen Gangster zu töten, um dessen Geisel zu befreien. Gezielte Todesschüsse sind nicht die Regel, sondern der Ausnahmefall. Auch Krieg ist Ausnahmefall. Denn stehende Heere haben immer mehr Kriege verhindert als geführt. Sollte allerdings die Kriegsverhinderung am Golf scheitern, weil politische, diplomatische oder wirtschaftliche Mittel den Diktator Hussein nicht zur Räson bringen können, dann wird Krieg wohl leider unvermeidlich werden. Diesen letzten, schwersten Schritt müssen, tragisch, wie er ist, die Politiker verantworten. Damit tragen sie auch eine mögliche Schuld. Das heißt nicht, daß die Militärs Schuld und Gewissen einfach an der Pforte des Krieges abgeben können. Verbrecherische Befehle dürfen nicht ausgeführt werden. Der Soldat, der an vorderster Front kämpft, befindet sich dauernd in einer Notwehrsituation. Dennoch bleibt selbst inmitten hochgesteigerter Lebensgefahr kein Mensch von Gewissensnot befreit. Der Pazifist, der bewaffnete Macht radikal ablehnt, muß wegschauen, wenn sein Nachbar von Gangstern mit der Pistole bedroht und getötet wird. Schuldig ist der Mörder, aber schuldlos ist der Pazifist in keinem Fall. Nennen Sie die ideellen Werte, die es wert sind, daß Soldaten dafür sterben. Man muß sich vor der Festrednerpose hüten. Redlicher ist zu sagen, für welche Werte es sich in unserer Zeit nicht mehr lohnt, sein Leben oder das anderer hinzugeben: für den Nationalismus, der wie ein böser Hautausschlag immer wieder kommt; für den Rassenhaß, der soviel Unglück in die Welt brachte und noch immer wieder bringt; für den religiösen Fanatismus, der im Namen des Guten jede Menge Böses anrichtet; für den Neid auf fremde Länder und Reichtümer, der zu Raubkriegen anstachelt und fortwährendes Unglück schafft. Wo bleibt das Positive? Rücklauf der Erinnerungen: Es waren Soldaten, die Europa von dem Scheusal Hitler befreiten. Und dafür ihr Leben gaben. Soldaten löschten die Gasöfen, in denen Menschen industriell verbrannt wurden. Soldaten verhinderten, daß die europäischen Eliten weiter dezimiert wurden und ganze Bevölkerungen als Untermenschen dahinvegetieren mußten — so nämlich hätte Hitlers Nachkriegsprogramm ausgesehen, wären ihm nicht ganze Armeen in den Arm gefallen. Trotzdem beantworten heute deutsche Intellektuelle die wöchentliche Frage eines Magazins, welche militärische Leistung sie am meisten bewundern, fast gleichlautend mit »keine«. So wenig gilt unserer Elite die Befreiung von einem der scheußlichsten Tyrannen. Ist der Begriff »Heldentod« in unserer Zeit nicht obszön? »Obszön« bedeutet unflätig, zotenhaft, unzüchtig. Keine Todesart verdient eine so schlimme Abwertung. Mir persönlich war das Wort »Heldentod« immer zu pathetisch, wie aus einer anderen, fernen Zeit stammend. Andere Menschen, andere Völker sehen das nicht so. Noch immer gibt es anderswo Heldenfriedhöfe. Die Gefühle, die damit ausgerückt werden, sollte man nicht verletzen, auch wenn bei uns eine nüchternere Sprache üblich geworden ist. Der moderne Krieg kann heute jeden treffen, ob an der Front oder in der Heimat, den Mutigen und den Feigen. Dennoch wird es immer Menschen geben — vor allem im Krieg —, die sich für andere opfern oder durch herausragende Leistung andere Menschen retten. Selbst die deutschen Medien wählten für die Befreier von Mogadischu spontan das Wort Helden. Ist der Pilot, der eine Bombe auf eine Stadt wirft, ein seelenloser Roboter, und wie können die Befehlshaber den Tod von Zivilisten verantworten? Die Bombenangriffe auf Coventry und Dresden und alle anderen Städte, die im Zweiten Weltkrieg keine militärische Bedeutung hatten, waren schlimmer als Verbrechen: Sie waren politische Gemeinheiten, militärische Nutzlosigkeiten, Massenmorde und eine fortwährende Kulturschande. Natürlich waren sie den Piloten gegenüber nicht zu verantworten. Denn dadurch wurden auch diese in eine schwere persönliche Schuld verstrickt. Ebenso falsch waren die Abwürfe atomarer Bomben über Hiroschima und Nagasaki. Es hätte genügt, diese Bomben über Seen oder unbewohntem Gebiet abzuwerfen. Wenn Piloten nicht wissen, was sie tun, wenn sie ihren Auftrag fliegen, dann sind sie von der politischen und militärischen Führung mißbraucht. Daher ist für Zielauswahl und Bombenabwurf der politisch mitdenkende Pilot unverzichtbar. Er weiß, daß er verantworten kann, was ihm aufgetragen ist, weil er es selbst als kriegsnotwendig akzeptiert hat. Nur diese Piloten verkommen nicht zu »seelenlosen Robotern«. Sind Berufssoldaten besondere Menschen? Natürlich nicht besondere Menschen, aber besondere Soldaten. Sie sind zum Beispiel militärisch besser ausgebildet, für schwierige Situationen intensiver trainiert, in völkerrechtlichen Fragen versierter als Wehrpflichtige mit ihrer nur kurzen Dienstzeit. Berufssoldaten kennen die Wirkung moderner Waffen besser als jeder andere. Keine Frage: Militärischen Drill gibt es in vielen Armeen noch immer. Mißbrauchter Drill schikaniert Soldaten, demütigt sie, ebnet sie seelisch ein, bis sie sich gleichen wie Geschosse des gleichen Kalibers. Früher hatte dieser Drill einen Sinn: Soldaten waren meist dahergelaufenes Gesindel oder von des Königs Häschern eingefangene Burschen, deren Renitenz nicht anders zu überwinden war. Heute kommen gutinformierte, selbstbewußte Staatsbürger in die Kasernen der Nato-Nation. Drill ist daher nur noch zu verstehen als möglichst perfekte Beherrschung von Fahrzeug, Waffe, Gerät. Viele Berufssoldaten fühlen sich heute als »bewaffnete Pazifisten«. Also als Männer, deren Aufgabe es ist, den Frieden zu erhalten, die aber bereit sind, notfalls Waffen gegen einen Friedensbrecher anzuwenden. Auch am Golf treiben die Kommandeure nicht zum Krieg, sie wirken eher als Bremser. »Blut gegen Öl« — läßt sich mit dieser Formel die Golfkrise beschreiben? Nur dann, wenn man den Einsatz der multilateralen Truppe in der Golfregion ab- und Saddam Hussein aufwerten will. Mit dieser Formel wird der Widerstand gegen Husseins Landraub auf ein wirtschaftlich-egoistisches Motiv reduziert. In Wahrheit geht es zuallererst darum, einen Mann, der zum zweitenmal seinen Nachbarn angriff, ruhigzustellen und ihm jede Lust zu nehmen, wie bisher weiterzumachen. [...] Bei den irakischen Soldaten bedeutet im Krieg sterben Eingang ins Paradies. Im Koran steht: »Dort erwarten sie großäugige Huris mit kühlenden, labenden Getränken...« usw. Was hat die moderne Welt diesem Glauben entgegenzusetzen? Der Islam verspricht denjenigen, die für den Glauben fallen, den sicheren Eingang ins Paradies. Die glühende Sehnsucht nach dem Überirdischen macht sich Hussein raffiniert zunutze. Er behauptet, den heiligen Krieg zu führen, einen Krieg gegen die Ungläubigen, die Feinde Gottes und des Propheten. Damit will er die Kampfkraft seiner in einem achtjährigen Krieg erschöpften Armee stärken. Zugleich soll ein heimliches islamisches Bündnis auch in den Ländern entstehen, deren Regierungen gegen ihn sind. Was kann die moderne Welt gegen Husseins Glaubensversprechungen tun? Sie kann nur sein Falschspiel aufdecken. Bisher hat er ausschließlich Menschen mohammedanischen Glaubens töten lassen. Nicht Glaube, sondern Machtgier war und ist sein Motiv. Den Irakern muß klargemacht werden, daß nach Husseins Einlenken oder seiner Niederwerfung dem Irak sofort wieder ein ehrenvoller Platz im Konzept der Mächte eingeräumt werden wird. Die Versöhnung mit der arabischen Welt muß das Ziel sein. Gehört Krieg zum Leben, Herr General? Krieg gehörte leider immer zur Politik. Ausnahme Europa, die letzten 40 Jahre von der Nato geschützt. Außerhalb der Nato war die Welt voller gewaltsamer Auseinandersetzungen. Die internationalen Beziehungen sind nicht zärtlich, sondern rauh. [...] Interview: Kai Diekmann [Gefährlich und simpel gestrickt, das Weltbild des Herrn General! d. säzzer]
kai diekmann
■ Die 'Bunte'läßt sich von einem Viersternegeneral a. D. den Krieg erklären
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Blaulicht kommt - taz.de
Blaulicht kommt Vor dem Mudd Club Seitdem bei den Surfpoeten nicht mehr geraucht wird, stinkt der Mudd Club nach Schlamm. Der Backstage-Raum hat sich in eine Art Nebelkammer verwandelt, in der sich die Raucher eine nach der anderen anstecken. Am Morgen ist Michael Stein an Lungenkrebs gestorben, am Abend wird des Dichters gedacht. Als ich aus dem Mudd Club komme, schläft ein Straßenverkäufer laut schnarchend mitten auf der Großen Hamburger Straße. Will mir erst Ärger ersparen und einfach nach Hause gehen, dann aber obsiegt meine Menschlichkeit und ich rufe die Polizei an: „Da schläft ein Mann auf der Straße, Große Hamburger an der Krausnickstraße, ich habe Angst, dass den jemand überfährt.“ In zehn Minuten seien sie da, ich möge bitte bleiben. Mir wird es dann aber zu heikel, was, wenn jetzt jemand über den armen Mann fährt? Ich gehe hin und spreche ihn an: „Hallo!“ Er wacht auf, ist überrascht. „Geht’s Ihnen gut? Ich habe mir Sorgen gemacht!“ – „Sehr freundlich, vielen Dank, Sie sind ein Engel.“ – „Gehts Ihnen wirklich gut?“ – „Jaja, ich bin nur eingeschlafen.“ – „Ja, mitten auf der Straße, ich habe mir Sorgen gemacht und die Polizei gerufen.“ Plötzlich ist Angst in den vor Alkohol schwimmenden blauen Augen: „Die Polizei? So’n Scheiß! Was soll denn die Polizei? Die hat mir gerade noch gefehlt.“ Schimpfend entfernt er sich. Ich rufe nochmal 110 an: „Ich habe den Mann angesprochen und er ist weitergegangen, insofern hat sich die Sache erledigt.“ Vom Koppenplatz her sehe ich Blaulicht: „Ach, da kommen Ihre Kollegen schon.“ Schnell sind die Polizisten bei mir: „Wir haben schon mit dem betrunkenen Mann gesprochen, alles klar.“ So kann ich nach viertelstündiger Verspätung nach Hause gehen. FALKO HENNIG
FALKO HENNIG
Vor dem Mudd Club
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Druck auf Handlanger Teherans wächst: Washington setzt auf Sanktionen - taz.de
Druck auf Handlanger Teherans wächst: Washington setzt auf Sanktionen In den USA ist die Hisbollah verboten, in Deutschland noch nicht. Die schiitischen Extremisten dürfen sogar Spenden sammeln – für friedliche Zwecke. Islamisten demonstrieren am Al-Quds-Tag in Berlin mit Fotos von Chomeini und Nasrallah Foto: Stefan Boness/Ipon BERLIN taz | Es war ein qualitativ neuer Schritt, zu dem sich Washington im Juli entschied: Erstmals verhängten die USA Sanktionen gegen demokratisch gewählte Parlamentarier im Libanon. Nun stehen zwei Abgeordnete der Hisbollah, Mohammed Hassan Raad und Amin Scherri, auf der Terrorliste des US-Finanzministeriums. Die beiden seien „zentrale Figuren“ in der Organisation. Die Hisbollah benutze sie, um die Institutionen des Landes zu „manipulieren“ und den Iran zu „stützen“. Auch Wafik Safa, ein hochrangiger Sicherheitsvertreter der Hisbollah, wurde auf die Liste gesetzt. Damit geht Washington in seiner Sanktionspolitik gegen den Iran und dessen Stellvertreter im Libanon weiter als bisher. Die USA listen die Hisbollah – anders als die EU und Deutschland – als „Terrororganisation“. Die nun verhängten individuellen Strafmaßnahmen gegen die Abgeordneten erhöhen den Druck auf die Bundesregierung, ihrerseits tätig zu werden und die Hisbollah auch in Deutschland nach Paragraf 129b des Strafgesetzbuches zu einer terroristischen Vereinigung zu erklären. In Berlin allerdings weist bislang nichts auf ein Umdenken hin. Die Bundesregierung hält an einer umstrittenen Differenzierung zwischen einem politischen und einem militärischen Flügel der Hisbollah fest. Auf Anfrage der taz hieß es im Auswärtigen Amt: „Terroristische Aktivitäten sind für die Bundesregierung und für die EU unter keinen Umständen akzeptabel.“ Doch die Einschränkung folgt zugleich: „Die Hisbollah ist aber zugleich ein relevanter gesellschaftlicher Faktor und ein Teil der komplexen innenpolitischen Lage im Libanon.“ Sie sei im Parlament vertreten und Teil der Regierung. Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 war die Hisbollah mit 13 Abgeordneten ins Parlament eingezogen. Knapp 1.000 Hisbollah-Mitglieder leben in Deutschland Damit bleibt die Hisbollah in Deutschland legal. So können zum Beispiel Spenden für die Hisbollah gesammelt werden, solange die Gelder – zumindest offiziell – nicht für militärische Zwecke vorgesehen sind. Die knapp 1.000 Hisbollah-Mitglieder in Deutschland, die den Sicherheitsbehörden bekannt sind, müssen keine Strafverfolgung fürchten. Allerdings beobachtet der Verfassungsschutz die Hisbollah: Die schiitisch-islamistische Hisbollah, schreibt die Behörde, stelle „das Existenzrecht des Staates Israel offen in Frage und ruft zu dessen gewaltsamer Beseitigung auf“. Mit ihrem Festhalten an einer Differenzierung zwischen politischem und militärischem Flügel der Hisbollah trotzt Berlin den immer lauter werdenden Forderungen aus den USA und Israel, die Hisbollah in Gänze zu verbieten. So hatte US-Außenminister Michael Pompeo nach einem Treffen mit Außenminister Heiko Maas (SPD) im Mai gesagt: „Wir hoffen auf Deutschlands Hilfe dabei, die Hisbollah als eine Einheit zu betrachten und sie aus Deutschland zu verbannen.“ Auch jüdische Verbände in Deutschland sowie die FDP und die AfD drängen auf ein Verbot. Großbritannien hatte im März die Hisbollah in Gänze verboten. Als Begründung hieß es, man könne nicht mehr zwischen unterschiedlichen Flügeln unterscheiden. Dass die Bundesregierung zögert, hat aber Gründe: Nicht nur würde sich Berlin direkte Gesprächskanäle zur Regierung in Beirut verbauen, etwa zum für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wichtigen Gesundheitsministerium. Auch ist Deutschland ein wichtiger Makler, wenn es darum geht, in Krisensituationen wie Grenzvorfällen oder Geiselnahmen zwischen der Hisbollah und Israel zu vermitteln. Die deutsche Botschaft in Beirut ist in Kontakt mit der Hisbollah. Medienberichten zufolge sind auch Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes immer wieder zur Hisbollah gereist.
Jannis Hagmann
In den USA ist die Hisbollah verboten, in Deutschland noch nicht. Die schiitischen Extremisten dürfen sogar Spenden sammeln – für friedliche Zwecke.
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Wissenschaftlerinnen über Mutterschaft: Unsichtbare Mütter - taz.de
Wissenschaftlerinnen über Mutterschaft: Unsichtbare Mütter Sarah Czerney und Lena Eckert haben ein Netzwerk für Mütter in der Wissenschaft gegründet. Noch immer gibt es für Frauen mit Kindern große Hürden. Oft wird Frauen signalisiert, die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Wissenschaft sei Privatsache Foto: Laurent Askienazy/plainpicture taz: Frau Czerney, Frau Eckert, Sie geben nun schon Ihr zweites Buch zum Thema Mutterschaft in der Wissenschaft heraus. Sind Mutterschaft und Wissenschaft überhaupt miteinander vereinbar? Beide: Nein. im Interview:Sarah CzerneyFoto: LIN Magdeburg(38) ist Referentin für Karriereentwicklung und Chancengleichheit des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Sarah Czerney: Für einige ist es vielleicht individuell vereinbar. Wir würden aber sagen, strukturell ist eher eine Unvereinbarkeit festzustellen, und zwar nicht der Tätigkeiten: Man kann sehr wohl Mutter sein und Wissenschaftlerin. Aber die gesellschaftlichen Positionierungen „Wissenschaftler“ und „Mutter“ mitsamt ihren Idealisierungen und Ideologisierungen sind unvereinbar. Lena Eckert: Diese beiden Positionierungen befinden sich in zwei sich diametral gegenüberstehenden symbolischen Kontexten. In der westlichen Philosophie ist das mit der Körper-Geist-Trennung zu erklären, dass eben der Wissenschaftler den Geist und das Geniesein, darstellt. Und die Mutter genau das Gegenteil – mit ihrer Körperlichkeit, ihrer ständigen Verfügbarkeit und der Sorgearbeit in der Familie, die sie zu 100 Prozent unentgeltlich erfüllen muss. im Interview:Lena Eckert Foto: Georg Bosch(44) ist akademische Mitarbeiterin am Zentrum für Lehre und Lernen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Haben Sie ein Beispiel dafür? SC: Das kann in Bewerbungsgesprächen die unzulässige Frage nach Kinderwunsch, nach Familienplanung sein, die meistens nur Frauen gestellt wird. Oder eine Tagung, bei der eine Mutter gefragt wird: Wo sind denn Ihre Kinder gerade? Das bedeutet: In erster Linie bist du zuständig für die Kinder. Warum ist das Thema Mutterschaft und Wissenschaft wichtig? LE: Weil es bisher tabuisiert wurde. Einerseits auf der fachlichen Ebene, weil es sehr wenig Forschung zu Mutterschaft gibt. Andererseits aber auch auf der personellen Ebene – unter den ohnehin schon wenigen Frauen in wissenschaftlichen Führungspositionen sind sehr wenige Mütter. Mütter werden strukturell aus dem Wissenschafts­betrieb herausgedrängt. Das verstärkt sich noch mal mehr infolge der Pandemie. Sie beide sind an ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen angestellt. Macht das einen Unterschied in der Mutterschaft? LE: Ich habe eine westdeutsche Sozialisation. Meine Vermutung ist, dass wir im Osten immer noch die bessere Kinderbetreuung haben, zumindest hatten wir sie vor der Pandemie. Wir sprechen auch viel darüber. SC: Ich bin 1984 in Magdeburg geboren und würde sagen, dass ich ostsozialisiert bin. Ich stelle schon einen Unterschied fest. Neben dem, was Lena sagt, gibt es eine Normalisierung von Erschöpfung. Weil das nämlich zu gehen hat, dass man diese Doppelt- und Dreifachbelastung aushält, weil das die erwerbstätigen Ostmütter immer schon gemacht haben. Und wenn nun deren Töchter in unserer Generation als Mütter plötzlich aufbegehren gegen diese Erschöpfung, dann reißt das noch mal andere Gräben auf. Gibt es denn einen Unterschied in verschiedenen Fachrichtungen? Das NetzwerkMehr zum Netzwerk „Mutterschaft und Wissenschaft“:mutterschaft-wissenschaft.de LE: Wir beide kommen aus den Geisteswissenschaften, aber in den MINT-Fächern sehen wir noch mal härtere Parameter. Es ist ein noch stärker männlich dominiertes Feld. Dazu kommt zum Beispiel die Laborarbeit, die Schwangere oft nicht durchführen können. Warum ist das ein Problem? LE: Wir hatten bei einer Lesung mal eine Teilnehmerin, die erzählte, dass sie in einem Forschungsprojekt arbeitete, das mit radioaktiver Strahlung operierte, als sie schwanger war – sie durfte und wollte also nicht mehr dort arbeiten. Das wurde individuell gelöst. Ihre Kolleginnen sind für sie eingesprungen, Praktikantinnen haben die Forschung durchgeführt und die Messdaten an sie nach Hause gemeldet. Das war nur möglich aufgrund des sehr zuvorkommenden und kollegialen ­Umfelds. Was wäre eine bessere Lösung? Die BücherCzerney, Sarah/Eckert, Lena/Martin, Silke (Hg.): Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterbild und wissenschaftlicher Tätigkeit, 2020, Berlin: Springer.Am 11. Juli erschien das Buch „Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie: (Un-)Vereinbarkeit zwischen Kindern, Care und Krise“, ebenfalls herausgegeben von Czerney, Eckert und Martin. Opladen: Budrich. LE: Dass Mütter eben nicht die ganze Zeit individuelle Lösungen finden müssen, sondern supported werden oder einfach selbstverständlich da sind. Was eben heißen würde, dass sehr viele Regeln umgeschrieben werden müssten, die sonst nur den unabhängigen Wissenschaftler im Blick haben, der keiner anderen Tätigkeit als nur der Wissenschaft verpflichtet ist. Wie sieht das konkret aus? SC: Wir wünschen uns eine erhöhte Sichtbarkeit des Themas Mutterschaft, und zwar einerseits auf einer theoretischen Ebene, also dass Mutterschaft diskutiert wird – vor allem in Fächern, die sich gesellschaftskritisch nennen. Und andererseits arbeiten wir dafür, dass tatsächliche Mütter in der Wissenschaft sichtbarer sind, auch als Vorbilder. Auch Gremien sind zu homogen. Die müssen diverser werden. LE: Dann gibt es viele strukturelle Sachen, wie zum Beispiel Stipendienausschreibungen oder bei Förderprogrammen, wo oft das biologische Alter und nicht das akademische Alter mit Herausrechnung der Elternzeiten und der daraufhin ja weiter bestehenden Familienarbeit gesehen wird. SC: Auch müssten sich sämtliche Wissenschaftseinrichtungen überlegen, wie sie mit dem Corona-Gender-Gap umgehen wollen. Mit dem Fakt, dass infolge der Pandemie weibliche Personen mit Care-Aufgaben noch häufiger aus der Wissenschaft rausfallen. Das wird dramatisch sein in den nächsten Generationen. Wie kommt Ihr Thema im Wissenschaftsbereich an? LE: Wir bekommen sehr viele Anfragen aus den unterschiedlichsten Universitäten und Hochschulen für Lesungen, Workshops und Podiumsdiskussionen. SC: Es gibt einen großen Bedarf, sich auszutauschen und zu vernetzen. In fast jeder Lesung sind Tränen geflossen bei Beteiligten, die erleichtert waren festzustellen, dass sie nicht alleine sind. Die Strukturen, in denen wir sind, vereinzeln uns. Das Thema Mutterschaft ist unsichtbar, jede struggelt so vor sich hin und der Gedanke liegt nahe: Es liegt an mir, dass ich es nicht schaffe. LE: Es gibt ein Tabu, das dem aufliegt: Wir kennen Geschichten von Wissenschaftlerinnen, die ihr Kind verschweigen, bis zu dem Punkt, an dem sie dann auf der Professur sitzen. Und dann fangen sie an zu erzählen: „Ich habe übrigens eine achtjährige Tochter.“ Können Sie das nachvollziehen? SC: Klar, weil es das System, wie es gerade ist, weniger stört. Und wenn man da Erfolg haben möchte, verstehe ich das. Sie haben gerade von der Unterstützung gesprochen – erfahren Sie auch negative Reaktionen? LE: Wir merken, dass es Widerstände gibt und Irritation und stellen Berührungsängste mit dem Thema Mutterschaft fest, gerade in feministischen Kreisen. 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Wir wünschen uns für das Netzwerk, dass die Ressourcen gebündelt werden können, um es auszubauen. Dass wir vielleicht in ein, zwei Jahren auch eine große Tagung organisieren oder gemeinsam Förderanträge stellen können. SC: Was noch wichtig ist: Es ist ein Netzwerk für Mütter und ihre Alliierten. Diese Probleme, die an dem Thema Mutterschaft und Wissenschaft hängen, die betreffen eigentlich alle. Sind denn auch Kinderlose dabei? SC: Vereinzelt bisher. Aber wir be­obachten zunehmend, dass wir außerhalb von Mütterkreisen wahrgenommen werden. Zum Beispiel sind wir auf der Jahrestagung der GEW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, eingeladen, einen Input zu liefern zu Mutterschaft und Wissenschaft. Weil diese Themen eben sichtbarer werden außerhalb der Kreise der „Betroffenen“.
Nicole Opitz
Sarah Czerney und Lena Eckert haben ein Netzwerk für Mütter in der Wissenschaft gegründet. Noch immer gibt es für Frauen mit Kindern große Hürden.
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Räumung der Kneipe „Syndikat“ in Berlin: Letzte Runde, doch die Wut bleibt - taz.de
Räumung der Kneipe „Syndikat“ in Berlin: Letzte Runde, doch die Wut bleibt Eine ganze Nacht lang hatten Unterstützer*innen versucht, die Räumung zu verhindern. Vergeblich: Die Polizei hatte Neukölln komplett abgesperrt. Alles versucht: am Donnerstag demonstrierten hunderte Menschen gegen die Räumung des Syndikats Foto: Christian Mang BERLIN taz | Soeben hat die Nachricht die Runde gemacht, dass der Gerichtsvollzieher um 8.30 Uhr die Kiezkneipe Syndikat in Berlin-Neukölln erreicht hat, da eskaliert für wenige Minuten die Lage an der Polizeiabsperrung in der Weisestraße. Polizist*innen schubsen Demonstrant*innen, schlagen und versprühen Pfefferspray. Die Antwort Pyrotechnik, vereinzelte Flaschenwürfe und wütende Chöre. Es ist der Moment, in dem der lange Kampf ums Syndikat verloren ist. Die ganze Nacht hatten Demonstrant*innen Stellung gehalten, ab morgens kamen hunderte dazu. Eine Sitzblockade auf der Hermannstraße, Materialbarrikaden, volle Kundgebungen – doch die Blockade des Gerichtsvollziehers blieb eine unlösbare Aufgabe. Das Syndikat ist keine gewöhnliche Kneipe. Es ist ein Nachbarschaftstreff und seit 35 Jahren eine Institution der linken Szene in Neukölln. Der Mietvertrag war Ende 2018 ausgelaufen, aber das Kollektiv hatte sich geweigert, die Räumlichkeiten zu verlassen. Stattdessen deckte es auf, dass hinter ihrer nicht ansprechbaren Eigentümerfirma, die lediglich einen Briefkasten in Luxemburg unterhält, ein Londoner Immobilienimperium steht. Recherchen ergaben, dass Pears Global über viele verschiedene Scheinfirmen mehr als 3.000 Wohnungen in der Stadt gehören. Von einer möglichen Enteignung der großen Immobilienkonzerne, wie sie derzeit eine Volksbegehren in Berlin einfordert, wäre somit auch Pears Global betroffen. Der Protest gegen die Räumung wurde so auch zum Symbol für den Einsatz gegen Gentrifizierung schlechthin. Und die Räumung dürfte zum Problem für die rot-rot-grüne Regierungskoalition in Berlin werden. Lilafarbene Rauchtöpfe Exakt um 8.34 Uhr steigt der Gerichtsvollzieher aus einem Polizeivan. Zunächst versucht er, über den Hinterhof ins Syndikat einzudringen. Als sich auf der Kundgebung 40 Meter weiter herumspricht, dass der Gerichtsvollzieher da ist, eskaliert die Situation kurz. Ein lilafarbener Rauchtopf geht hoch und Demonstrierende versuchen, über die Absperrung zu kommen. Allerdings erfolglos: Die behelmte 13. Hundertschaft der Bereitschaftspolizei drängt die Demonstrant:innen weg und nimmt einen Punk mit grünen Haaren fest. Die Demo tobt. Die Wut im Kiez ist förmlich greifbar. Die Demo tobt. Die Wut im Kiez ist förmlich greifbar. Eine halbe Stunde später hat ein Schlüsseldienst die Vordertür des Syndikats aufgebohrt. Doch drin ist dort niemand mehr. Das Mobiliar hatte das Kollektiv längst ausgeräumt. Ordentlich Krach fürs Syndikat gemacht Foto: dpa Erst geht ein behelmter Einsatztrupp ins Syndikat, dann folgt wenig später der Gerichtsvollzieher. Danach tauscht der Schlüsseldienst die Schlösser aus. 35 Jahre Syndikat sind vorbei. Es war eine unfassbare Materialschlacht, die die Polizei hier auf die Straße brachte: 700 Polizist*innen sind laut Sprecher Thilo Cablitz in der Frühschicht seit 5 Uhr morgens im Einsatz. Am Vorabend und in der Nacht dürfte es eine ähnliche Anzahl gewesen sein. Dazu hatte die Polizei zwei größere Straßenabschnitte seit dem Donnerstagmittag gesperrt. Diese Sperrzone wurde im Laufe des Einsatzes bis zur Hermannstraße und dem Herrfurthplatz ausgeweitet, um Blockaden zu verhindern. Nachts kreiste ein Hubschrauber, eine Hundestaffel war im Einsatz, sogar so etwas wie eine Klettereinheit wurde auf den Dächern um das Syndikat von Nachbar:innen fotografiert. Wie viel der Einsatz koste? Könne er nicht sagen, so Cablitz. Rund 40 Festnahmen in der Nacht Im Laufe der Nacht hat es laut Polizei rund 40 Festnahmen gegeben. Es sei zu Sachbeschädigungen gekommen. Einige Mülltonnen seien auch angezündet worden. Zwei Demo-Sanitäter berichten der taz am Morgen von etwa 40 Verletzten auf Seiten der Demonstrierender, von denen alleine sie wüssten. Die meisten davon hätten Pfefferspray abbekommen. Ebenso habe es Schnitt- und Platzwunden gegeben Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenWeiträumig abgesperrt wartet das Syndikat auf die morgen um 9 Uhr angekündigte Räumung. 35 Jahre Kiezkultur sollen dann zu Ende gehen. An den Absperrungen sammeln sich immer mehr Demonstranten #SyndikatBleibt pic.twitter.com/bnV3FpG2v5— Erik Peter (@retep_kire) August 6, 2020 Die Proteste gegen die Räumung der seit 35 Jahren existierenden Kneipe – eine Institution sowohl für die Nachbarschaft als auch die linke Szene – hatten am Donnerstagabend begonnen. Ursprünglich sollte die „Lange Nacht der Weisestraße“ direkt vor dem Syndikat stattfinden. Das hatte die Versammlungsbehörde jedoch verboten und stattdessen eine etwa 200 Meter lange Sperrzone mit Betretungsverbot eingerichtet. Die Kundgebungen mussten hinter die Polizeiabsperrungen weichen. Schon vor dem Protestauftakt um 20 Uhr sieht Kneipenwirt Christian abgekämpft und fassungslos aus. Der Sprecher des Kneipenkollektivs sagt: „Das hat doch mit einer normalen Räumung nichts mehr zu tun. Das ist G20 und G8. Die sind jetzt schon auf den Dächern.“ Tatsächlich ist die Polizei mit einem Großaufgebot, mehreren Hundertschaften und schwerem Gerät vor Ort. Bereits am Mittag hat sie die Straße gesperrt. Ursprünglich sollte die „Lange Nacht der Weisestraße“ direkt vor dem Syndikat stattfinden. Pünktlich um 20 Uhr beginnt ein Lärmkonzert aus den Fenstern vieler Anwohner*innen. Die abgesperrte Straße hängt voller Transparente für den Erhalt der Kneipe, die sich vor Sympathiekundungen im Kiez kaum retten kann. Mit Sprechchöre fordern Demo-Teilnehmer*innen die Polizei auf, abzuhauen. Doch auch wenn das ausgegebene Motto ist, die Räumung zu verhindern: Das Syndikat ist zu diesem Zeitpunkt bereits leer, das Inventar in andere linke Institutionen der Stadt umgezogen. Die Wut ist dennoch groß. Etwa 2.000 Menschen sind rings um die Absperrungen unterwegs. Auf einer der Kundgebungen schreit ein vermummter Redner mit Käppi seine Empörung über die abgesperrte Zone ins Mikrofon: „Dort wollten wir Abschied nehmen. Doch das hat die Polizei, das haben die Bullen verhindert.“ Wiederholt fordert er die Teilnehmer*innen zur Vernunft auf: „Tragt Masken, achtet auf Auflagen. Bepöbelt die Bullen mit Abstand, nicht mit Anstand.“ Niemand soll der Polizei einen Grund geben, die Demo aufzulösen. Fast alle Redner*innen betonen, dass diese Räumung unter einem rot-rot-grünen Senat stattfindet, der mit anderen Versprechungen angetreten war. Ein Politiker der Linken steht in der Menge und fragt: „Warum wird in den Reden nicht mehr auf die kapitalistischen Eigentumsstrukturen eingegangen?“ Der Senat habe gegen den gerichtlichen Räumungstitel keine Handhabe. Den Vertriebenen aber helfen die Sympathiebekundungen aus der Bezirks- und Landespolitik nicht weiter. Die Räumung der Kneipe für die gesichtlose Eigentümerfirma Pears Global ist für sie ein Skandal. „No Pasaran“ unter Polizeilicht So etwas wie Partystimmung kommt auf, als der Rapper Mal Élevé ein spontanes Konzert gibt. Als er seinen Titel „No Pasaran“ spielt, macht die Polizei ihre Lichtanlagen an. Erst gegen Mitternacht wird die Situation nach einer Ingewahrsamnahme wegen Vermummung unruhiger. Demonstrant*innen blockieren die Hermannstraße, immer wieder kommt es zu Schubsereien, weitere Menschen werden mitgenommen, ein Hubschrauber steht in der Luft. Nachts um 5 Uhr brennen kleinere Barrikaden im Kiez.
Erik Peter
Eine ganze Nacht lang hatten Unterstützer*innen versucht, die Räumung zu verhindern. Vergeblich: Die Polizei hatte Neukölln komplett abgesperrt.
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Debatte Griechenland: Alle haben mitgefressen - taz.de
Debatte Griechenland: Alle haben mitgefressen Die politische Lüge braucht ein Publikum, das sich belügen lässt: Die Mehrheit der "Empörten" in Athen und Thessaloniki gehört leider dazu. Eine Mauer aus Eisen ist das Symbol für die jüngste Etappe der griechischen Misere. Die Mauer wurde von der Polizei errichtet und soll die politische Klasse vor den demonstrierenden Massen schützen. Die "Empörten", wie sie sich nach spanischem Vorbild nennen, werden bis Mittwoch nächster Woche das griechische Parlament belagern und die Fernsehbilder aus Athen bestimmen. Dann entscheiden die Abgeordneten über das mittelfristige Haushaltsprogramm, das die Regierung ausgearbeitet hat. Von der Zustimmung machen EU-Kommission, EZB und IWF die Auszahlung der nächsten Rate aus ihrem Kreditfonds abhängig. Wenn die fälligen 12 Milliarden Euro ausbleiben, ist Griechenland binnen zwei Wochen pleite. Die Empörung der Griechen ist verständlich. Das erste Sparprogramm vom Mai letzten Jahres ist gescheitert und hat das Land nur noch tiefer in die Rezession gezogen, weil es die Masseneinkommen um gut ein Viertel beschnitten hat. Jetzt folgt der zweite Streich mit neuen Steuererhöhungen und einem Privatisierungsprogramm, das dem Staat 50 Milliarden Euro in die Kasse bringen soll. Wieder sind die Lasten ungleich verteilt, ohne dass ein Ende der Krise abzusehen wäre. Wähler der "Systemparteien" Jeder Einzelne der Empörten sieht sich ungerecht behandelt und hintergangen. Und so schreien sie den vorbeipreschenden Limousinen der Politiker hinterher: "Ihr seid Diebe und Lügner!" Sie könnten auch schreien: "Wir sind das Volk!" Und das mit Recht. Nach einer Umfrage sind auf dem Syntagma-Platz alle sozialen Schichten und Alterskohorten repräsentativ vertreten. Das gilt auch für die Wählergruppen. 60 Prozent der Befragten haben bei den letzten drei Wahlen die beiden "Systemparteien" gewählt: Pasok oder Nea Dimokratia. Die Empörten sind also auch "das Volk", das seiner politische Klasse immer wieder neue Macht verliehen hat. Seit 30 Jahren haben rund 75 Prozent aller Wähler für die Politiker gestimmt, die sie jetzt als Diebe und Lügner beschimpfen. Aber fühlen sich alle Empörten zu Recht hintergangen? In der Politik gehört zur erfolgreichen Lüge auch das Publikum, das sich belügen lässt. Oder es nicht so genau wissen will, wenn die griechische Staatsschuld von 1981 bis 2011 von 30 auf 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen ist. Das politische System, das diese Entwicklung zugelassen und begünstigt hat, wurde der griechischen Gesellschaft nicht aufgezwungen, sondern durch sie selbst ständig erneuert und bestätigt. Die Erbübel dieses Systems waren auch den Griechen, die jetzt zu Empörten wurden, stets präzise bewusst: Das Land leistete sich einen aufgedunsenen und ineffektiven Staatsapparat, dessen Kosten die Steuereinnahmen ständig und bei Weitem überstiegen. Der Klientelstaat, der vor allem den Interessen der jeweils herrschenden Partei diente, und die notorisch schlechte Steuermoral - vor allem der begüterten Klasse und der Freiberufler - haben Griechenland in den Ruin geführt. Wie viele Griechen haben gegen dieses ruinöse System rebelliert, solange es gut zu gehen schien? Und wie viele haben ihre politischen "Beziehungen" für private Interessen genutzt oder ihre Einkommensverhältnisse verschleiert? Klasse der Steuerhinterzieher Die Empörten sind in der Tat "das Volk". Aber das gilt auch für ihr Verhältnis zum Staat. Und nichts spricht dafür, dass auf den Straßen von Athen und Thessaloniki die Klasse der Steuerhinterzieher schwächer repräsentiert ist als in der Gesamtgesellschaft. Natürlich bietet der Klientelstaat nicht allen Bürgern die gleichen Chancen, aber wo er zum System wird wie in Griechenland, sind fast alle kontaminiert. Und solange die eigenen Kinder gute Aussichten auf einen bequemen Stuhl im öffentlichen Dienst hatten, waren über den parasitären Staatsapparat wenig Klagen zu hören. Das ist der Grund, warum sich viele Griechen, die ihre Politiker heute als Lügner verfluchen, zugleich selbst belügen. Und es erklärt vielleicht, warum von allen Vertretern der herrschenden Klasse der Vizeministerpräsident Theodoros Pangelos am meisten verhasst ist. Der hat zu Beginn der Krise den Spruch gewagt: "Faghame oloi", zu Deutsch: Wir haben doch alle mitgefressen. Das war aus dem Munde eines Politikers, der sich zwei Meter Leibesumfang angefuttert hat, natürlich eine Provokation. Aber die Empörung über Pangalos zeigt an, wie sehr die halbe Wahrheit schmerzt, die der alte Zyniker ausgesprochen hat. Neuer alter Populismus Von einer Gesellschaft, die so stark gebeutelt wird, kann man kaum erwarten, dass sie sich in einen Prozess der Selbstbesinnung stürzt. Aber Empörung wird für die Zukunft mehr bewirken, wenn sie Selbstkritik nicht schon im Ansatz erstickt. Die neue Protestkultur in Griechenland ist ein großer Schritt in Richtung auf eine Gesellschaft, die sich von ihrer politischen Klasse emanzipieren will. Das zeigt sich auch daran, dass sich die Empörten nicht von einzelnen Interessengruppen vereinnahmen lassen - auch nicht von den häufig wie Berufsgilden agierenden Gewerkschaften. Diese Bewegung und was sie ausdrückt, sollte endlich auch in Brüssel und in den EU-Partnerstaaten ernst genommen werden. Aber sie wird keinen Beitrag zur Überwindung der griechischen Krise leisten, wenn sie ihre Wut nur auf die griechische politische Klasse und die ausländischen Unterdrücker projiziert. Wenn Sarkozy und Merkel als neue Nazis gebrandmarkt werden, ist das auf dem Syntagma-Platz sicher keine Mehrheitsmeinung. Doch die Wut auf die "neuen Besatzer" und die vielen Nationalfahnen verweisen auf einen neuen alten Populismus, der für Einsichten in die innergriechischen Ursachen der Krise nicht empfänglich macht. In dieser Stimmung können die Massen einem Demagogen wie Mikis Theodorakis zujubeln, der Griechenland den Ausstieg aus EU und Eurozone empfiehlt. Um die kollektive Vernunft der griechischen Gesellschaft ist es nicht gut bestellt, solange Tausende einem ökonomischen Idioten wie Theodorakis zuhören, der ihnen die Rückkehr zur Drachme aufschwatzen will - ohne dass auch nur einer von ihnen ein Plakat hochhält, auf dem geschrieben steht: "Mikis, wie viele Steuern hast du in den letzten 30 Jahren gezahlt?"
Niels Kadritzke
Die politische Lüge braucht ein Publikum, das sich belügen lässt: Die Mehrheit der "Empörten" in Athen und Thessaloniki gehört leider dazu.
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RPF: Franzosen bombardieren - taz.de
RPF: Franzosen bombardieren ■ Regierung in Paris warnte Rebellen in Ruanda Nairobi/Paris/Butare(AFP) – Französische Kampfflugzeuge sollen nach Angaben des Rebellensenders Muhabura Stellungen der Patriotischen Front Ruandas (RPF) bombardiert haben. Ohne einen bestimmten Ort oder Zeitpunkt zu nennen, meldete Radio Muhabura gestern abend lediglich, Stellungen der Rebellen von der Patriotischen Front seien angegriffen worden. Ein Bestätigung für den Bericht gab es zunächst nicht. Zuvor hatte der französische Außenminister Alain Juppé in Paris davor gewarnt, die Truppen würden in der von ihnen geschaffenen Sicherheitszone mit Waffengewalt auf Angriffe der Rebellen antworten. Deren Truppen standen nach Angaben aus der französischen Hauptstadt in der Region von Gikongoro nur noch zehn Kilometer vor Frankreichs Einheiten. Gikongoro liegt in der Sicherheitszone im Südwesten des Landes. In der Stadt sind 300 französische Soldaten stationiert. Die Soldaten hätten Order erhalten, „mit Entschlossenheit gegen alle Militäreinheiten vorzugehen“, die die Bevölkerung in der Sicherheitszone bedrohten, sagte Juppé in Paris. Es sei unsinnig, das Gebiet als Mittel zum Schutz der Hutu-Regierungstruppen darzustellen, da die meisten Soldaten nicht in der Zone, sondern im Nordwesten des Landes stünden. In Militärkreisen in Paris hieß es, mit der Schaffung der Sicherheitszone habe sich die Aufgabe der Interventionstruppen verändert. An die Stelle einzelner Hilfsaktionen sei nun eine ständige Präsenz auf dem Staatsgebiet Ruandas getreten. FPR-Generalsekretär Rudasingwa sagte dem britischen Rundfunksender BBC, ungeachtet der Intervention wollten die Rebellen ihren Vormarsch fortsetzen. Juppé sagte demgegenüber in Paris, die Rebellen hegten „keine grundsätzliche Feindseligkeit“ gegen Frankreichs Aktion. Bei offiziellen Kontakten und vor Ort gebe es nicht die Aggressivität, die in der einen oder anderen Erklärung spürbar sei.
taz. die tageszeitung
■ Regierung in Paris warnte Rebellen in Ruanda
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Die Kunst der Extrembelastung - taz.de
Die Kunst der Extrembelastung Von Gottes Gnade und dem Geschick der Gene: Ian McEwans „Liebeswahn“ führt in Abgründe der Leidenschaft und in dunkle Bezirke biologischer Wissenschaft  ■ Von Erhard Schütz Dies ist Ian McEwans neuntes Buch und siebter Roman. Den frischernannten Booker-Preis-Träger eigens vorzustellen ist kaum nötig. Er wird bewundert, auch geschmäht, für die vermeintlich passionslose Akribie, die minutiöse Kälte, mit der er emotionale Extreme erzeugt, Konstellationen von Mittellage und Makabrem in Liebe, Schuld und Angst. Eine Art Experimentalrealismus: Man setze halbwegs gewöhnliche Figuren einer jäh über sie hereinbrechenden Anomalie aus und spiele konsequent die Folgen durch. Diesmal geht es um Liebeswahn, um eine spezifische Form dessen, was man Stalking nennt, eine paranoide Erotomanie, auch Clérambault- Syndrom geheißen. Durch nichts sich abhalten lassend, verfolgt eine Person eine andere in der absoluten Gewißheit, sie zu lieben und von ihr wiedergeliebt zu werden. McEwan wählt die spezifische Variante eines homoerotischen Liebeswahns. Ausgangspunkt ist das Picknick des Ich-Erzählers Joe mit seiner geliebten Clarissa, das jäh durch die Havarie eines Ballons unterbrochen wird. Es kommt zu einem tragischen Todesfall, in dessen Verlauf Joe Jed begegnet, der ihn fortan mit seinem Liebeswahn verfolgen wird. Jed will ihn mit seiner Liebe zugleich zu Gott bekehren und ihn erlösen. Die zunächst sanfte, aber unabweisbare, dann immer aufdringlichere Verfolgung durch Jed belastet die bilderbuchartig glückliche Liebesbeziehung von Joe und Clarissa. Nach und nach eskaliert die Situation, bis sie in einer Kette dramatischer und zugleich verquerer Ereignisse endet, an deren Finale... Aber das muß man, wie immer in solchen Spannungsfällen – und besonders in diesem! – selber lesen. McEwan liefert damit eine technisch geradezu makellos gebaute Spannungsgeschichte, die nicht nur viele Thriller hinter sich läßt, sondern auch den Genuß einer überaus ökonomischen, präzisen Sprache bietet, von Hans-Christian Oeser ausgezeichnet übersetzt. Hingegen so lausig übersetzt, daß seine Eleganz und Kenntnisse allenfalls zu ahnen waren, konnte man in der Welt (7.10.98) eine Rezension McEwans zum jüngsten Buch des Ameisenforschers und Soziobiologen Edward O. Wilson über die Einheit des Wissens lesen. Wilson ist auch einer der Adressaten in einer langen Danksagung am Ende des Romans. Und damit wären wir bei einer zweiten Ebene, die in die belletristische Studie eines klinischen Falles – nicht immer ganz nahtlos freilich – eingearbeitet ist. Das Zwangsdreieck Clarissa–Joe–Jed repräsentiert nämlich zugleich so etwas wie drei Weisen des Weltverhaltens: Clarissa hat ihr literaturwissenschaftliches Forscherleben dem romantischen Genie Keats geweiht, Joe ist (Natur-) Wissenschaftsjournalist, und Jed lebt in religiösem Wahn. In unglücklichen Augenblicken, die sich durch die Interventionen Jeds, der Joes „traurige, staubtrockene Gedanken“ als persönliche Kränkung empfindet, rapide steigern, hat Joe den Selbstverdacht, ein „Schmarotzer“ am Wissen der anderen zu sein. Da Joe der Erzähler der Geschichte ist, ist es auch seine Sprache, die sie bestimmt – eben kontrolliert und flexibel zugleich, aber letztlich unfähig, den Impetus der anderen rechtzeitig zu begreifen. Geradezu slapstickartiger Knotenpunkt ist die Situation, in der man in einem Restaurant zusammensitzt und sich Geschichten über Ablehnungen und Verkennungen in Wissenschaft und Literatur erzählt, ohne zu bemerken, wie gerade Ablehnung und Verkennung buchstäblich zu explodieren beginnen. Von hier aus jedenfalls läßt sich diese experimentelle Extrembelastung des Liebesromans zugleich als Gleichnis auf das Dreieck von Kunst, Naturwissenschaft und Religiosität lesen, als erzählerisches Experiment auf aktuelle Diskussionen zwischen Biologie und Philosophie um Altruismus und Selbsterhalt, Gottes Gnade oder Geschick der Gene, Vielfalt der Arten und Einheit des Wissens. Das Eigentümliche des Romans nun ist, daß Joe beides zugleich erzählt – den psychopathologischen Fall, dessen Opfer er ist, und den Fall der Wissenschaften, deren „Schmarotzer“ er ist. Zugleich läßt er durchblicken, wo die literarischen Wurzeln liegen: in Romanen des 19. Jahrhunderts, die „nicht nur Privatschicksale darstellten, sondern ganzen Gesellschaften den Spiegel vorhielten und sich den aktuellen Fragen widmeten, die das Publikum beschäftigten“. Allerdings waren sie ausufernd und weitschweifig und verschwanden, so Joe, als in naturwissenschaftlicher Theoriebildung wie Kunst eine „Ästhetik der strengen Form“ Platz griff. So kann man denn McEwans Roman auch noch lesen – als Experiment einer Wiederbelebung des 19.-Jahrhundert-Romans nach Durchgang durch die strenge Form. Auch wenn man das Ergebnis nicht allzuhoch bewerten mag, weil zwischen der psychologischen Fallstudie und den biologischen Theorien doch einige Vermittlungen zu fehlen scheinen, wird man nicht umhin kommen, den Roman sehr zu empfehlen: Er hält denkbar präzise über die Popularisierung von Biowissenschaften des letzten Jahrzehnts auf dem laufenden, liefert plastisch eine psychopathologische Spezialität und garantiert, sprachlich gediegen, obendrein noch Spannung von hoher Intensität. Das ist allemal ein gutes Gegengift für die dunklen Tage in dieser Jahreszeit. Ian McEwan: „Liebeswahn“. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Zürich, Diogenes 1998, 356 Seiten, 42 DM
Erhard Schütz
Von Gottes Gnade und dem Geschick der Gene: Ian McEwans „Liebeswahn“ führt in Abgründe der Leidenschaft und in dunkle Bezirke biologischer Wissenschaft  ■ Von Erhard Schütz
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Handwerkerszenen aus Zentralindien - taz.de
Handwerkerszenen aus Zentralindien ■ Habib Tanvir, der Neostro der indischen Theaters, findet seine Ensembles auf der Straße. Jetzt ist er mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Bremen zu Gast Auf der Straße entdeckte der italienische Regisseur Federico Fellini das Personal für seine oft jahrmarktsbudenhaften Filmopern. Auch auf der Straße oder in ländlichen Theatergruppen findet der indische Regisseur, Lyriker und Schauspieler Habib Tanvir seine AkteurInnen – kastenübergreifend! Der von Ruhestandsbedürfnissen weit entfernte Nestor des indischen Theaters spürt in Zentralindien den Nachwuchs für sein Naya Theatre in Bhopal auf. Mit einer 30-köpfigen Gruppe ist er jetzt beim Festival „Shakespeare aus Asien“ der Shakespeare Company zu Gast. Der 76-jährige Habib Tanvir arbeitet mit SchauspielerInnen, TänzerInnen, SängerInnen und MusikerInnen, die oft weder lesen noch schreiben können. Die sonst im Theater üblichen Leseproben zu Anfang der Einstudieurng entfallen. Trotzdem inszeniert Tanvir Stücke von Brecht, Molière oder Shakespeares „Sommernachtstraum“. Durch Erzählungen und freies Improvisieren entsteht ein Stück. Der Zugang ist direkt, ursprünglich, naiv. Und der „Sommernachtstraum“ ist für ein tribal theatre oder so genanntes Volkstheater des vielfach mit Preisen ausgezeichneten Regisseurs eine dankbare Vorlage: Die zwei durch den Wald irrenden Liebespaare sind gestrichen, die Inszenierung beschränkt sich auf die Waldgeister und -feen sowie auf die wunderbaren Handwerker mit ihrem Theater im Theater. In den Städten Indiens sind Aufführungen mit europäischen Gepflogenheiten vergleichbar – zwei Stunden, und dann wollen die Leute ihren Bus erreichen, sagt Tanvir. Auf dem Land ticken die Uhren anders. Dort muss das Naya Theatre gleich drei Stücke im Programm haben, denn es wird die Nacht durch gespielt. Wenn das Publikum weite Wege zurücklegt, will es für den Aufwand auch etwas sehen. Nicht selten ertönt erst morgens um 6.30 Uhr der Schlussapplaus. Gut zwei Stunden dauert der „Sommernachtstraum“, den das Ensemble in europäischer Erstaufführung in Bremen zeigt. Bunt kostümiert treten die AktuerInnen auf, sprechen Hindi und Dialekte, singen und tanzen. Man versteht nichts und doch teilweise alles. „Jedes Wort“, betont Tanvir, „ist von Shakespeare.“ Doch mit den oft und teils kehlig-hoch singenden Handwerkern und Feen, zu denen sich der Regisseur zweimal selbst gesellt, hat er die Komödie in eine Art Musiktheater verwandelt, das von einer fünfköpfigen Band begleitet wird. Gemessen an westlichem Schauspiel, das jede psychologische Nuance auslotet, wirkt das Geschehen oft laienhaft. Aber die Musikalität der Aufführung und der sprühende Charme einzelner AkteurInnen sorgen für Kurzweil. Vor allem die Handwerker machen mit ihren kleinen Bosheiten und großen Eitelkeiten einen Besuch dieser am Ende mit viel Beifall gefeierten Inszenierung zu einem denkwürdigen Erlebnis. Christoph Köster Aufführungen heute, Freitag, und Samstag jeweils um 19.30 Uhr im Theater am Leibnizplatz.
Christoph Köster
■ Habib Tanvir, der Neostro der indischen Theaters, findet seine Ensembles auf der Straße. Jetzt ist er mit Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Bremen zu Gast
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Rechte Gewalt in Freiburg: Nur Geldstrafe für Querdenker - taz.de
Rechte Gewalt in Freiburg: Nur Geldstrafe für Querdenker Weil er Linke mit Pfefferspray angriff, ist Robert H. in Freiburg verurteilt worden. Dass er einen Mann mit einem Messer verletzte, bleibt ungestraft. Polizisten sichern eine Kundgebung von Impfgegnern und Querdenkern Anfang des Jahres in Freiburg Foto: Andreas Haas/imago KARSLRUHE taz | Er war schon mehrfach in handgreifliche Auseinandersetzungen verwickelt, jetzt ist der Freiburger Querdenker-Aktivist Robert H. erstmals verurteilt worden. Das Freiburger Amtsgericht hat den 40-jährigen Mann zu 120 Tagessätzen wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. H., der in der Vergangenheit für die AfD als Stadtrat kandidiert hatte und als Gallionsfigur der Querdenkerszene gilt, hatte im Juni 2021 zwei Jugendliche, die ihn auf der Straße als Faschisten beschimpft hatten, erst verfolgt und dann mit Pfefferspray attackiert. Als ein Mann dazwischen gehen wollte, hatte ihn H. erst mit Pfefferspray angegriffen und ihm dann mit einem Messer eine Schnittwunde zugefügt. Der Fall hatte in Freiburg im Zusammenhang mit einer anderen Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten am gleichen Tag, für Diskussionen gesorgt. Der Polizei in Freiburg wurde vorgeworfen, in beiden Fällen einseitig zu ermitteln. So war der Mann, der mit dem Messer verletzt worden war, zwischenzeitlich selbst als Beschuldigter geführt worden, die Polizei hatte seine erhebliche Schnittverletzung als nur leicht zu Protokoll genommen. Das Verfahren wegen des Messerangriffs sowie der ersten Pfeffersprayattacke gegen die Jugendlichen aus der linken Szene sind inzwischen eingestellt worden. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft sei es nicht auszuschließen, dass H. in Notwehr gehandelt habe. Verurteilt wurde Robert H. nun allein wegen des Pfeffersprayeinsatzes gegen den 62-jährigen Mann, den er später mit dem Messer attackiert hatte, sowie dessen Frau. Schon früher war H., der nach eigenen Angaben unter dem Asperger-Syndrom leidet, bei politischen Handgreiflichkeiten ohne Strafe davongekommen. Beim Prozess wegen einer Attacke auf einen Passanten im Freiburger Kommunalwahlkampf, bei der H. dabei war und für die der ehemalige AfD-Politiker Dubravko Mandic zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, war der heute 40-Jährige freigesprochen worden. H. wurde bei beiden Verfahren von der Szene-Anwältin Nicole Schneiders vertreten, die im NSU-Prozess Ralf Wohlleben vertreten hatte. „Die Angegriffenen sind froh, dass Robert H. nun erstmals für das, was er getan hat, verurteilt worden ist“, sagt Julian Steiger von der Beratungsstelle Leuchtlinie, die sich um Opfer rechter Gewalt kümmert. Das attackierte Paar war im Verfahren als Nebenkläger aufgetreten. Der Fall hat auch seinen Niederschlag im aktuellen Verfassungsschutzbericht des Landes gefunden. In der Rubrik Linksextremismus.
Benno Stieber
Weil er Linke mit Pfefferspray angriff, ist Robert H. in Freiburg verurteilt worden. Dass er einen Mann mit einem Messer verletzte, bleibt ungestraft.
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reaktionen - taz.de
reaktionen SPD erbost über Kohl Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel ist schwer verärgert über die Angriffe aus den Reihen der Union anlässlich des 10. Jahrestages der deutschen Einheit. Behauptungen, kein maßgeblicher SPDler habe die Einheit gewollt, wies er gestern massiv zurück. Der erste, der das baldige Ende des SED-Regimes im Deutschen Bundestag angesprochen habe, sei der damalige SPD-Bundestagsabgeordnete Erhard Eppler gewesen. Vogel nannte es „peinlich“, wie in „zänkischer Weise“ alte Zitate herausgeholt würden. Schließlich hätten alle SPD-Bundestagsabgeordneten damals für den Einheitsvertrag gestimmt – von der CDU 14 nicht. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kritisierte die Union. Sie verhalte sich so, als sei die Einheit „das Eigentum und der Verdienst von nur einer Partei“. Das sei sie aber keinesfalls, „auch nicht das Verdienst von Helmut Kohl“. Diese Haltung widerspreche den historischen Fakten und sei ungerecht gegenüber der SPD, aber auch gegenüber den Ostdeutschen. Diese würden so ihrer eigenen geschichtlichen Leistungen enteignet. kn
kn
SPD erbost über Kohl
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Objekte durch den Raum fliegen lassen - taz.de
Objekte durch den Raum fliegen lassen GEBÄRDENPOESIE Erstmals treffen bei einem Poetryslam gehörlose und hörende Dichter aufeinander. Die Veranstalter Andreas Costreau und Wolf Hogekamp hoffen damit, Inklusion auch auf den Bühnen zu etablieren Poetryslam InklusivBeim Poetryslam beeindruckt der Dichter sein Publikum mit Worten – beim Deafslam offenbart der gehörlose Dichter die Poesie der Gebärdensprache. Beide Formen treffen beim „Poetryslam Inklusiv“ zusammen. Vier Sprachpoeten und vier Gebärdenpoeten treten auf, die Vorträge werden jeweils in Gebärden- bzw. Lautsprache übersetzt und es spielt keine Rolle mehr, ob man hörend oder nicht hörend ist.■ Poetryslam Inklusiv: Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, 04. 10., 20 Uhr, 12/8 € VON SEYDA KURT Um Sprache geht es. Ja, da sind sich Wolf Hogekamp und Andreas Costreau einig. Das ist nicht immer so. „Gebärdenpoeten erzählen in Bildern. Daher übersetzen die Gebärdendolmetscher oft assoziativ“, sagt Hogekamp. Costreau entgegnet: „Meine Meinung und Gedanken aber kann man nicht immer in Bilder fassen.“ Costreaus Muttersprache, wie er sie nennt, ist die Gebärdensprache. Ohne sein Hörgerät kann er die Lautsprache nicht verstehen. An verschiedenen Instituten unterrichtet er Gebärdensprache für Hörende. Hogekamp ist sozusagen ein Guru der Berliner Szene und organisiert die älteste Poetryslam-Reihe in Deutschland. Außerdem veranstaltet er Workshops, seit einiger Zeit auch für gehörlose Künstler. Gemeinsam organisieren Costreau und Hogekamp am Freitag einen Slam mit dem Motto „Poetryslam vs. Deafslam“. Vier Sprachpoeten und vier Gebärdenpoeten werden in ihrer eigenen Sprache um die Gunst des Publikums kämpfen. Die Auftritte werden dabei in Gebärdensprache, beziehungsweise in Lautsprache übersetzt. „Dabei ist der Begriff Deaf nicht ganz passend“, erklärt Andreas Costreau. „Deaf bezeichnet einen gehörlosen Menschen. Und Slam bedeutet „schmeißen“. Es wird Etwas auf die Bühne geworfen und in diesem Falle der Gehörlose.“ Also sprechen wir lieber vom Gebärdenslam. Bereits im Frühling gab es in verschiedenen Großstädten die ersten Gebärdenslams, die von Aktion Mensch organisiert wurden. Hogekamp und Costreau saßen damals in der Jury. Der Poetryslam Inklusiv am Freitag ist eine Premiere für sie, denn es ist das erste Festival für Gehörlose und Hörende zusammen. Die Begeisterung der gehörlosen Poetryslammer für den Abend sei groß, so Costreau. Denn seit etwa zwei Jahren etabliere sich die Szene, wenn auch nur langsam. „Inklusion findet genau dort auf der Bühne statt. Zumindest ist es ein Versuch dazu.“ Es gebe mittlerweile schon eine ganze inklusive Industrie und die Sensibilität für Gebärdensprache sei in letzter Zeit deutlich höher geworden, sowie für Inklusion an sich. Das merke Costreau auch an dem Interesse für seine Gebärdensprachkurse. „Für einen Lautsprachler ist ein guter Gebärdenpoet jemand, der ein überzeugendes Skript hat“WOLF HOGEKAMP, SLAM-MASTER Aber wie hat man sich Gebärdenpoesie vorzustellen? Immerhin erscheint sie Laien oft als sehr funktional. Adverbiale Bestimmungen stehen am Anfang des Satzes und Verben werden sowohl nach dem Subjekt als auch am Ende des Satzes gebärdet. Können Gebärdensprachler überhaupt mit dem üblichen Verständnis von Poesie etwas anfangen? „Es gibt verschiedene Stile von Gebärdensprache. Gebärdenpoesie ist eher visuell. Mal ist der Poet ein Baum, mal ein Auto.“ Ihre Performance unterstützen die Künstler mit rhythmischen Lauten. Sie können etwa summen, um ein Objekt immer näher kommen zu lassen. „Du schreibst mit dem Körper.“ Bei den Gebärdensprachlern, wie auch bei dem hörenden Zuschauer, müsse auf diese Weise ein Bild entstehen. Also ist es möglich, dass auch Gebärdensprachler für hörende Zuschauer eine Identifikation bieten? Selbstverständlich erzählen Gebärdensprachler, so Costreau, bei ihren Performances von ihren Alltagserfahrungen, wie hörende Poetryslammer auch. Gebärdensprachler seien aber auch im Stande durch Gebärden Geschichten zu erzählen, meint Hogekamp, Poetryslam sei ein Bündelliteraturformat: „Für einen Lautsprachler ist ein guter Gebärdenpoet jemand, der ein überzeugendes Skript hat.“ Die Gebärdensprache ist eine dreidimensionale Sprache. Der Poet kann ein imaginäres Objekt in der Mitte des Raumes platzieren, an ihm herumschrauben, drehen und durch den Raum fliegen lassen. „Daher ist die Gebärdensprache viel genauer“, sagt Costreau. „Du kannst in weniger Zeit mehr Informationen vermitteln.“ Während ein Lautsprachler „Das Handy liegt dort.“ sagt, könne ein Gebärdensprachler in der selben Zeit mit seinen Gesten Größe, Aussehen und die genaue Lage des Handys beschreiben. Im nächsten Jahr möchten die beiden einen U-20-Poetryslam als inklusives Festival organisieren. Erst einmal wünschen sie sich jedoch, dass der Poetryslam am Freitag gut ankommt. „400 Besucher wären schon cool“, sagt Hogekamp. „Nein, 400 Besucher sind sicher“, entgegnet Costreau.
SEYDA KURT
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Wer die Leier hob auch unter Schatten - taz.de
Wer die Leier hob auch unter Schatten Morgen wird in London der 17. Turner Preis verliehen. Die Werke der vier nominierten Künstler waren wie immer zuvor in der Tate Gallery zu sehen von HOLM FRIEBE Wieder einmal wird die inzwischen wohl bedeutendste Ehrung in Sachen bildender Kunst als spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen inszeniert – „oft kontrovers, manchmal schockierend, niemals weniger als faszinierend“, wie es vollmundig im Begleitheft zur Ausstellung heißt. Wieder überträgt Channel 4 das Ereignis als abendfüllendes Event und lässt diesmal eigens Popstar Madonna einfliegen, den mit 20.000 Pfund dotierten Preis zu übergeben. Damit soll endgültig auch das ganz junge Publikum für die Kunst begeistert werden. Damit ist aber auch endgültig klar, dass der Turner Preis längst die Sphären des reinen Kunstsachverstandes verlassen hat und in die der Klientelpolitik eingetaucht ist. Die Vergabe ist, wie schon in den vergangenen Jahren, ein Politikum, das um Repräsentanz von Minderheiten im öffentlichen Raum kreist. Daneben geht es darum, die sich pluralisierenden Strömungen innerhalb der bildenden Kunst abzubilden und in zeitlicher Abfolge gerecht zu bedenken – eine fast unlösbare Aufgabe. Die klassische Tafelmalerei, wie sie der namensgebende Landschaftsmaler William Turner betrieb, ist dieses Jahr vollends hintenüber gefallen. Statt dessen werden die neueren Traditionslinien gepflegt, die sich bereits in den letzten Jahren als erfolgreich und publikumsträchtig abzeichneten: Für den Bereich Fotografie ist Richard Billingham nominiert, der mit seinen großformatigen Plattenfotografien von unspektakulären Orten in Großbritannien an die derzeit weltweit populären Becher-Schüler erinnert und anderererseits direkt in die Fußstapfen des letztjährigen Preisträgers Wolfgang Tillmans tritt. Gleichzeitig verfügen Billinghams intime Schnappschüsse seiner subproletarischen Eltern, die auch schon in der genrestiftenden „Sensation“-Ausstellung zu sehen waren, über ein hohes Maß an ins Museum importierter sozialer Relevanz. Es ist jener drastische Sozialrealismus, der nicht erst seit Tracey Emins versifftem Bett aus der vorletzten Turner-Preis-Ausstellung als Merkmal der als unbequem apostrophierten Young British Artists (YBA) gilt. Darüber hinaus zeigt Billingham erstmals Videos, die in dieselbe Kerbe schlagen, wie die Großaufnahme der zuckenden Hände seines speedsüchtigen Bruders beim Playstation-Spielen. Neben der Fotografie ist die Videokunst die andere vom Auswahlgremium stark gefeaturte neue Strömung. Nach Steve Mc Queen, der den Preis 1999 gewann, gilt der Videokünstler Isaak Julien nun als Favourit, jedenfalls bei den Buchmachern. Seine Videoinstallationen sind – ähnlich wie bei den 1999 ebenfalls nominierten Wilson-Zwillingen – gleichzeitig Rauminstallationen mit gesplitteten Großbildprojektionen: einmal zweigeteilt und achsensymmetrisch wie ein Rorschachtest, einmal dreiteilig wie ein Kirchenaltar. Der eine Film ist ein skurriles Western-Roadmovie, das in einer homoerotisch aufgeladenen Swimmingpoolszene endet; der andere zeigt eine Fetischparty im pittoresken Ambiente des John-Soan-Museums. Markant sind die aufwendigen Inszenierungen: Es gibt richtige Kinoabspänne, in denen alle Beteiligten bis hin zum Bestboy erwähnt werden. Anscheinend gemeindet sich die museale Kunst verstärkt das Genre des experimentellen Kurzfilms ein, was nur zu begrüßen ist, da dieses in zeitgenössischen Multiplexen – in Großbritannien zumal – längst nicht mehr vorkommt. Julien ist zweifellos einer der Vorreiter dieser Entwicklung und damit strategisch günstig positioniert. Die klassische Außenseiterrolle fällt dagegen klar an den clownesken Minimalisten Martin Creed. Seine Installation „#227“ besteht aus nichts als einem großen Raum, in dem das Deckenlicht im Sekundentakt an- und ausgeht. Auf den ersten Blick eine provokante Arbeitsverweigerung. Der Guardian zitiert Creed dementsprechend hämisch mit den Worten: „Immer wenn es angeht, aktiviert es den gesamten Raum, den es beansprucht, ohne dass etwas Physisches hinzugefügt würde, und ich mag das, weil es irgendwie ein großes Werk mit nichts vor Ort ist . . .“ Tatsächlich ist Creeds Ansatz ein philosophisch abgehangenes Gesamtkunstkonzept, das die extreme Skrupulösität zur Maxime erhebt. Schon die minimalste künstlerische Setzung stellt eine widernatürliche Überforderung des Künstlers dar. Mit Wittgenstein ist eine Entscheidung für etwas ja gleichzeitig immer die Entscheidung gegen alles andere, was man im selben Raum in der selben Zeit hätte anstellen können. Warum also dies und nicht das? Creed scheint auf dieser basalen ersten Stufe der Kunstproduktion eingerastet zu sein und schlägt daraus mitunter humoristische Funken. Erklärungsbedürftig, gewiss, und nicht jedermanns Sache. Der vierte Kandidat ist Mike Nelson, der mit seinen minutiösen architektonischen Nachahmungen von Interieurs das spannende Konzept von Ilja Kabakov oder Gregor Schneider vertritt und fortsetzt. An einer schummerigen Pförtnerloge vorbei gelangt man durch einen labyrinthischen Gang in ein undefinierbares Lager, das Requisitenraum, Asservatenkammer oder Luftschutzbunker sein könnte. Nicht nur das in einer Ecke liegende Boulevardblatt mit der ganzseitigen Headline „WAR!“ löst Beklemmungen beim Betrachter aus und gibt dem Raum etwas von Endzeitstimmung. Obwohl Nelsons Labyrinth das subtilste und vielleicht eindrücklichste Werk der diesjährigen Auswahl darstellt, taucht er in der öffentlichen Diskussion um den Turner Preis kaum auf, und seine Wahl wäre eine echte Überraschung. Das mag daran liegen, dass selbst der Zugang durch eine unscheinbare Sicherheitstür so authentisch wirkt, dass viele Besucher es schlicht übersehen. Ein weiteres Ausschlusskriterium: Selbst die Pressestelle der Tate Gallery hielt es nicht für nötig, Bildmaterial zu Nelsons Werk mitzuschicken. Schade eigentlich.
HOLM FRIEBE
Morgen wird in London der 17. Turner Preis verliehen. Die Werke der vier nominierten Künstler waren wie immer zuvor in der Tate Gallery zu sehen
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Mit der Arbeiterbewegung auf Du und Du: Auf der Suche nach Jobs - taz.de
Mit der Arbeiterbewegung auf Du und Du: Auf der Suche nach Jobs Genf (epd/taz) – Des Kanzlers Ruf sei uns Befehl. Wenn Gerhard Schröder gerne Computerexperten aus dem Ausland einreisen lassen möchte, trifft er voll den Trend. Die Zahl der im Ausland arbeitenden Menschen hat nach einer neuen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen. Zur Zeit sind insgesamt 120 Millionen Menschen im Ausland beschäftigt gegenüber 75 Millionen im Jahr 1965, teilte die UN-Organisation am Donnerstag in Genf mit. Verschärfte Einkommensunterschiede als Folge der Globalisierung bringen noch mehr Menschen dazu, Arbeit in fremden Ländern zu suchen. Hauptgrund für die Migration ist laut der Studie mit dem Titel „ Arbeiter ohne Grenzen“, bessere und besser bezahlte Jobs zu finden. Das bekannte Beispiel sind die Wanderarbeiter aus Mexiko, die versuchen, die US-Grenze zu überwinden. Die schärfste Einkommenskluft gibt es allerdings nicht dort, sondern vor der deutschen Haustür: Ein Einwanderer aus Polen könnte seinen Lohn bei der deutschen Grenzüberschreitung verelffachen. Aber nicht nur die Armut treibt Menschen auf Arbeitssuche im Ausland. Auch fallende Preise für Transportmittel und die schneller werdende Kommunikation zwischen den Staaten motiviert zu dem Wagnis. Die Abreise in ein unbekanntes Land sei damit weniger traumatisch als früher. Allerdings gebe es, so die Studie, immer mehr Widerstände im Gastland gegenüber ausländischen Immigranten. Während die Regierungen für den freien Fluss von Handel und Kapital sind, werden die Grenzen für Menschen geschlossen. Dies führt nach der Studie zu einer „Migrations-Industrie“ und der Zunahme des illegalen Menschenhandels. In Europa hätten nach einer Untersuchung von 1993 zwischen 15 bis 30 Prozent der illegalen Immigranten die Dienste von Menschenhändlern in Anspruch genommen, bei den Asylsuchenden sogar 20 bis 40 Prozent. Die Autoren erinnern daran, dass Arbeitsemigration kein neues Phänomen ist. Die „brutalste“ Form von Migration sei der Sklavenhandel gewesen. Bis 1850 seien 15 Millionen Sklaven von Afrika nach Amerika gebracht worden. Amerika war auch das Hauptziel der 59 Millionen Menschen, die zwischen 1846 und 1939 Europa verließen. Das Spitzenjahr der Immigration in die USA war 1915, als 1,2 Millionen Menschen dort ihr Glück suchten. mra Kommentar Seite 12
mra
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Iran-Expertin über Proteste: „Potenzial der Zivilgesellschaft“ - taz.de
Iran-Expertin über Proteste: „Potenzial der Zivilgesellschaft“ Die Reformer haben als liberale Kraft ausgedient, sagt Iran-Expertin Azadeh Zamirirad. Doch in der Zivilgesellschaft könnte neue Solidarität wachsen. Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt: Proteste gegen das iranische Regime in Syrien Foto: Orhan Qereman/reuters taz: Bei den Protesten in Iran geht es nicht mehr nur um den Hidschab, sondern das ganze System. Woher kommt das? Azadeh Zamirirad: Es gibt einen enormen Frust im Land, der in den letzten Jahren noch gewachsen ist. Wir haben unter dem derzeitigen Präsidenten, Ebrahim Raisi, eine weitere Schließung gesellschaftlicher Räume gesehen. Die letzten Präsidentschaftswahlen waren dabei – selbst gemessen an den Standards der Islamischen Republik – extrem beschränkt. Immer mehr Iranerinnen und Iraner haben es aufgegeben, über formale Kanäle Änderungen bewirken zu wollen. Es gibt so viel Frustration über die wirtschaftliche, politische, und gesellschaftliche Lage, gepaart mit Umweltproblemen wie Wasserknappheit und Dürre. Das ist eine riesige Melange an Krisen und gleichzeitig gibt es kaum Aussicht auf Besserung. In Iran gibt es – neben den konservativen Hardlinern – auch die als liberaler geltende Fraktion der Reformer. Spielen sie bei den Protesten eine Rolle? Die sogenannten Reformer sind absolut nebensächlich geworden. 2009, bei den bislang größten Protesten in der Geschichte der Islamischen Republik, haben die Reformer noch an der Spitze der Demonstrationen gestanden. Viele, die jetzt auf der Straße sind, lehnen sowohl konservative Hardliner als auch Reformer ab. Früher, vor allem in den 1990er Jahren, gab es durchaus die Hoffnung, dass mittels der Reformer aus dem System heraus Änderungen möglich sind. Aber sie haben bis heute weder gesellschafts- noch wirtschaftspolitisch sichtbare, langfristige Erfolge vorzuweisen. Für viele ehemalige Anhänger haben sie als Kanal für substanziellen Wandel ausgedient. im Interview:Azadeh Zamiriradforscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu Iran und politischer Ordnung. Haben die Konservativen überhaupt Unterstützung für die Durchsetzung des Kopftuchzwangs? Die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner ist gegen eine Kopftuchpflicht, darauf deuten selbst inneriranische Untersuchungen hin. Die Gesellschaft hat das Kopftuch längst abgelegt. Der Staat versucht trotzdem, die Kleiderordnung aufrechtzuerhalten. Dass das nur mit Gewalt gelingen kann, ist ein Problem, das mittlerweile auch vielen Konservativen und Hardlinern bewusst ist. Das ist eine neue Dimension in den derzeitigen Protesten: dass öffentliche Kritik an der gewaltsamen Durchsetzung einer solch rigiden Kleiderordnung selbst aus dem konservativen Lager kommt. Könnte das System diesmal wirklich gestürzt werden? Viele hoffen, dass die Proteste eine Dynamik entwickeln, die gleich das gesamte System erfasst. Andere haben Sorge vor einem revolutionären Umsturz, weil sie bereits eine Revolution durchgemacht haben, die nicht zu einem demokratischen Staat geführt hat. Das Potenzial für Umbrüche ist grundsätzlich da und die Gesellschaft lässt nicht locker. Gleichzeitig hat aber auch der iranische Staat starke Mittel in der Hand, um sich zu schützen. Gibt es Organisationen im Land, die eine neue Revolution anführen könnten? Im Moment sehe ich keine politische Kraft, die so organisiert wäre, dass sie eine demokratische Transformation des Staates gewährleisten könnte. Sich zu organisieren, eigene Ideen zu verwirklichen, wurde vom Staat unterbunden. Selbst die sogenannte Grüne Bewegung von 2009, aus der damaligen Protestbewegung entstanden, hat nicht viel voranbringen können. Aber Iran verfügt über eine lebendige Zivilgesellschaft, aus der neue Bewegungen und Solidargemeinschaften entstehen können. An Ansätzen und Ideen mangelt es nicht. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es viel Potenzial – aber das ist noch ein langer Weg.
Lisa Schneider
Die Reformer haben als liberale Kraft ausgedient, sagt Iran-Expertin Azadeh Zamirirad. Doch in der Zivilgesellschaft könnte neue Solidarität wachsen.
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Pro und Contra: Piratenpartei – die neuen Guten? - taz.de
Pro und Contra: Piratenpartei – die neuen Guten? Ist die Piratenpartei die politische Stimme der Netzbewegung? Oder sind sie bloß nur eine Vereinigung im Grunde politikhassender Spezialisten? Wie die Grünen in ihren Anfangstagen? Piratenparteitag in Hamburg. Bild: dpa PRO Wenn es die Piratenpartei nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Sie stößt heute in eine ähnliche Lücke innerhalb der Internetbewegung vor, wie es die Grünen einst innerhalb der Umweltbewegung taten: Sie gibt einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich in den aktuellen Parteien nicht wiederfindet, eine politische Stimme. Wo stehen denn die "Großen"? Die SPD ist stets bereit, mit der CDU (und auch ohne sie) sicherheitspolitische Verschärfungen durchzusetzen, die Bürgerrechtler in der FDP wären in einer Koalition machtlos. Und auch die Grünen schaffen es trotz guter Ansätze viel zu selten, echte Grundrechtspolitik zu machen. Das ist die heutige Situation - und sie ist traurig. Schon deshalb brauchen wir eine Partei, die auch in der digitalen Welt sicherstellt, dass wir nicht in einen Überwachungsstaat geraten. Tatsache ist natürlich auch: Den ersten Skandal um einen bräunlich angehauchten stellvertretenden Schiedsrichter hätten die Piraten deutlich souveräner meistern können. Wer freundlich sein will, kann das auf mangelnde politische Professionalität schieben. Andererseits haben die Parteioberen in den Blogs und auf Twitter derart viel Dampf bekommen, dass man durchaus von einer neuartigen Basisdemokratie sprechen kann. Die wachsende Gruppe der Netzaktivisten, denen ihre digitalen Bürgerrechte am Herzen liegen (man denke nur an die 130.000 Unterzeichner der Petition gegen Internetsperren), braucht eine Vertretung. Schwierig könnte es werden, weil die Piraten sich an einer Ideologiefreiheit versuchen, die man bislang in der Parteienlandschaft noch nicht kannte. Diese Radikalität sprengt das gewöhnliche politische Vorstellungsvermögen, kann aber durchaus funktionieren, wenn man sich klar an den Rändern nach rechts und - ja, auch! - nach links abgrenzt. Wie und ob das klappt, kann nur die Zukunft zeigen. Ein Experiment ist es allemal wert. Den Grünen hätte bei ihrer Gründung auch niemand zugetraut, wie weit sie es einmal bringen würden. BEN SCHWAN ist Autor für taz.de und die taz. *************** CONTRA Die Mitglieder der Piratenpartei machen vieles richtig. Eine Neufassung des Urheberrechts muss tatsächlich diskutiert werden; es geht nicht an, dass man tausende von Usern, die Inhalte unbezahlt downloaden, zu Schwerverbrechern erklärt. Ebenso ist es richtig, sich die Gesetze zu Internetsperren genauer anzuschauen, damit hier nicht chinesische Verhältnisse herrschen. Und die Idee, für diese Anliegen mithilfe einer Partei zu werben, war gut. Doch wissen die Parteimitglieder nicht, warum sie vieles richtig machen. Dass sie ihre Partei als solche bierernst nehmen, ist schon bedenklich genug; der Schritt zum Kleingärtnerverein wird vollzogen, nur ist der Kleingarten virtuell. Die Piraten sagen, sie seien nicht links und nicht rechts. Dass auch Mussolini sich so präsentierte, wissen sie nicht und wundern sich nun, warum Faschisten ihre Partei interessant finden. Das lässt sich beheben; doch beweist der Vorgang, dass diese einäugigen Piraten das, was man nicht via Mausklick ansteuern kann, nicht kennen und sie sich auch im Internet mit nichts anderem als dem Internet beschäftigen. Sie hassen Politik im eigentlichen Sinne. Sie wollen machen, nicht analysieren. Sie halten das Internet selbst für seinen Inhalt, verwechseln Medium und Message. Sie kämpfen für Bürgerrechte, interessieren sich aber nicht dafür, was der Bürger ist, ideologisch gesehen. Sie wollen Datenschutz und kritisieren den Staat, loben aber Google, da sie ignorieren, dass Privatwirtschaft und Staat kooperieren. Auch sehen sie nicht, dass Teile dessen, was sie via Medium im Netz betrachten können, Privatbesitz ist. Sie bekämpfen Urheber, Firmen wie Pirate Bay aber finden sie okay, solange diese "Free Content" anbieten. Wird die Firmenpolitik geändert, sind die Piraten empört. Das beweist zweierlei. Erstens haben diese Piraten den Kapitalismus nicht verstanden, auch da haben sie was mit Mussolini gemein. Zweitens sind sie käuflich - man muss ihnen nur was schenken, schon sind sie ganz blöd. So billig wie diese Partei war selten eine zu haben. JÖRG SUNDERMEIER ist Journalist und Programmleiter des Verbrecher-Verlags.
B. Schwan
Ist die Piratenpartei die politische Stimme der Netzbewegung? Oder sind sie bloß nur eine Vereinigung im Grunde politikhassender Spezialisten?
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hitzschlag: PPP macht zu schaffen - taz.de
hitzschlag: PPP macht zu schaffen Mut zur Wetterfloskel Menschen müssen miteinander reden. Und wenn sie miteinander reden, müssen sie sich ausreden, auf irgendwas den ganzen Alltagsballast abwälzen. Am besten aufs Wetter, dem tut es nicht weh. Das nennt man dann Smalltalk. Zu diesig, zu schwül, zu heiß. Naturwissenschaftlern fehlt dagegen oft der Mut zum inhaltslosen Geplänkel in aller Öffentlichkeit. Deshalb haben Studenten am Institut für Meteorologie der FU Berlin ein pseudokommunikatives Wetterturnier eingeführt. Unter www.wetterturnier.de sollen Teilnehmer das Wochenendwetter für Berlin und/oder Wien so genau wie möglich vorhersagen. Auf den Gesamtsieger der jeweiligen Jahreszeitwertung wartet ein elektronischer Niederschlagsmesser. Die Teilnehmer können etwa nach Herzenslust über Hoch „Hartmut“ herziehen. Wer mitspielt, ist unter anderem aufgefordert, den „Bedeckungsgrad“ auf einer Skala von 0 bis 8 zu bestimmen. Die Windrichtung ist auf 10 Grad zu runden, Luftdruck, Mittelwind in ganzen Knoten und Temperatur in Reinschrift anzugeben. Unter Experten heißt das: „Schätze, N liegt heute im Mittelfeld, da gebe ich mal eine 5.“ Und: Macht dir PPP eigentlich auch so zu schaffen?“ (PPP = Luftdruck). Der Hinweis, dass auch Laien „ihre meteorologischen Fähigkeiten unter Beweis stellen“ können, kommt da doch etwas halbherzig. Wobei sich aber der eine oder andere Experte ein Herz fasst und sich mutig zu einer prosaisch-prolligen Wetterfloskel hinreißen lässt: „Nach wie vor zischt gern wochenends schwunghaftes Wetter vorbei.“ Zu Deutsch: Ich bekenne, auch ich bin ein Wettermauler. YVONNE GLOBERT
YVONNE GLOBERT
Mut zur Wetterfloskel
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■ Kuba: Am 1.Januar 1959 siegte die Revolution. Wann scheiterte sie?: Vierzig Jahre später - taz.de
■ Kuba: Am 1.Januar 1959 siegte die Revolution. Wann scheiterte sie?: Vierzig Jahre später Vor zehn Jahren gab mir der Chefredakteur der Zeitung in Havanna, für die ich arbeitete, den Auftrag, einen Artikel über die kubanische Jugend am 30. Jahrestag der Revolution zu schreiben. Ich hatte ein paar Wochen vorher in einigen Kommentaren die Grenze dessen überschritten, was öffentlich kritisiert werden durfte, und so legte mir mein Chefredakteur nahe, mich mit diesem Text zu rehabilitieren. Die Arbeit, die ich ablieferte, hatte den Titel: „Dreißig Jahre danach – worüber beschweren sich die Jugendlichen in Kuba?“ Sie wurde nicht nur nie veröffentlicht – sie kostete mich den Job in der Zeitung und meinen Beruf als Journalist. Am 1.Januar 1999 wird die Revolution vierzig Jahre alt – und heute freue ich mich, daß der Text damals nicht veröffentlicht wurde. Nicht, weil ich inzwischen eingesehen hätte, daß er zu kritisch war, sondern weil ich merke, daß er absolut apologetisch war. Alle Welt kennt den 1.Januar 1959 als Tag des Sieges der Revolution. Was niemand genau weiß, ist das genaue Datum, wann diese Revolution fehlgeschlagen ist. Ich sage nicht „zerstört wurde“, sondern „fehlgeschlagen ist“. Um zu bewerten, ob die „kubanische Revolution“ fehlgeschlagen ist, genügt es, die Versprechen mit den Ergebnissen abzugleichen. Die geweckten Erwartungen mit dem entstandenen Frust. 1959 versprach man uns „Brot und Freiheit“. Heute ist das Brot auf ein Stück von 80 Gramm am Tag rationiert. Und das Wort „Freiheit“ taucht im Parteiprogramm gar nicht auf. 1965 versprach man uns, daß in weniger als fünf Jahren so viel Milch produziert werden würde, daß die Kubaner gar nicht in der Lage wären, sie zu konsumieren, selbst wenn sich die Bevölkerungszahl verdreifachen würde. Heute erhalten nur Kinder unter sieben Jahren einen Liter Milch täglich. Als in den 80ern 100.000 Kubaner in die USA flohen, da wurde das unter dem Schlachtruf „Raus mit dem Abschaum!“ als glückliche Säuberung bejubelt. Die Dollars, die die Exilierten an ihre Verwandten auf der Insel schicken, bilden heute eine der wichtigsten Einkommensquellen der Nation. 1992 wurde die „Sonderperiode in Friedenszeiten“ unter dem furchterregenden Motto „Sozialismus oder Tod“ ausgerufen. Wenn nicht inzwischen einige kapitalistische Wirtschaftsmaßnahmen in Kuba eingeführt worden wären, würden die Menschen an Hunger sterben. So hat die Realität ihr eigenes Motto durchgesetzt: Kapitalismus oder Tod. Wir, die wir an all das geglaubt haben, müssen heute eine bittere Pille schlucken. Wir müssen erkennen, daß die kubanische Revolution schlußendlich doch nur ein Winkelzug des Kalten Krieges war. Wenn es sie heute noch gibt, dann nur deshalb, weil es den Unternehmern einiger Länder an Klassenbewußtsein fehlt, so daß sie investieren und mit einer Regierung Handel treiben, die ihren Besitz ohne Zögern verstaatlicht hätte, wenn sie sich vor 1959 in Kuba etabliert hätten. Wenn der Chefredakteur jener Zeitung (die heute wegen Papiermangels nur noch sonntags erscheint) mich heute um einen Text zur kubanischen Jugend am 40. Jahrestag der Revolution bitten würde, dann müßte ich sicherlich nicht die Tausenden von Mädchen erwähnen, die sich in den letzten fünf Jahren prostituiert haben. Auch nicht die vielen Akademiker, die ihren Universitätstitel an den Nagel gehängt haben, um als Taxifahrer oder Kellner Geld zu verdienen. Ich würde meinen Text nicht mit dem Foto von Jugendlichen illustrieren, die die US-Fahne auf ihrer Kleidung exponieren, auch die politischen Gefangenen würde ich nicht erwähnen, genausowenig wie Kubas Auslandsschulden. Ich wäre bestimmt nicht so taktlos, eine Kirche zu zeigen, die mit Jugendlichen überfüllt ist, die das nach 30 Jahren Atheismus gerade erst wieder erlaubte Weihnachtsfest feiern. Nein. Diesmal würde ich wirklich die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen, um mich zu rehabilitieren, und ich würde jene frühen Reden, diese blendenden Versprechen, für die unsere Generation sich zu opfern bereit war, im vollen Wortlaut veröffentlichen. Und ich würde folgenden Titel vorschlagen: „Vierzig Jahre später...“ Reynaldo Escobar lebt als Journalist in Havanna. Er hat in Kuba Berufsverbot.
Reynaldo Escobar
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UNIPROTESTE IN BREMEN - taz.de
UNIPROTESTE IN BREMEN Etwa 3.500 Menschen demonstrierten gestern in Bremen gegen Bildungs- und Sozialabbau. Sie forderten den Bremer Senat auf, durch Umschichtungen mehr Geld für Wissenschaft, Bildung und Soziales bereitzustellen. Hintergrund der Proteste ist der vom SPD-Wissenschaftssenator Willi Lemke vorgelegte Hochschulrahmenplan V (HGP V). In ihm sind – verglichen zum HGP IV – Kürzungen von 93 Millionen Euro für die Bremer Hochschulen vorgesehen. Allein an der Universität Bremen werden dadurch 23 Professorenstellen wegfallen. Die Rektoren der vier Bremer Hochschulen hatten letzte Woche bereits gemeinsam die Kürzungen als untragbar gerügt. Zu der Demonstration hatten alle Statusgruppen der Bremer Universität, die Gewerkschaft Erziehung- und Wissenschaft (GEW), der Zentralelternbeirat und die GesamtschülerInnenvertretung aufgerufen. PATT / FOTO: DPA
PATT
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Finnlands Rechte vor dem Mitregieren: Chefin der Wahren Finnen am Ziel - taz.de
Finnlands Rechte vor dem Mitregieren: Chefin der Wahren Finnen am Ziel Mit Riikka Purra erzielte Finnlands Rechtsaußenpartei das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Sie dürfte jetzt Finanzministerin werden. Riikka Purras Wahl an die rechte Parteispitze war umstritten – aber für die Partei ein Glücksfall Foto: Antti Aimo Kovisto/imago STOCKHOLM taz | Strahlender als bei der Pressekonferenz am letzten Freitag hat man Riikka Purra, die Vorsitzende der Wahren Finnen, bei öffentlichen Auftritten selten gesehen. Stolz stand sie neben dem künftigen finnischen Ministerpräsidenten Petteri Orpo, das Koalitionsprogramm der neuen Regierung in der Hand. Dessen migrationspolitischer Abschnitt liest sich wie eine Kopie des Parteiprogramms der Wahren Finnen. Ein großer Erfolg ihrer Partei und eine persönliche Revanche für sie. Eine Frau an der Spitze einer ausgeprägten Männerpartei? Als die Wahren Finnen vor knapp zwei Jahren die Parteispitze neu besetzten, hatte eine starke Fraktion nichts unversucht gelassen, um die Wahl Purras, die der Partei erst drei Jahre zuvor beigetreten war, zu verhindern. Rückblickend gesehen hätte die Rechtsaußenpartei aber wohl kaum eine bessere Wahl treffen können. Der Vorwurf, sie habe die Wahren Finnen noch weiter nach rechts geführt, sodass diese nun eine offen rassistische Partei sind, störte ihre WählerInnen wenig. Mit der 46-jährigen verheirateten Mutter von zwei Kindern an der Spitze erzielte die Partei im April mit 20,1 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte, nur 0,8 Prozentpunkte hinter der konservativen Wahlsiegerin. Wie sehr Purras eigene Sympathiewerte dafür verantwortlich waren, illustriert die Tatsache, dass sie noch vor dem „Politikstar“ Sanna Marin Stimmenkönigin wurde. Mit 42.589 persönlichen Stimmen – Marin: 35.623 – stellte Purra einen neuen Rekord auf. Seit 75 Jahren hatte keine Parlamentskandidatin ein solches Ergebnis erreicht. Populisten sind immer die anderen Wer ist nun diese Riikka Katriina Purra? Logisches Denken, zurückhaltend, wenig sozial, jemand der nicht unbedingt Wärme ausstrahlt, lauten Charakterisierungen von Personen, die sie kennen. Sie hat Politikwissenschaft an der Universität Turku studiert und promovierte über Internationale Politik. Ihr Privatleben schirmt sie vor der Öffentlichkeit ab. Sie selbst erzählt nur: Ihre Mutter starb, als sie erst 12 Jahre alt war. „Danach wurde ich Vegetarierin, ich hatte nämlich Angst auch selbst bald sterben zu müssen, wenn ich mich nicht gesund ernähre.“ Während der Schulzeit sei ihr Interesse für Umweltfragen geweckt worden, als 20-jährige Erstwählerin sei es deshalb selbstverständlich für sie gewesen, die Grünen zu wählen. Später seien es dann die Sozialdemokraten, seit 15 Jahren die Wahren Finnen gewesen. Auf Instagram teilt sie Smoothie-Rezepte und betont die Wichtigkeit nachhaltiger Konsumentscheidungen. Der Klimawandel ist für sie ein globales Problem, zu dessen Lösung Finnland kaum einen Beitrag leisten könne. Finnlands Ziel, bis 2035 „klimaneutral“ zu werden, hält sie für illusorisch. Man lege der Bevölkerung damit nur unnötig hohe Lasten auf. Gegen den Populismusvorwurf wehrt sie sich. Populisten seien die, die solche unerreichbaren Ziele aufstellen: „Ich habe etwas gegen Populismus. Deshalb bemühe ich mich, zu jedem Thema eine gut begründete Position vertreten zu können.“
Reinhard Wolff
Mit Riikka Purra erzielte Finnlands Rechtsaußenpartei das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Sie dürfte jetzt Finanzministerin werden.
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Mihiretu Kebede aus Äthiopien wird bekocht: „Es ist alles so irritierend flach“ - taz.de
Mihiretu Kebede aus Äthiopien wird bekocht: „Es ist alles so irritierend flach“ Bei einem „Welcome Dinner“ verbringen Wildfremde einen gemeinsamen Abend und schauen, was passiert. Nun gibt es das auch in Bremen. Kennen sich nicht, essen aber gemeinsam: Regina Becker, Mihiretu Kebede, Fleur Fritz und Katharina Busch (v.l.). Foto: Merlin Hinkelmann BREMEN taz | In einer Wohngemeinschaft im Bremer Viertel. Hohe Decken, hier und da fehlt ein Stück Tapete. Erinnert irgendwie an eine typische Studentenbude. Am Ende des langen Flures ist das kleine Esszimmer. Ein heller Raum mit Einbauküche, auf einem Wandregal stapeln sich Teepackungen. Vor dem großen Fenster hängt ein Spruchband. Rote Lettern formen „I love you“. Die Uhr tickt. Eine knappe Stunde hat Katharina Busch noch Zeit. Sie wuselt in der Küche umher, blättert im Kochbuch herum, wendet das Gemüse in der Pfanne. Pilz-Zucchini-Risotto soll es geben. Ihre Idee. Denn heute kocht die 32-Jährige nicht für sich allein. Gemeinsam mit Regina Becker erwartet sie Besuch zum Essen. Wen? Das wissen die beiden Frauen noch nicht. Sie kennen nur den Namen ihres Besuchers, seinen Beruf – und sie wissen etwas über seine Essgewohnheiten. Aber den Mann selbst, der gleich da sein wird, haben beide noch nie zuvor gesehen. Busch und Becker sind Mitinitiatoren des „Welcome Dinners“ in Bremen. Das Konzept dahinter ist ganz einfach: Alteingesessene Bewohner laden Geflüchtete oder Zugewanderte zu sich nach Hause ein. Zum Essen. Um sich kennenzulernen. Diese Idee ist nicht neu. 2014 nahm die Willkommensbewegung in Schweden ihren Anfang. Inzwischen gibt es die Welcome Dinner bereits in vielen deutschen Städten. In Hamburg, Lüneburg, Winsen, Oldenburg oder Hannover. Und seit Mai dieses Jahres eben auch in Bremen. Die beiden Frauen, die heute zum Welcome Dinner geladen haben, sind Teil eines zehnköpfigen Teams. Rund 15 Dinner haben sie in den wenigen Wochen bereits arrangiert. Auf einer Website können sich Gast und Gastgeber registrieren. Aufgabe der ehrenamtlichen Organisatoren ist es dann, zu „matchen“, wie sie es selbst nennen. Also zu schauen, welcher Gast zu welchem Gastgeber passen könnte und sie dann zusammenzubringen. Woher kommt die Motivation? „Ich wollte schon lange meinen Teil zur Willkommenskultur beitragen“, sagt Busch. Jetzt hat sie sich diesen Wunsch erfüllt. „Es gehört natürlich viel Vertrauen dazu, einen fremden Menschen zu sich einzuladen“, sagt die 31-jährige Becker. “Das ist ein großer Schritt.“ Und diesen Schritt gehen Katharina Busch und Regina Becker an diesem Abend zum ersten Mal selbst. Busch stellt ihre WG zur Verfügung, Becker kocht. Bestimmte Erwartungen haben sie nicht. Doch egal, was passiert, sie werden gleich auf jeden Fall einen neuen Menschen kennenlernen – ja, vielleicht sogar eine interessante Lebensgeschichte hören, etwas über eine ihnen noch fremde Kultur erfahren. 2014 nahm die Bewegung in Schweden ihren Anfang. Inzwischen gibt es Welcome Dinners in vielen deutschen Städten. Seit Mai auch in Bremen Punkt 19 Uhr klingelt es an der Tür und der Gast steht vor ihnen: Mihiretu Kebede, 30 Jahre alt, aus Äthiopien. Vor drei Monaten ist er nach Bremen gekommen, promoviert nun hier an der Universität und arbeitet am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. „Als ich gehört habe, dass Mihiretu an der Uni promoviert, musste ich grinsen“, erzählt Regina Becker. Denn: Auch die studierte Soziologin promoviert zurzeit in Bremen. Getroffen haben die beiden sich an der Uni aber noch nie. Dass die Gäste zueinander passen, darauf achten wir beim Matchen natürlich“, sagt Katharina Busch. Sie arbeitet beim Musikfestival Jazzahead, macht die Öffentlichkeitsarbeit. Ein ähnlicher Job fällt ihr im Organisationsteam des Welcome Dinners zu: Sie wirbt für die Idee des gemeinsamen Abendessens. Dafür gestaltet sie etwa Flyer und geht in Sprachkurse. Mihiretu Kebede begrüßt seine Gastgeberinnen mit Handschlag, alle setzen sich an den Tisch im kleinen Esszimmer. Kurzer Smalltalk. Hat er gut hergefunden? Kebede spricht fließend Englisch, das macht die Verständigung leicht. „Meine Freundin ist gerade in Bremen, kann sie auch kommen?“, fragt er. „Na klar, ruf sie doch eben an“, sagt Becker und holt noch einen Stuhl. „Je mehr, desto besser.“ Keine fünf Minuten später sitzt Fleur Fritz mit am Tisch. Sie war Gastdozentin an der Uni in Äthiopien und hat dort mit Kebede gemeinsam an einem Projekt gearbeitet. Zeit für die Vorspeise: Becker tischt Salat auf, mit Fetakäse, Walnüssen und Radieschen. Schmeckt’s? Kebede streckt den Daumen nach oben. „Es schmeckt gut, richtig gut“, sagt er auf Deutsch. Dann runzelt er die Stirn. „Sagt man das so?“ Alle lachen. Deutsch könne er inzwischen etwas besser verstehen. Mit dem Sprechen hapere es aber noch etwas. Auch deswegen ist er heute Abend hier. „I need to talk, talk, talk.“ Neue Kontakte knüpfen und die deutsche Kultur kennenlernen: Das sei sein Ziel. Wenn Leute ihn auf der Straße zum Beispiel nach dem Weg fragen, kann er nur mit den Schultern zucken. Das ärgert ihn. Kebede will deshalb einen Sprachkurs besuchen. Doch das sei nicht so leicht, mal gebe es zu wenig Plätze und mal seien die Kurse zu teuer. Auch die Wohnungssuche gestaltet sich für ihn „unglaublich schwer“, erzählt er. In Äthiopien hat er bereits angefangen, in Bremen nach einer Unterkunft zu suchen. Ohne Erfolg. „Wir werden nun gemeinsam eine Wohnung suchen“, sagt Fritz, die an der Uni in Münster arbeitet. 20 Uhr: Busch stellt das Risotto auf den Tisch, schenkt Weißwein aus. Themenwechsel. Was ist in Bremen anders als in Äthiopien? „Es ist alles so flach, das irritiert mich“, sagt Kebede. Er ist im nördlichen Äthiopien aufgewachsen, hat in der Hauptstadt Addis Abeba Medizintechnik studiert. Äthiopien ist ein bergiges Land, mit Höhenlagen über 2.000 Meter. „Wir haben dort viele Berge, an denen habe ich mich immer orientiert. Aber hier“, Kebede dreht den Kopf nach links und nach rechts, „weiß ich nicht, wo Westen oder Osten ist.“ Vermisst er die Berge? Busch blickt ihren Gast fragend an. Er grinst. Er tut es. Bevor Kebede nach Bremen kam, hat er bereits im schweizerischen Basel studiert. Ob es schwer gewesen sei, dort ein Visum zu bekommen, fragt Busch. „Nein, aber in Deutschland war es ziemlich kompliziert, ich musste viel Schreibkram erledigen“, sagt Kebede. Vom Visa-Verfahren über Fingerabdruckscans zu den Schattenseiten der Digitalisierung: Schnell sprechen sie über Dinge, die auf ihre Art jeden Menschen auf der Welt betreffen. Als Regina den Nachtisch, einen Schokoladenkuchen, verteilt, sagt Kebede: „Ich bin total satt.“ Dann isst er doch ein Stück. Mit einem Mal wird es sehr leise im Raum. Jetzt spricht nur noch Mihiretu Kebede. Erzählt über die politische Lage in seinem Geburtsland. Wie die Regierungspartei bei der letzten Wahl 100 Prozent der Stimmen geholt hat. Wie machtlos die Opposition ist. Dass politische Gegner verfolgt werden, einfach verschwinden. „They get lost“, so formuliert er es. Um kurz vor 22 Uhr blickt er nach draußen. Die Abendsonne fällt durchs Fenster. Von Beckers selbst gebackenem Kuchen ist inzwischen nicht mehr viel übrig.
Merlin Hinkelmann
Bei einem „Welcome Dinner“ verbringen Wildfremde einen gemeinsamen Abend und schauen, was passiert. Nun gibt es das auch in Bremen.
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Jan Kahlcke über die freundliche Übernahme: Auch im Norden: Gründe für die Gründertaz - taz.de
Jan Kahlcke über die freundliche Übernahme: Auch im Norden: Gründe für die Gründertaz 40 Jahre – das ist eine verdammt lange Zeit. Zu lange für uns, die taz nord. Denn wenn wir so lange zurückblicken, dann sehen wir – nichts. Damals, 1978, war der ganze Norden noch eine einzige Pressewüste aus Monopolblättern. Selbst das erste zarte Alternativ-Pflänzchen, die Kieler Rundschau, sollte erst 1979 Wurzeln schlagen. Bis zur Gründung der taz hamburg vergingen drei lange Jahre. Und in Bremen dauerte es gar bis 1986, bis die taz einen eigenen Lokalteil bekam. Warum wir nun heute trotzdem bei der freundlichen Übernahme durch die taz-GründerInnen dabei sind, auch wenn unsere eigenen Jubiläumsausgaben noch in mittlerer bis weiter Ferne liegen? Nun, die taz-Gründung wurde von lokalen Initiativen quer durch die Republik getragen. Viele von ihnen träumten damals den Traum von der eigenen Lokalausgabe. Die taz-Redaktionen in Bremen und Hamburg sind heute die letzten Vertreter dieser Bewegung. Und unsere Gründungsgeschichten haben vieles gemeinsam mit jener der taz insgesamt: Da wurde Geld von künftigen LeserInnen zusammengekratzt und auf den wackligen Tisch des Hauses gelegt, da wurde – ja, sogar das – Staatsknete eingesackt, da wurden Ausgaben auf WG-Betten produziert, da wurden Disketten Zugführern in die Hand gedrückt und zur Druckerei gefahren. Und natürlich wurde diskutiert ohne Ende, manchmal auch um die Linie gestritten bis aufs Blut, kollektiv beschlossene Kündigungen inklusive. Womit wir wieder bei der heutige Ausgabe wären: Man hätte über manche Texte wochenlang streiten können: Darf ein rechter Hetzer im großen taz-Interview einfach mal so seine Sicht der Dinge darlegen, sich als verfolgte Unschuld gerieren? Nun, es sollte eine echte Übernahme der taz werden. Wir haben uns entschieden, den GründerInnen das Feld zu überlassen und ihnen nur bei der technischen Umsetzung zur Hand zu gehen. Dass das dazu führen könnte, dass schwer erträgliche Positionen in die taz gelangen, war uns klar. Aber gerade darin liegt auch der Reiz: die Unterschiede deutlich werden zu lassen.
Jan Kahlcke
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Sozialdemokrat wird neuer Staatspräsident - taz.de
Sozialdemokrat wird neuer Staatspräsident SLOWENIEN Der frühere Premier Borut Pahor siegt in der Stichwahl überraschend klar gegen den bisherigen Amtsinhaber Danilo Türk. Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit konservativer Regierung signalisiert SARAJEVO taz | Dem Sozialdemokraten und ehemaligen Ministerpräsidenten Borut Pahor ist eine große Überraschung gelungen. Er ist neuer Präsident im Euroland Slowenien. Bei der Stichwahl gegen das amtierende Staatsoberhaupt Danilo Türk erzielte er am Sonntag 67 Prozent der Stimmen. Türk dagegen kam nur auf 33 Prozent der Stimmen. Noch vor ein paar Wochen hatte Türk ganz weit vorne gelegen. Doch schon bei der ersten Runde hatte er an Stimmen verloren und ging als Zweitplatzierter in die Stichwahl. Weil sich die konservativen Wähler dann doch entschlossen, Pahor zu unterstützen, kam eine Zweidrittelmehrheit für ihn zusammen. Dabei wirkte sich die niedrige Wahlbeteiligung von 42 Prozent günstig für den Sieger aus. Denn viele Wähler aus dem linken Lager blieben offenbar den Urnen fern. Viele Menschen sind seit Beginn der Wirtschaftskrise vor zwei Jahren enttäuscht. Zehntausende demonstrierten in den letzten Tagen vor der Wahl gegen die von der Regierung Janez Jansa geplanten Einschnitte. Die Proteste seien Ausdruck der Empörung wegen der Maßnahmen, die nur die unteren Schichten der Bevölkerung belasteten, erklärten Journalisten in Ljubljana. Pahor hatte schon als Ministerpräsident mit Strukturreformen beginnen wollen. Eine von ihm vorgelegte Rentenreform wurde bei einer Volksabstimmung 2011 jedoch abgelehnt. Doch jetzt scheint ein Sparkurs unvermeidlich. So kündigte auch der Premier, Janez Jansa, der eine konservative Viererkoalition unter Einschluss der Rentnerpartei anführt, harte Einschnitte in das soziale Netz an, um den Haushalt zu konsolidieren. Andernfalls stehe Slowenien vor einem Bankrott. Jansa will das Haushaltsdefizit von 6 auf 3 Prozent reduzieren. Sein Vorschlag jedoch, auch die Renten zu kürzen, stieß auf Widerstand der Rentnerpartei. Um Slowenien einen erfolgreichen Sparkurs zu verordnen, braucht er angesichts der unsicheren Parlamentsmehrheit die Rückendeckung des Präsidenten. Sein Sieg sei „eine neue Hoffnung, eine neue Zeit“, sagte Pahor in einer ersten Reaktion. „Wir brauchen Vertrauen, Respekt, Toleranz und die Bereitschaft zuzuhören.“ Damit signalisierte er Bereitschaft zur Kohabitation. ERICH RATHFELDER
ERICH RATHFELDER
SLOWENIEN Der frühere Premier Borut Pahor siegt in der Stichwahl überraschend klar gegen den bisherigen Amtsinhaber Danilo Türk. Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit konservativer Regierung signalisiert
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Gaucks Nachfolge: Schwierige Kandidatensuche - taz.de
Gaucks Nachfolge: Schwierige Kandidatensuche Joachim Gauck soll sich entschieden haben, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung sind kompliziert. Freut sich auf den Ruhestand: Noch-Bundespräsident Joachim Gauck Foto: dpa BERLIN taz | Das Personalkarussel rotiert. Noch hat Bundespräsident Joachim Gauck nicht offiziell verkündet, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Doch die Diskussion, wer ihm nachfolgen könnte, ist bereits voll entbrannt. Nur die SPD-Spitze zeigt sich noch reserviert: „Zu Gerüchten nehme ich nicht Stellung“, sagte Parteichef Sigmar Gabriel am Sonntag im Willy-Brandt-Haus. Nach Medienberichten hat sich Gauck entschieden, nicht mehr für das höchste Staatsamt zu kandidieren. An diesem Montag um 12.00 Uhr wird er eine Presseerklärung abgeben. Das stürzt die Sozialdemokraten in ein Dilemma, sie befinden sich in einer denkbar schlechten Position. Inständig hatten sie gehofft, der 76-jährige Gauck könnte sich trotz seines fortgeschrittenen Alters zum Weitermachen durchringen. Ob CDU, CSU, SPD, Grüne oder FDP: Falls er zur Wiederwahl bereit gewesen wäre, hätte Gauck mit einer derart großen Unterstützung rechnen können, dass sich daraus rein gar nichts über mögliche Koalitionspräferenzen hätte herauslesen lassen. „Wenn Joachim Gauck sich entscheidet, wieder zu kandidieren, dann hat er unsere ganze Unterstützung“, verkündet Gabriel immer noch trotzig. Es wäre eine bequeme Lösung gewesen. Sie hätte die SPD vor einer schweren Entscheidung bewahrt: Welches Signal will sie mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2017 aussenden? Wagen es die Genossen, um eine Mehrheit jenseits der Union zu ringen? Oder schicken sie nur einen Zählkandidaten ins Rennen? Wie auch die Entscheidung ausfällt: Es dürfte die falsche sein. Denn die Gemengelage ist aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung kompliziert. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung Zusammen setzt sie sich aus den 630 Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Delegierten der 16 Landtage. Nach dem jetzigen Stand würde die Union in der Bundesversammlung 544 bis 546 Wahlleute stellen, die SPD 386 bis 389, die Grünen 146 bis 147, die Linkspartei 94, die FDP 31, die AfD 30, die Piraten 14 und die Freien Wähler 10. Jeweils ein Mitglied könnten der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) und die NPD stellen. Verändern wird sich die Zusammensetzung noch durch die Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im September. Zusammen kommen die beiden kleinen Länder allerdings nur auf 38 Sitze in der Bundesversammlung. Nach den aktuellen Umfragen würde die SPD drei und die Piraten zwei Plätze verlieren, während die AfD sechs hinzugewinnen könnte. Die FDP kann mit einem Sitz mehr rechnen, während der NPD ihr Sitz verloren ginge. An der Grundkonstellation würde sich dadurch nichts ändern. Nach dem Grundgesetz ist zum Bundespräsidenten gewählt, wer im ersten oder zweiten Wahlgang „die Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erhält“, also mindestens 631 Stimmen. Gelingt das keinem der Kandidaten, ist „gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt“. Die Große Koalition könnte problemlos einen gemeinsamen Vorschlag durch die Bundesversammlung bringen. Allerdings gilt als nahezu ausgeschlossen, dass sich CDU, CSU und SPD auf einen gemeinsamen Vorschlag verständigen. Schwarz-Grün hätte ebenfalls die absolute Mehrheit. Doch auch diese Variante gilt als unwahrscheinlich. Das liegt daran, dass die Union sowohl aus inneren als auch aus wahltaktischen Gründen wohl fest entschlossen ist, diesmal wieder jemanden aus den eigenen Reihen ins Rennen ums Schloss Bellevue zu schicken. Die Frage scheint nur noch, wen sie aufstellt. Viele Kandidaten werden gehandelt: Bundestagspräsident Norbert Lammert, Finanzminister Wolfgang Schäuble, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen oder auch die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt. Die Union kann darauf hoffen, ihren Bewerber im dritten Wahlgang mithilfe der FDP und der Freien Wähler durchzubringen. Vereiteln könnte das jedoch ein gemeinsamer Kandidat von SPD, Grünen und Linkspartei – ein rot-rot-grünes Signal wollen allerdings weder SPD noch Grüne aussenden. Gleichwohl: Falls er auch noch die Unterstützung der Piratenpartei und des SSW gewinnen würde, könnte es für ihn sogar im ersten Wahlgang reichen. „Jetzt ist es Zeit, Farbe zu bekennen“, fordern denn auch die Linkspartei-Chefs Katja Kipping und Bernd Riexinger zur gemeinsamen Suche auf. „Für das Amt des Staatsoberhaupts wollen wir eine Person, die soziale Gerechtigkeit, Weltoffenheit und Frieden glaubhaft verkörpert.“
Pascal Beucker
Joachim Gauck soll sich entschieden haben, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung sind kompliziert.
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DIE WERBEPAUSE: Suche „Scherz“ - taz.de
DIE WERBEPAUSE: Suche „Scherz“ Wieso riecht da eine Frau an ihrem Handy? Der US-amerikanische Konzern Google hat seiner Suchmaschine eine neue Funktion verpasst. In einem Video-Clip wird das neue Produkt Google Nose beworben. Damit soll es möglich sein, nach Gerüchen zu suchen und diese per Datenübertragung künstlich vor dem Bildschirm zu erzeugen. Aufmerksamen Internetnutzern dürfte aufgefallen sein, dass die neue Funktion pünktlich zum 1. April gestartet ist. April, April! Die Geruchssuche ist Quatsch. Der Dienst reiht sich ein in die lange Liste von Googles Aprilscherzen, die mittlerweile Tradition geworden sind und im Internet alljährlich gefeiert werden. Google Nose ist auch dieses Jahr nicht der einzige Scherz der Kalifornier. Da ist auch noch ein Video über die Zukunft von YouTube. Demnach gehe die Videoplattform am 1. April offline. Die Begründung: YouTube sei die ganze Zeit über eigentlich ein Onlinewettbewerb gewesen. Nach acht Jahren seien genug Videos hochgeladen worden, sodass nun die Sichtung des Materials beginnen könne. In zehn Jahren werde YouTube wieder online gehen, dann nur noch mit dem einen Gewinnervideo. Da die Wirklichkeit immer schräger ist als die Fiktion, lässt sich dieses Video in zehn Jahren wohl wirklich per Geruch suchen. Hoffentlich gewinnt kein Scheißfilm. DANIEL BLUM
DANIEL BLUM
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Die Katastrophe der ersten Atombombe: Little Boy, little Girl - taz.de
Die Katastrophe der ersten Atombombe: Little Boy, little Girl Vor 75 Jahren explodierte die Atombombe über Hiroshima. Im Friedenspark wirbt vor allem die Statue eines kleinen Mädchens für den Weltfrieden. Hiroshima nach Abwurf der Bombe Foto: Universal History Archiv/getty Es kann heiß werden in Hiroshima. Die Hafenstadt liegt ziemlich weit im Süden des japanischen Archipels, auf derselben Breite wie Los Angeles, Marokkos Hauptstadt Rabat oder die Insel Kreta. Im August klettert die Quecksilbersäule leicht auf einen Wert von 32 Grad und mehr. Nobuko Oshita hat sich deshalb selbst eine luftige Schuluniform für die Sommermonate genäht. Der Unterricht in der Ersten Mädchen-High-School der Präfektur Hiroshima ist Anfang August 1945 allerdings ausgesetzt. Zusammen mit ihren Klassenkameradinnen ist die 13-Jährige an diesem Montag schon in den frühen Morgenstunden in die Innenstadt gegangen. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Bis auf wenige Ausnahmen sind dort fast alle Häuser noch traditionell aus Holz gebaut – und wie durch ein Wunder bislang von US-amerikanischen Luftangriffen praktisch vollständig verschont geblieben. Nun sollen die Jugendlichen Häuser abbrechen und Feuerschneisen legen, um bei einem Angriff das Schlimmste zu verhindern. Auch Tetsuo Kitabayashi ist zu dieser Arbeit eingeteilt. Der Zwölfjährige hat sich eine Wasserflasche an seinen Einsatzort mitgebracht. Selbst Shininchi Tetsutami ist schon am frühen Morgen vor dem Haus der Familie mit seinem Dreirad unterwegs. Schließlich ist es ein sonniger Morgen – und die Eltern des Zweijährigen halten die drei B29-Bomber der US-Luftwaffe für harmlose Aufklärungsflieger. Schließlich hat die staatliche Radarüberwachung den Luftalarm für Hiroshima wieder aufgehoben. Und um Treibstoff zu sparen sind – anders als früher im Zweiten Weltkrieg – keine Abfangjäger der angezählten Japaner mehr aufgestiegen. Das Dreirad von Shininchi Tetsutami gibt es heute noch. Als „Little Boy“, wie die US-Piloten die vier Tonnen schwere Uranbombe mit der Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT nennen, am 6. August 1945 um 8.16 Uhr und zwei Sekunden in 600 Metern Höhe und 250 Meter von ihrem geplanten Zielpunkt entfernt explodiert, wird das Dreirad mit seinem kleinen Besitzer von einem heißen Lichtblitz regelrecht verbrannt. Die Wucht der Bombe Der Lichtball in der Luft mit einem Durchmesser von 250 Metern ist im Kern mehr als 1 Million Grad heiß. Temperaturen von 3.000 bis 4.000 Grad, die Druckwelle und die radioaktive Strahlung verdampfen an der Erdoberfläche 70.000 bis 80.000 Menschen im Umkreis von 500 Metern. Der folgende Feuersturm zerstört 70.000 Häuser. Und der als Hitzewolke aufsteigende Atompilz kontaminiert mit seinem nachfolgenden Fallout noch größere Gebiete. Bis zum Jahresende sterben insgesamt 140.000 Menschen, so schätzt man. Die Verantwortlichen des Manhattan-Projekts – des US-Atomwaffenprogramms – haben Ähnliches erwartet: „Little Boy“ ist derart heikel, dass der Chef des Abwurfteams, Captain William S. Parsons, die Sprengladungen und Zünder erst auf dem Flug nach Japan angebracht hat. Tetsuo Kitabayashi ist 600 Meter von der Detonation entfernt. Obgleich schwer verletzt, kann er sich in den nächsten Stunden bis in die Nähe seines Elternhauses durchschlagen. Seine Eltern verbinden notdürftig seine Wunden. Aber am nächsten Tag ist er tot. Nur seine Wasserflasche bleibt zurück und liegt heute hinter Glas im Friedensmuseum neben dem Ground Zero in Hiroshima. Dort hängt auch die Schuluniform von Nobuko Oshita. Das Mädchen hat es 800 Meter entfernt von hier erwischt. Sie ist zu einer Fabrik geflohen. Männer eines Rettungstrupps haben sie nach Hause gebracht. Dort ist sie gestorben. Ebenso wie der kleine Shininchi Tetsutami, auch wenn der in 1,5 Kilometer Entfernung von Ground Zero gespielt hatte. Sein Vater bringt es nicht übers Herz, den Kleinen allein in ein leeres Grab zu legen. Shininchi kommt im Garten der Familie unter die Erde – zusammen mit seinem Dreirad. Erst 40 Jahre später wird er exhumiert und ins Familiengrab umgebettet. Sein Dreirad kommt ins Museum. Fast mit klinischer Präzision haben die Kuratoren des Friedensmuseums recherchiert, wie der Abwurf der ersten Atombombe das Leben der Menschen in Hiroshima für immer verändert. Es ist die Nüchternheit, die Besuchern auch ein Dreivierteljahrhundert später noch kalte Schauer über den Rücken und nicht wenigen Tränen in die Augen treibt. An verschiedenen Stellen liegen Taschentücher aus für diejenigen, die es übermannt. Dies ist kein Ort für Schuldzuweisungen. Die aggressive japanische Expansionspolitik und der Angriff auf Pearl Harbor kommen ebenso wenig zur Sprache wie Vorwürfe an die Amerikaner. Ausführlich wird vielmehr spätere zivile Hilfe durch das Internationale Rote Kreuz und US-Hilfsorganisationen thematisiert. Im Friedenspark Es ist ein Ort zum Schweigen und Entsetzen darüber, dass noch immer Hunderte Atomsprengköpfe in den Arsenalen der Militärs – auch im rheinland-pfälzischen Büchel – lagern. Nur die große Friedensglocke draußen im Park durchbricht die Stille, die mancher Tourist nur schwer erträgt. Mit klinischer Präzision haben die Kuratoren des Museums recherchiert Kaum zu glauben, dass Hiroshima außerhalb des Friedensparks heute eine beliebte Millionenstadt ist. Die Aioibrücke – das eigentliche Abwurfziel – hat man leicht reparieren können. Sie ist erst 35 Jahre später durch einen Neubau ersetzt worden. Daneben erinnert eigentlich nur noch die Backsteinruine der Industrie- und Handelskammer an die Detonation. Man hat sie als Mahnmal stehen lassen. Vom Friedenspark rumpelt die Straßenbahn durch belebte überdachte Geschäftsstraßen mit Hunderten kleinen Läden und Garküchen zum Hauptbahnhof. „In Hiroshima kann man wirklich gut leben“, sagt unterwegs der Gesundheitsökonom Andreas Scheller. Der Professor für Public Health & Welfare ist auf dem Weg zur Arbeit an der Hiroshima International University, wo er Japanern die Vorzüge des deutschen Gesundheitswesens vermittelt. Seit Jahren wohnt er mit Familie in der Stadt. Die Spätfolgen der Strahlung ließen sich bis heute im Boden und Grundwasser nachweisen, glaubt er. Aber eine ernsthafte Gefahr gebe es nicht. Es sind eher die mentalen Spätfolgen, die manche Opfer – in Japan nennt man sie Hibakusha – bis heute quälen. Viele können nach der Detonation nicht die Leichen ihrer Angehörigen bergen. Tausende Opfer sind komplett zerstrahlt. Oft ist nur ein Schatten der Körper an Hauswänden erhalten geblieben. Schuldgefühle und Lethargie sind weit verbreitet. Viele Überlebende entwickeln Jahre später Grauen Star, Haarausfall, innere Blutungen. Die Betroffenen – und selbst ihre Kinder, denen man fälschlicherweise Gendefekte unterstellt – werden in der japanischen Gesellschaft jahrzehntelang stark diskriminiert. Erst ab 1968 erhalten sie kostenlose medizinische Versorgung. Manche geben sich den Behörden aus Scham erst jetzt zu erkennen. Tausend elegant gefaltete Flieger Sadako Sasaki übersteht die Detonation unbeschadet. Als der Feuerball über der Stadt explodiert, spielt die Zweijährige in ihrem Elternhaus in 1.600 Metern Entfernung. Während sie in den Armen ihrer Mutter aus dem Feuerinferno entkommt, geht der tückische schwarze Regen über beiden nieder. Trotzdem wächst Sadako zu einem athletischen Mädchen heran. Sie gehört zu den sportlich leistungsstärksten Kindern in ihrer Klasse. Als Sadako sich im November 1954 eine leichte Erkältung einfängt, denken sich ihre Eltern und Geschwister deshalb zunächst wenig dabei. Aber die Symptome wollen nicht weggehen. Am Nacken bilden sich Beulen wie bei Mumps. Erst eine gründliche Untersuchung im Februar 1955 bringt Gewissheit: „Leukämie, längstens ein Jahr zu leben, Hospitalisierung dringend empfohlen.“ Sadako Sasaki hat schon viel mitgemacht, als am 3. August ein dicker Briefumschlag mit gefalteten Papierkranichen im Krankenhaus des Roten Kreuzes in Hiroshima eintrifft. Die gelten in Japan seit alters her als Glücksbringer. Wer tausend dieser eleganten Flieger falte, der dürfe sich etwas wünschen, erzählt jemand der inzwischen Zwölfjährigen, um sie zu trösten. Sadako Sasaki beginnt mit der Arbeit. 1.600 Kraniche faltet sie in den nächsten 10 Wochen, und hofft bis zum Schluss. Mitte Oktober steigt ihr Fieber auf über 40 Grad. Sie verliert allen Appetit. Am 24. Oktober schwillt ihr linkes Bein an zu einem riesigen schweren Klumpen. Am nächsten Morgen ist es vorbei. Die örtliche Zeitung vermerkt lapidar „Tod eines Patienten mit A-Bomben-Schäden“. Aber Sadako Sasaki wird nicht vergessen. Ihre Freundinnen falten weiter Origamikraniche und ihre Geschichte rührt bald Menschen auf der ganzen Welt. Über 3.000 Schulen spenden in den Folgejahren 5,4 Millionen Yen für ein Friedensdenkmal der Kinder. Am 5. Mai 1958 entfaltet Sadako Sasaki unweit von Ground Zero als Plastik ihre Flügel. In den Schaukästen darum herum werden die Papierkraniche ausgestellt, die Kinder in Erinnerung an sie und in der Hoffnung auf Frieden gefaltet haben. Auch Exemplare aus Deutschland waren zu bewundern.
Martin Wein
Vor 75 Jahren explodierte die Atombombe über Hiroshima. Im Friedenspark wirbt vor allem die Statue eines kleinen Mädchens für den Weltfrieden.
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Berliner Sommerausflug 4: Im verzauberten Land - taz.de
Berliner Sommerausflug 4: Im verzauberten Land Auf dem Schöneberger Südgelände leben seltene Vögel, wuchern wilde Pflanzen, rasten Besucher. Hin und wieder duftet es nach Heu. Verwunschene Natur: auf dem Schöneberger Südgelände. Bild: Katrin Eissing Neu nach Berlin gekommen, kletterten wir aus Heimweh nach den Rändern der kleinen Städte voller nächtlicher Feuer über Gleise und Zäune. Wir aßen Brombeeren, sammelten Brennnesseln und knutschten Kunststudenten. Heute machen wir dasselbe, nur dass die verbotenen Gebiete jetzt offizielle Eingänge haben und die Gleise, alten Loks und besprayten Stellwerke in einem Naturschutzgebiet mit aussterbenden Heimtierrassen stehen. Beim „Natur-Park Südgelände“ handelt es sich um ein Gebiet etwa zwischen dem Steglitzer Schuttberg „Insulaner“ und dem Schöneberger „Gasometer“ in Höhe des neuen und alten S-Bahnhofs Priesterweg. Der Verfall der von Menschen kunstvoll arrangierten Technik wird dort nur beobachtet, das Wachstum der „grünen Hölle“ dagegen geschützt und gefördert. Die Neonatur verbindet sich dabei quasi organisch mit den Resten einer Schwerindustrie, die unmerklich wegrostet und überwuchert wird. Es war eine Bürgerinitiative, die 1980 eine Verwertung des 1889 in Betrieb genommenen und 1969 stillgelegten Güter- und Rangierbahnhofs als Immobilie verhinderte, indem sie einen Senatsbeschluss zur Rodung des Geländes mittels aufklärerischer Flugblätter, Aktionen und Rechtsmittel zu Fall brachte. Den Rest besorgten dann die Naturschützer, die keinen Spaß verstehen, wenn es um eine gefährdete Tier- oder Pflanzenart geht, von denen es auf dem „Südgelände“ laut der Beschilderung jede Menge gibt: angefangen von zarten Pflänzchen und noch zarteren Insekten über äußerst seltene Vögel bis hin zu immer mehr kleinen Säugetieren. Inzwischen erinnert der Ort an ein verzaubertes Land, wie in dem fast schon wieder vergessenem Film „Stalker“ von Tarkowski oder in den Videoclips über die „Verbotene Zone“ von Tschernobyl. Die Gegend hat etwas verboten Feierliches. An den Zugängen stehen Eintrittsautomaten, die die Funktion einer 1-Euro-Spendenkasse haben. Dann, zwischen Birken, Ebereschen, Ahorn- und Weißdornbäumen: Schafe, die wie Ziegen aussehen. Sie weiden auf bunten, artenreichen Wiesen, Plastikschilder weisen auf deren ewigen Wandel hin. Wir treten über schwebende Brücken, die alten Gleisbetten folgen, gerade nicht in die Nester der Zivilisationsnachfolgevögel, empfindliche Bodenbrüter … und gelangen zu einer großen Dampflok, der ersten Drehscheibe Berlins, einem Café, einem großen Reparaturschuppen, Stellwerken und Werkstätten, einem Kiosk, an dem ein taz-Transparent hängt, und zu einem riesigen Wasserturm, auf dem ein Turmfalkenpärchen nistet. Wir streiten uns an einem Brombeerwall, ob es sich davor um eine „Rispen-Flockenblume“ oder einen „Raublattschwingel“ handelt. Und es wird schriftlich an die Selbstverantwortung der Jugend appelliert: „Sprayt an den vorgesehen Stellen von 11 bis 16 Uhr, damit Sprayen weiterhin erlaubt werden kann. Viel Spaß!“ Parallel zur „Wilden Grünzone“, getrennt durch Zäune und S-Bahn-Gleise, gibt es noch eine „Zahme Grünzone“, die aussieht wie den dortigen Schrebergartensiedlungen gewaltsam abgerungen, um dann vom Jugendsenator „developed“ zu werden. Die sportive Schneise heißt seit 2002 Hans-Baluschek-Park und besteht laut Wikipedia „im Wesentlichen aus Wiesenflächen, einem 1,5 Kilometer langen Weg und vier gestalteten Plätzen entlang des Weges“. Wir überzeugten uns davon auf dem Rückweg vom Südgelände Südkreuz. Während in der „Wilden Grünzone“ verantwortungsvolle junge Väter ihre munteren Babys füttern, „Bird-Watcher“ ihre Angebetete anflüstern: „Hast du eben den Zaunkönig gehört?“, und ältere Damen für den Frieden meditieren, spielt sich in der „Zahmen Grünzone“ der übliche Juvenil-Schwachsinn ab: Birkenbäumchen umknicken, Basketball, Hund anleinen, Joggen, Skateboarden, sich betrinken, laut Musik hören. Die Zahme und die Wilde Grünzone stehen hier im selben Verhältnis zueinander wie U- zu E-Musik. Deswegen gibt es auf dem wilden Südgelände statt Bewegungsspielen zahme Sitzveranstaltungen: zum einen das Ein-Frau-Theater „Fräulein Brehms Tierleben“, in dem es nach Heu duftet. „Das weltweit einzige Theater für gefährdete Tierarten“, wie Fräulein Brehm behauptet, die nur ausgestopfte Tiere mitspielen lässt und daneben noch Symposien mit Experten veranstaltet – unter anderem über Regenwürmer und Wildbienen (von denen es 95 Arten auf dem Südgelände gibt). Zum anderen das kleine Amphitheater der Shakespeare Company, die den Sommer über „Shakespeare in Grün“ gibt, daneben aber auch noch das Potsdamer Ensemble „Shakespeare und Partner“ mit der „Komödie der Irrungen“ zu Gast hat. In der Reparaturhalle haben drei Amerikaner ein „White Bouncy Castle“ aufgebaut – eine Hüpfburg, groß und weiß, in der es jedoch im Gegensatz zu den gewöhnlichen U-Luftmonstern um eine „ernst gemeinte Erprobung von Choreografie im Alltag geht, in der es nur Teilnehmer, keine Zuschauer mehr gibt.“ Man sieht daran: Ganz mag man sich auch auf dem Südgelände nicht auf die bloße Neonatur als Ausflugsziel verlassen. Dabei finden dort bereits wie in jeder „Zone der Anomalie“ quasinatürliche Kulturereignisse statt – Bilokationen zum Beispiel. Gerade als wir nämlich im Cafégarten Platz nahmen, ging der Kairo-Korrespondent der taz, Karim El-Gawhary, dort vorbei. Er beschrieb zwei älteren Herren die lange Geschichte des Schöneberger Südgeländes. Zugleich befand er sich jedoch auch in Ägypten, von wo aus er uns täglich über den Arabischen Aufstand aufklärt, und zwar äußerst fundiert.
Helmut Höge
Auf dem Schöneberger Südgelände leben seltene Vögel, wuchern wilde Pflanzen, rasten Besucher. Hin und wieder duftet es nach Heu.
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Interview mit Exiltibeter Tsewang Rigzin: "Wir müssen Unabhängigkeit fordern" - taz.de
Interview mit Exiltibeter Tsewang Rigzin: "Wir müssen Unabhängigkeit fordern" Der Kongress der Exiltibeter war ein erster Erfolg, sagt Tsewang Rigzin vom tibetischen Jugendkongress. Für ihn ist eine Forderung nach Unabhängigkeit von China das erste Ziel. Für Tsewang Rigzin ist nicht der "Mittelweg", sondern die "andere Option" entscheidend. Bild: ap taz: Herr Tsewang, Parlamentspräsident Karma Choephel hat zum Abschluss der Konferenz, an der ja auch Sie teilgenommen haben, gesagt, der "Mittelweg" solle weiterverfolgt werden. Im Fall eines Scheiterns solle man aber "andere Optionen erwägen". Ist das ein Durchbruch? TSEWANG RIGZINist Präsident des Tibetischen Jugendkongresses mit Sitz im nordindischen Dharamsala Tsewang Rigzin: Das ist sehr positiv. Wir hätten es zwar bevorzugt, wenn unser Standpunkt, und das ist die Forderung nach einer vollständigen Unabhängigkeit Tibets von China, gänzlich angenommen worden wäre, aber wir respektieren auch unser demokratisches System. Das war aber auch das erste Treffen seiner Art, wir werden weiterarbeiten. Hoffentlich wird es weitere Treffen dieser Art geben. Glauben Sie, die Regierung wird nun irgendein Ergebnis des Treffens umsetzen? Das Ergebnis des Treffens ist ja nicht bindend. Wir wurden vom Dalai Lama dazu aufgerufen, uns hinzusetzen und zu reden, nicht, uns hinzusetzen und zu entscheiden. Das Treffen hat keinerlei Autorität, nur die Regierung kann etwas an ihrem Kurs ändern. Wir müssen sehen, es sind ja bislang nur Empfehlungen. Immerhin tauchte in den Berichten aller 15 Gruppen, in denen wir diskutiert haben, der Begriff der Unabhängigkeit auf. Das ist sehr gut. Was müsste in der Politik der Regierung geschehen? Wir müssen unseren Standpunkt ändern und die Unabhängigkeit fordern. Das ist unser erstes Ziel, das war es auch für die Regierung, bis der Dalai Lama den Mittelweg eingeschlagen hat. Doch der hat keine Resultate gebracht. Wie, glauben Sie, würde China reagieren, sollte die Frage der Unabhängigkeit tatsächlich auf dem Verhandlungstisch landen? Wir erwarten keine Überraschungen, denn wir kennen die Natur der chinesischen Politiker. Hat der Wandel eingesetzt? Das Ergebnis des Treffens könnte eine Basis sein für einen Wandel, der in der Zukunft stattfinden wird. Was auch immer entschieden wird, der Wandel wird nicht sofort einsetzen. Aber auf langer Sicht wird das die Haltung der Regierung sicher beeinflussen. Bei uns hat sich nichts geändert; der Tibetische Jugendkongress fordert weiterhin die Unabhängigkeit. INTERVIEW: SASCHA ZASTIRAL
taz. die tageszeitung
Der Kongress der Exiltibeter war ein erster Erfolg, sagt Tsewang Rigzin vom tibetischen Jugendkongress. Für ihn ist eine Forderung nach Unabhängigkeit von China das erste Ziel.
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Streit um Garnisonkirche: Potsdam hat einen an der Glocke - taz.de
Streit um Garnisonkirche: Potsdam hat einen an der Glocke Der Streit über die Potsdamer Garnisonkirche ist wieder aufgeflammt. Oberbürgermeister Mike Schubert hat ihr Glockenspiel abgeschaltet. Diese Glocken sollen nun nicht mehr läuten, bis sie untersucht wurden Foto: dpa Fast 30 Jahre ist er nun alt, der Streit über die Garnisonkirche in Potsdam. Doch geht man davon aus, dass eine Lösung in Sicht kommen könnte, wenn ein Streit an seine Wurzeln zurückkehrt, man könnte direkt Hoffnung schöpfen. Angestoßen hat die neue Kontroverse ein offener Brief von Künstlern und Wissenschaftlern um den Architekten und Professor für Architekturtheorie in Kassel, Philipp Oswalt, der bereits am 19. August an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke ging. In diesem wird ein Umdenken beim Wiederaufbau der Kirche gefordert. Am 4. September folgte der Donnerschlag: Mike Schubert (SPD), Potsdams Oberbürgermeister seit November 2018, sprach statt des bislang anvisierten Versöhnungszentrums in der wie auch immer wiederaufgebauten Kirche von einer internationalen Jugendbegegnungsstätte. Vor allem aber kündigte er an, dass das Glockenspiel der Garnisonkirche drei Tage später abgeschaltet werde. Schubert sagte, Potsdam brauche einen „Neuanfang“, die Inschriften der Glocken müssten wissenschaftlich ausgewertet werden. Die Garnisonkirche, 1701 bis 1703 von Friedrich I. gebaut, ist das Symbol schlechthin für die Vermählung preußischer Eliten mit der braunen Revolution. Sie ist der Ort, an dem 1933 Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler die Hand reichte. Als die Stadt die Reste der im Krieg bombardierten Kirche 1968 sprengen ließ, da sahen große Teile der DDR-Bevölkerung dies als überfällige Giftmüllbeseitigung. Dann kamen die Neupotsdamer Doch dann kam die Wende, und mit ihr viele Neupotsdamer, die mit der verschwundenen Garnisonkirche alles andere als Giftmüll assoziierten. Einigen von ihnen mag es bis heute um den Wiederaufbau der historischen Potsdamer Mitte gehen, um die Kirche als Teil eines schön anzusehenden Ensembles mit den längst wiederaufgebauten Prunkbauten Stadtschloss und Museum Barberini. Anderen geht es um mehr, um Preußens Glanz und Gloria, um einen zentralen Identitätsort der NS-Zeit auch. Entsprechend groß sind die Proteste der Gegner, die immer wieder und zuletzt 2014 in einem Bürgervotum mit 14.000 Unterschriften die Frage stellten, ob man eine Kirche bauen muss, um die Ideologie, die sie repräsentiert, zu widerlegen. Das Bürgervotum scheiterte. Seit zwei Jahren wird am Wiederaufbau des Turms gearbeitet, gefördert unter anderem mit 12 Millionen Euro Steuergeldern vom Bund. Auch die evangelische Kirche hat ihren Segen dazu gegeben – allerdings unter der Voraussetzung, dass nicht das historische Kirchenschiff wiederhergestellt wird, sondern ein Versöhnungszentrum, das auch äußerlich einen Bruch mit der Tradition markieren soll. Doch nun könnte ein anderer Wind aufkommen. Frank-Walter Steinmeier, der Schirmherr des Wiederaufbauprojekts ist, hat den Vorstoß Schuberts unterstützt. Und am Sonntag rief bereits zum zweiten Mal die Bürgerinitiative Mitteschön zum Protestsingen am stillen Glockenspiel. Ulrich Zimmermann von Mitteschön sagt der taz, die Entscheidung, ein Kirchenlied, noch bevor es überhaupt wissenschaftlich untersucht sei, abzuschalten, gehe „an der Bevölkerung vorbei“, die Religion werde aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Seine Initiative hält dem Plädoyer der Kirche zum Trotz auch am Wiederaufbau des historischen Kirchenschiffs fest: „Üb immer Treu und Redlichkeit.“ Aber was bedeutet das Glockenspiel für den Wiederaufbau der Kirche, das 200 Meter nördlich von der Baustelle steht? Eigentlich ist es nur ein Nachbau des historischen Glockenspiels. Es wurde 1987 auf dem Paradeplatz der Winkelmannkaserne der Bundeswehr in Iserlohn errichtet und 1991 der Stadt Potsdam geschenkt, und zwar von einem gewissen Max Klaar, den man bedenkenlos als Vater der Idee, die Garnisonkirche wiederaufzubauen, bezeichnen kann. Untersuchungen unnötig Klaar, ein rechtskonservativer Ex-Bundeswehroberst, war Vorsitzender des Verbands deutscher Soldaten, der bis zu seiner Selbstauflösung für die Amnestierung von wegen Kriegsverbrechen verurteilten Angehörigen der Wehrmacht kämpfte. Als die evangelische Kirche entschied, sie wolle aus der Kirche ein Versöhnungszentrum machen, zog sich Klaar aus dem Projekt Garnisonkirche zurück. „Ich denke, da braucht es keine Untersuchungen, der Fall liegt klar auf der Hand“, sagt Mitinitiator des offenen Briefes Philipp Oswalt der taz in Bezug auf die nun geforderte wissenschaftliche Untersuchung des Glockenspiels. Vor wenigen Jahren trat er mit seiner Entscheidung an die Öffentlichkeit, wegen der Haltung der Kirche zu den Wiederaufbauplänen aus ihr ausgetreten zu sein. Als Mitinitiator der kulturellen Zwischennutzung des Palasts der Republik 2004 und 2005 sagt er, dass das Stadtschloss im Vergleich zur Garnisonkirche „geradezu ein linksliberales Projekt“ gewesen sei. In einer Pressemitteilung hat er darauf hingewiesen, dass eine der Glocken des nun abgeschalteten Glockenspiels dem besagten Verband deutscher Soldaten gewidmet sei, eine andere dem Kyffhäuserbund, eine dritte dem Wehrmacht-Luftwaffenoffizier Joachim Helbig, der selbst nach Hitlers Tod noch für die Regierung Dönitz flog. Oswalt und die Mitverfasser des offenen Briefes an Steinmeier – darunter Gerd Bauz von der Martin-Niemöller-Stiftung –, sie haben viel erreicht bislang. Die Fans der Garnisonkirche, darunter der Vorstand der Garnisonkirchen-Stiftung Peter Leinemann, reagieren brüskiert und sagen, sie lassen „sich nicht in eine rechte Ecke schieben“. Andere – selbst Mitstreiter von Mitteschön – haben begonnen, sich von der „erinnerungspolitischen Wende“, wie sie Björn Höcke und Konsorten seit einigen Jahren propagieren, abzugrenzen. Jene wohlhabenden wie einflussreichen Neupotsdamer, die sich bislang monetär oder politisch zur Garnisonkirche bekannten, darunter Günther Jauch, Wolfgang Joop, Christian Thielemann und Lea Rosh: Sie werden sich künftig mehr Gedanken über ihr Image machen müssen, wenn sie die Garnisonkirche unterstützen. „Ich denke, die Potsdamer müssen sich jetzt sortieren“, freut sich Philipp Oswalt über den bisherigen Erfolg seiner Initiative.
Susanne Messmer
Der Streit über die Potsdamer Garnisonkirche ist wieder aufgeflammt. Oberbürgermeister Mike Schubert hat ihr Glockenspiel abgeschaltet.
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Soul, genau kalkuliert Soulmusik - taz.de
Soul, genau kalkuliert Soulmusik ■ Ray Charles im Weserstadion: Nur selten sprang der Funke zum weit entfernten Publikum über N ach fünfzig Jahren Bühnenerfahrung kann Ray Charles seine Konzerte ablaufen lassen wie ein genau abgestimmtes Uhrwerk. Aber gerade weil alles so genau durchkalkuliert war, irritierte bei seinem Auftritt im Weserstadion dieser Widerspruch zwischen seiner immer noch vital und spontan wirkenden Musik und dem präzisen Kalkül der Präsentation. Auf die Minute genau eine Stunde lang stand Ray Charles auf der Bühne – sogar die Pausen für den Applaus waren auf die Sekunde hin berechnet. Forderungen nach einer Zugabe wurden dadurch abgewürgt, daß der Sänger, noch während seine Band die Coda spielte, in seiner schwarzen Limousine aus dem Stadion gefahren wurde. Bei der Pressekonferenz vor dem Konzert erklärte Ray Charles, daß eine Mischung aus 65% bekannten Songs und 35% neuem Material sich als perfekte Mischung für seine Auftritte erwiesen hat. Und nach etwa 70% des Konzerts wurde mit dem Erscheinen der fünf Sängerinnen des Background-Chors pünktlich der Nachbrenner gezündet. Nur die Veranstalter bewiesen bei diesem Konzert ein extrem schlechtes Timing. Ausgerechnet im Weserstadion mußte der schwarze Soulmusiker gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft antreten, und so waren nur knapp 4000 Plätze im Weserstadion besetzt. Diese waren zwar alle überdacht, dafür aber viel zu weit weg von der Bühne. Ray Charles' charakteristische Bühnenpräsenz mit den wilden Verrenkungen am Piano und dem großen, herzerwärmenden Lächeln wurde so zwangsläufig auf einen zappligen Punkt in der Ferne reduziert. Es gab zwar teure, aber keine guten Plätze. Aus der Westkurve sah man den riesigen, leeren Rest des Stadions und die etwa 50 Meter entfernte Bühne, die durch dieses Ambiente noch kleiner wirkte. Und so war man trotz des guten Sounds immer nur ein ferner Beobachter des fast wie in einem Vakuum ablaufenden Konzerts. Um so erstaunlicher war, wie bewegend dann doch einige von Ray Charles Songs durch das Stadion schallten. „Georgia on My Mind“ spielte er viel langsamer und abgeklärter, als man es von der Originalaufnahme her kennt, und dadurch gab er dem Song einen Kick, der viel mehr auslöste als die bei solchen Hits übliche Wiedererkennungsfreude. „I Can't Stop Loving You“ wird dagegen immer eine kitschige Schnulze bleiben, und dementsprechend ließ Charles hier tüchtig seinen Chor aufheulen. Die Band spielte im klassisch-jazzigen Stil und zum Glück ohne die Zugeständnisse an modische Funksounds, die Charles' letzte Platten so zwiespältig ausfallen ließen. So war einer der Höhepunkte des Konzerts eine sehr sparsam orchestrierte und intime Ballade, bei der Ray Charles die Intensität, Kraft und Melancholie seiner Stimme fast pur wirken ließ. Willy Taub
Willy Taub
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EU vs. Microsoft - taz.de
EU vs. Microsoft Zum zweiten Mal hat die EU-Kommission gestern ein Zwangsgeld gegen Microsoft verhängt. Der US-Konzern soll 280,5 Millionen Euro zahlen. Der Konzern missbrauche seine marktbeherrschende Stellung, so Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes gestern. „Alle Unternehmen, die in der EU tätig sind, müssen sich an die EU-Vorschriften halten.“ Kroes verwies auf eine Marktstudie, nach der Microsoft den Löwenanteil am europäischen Softwaremarkt hält. Microsoft habe angekündigt, die erforderlichen Unterlagen nachzuliefern. „Es ist schade, dass sie unseren Forderungen nicht vor zwei Jahren nachgekommen sind“, sagte Kroes. Vor zwei Jahren hatte die Kommission bereits eine Strafe von 497 Millionen Euro verhängt, gegen die Microsoft Einspruch eingelegt hat. Mit einem Urteil wird erst für nächstes Jahr gerechnet. Sollten die von der Kommission geforderten technischen Details bis Ende Juli nicht in Brüssel vorliegen, erhöht sich das Zwangsgeld auf 3 Millionen Euro pro Tag. Für weitere Maßnahmen wäre dann ein neuer Kommissionsbeschluss erforderlich. DW Details unter http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/cases/microsoft/index.html
DW
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Franz Josef Degenhardts Lieder: Grandios scheitern - taz.de
Franz Josef Degenhardts Lieder: Grandios scheitern Erst sprach Degenhardt aus, was die ganz Jungen über die Spießer dachten. Dann vergrätzte er die älter gewordenen Spontis mit Parteilyrik. Später war alles wieder gut. Väterchen Franz, mach et juut! Bild: dpa Jetzt hat der Tod, dieser spaßige Gast, auch ihn eiskalt am Brustbein gepackt, wie es in "Au pere eternel" heißt, ein Lied, das der am Montag im Alter von 79 Jahren verstorbene Dichter und Sänger Franz Josef Degenhardt 1986 für Georges Brassens geschrieben hat. Auch an seine Gruft werden der Paffe, der General und der Patron nicht kommen, weil er sie - wie sein musikalisches Vorbild Brassens - gehasst hat wie jeden Schuft, auch den, der nur zuschaut von seinem Balkon. Da sein werden die anderen. Rudi Schulte, der bestusste Onkel Richard, P. T. aus Arizona, der lange schon in Frankreich lebt, das Hasenschartenkind, der Fremde mit dem Hinkefuß und alle Kumpane vom langen Tisch im Gonsbachtal (sein parteiloses Politbüro), mit denen er beim Abendmahl auf Lauch gebraten Hammel zu Schnaps und rotem Wein immer so intensiv genossen hat, wie er die Genossinnen mit den Äpfeln und den Pflaumenhintern liebte. Franz Josef Degenhardt hat mich, Jahrgang 1952, (politisch) sozialisiert. Die von ihm geschaffenen Figuren, die immer für den aktuellen, oft erbarmungswürdigen Zustand der Linken seit 1964/65 geradezustehen hatten - oder situationsbedingt grandios an den jeweiligen repressiven Verhältnissen scheiterten -, haben mich bis heute wie alte Kumpel durchs Leben "begleitet". Es war Degenhardt, der unsere spieß- und kleinbürgerlichen Eltern, Lehrer und Pfarrer (Wir gegen die!) so herrlich treffend und mit Genuss abwatschte, dass wir alle - zuerst mein Bruder und ich und ab 68 auch die Jungs meiner Band Dreadful Desire (die erste Hendrix-, Doors-und Cream-Coverband im Südhessischen) - wie gebannt vor dem Plattenspieler saßen und vor (Schaden-)Freude oft laut quietschten. Beim "Deutschen Sonntag" etwa: Da treten sie zum Kirchgang an, Familienleittiere voran, Hütchen, Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassen, die sie heimlich vorwärtsschieben, weil die gern zu Hause blieben! Oder dem "Notar Bulamus": Der alte Notar Bulamus hat sich gut durch die Zeit gebracht, weil er war immer ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen …, nur Auschwitz, sagt er, war ein bisschen zu viel. Und er zitiert seinen Wahlspruch: alles mit Maß und mit Ziel! Und erst das satirische Stück über die vielen Briefe: Lieber Dr. Degenhardt, Drecksau mit dem Ulbrichtbart, Zonenknecht, Sowjetspion, warte nur, wir kriegen dich schon. Doch keine Beziehung ohne Brüche. Degenhardts nach 1968 immer offener zu Tage tretende Affinität zu DKP und DDR - diesem damals lächerlichsten Staatsgefängnis der Welt - war eine Karikatur von dem, was wir undogmatischen Linken, die wir uns später auf der Uni Spontis nannten, für Sozialismus hielten. Dass Zwischentöne im Klassenkampf nur Krampf seien, sang er nun. Mein Degenhardt war das nicht mehr. Erst nach der Jahrtausendwende habe ich ihn wiederentdeckt. Ausgerechnet auf einem Parteitag der DKP - von deren kümmerlicher Existenz ich gar nichts mehr wusste -, den ich aus beruflichen Gründen besuchen musste. Bei einem realsozialistischen Devotionalienhändler, der auch in Schweinsleder gebundene Reden von Honecker feilbot, kaufte ich dann eine Degenhardt-CD, die Ende der 80er Jahre produziert wurde und die ich noch nicht kannte. Es war sofort wieder da, das alte Degenhardt-Gefühl. Etwa bei dem Stück über Natascha Speckenbach, eine einfache Genossin nur, der die Ärzte noch anderthalb Jahre geben, die sich aber dennoch mit Courage dem neokapitalistischen Zeitgeist entgegenstellt. Oder über "Onkel Richard", der in einer aufgelassenen Fabrik haust und dort alles in Schuss hält, weil es ja weitergehen muss. An der Wand hängen Fotos von Clara Zetkin und Marylin - und die Erde vom Mond aus gesehn. Väterchen Franz, mach et juut!
K.-P. Klingelschmitt
Erst sprach Degenhardt aus, was die ganz Jungen über die Spießer dachten. Dann vergrätzte er die älter gewordenen Spontis mit Parteilyrik. Später war alles wieder gut.
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„Das ist unglaublich frustrierend“ - taz.de
„Das ist unglaublich frustrierend“ Holger Hövelmann, SPD-Innenminister in Sachsen-Anhalt, über die Schwierigkeit, Polizisten zum konsequenten Kampf gegen rechtsextreme Gewalt anzuhalten. Zurücktreten will er nicht – auch wenn das LKA ohne sein Wissen Statistiken geschönt hat HOLGER HÖVELMANN, geboren 1967, ist SPD-Politiker und seit 2006 Innenminister von Sachsen-Anhalt. INTERVIEW SARAH STRICKER taz: Herr Hövelmann, vor einigen Tagen wurde bekannt, dass das Landeskriminalamt in Sachsen-Anhalt die Statistik über rechtsextreme Straftaten geschönt hat. Sollten Sie nicht lieber tatsächlich etwas gegen Neonazis unternehmen? Holger Hövelmann: Dass wir nichts gegen Neonazis unternehmen, kann uns nun wirklich niemand nachsagen. Was vom LKA im Alleingang geändert wurde, war die Zählweise in der Statistik. Straftaten, bei denen der Täter nicht feststeht, wurden nicht wie zuvor als links- oder rechtspolitisch motivierte Delikte eingeordnet, sondern als „Straftat ohne explizite politische Motivation“ erfasst. Dadurch sah der Rückgang rechtsextremer Straftaten in der Statistik wesentlich größer aus als in der Realität. Ich habe sofort angeordnet, zur alten Zählweise zurückzukehren. Illegal war diese Umstellung allerdings nicht, und ich habe auch keinen Grund zu glauben, dass jemand etwas verharmlosen wollte. Warum sonst sollte man die Kriterien plötzlich ändern? Nach Gesprächen mit den Verantwortlichen im Landeskriminalamt ging es nur darum, eine einheitliche Zählweise entsprechend ihrer Rechtsauffassung einzuführen. Aha. Was ich dem LKA unter Leitung von Herrn Hüttemann zur Last lege, ist zweierlei: Erstens hätte erkannt werden müssen, in welcher politischen Brisanz wir uns bewegen, wenn wir gerade bei etwas so Heiklem wie der politisch motivierten Kriminalität Veränderungen vornehmen. Zweitens kann ich ja wohl erwarten, dass man sich vor der Änderung mit mir in Verbindung setzt. Das hat nicht stattgefunden. Ich hätte dem Vorgehen auch keinesfalls zugestimmt. Sie sprechen sich immer wieder gegen Rechtsextremismus aus. Warum hören Ihre Untergebenen nicht auf Sie? Wenn sie das nie täten, hätten wir nicht so hohe Aufklärungsquoten. Trotzdem: Es ist für mich eine unglaublich frustrierende Situation, dass wir immer wieder und wieder und wieder in den Apparat hinein, aber auch in die Öffentlichkeit kommunizieren, dass die Bekämpfung des rechten Randes ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist. Und dann passieren solche Dinge, oder die Landeszentrale für politische Bildung lädt tatsächlich NPD-Mitglieder zu einer Veranstaltung ein. Bei so was denke ich mir, das darf doch nicht wahr sein. Der Chef des LKA, Frank Hüttemann, hat am Mittwoch seinen Stuhl geräumt. Ist er wirklich freiwillig zurückgetreten – oder konnte er nicht anders? Herr Hüttemann und ich hatten ein sehr langes Gespräch, und am Ende hat er mich darum gebeten, ihn von seinen Aufgaben zu entbinden. Mir war klar, dass ihm persönlich kein Fehlverhalten vorzuwerfen ist, aber in einer solchen Funktion trägt man auch Verantwortung für seine Mitarbeiter. Sie selbst sind allerdings auch für Ihre Untergebenen verantwortlich – und denen passiert derzeit ein Fehler nach dem anderen. Ja. Das stimmt, dass ich für Fehler Verantwortung trage. Die Verantwortung besteht zunächst mal darin, dass ich die Fehler und ihre Ursachen abstellen muss. Warum treten Sie nicht zurück? Polizei in der KritikMit der Zunahme rechter Gewalttaten in Sachsen-Anhalt in den vergangenen beiden Jahren mehrte sich auch die Kritik am Verhalten der Polizei. Mitte September setzte der Landtag auf Betreiben der Linksfraktion deshalb einen Untersuchungsausschuss ein. Er soll klären, ob Polizisten rechtsextremen Straftaten nur unzureichend entgegengetreten sind oder die Aufklärung gar behindert haben. Am Mittwoch trat außerdem der Direktor des Landeskriminalamts, Frank Hüttemann, zurück. Zuvor war bekannt geworden, dass durch eine andere Zuordnung, insbesondere von Propagandadelikten, die Statistik politisch motivierter Straftaten geschönt worden war. MIBA Ich hoffe, dass wahrgenommen wird, dass ich mit Ernsthaftigkeit an die Lösung der Probleme gehe. Ob man immer alles richtig macht, ist eine andere Frage. Aber der Wille ist da. Der Wille ist schön und gut. Aber was tun Sie konkret gegen den laxen Umgang der Polizei mit Nazis? Nach dem Vorfall in Halberstadt, wo eine Theatergruppe von stadtbekannten Neonazis verprügelt wurde, habe ich mich in einem persönlichen Brief an alle Polizistinnen und Polizisten gewandt und gefordert, dass es keine Gleichgültigkeit im Umgang mit Rechtsextremismus geben darf. Wir sind seit Monaten dabei, mit flächendeckende Schulungsmaßnahmen nachzubessern. Aber bei rund 7800 Beamten dauert es eine Weile, bis wir jeden erreichen. Und am Ende ist es nicht nur eine Frage des Wissens, sondern der persönliche Einstellung zum Beruf. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, hat Ihnen vorgeworfen, Sie hätten Ihren Laden nicht im Griff. Mangelt es Ihnen an Autorität? Ich weiß nicht, ob es ein Autoritätsproblem ist. Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass die Polizei ignoriert, was ich veranlasse. Ich nenne das Problem beim Namen, ich mache es öffentlich und versuche, es zu beheben. Ich kann nicht erkennen, dass das falsch ist.
SARAH STRICKER
Holger Hövelmann, SPD-Innenminister in Sachsen-Anhalt, über die Schwierigkeit, Polizisten zum konsequenten Kampf gegen rechtsextreme Gewalt anzuhalten. Zurücktreten will er nicht – auch wenn das LKA ohne sein Wissen Statistiken geschönt hat
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Wirres Irren vor trüben Augen - taz.de
Wirres Irren vor trüben Augen Bayern München – Borussia Dortmund 0:0 / Nach mattem „Spitzenspiel“ waren nur die geschlauchten Borussen-Fans zufrieden  ■ Aus München Werner Steigemann Trotz tristen Wetters und Live- Übertragung im Fernsehen kamen immerhin noch 42.000 Zuschauer ins Münchner Olympiastadion, in der frohen Erwartung, ein sogenanntes „Spitzenspiel“ beobachten zu dürfen. Der bayerische Teil der Betrachter verließ nach 90 Minuten mißmutig das Stadion, während die Dortmunder Fans ihren BVB jubelnd verabschiedeten. Die meisten hatten eine Reise europäischen Ausmaßes hinter sich: von Dortmund über den Alpenhauptkamm nach Mailand und zurück nach München. Solch anstrengendes Reisen zehrt aus, besonders dann, wenn man in München die Starkbierzeit nicht ungenutzt verstreichen läßt. So schleppten sich, gegenseitig stützend, viele der gelb-schwarzen Anhänger Richtung Nordkurve, um dort mit glasigen Augen das Spielgeschehen auf sich einwirken zu lassen und nach Abpiff der Partie nicht nur freudetrunken das Unentschieden zu feiern. Das Spiel auf dem Rasen war dann aber mitnichten ein Spiel, sondern sinnloses Gegrätsche und Hetzen ohne Ball. Mit Grausen wendete sich des öfteren Bayern- Trainer Beckenbauer ab, um hinterher seinen Beschluß bestätigt zu sehen, daß ein solches Gekicke seiner weiteren Trainertätigkeit nicht würdig ist. Außerdem, predigte der „Heilige Franz“, sei ein Fußballspiel, am Sonntag angesetzt, wider die göttliche Ordnung, die nämlich nicht vorsieht, an solch gesegneten Tagen dem Ball hinterherzulaufen: „Da geht man in die Kirche zum Beten und nicht zum Fußballspielen.“ Sein Gegenüber auf der Trainerbank, Ottmar Hitzfeld, weniger religiös, lobte seine Mannschaft ob ihrer gezeigten Disziplin sowie der Ruhe und des matten Tempos wegen und behauptete, Dortmund hätte in Mailand und München eine gute Woche erlebt. Ganz unrecht hat er nicht, der Dortmunder Trainer, angesichts der bisher gezeigten Leistungen in der Meisterschaftsrunde. So sind ein beachtlicher, wenn auch wertloser Sieg in Mailand und ein erkämpftes torloses Unentschieden in München schon ein Erfolg für den gebeutelten Titelfavoriten. Man muß ihn ja nicht mögen, den Lothar Matthäus, aber er war der einzige, der wenigstens zu Beginn der Partie zeigte, daß Fußball auch unterhaltsam sein kann. Daß er es über die Dauer des Spieles nicht schaffte, Struktur in die Aktionen der Bayern zu bringen, lag auch daran, daß Jorginho fehlte. Seine Mitspieler, die jüngst so erfrischenden Jungen wie Nerlinger, Scholl oder Frey, irrten meist nur wirr über das Grün oder standen sich gegenseitig im Weg. Die Stürmer Valencia und Labbadia schafften es während der gesamten Spielzeit nicht einmal, Torhüter Klos ernsthaft zu beschäftigen. Das lag auch an dem anderen herausragenden Spieler dieses Abends, Matthias Sammer. Sein gekonntes und unauffälliges Organisationsvermögen ließ den Bayern keinen Spielraum, wobei hinzugefügt werden muß, daß die BVB-Abwehr meist aus acht Akteuren bestand. Zum Spiel selbst trugen die Dortmunder somit auch nicht wesentlich bei: Sich allein auf die Technik eines Chapuisat zu verlassen, ist für einen Sieg zu wenig. Den wollten sie aber überhaupt nicht, sondern „einen Punkt, weil zwei nicht möglich sind“ (Sammer), und somit erreichten sie das Ziel ihrer Wünsche. Es gab jeweils drei Torchancen auf jeder Seite. Und fast wäre den Dortmundern doch noch der Sieg gelungen, als der wieder genesene und eingewechselte Riedle kurz vor Schluß Torhüter Aumann zu einem seiner wenigen Einsätze zwang. Endlich, kurz vor 20 Uhr, erbarmte sich der gute und gerechte Schiedsrichter Strampe (er verteilte die notwendigen gelben Karten gleichmäßig und in gekonnten Zeitabständen) und beendete das üble Treiben. Was bleibt, sind die recht erträglichen Nebeneinkünfte der beiden Mannschaften aus der Fernsehübertragung. Dies anscheinend rechtfertigt die Austragung eines Bundesligaspiels an einem Sonntag. Daß hierbei wenig Rücksicht auf die Fans der Münchner und Dortmunder genommen wird, die viele Kilometer aus Niederbayern oder dem Ruhrgebiet anreisen müssen, dürfte bei dem Geschäftssinn der Manager niemanden verwundern. Borussia Dortmund: Klos - Sammer - Grauer, Schmidt - Reuter, Kutowski, Poschner (85. Rodriguez), Zorc, Reinhardt - Povlsen (79. Riedle), Chapuisat; Zuschauer: 42.000 Bayern München: Aumann - Matthäus - Kreuzer, Helmer - Schupp, Frey, Scholl, Nerlinger, Ziege - Labbadia, Valencia
werner steigemann
Bayern München – Borussia Dortmund 0:0 / Nach mattem „Spitzenspiel“ waren nur die geschlauchten Borussen-Fans zufrieden  ■ Aus München Werner Steigemann
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Amazon trennt sich von seinem Sicherheitsdienst - taz.de
Amazon trennt sich von seinem Sicherheitsdienst LEIHARBEIT Nach Entrüstung über TV-Doku zieht der Internetversandhändler erste Konsequenzen MÜNCHEN dpa | Nach einem Sturm der Entrüstung trennt sich der Internetversandhändler Amazon von seiner umstrittenen Sicherheitsfirma, die unter anderem Wohnanlagen für Saisonkräfte in Logistikzentren überwachte. „Amazon hat veranlasst, dass die Zusammenarbeit mit dem kritisierten Sicherheitsdienst mit sofortiger Wirkung beendet wird“, sagte eine Sprecherin am Montag in München. Seit der Ausstrahlung einer ARD-Dokumentation über schlechte Arbeitsbedingungen von Zeitarbeitern in Deutschland stand der US-Konzern in der Kritik. Vor allem im Internet machen viele Kunden ihrem Unmut Luft, manche drohen mit einem Boykott. Am Wochenende hatte sich Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in die Debatte eingeschaltet und der Leiharbeitsfirma, die mit Amazon zusammenarbeitet, mit einem Lizenzentzug gedroht. Kritik an den Arbeitsbedingungen im Versandhandel hatte es bereits zuvor gegeben, etwa beim Onlineversandhaus Zalando. „Wir haben Sozialstandards entwickelt, die für unsere eigenen Standorte gelten sowie für Dienstleister im Bereich Logistik. Diese Standards wurden von unseren Dienstleistern unterschrieben. Die Einhaltung soll künftig durch externe Prüfer kontrolliert werden“, sagte ein Sprecher des Unternehmens. „Immer dort, wo illegale beziehungsweise unethische Machenschaften im Zusammenhang mit Zeitarbeitseinsätzen praktiziert werden, distanzieren wir uns ausdrücklich hiervon“, erklärte auch der Hauptgeschäftsführer des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ), Werner Stolz, am Montag in Münster.
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LEIHARBEIT Nach Entrüstung über TV-Doku zieht der Internetversandhändler erste Konsequenzen
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Bundesliga Rückrundenstart: Dortmund bleibt im Spiel - taz.de
Bundesliga Rückrundenstart: Dortmund bleibt im Spiel Darmstadt gewinnt in Hannover. Wichtige Zähler sammelt derweil der VfB Stuttgart. Auch Hoffenheim punktet im Abstiegskampf. Da stand es grade 1:0 für Hannover, die Freude währte aber nur kurz Foto: dpa BERLIN dpa | Borussia Dortmund hat den Rückstand auf Spitzenreiter FC Bayern München zum Rückrundenstart der Fußball-Bundesliga bei acht Punkten gehalten. Der Tabellen-Zweite gewann am Samstag im Spitzenspiel 3:1 (1:0) beim Tabellen-Vierten Borussia Mönchengladbach. Marco Reus (41.), Henrich Mchitarjan (51.) und Ilkay Gündogan (75.) erzielten die Tore für den BVB, der erstmals seit sechs Jahren wieder im Borussia-Park siegte. Für die Gladbacher gelang Raffael (58.) lediglich der zwischenzeitliche Anschluss. Die Gastgeber bleiben Vierter, können am Sonntag aber noch vom FC Schalke 04 und dem VfL Wolfsburg überholt werden. Hannover 96 hat zum Rückrundenauftakt in der Fußball-Bundesliga nicht die Trendwende einleiten können. Unter dem neuen Trainer Thomas Schaaf verloren die Niedersachsen gegen Darmstadt 98 mit 1:2 und rutschten auf den letzten Tabellenplatz. 1899 Hoffenheim konnte durch ein 1:1 gegen Bayer Leverkusen Rang 18 verlassen. Der VfB Stuttgart holte durch ein 3:1 beim 1. FC Köln drei wichtige Punkte im Abstiegskampf. Neben Darmstadt gewann auch der FC Ingolstadt als zweiter Aufsteiger am 18. Spieltag. Die Schanzer setzten sich mit 1:0 gegen Mainz 05 durch. Hertha BSC bleibt nach einem 0:0 gegen den FC Augsburg Tabellendritter. Hannover 96 – Darmstadt 98 1:2 (1:1) Große Hoffnungen setzen sie in Hannover auf den neuen Trainer Thomas Schaaf. Die Premiere wurde aber gleich zum Stimmungsdämpfer. Die Bundesliga-Kämpfer von Darmstadt 98 zeigten den Niedersachsen, wie Abstiegskampf funktioniert. Sandro Wagner machte mit seinem zweiten Doppelpack (31./47. Minute) den Auswärtssieg der Lilien perfekt. Hannover rutschte trotz des Führungstors von Hugo Almeida (10.) auf den letzten Platz. Almeida sagte, er sei erst bei 50 Prozent Leistungsstärke. Schaaf muss hoffen, dass dies für sein ganzes Team gilt. Denn vieles muss besser werden in Hannover. 1899 Hoffenheim – Bayer Leverkusen 1:1 (1:0) Wo Hannover ist, kommt Hoffenheim her. Vom Tabellenende. Der Punkt gegen Leverkusen ist für Trainer Huub Stevens extrem wertvoll. Dabei war gegen den Favoriten aus Leverkusen sogar mehr drin. Jiloan Hamad (40.) schoss in seinem ersten Bundesliga-Spiel lässig mit der Innenseite vom Strafraumeck ein. Eine viertel Stunde vor Schluss bugsierte aber Ömer Toprak per Kopfball nach reichlich Kuddelmuddel den Ball ins Hoffenheimer Tor und bewahrte Champions-League-Aspirant Bayer vor einem krassen Fehlstart ins Jahr 2016. 1. FC Köln – VfB Stuttgart 1:3 (1:1) Die etwas überkandidelten Karnevalstrikots haben dem 1. FC Köln weder Glück noch gute Laune beschert. Den heimlichen Blick Richtung Europacup können sie sich ums Geißbockheim erstmal wieder sparen. Anthony Modeste (19./Foulelfmeter) brachte den FC in Führung, doch der VfB zeigte bei der Premiere von Weltmeister Kevin Großkreutz beste Abstiegskampf-Qualitäten. Daniel Didavi (36.) glich nach einem Konter aus. Timo Werner (51.) und Christian Gentner (83.) machten den wichtigen Auswärtssieg perfekt – allerdings waren die schwarz-rot-gelben VfB-Trikots auch nicht schöner. Hertha BSC – FC Augsburg 0:0 Berliner Schmuddelwetter wie am Samstag ist richtig grau. Grauer als anderswo. Für tristes Hauptstadtfeeling hatte die Hertha in der Hinrunde nicht gesorgt. Nun sind die Ansprüche gestiegen. Mehr als ein Punkt gegen den wieder erstarkte FC Augsburg war bei einsetzendem Tauwetter aber nicht drin. Das reichte, um Platz drei zu sichern. Es hätte auch ein Zähler weniger sein können für die Hertha. Raul Bobadilla vergab eine 100-Prozent-Chance (51.) für die Gäste. FC Ingolstadt – FSV Mainz 05 1:0 (1:0) Danny Latza hatte keine Chance. Der Schuss von Pascal Groß aus kurzer Distanz landete an seinem Arm. Die harte Regelauslegung von Schiedsrichter Florian Meyer lautete Strafstoß. Moritz Hartmann (41.) verwandelte – das Fußball-Märchen der Schanzer aus Ingolstadt geht weiter. 23 Punkte und Platz zehn sorgen für einen beruhigenden Vorsprung vor der Abstiegszone. Die Mainzer – schon im ersten Saisonspiel von Ingolstadt besiegt – haben auch nur einen Zähler mehr. Hamburger SV – FC Bayern München 1:2 (0:1) In kurzen Hosen absolvierten Manuel Neuer und Thomas Müller das Auslaufen am Tag nach dem Sieg zum Rückrundenauftakt in Hamburg. Entspannt konnten die Weltmeister am Samstag anschließend die Auftritte der schon recht deutlich distanzierten Ligakonkurrenz verfolgen. Bitte war für die Bayern das Fehlen eines weiteren Weltmeisters bei der Trainingseinheit. Jérôme Boateng hat sich in Hamburg eine Muskelverletzung im Adduktorenbereich zugezogen und „fällt länger aus“, wie die Bayern mitteilten.
taz. die tageszeitung
Darmstadt gewinnt in Hannover. Wichtige Zähler sammelt derweil der VfB Stuttgart. Auch Hoffenheim punktet im Abstiegskampf.
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BER und klimafreundliches Fliegen: Alle fliegen jetzt auf Öko - taz.de
BER und klimafreundliches Fliegen: Alle fliegen jetzt auf Öko Der BER ist in Betrieb. Es gab Proteste von Klimaaktivist*innen – und Sonntagsreden vom klimafreundlichen Fliegen. Aber geht das überhaupt? Gelandet: Am 4. November wurde die Südbahn des BER offiziell in Betrieb genommen Foto: picture alliance/dpa Sie haben es nicht geschafft: Die angekündigte Blockade der Eröffnung des Pannenflughafens BER am vergangenen Samstag kam nicht zustande. Die Ehrengäste redeten, die ersten Flugzeuge landeten, der BER ist nun wirklich in Betrieb. 14 Jahre nach dem ersten Spatenstich. Aber die Proteste der Klimaaktivist*innen im Terminal 1, davor und rund um den BER waren nicht umsonst. Denn tatsächlich war die Klimakrise neben Corona das zentrale Thema des Eröffnungswochenendes. Fast jeder, der glaubte, etwas zur Eröffnung zu sagen zu haben (es waren tatsächlich nur Männer), betonte die Problematik – und nannte andere Lösungsansätze. Der Chef von Easyjet glaubte zwar an eine schnelle Erholung der wegen der Pandemie wichtigsten Airline am BER, erklärte aber zugleich, dass die Luftfahrtindustrie die CO2-Emissionen deutlich reduzieren müsse. Sein Lufthansa-Kollege berichtete, man habe aus diesem Grund extra klimafreundlichen Sprit in die Eröffnungsmaschine getankt. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) wiederum nahm sogar direkt Bezug auf die Demonstrationen am BER: „Wir stehen unter immensem Druck.“ Seine Lösung: Nicht weniger fliegen – „wir brauchen den Flugverkehr“ –, sondern die Versorgung des BER mit umweltfreundlicher Energie aus Brandenburg. Da sei das Land bundesweit Vorreiter. Tickets teurer machen Berlins mitregierende Grüne sehen das ein bisschen anders. Es müsse weniger geflogen werden, hatte ihre Fraktionschefin Antje Kapek im taz Talk vor der Eröffnung gesagt. Eine Möglichkeit dafür: Die Tickets teurer machen. „Fliegen ist bisher zu günstig, das muss einen angemessenen Preis haben.“ Als Land und Miteigentümer habe man darauf Einfluss, indem man etwa die Entgelte für Abflüge und Landungen erhöhe. Klimaschutz war – neben Corona – das wichtigste Thema der BER-Eröffnung Wo viele Positionen zusammenkommen wie in diesem Fall, besteht die Gefahr, dass statt eines Kompromisses – ein bisschen teurer, technische Aufrüstung der Flugzeuge, mehr Ökoenergie – der problematische Status quo dauerhaft erhalten bleibt, weil niemand von sich aus Zugeständnisse machen möchte. Zudem haben alle drei Eigentümer, also der Bund, Berlin und Brandenburg, ein ökonomisches Interesse, dass der BER viel Geld bringt, schließlich ist die Flughafengesellschaft in argen finanziellen Schwierigkeiten, nicht nur durch Corona. Im Rückblick könnten die ganzen Reden zur Eröffnung als Paradebeispiel für Greenwashing gelten, also das Vortäuschen eines ökologischen Verhaltens oder Vorhabens. Das darf aber nicht passieren. Ein Grund ist die Begrenzung der Erderhitzung, wozu Flugverkehr viel beiträgt. Ein anderer, den meisten Politiker*innen im wahrsten Sinne des Wortes naheliegenderer, ist, dass man nach den vielen Verzögerungen beim Bau des BER auf jeden Fall darauf verzichten sollte, den Flughafen zu erweitern. Eine Pannengeschichte dieser Dimension reicht für mehrere Generationen.
Bert Schulz
Der BER ist in Betrieb. Es gab Proteste von Klimaaktivist*innen – und Sonntagsreden vom klimafreundlichen Fliegen. Aber geht das überhaupt?
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Ehec-Fall in Hamburg schürt neue Ängste - taz.de
Ehec-Fall in Hamburg schürt neue Ängste KEIME Jährlich erkranken in Deutschland an die 1.000 Menschen an Ehec – Todesfälle treten vereinzelt auf Ein halbes Jahr nach der Ehec-Epidemie 2011 ist in Hamburg ein sechsjähriges Mädchen gestorben. Die Gesundheitsbehörde bestätigte den Tod der Schülerin aus Blankenese, die in der Nacht zum Sonntag am Ehec-Erreger verstarb. Die Gesundheitsbehörde ließ daraufhin Lebensmittelproben aus dem Einzelhandel und dem Umfeld des Kindes im Institut für Hygiene und Umwelt untersuchen – bisher noch ergebnislos. Ehec-Fälle treten in Deutschland gelegentlich auf. Bereits vor dem Ausbruch 2011, bei dem 53 Menschen starben, wurden für das Jahr 2010 rund 918 Erkrankungen gemeldet – 25 davon in Hamburg und 150 in Niedersachsen. „Es gibt immer mal wieder Ehec-Fälle“, sagt Holger Scharlach, Pressesprecher des Niedersächsischen Gesundheitsamtes. „Im Moment gibt es aber kein außergewöhnliches Geschehen.“ Seit Begin des Jahres wurden in Niedersachsen drei Fälle gemeldet. In Schleswig-Holstein waren es bisher fünf, in Hamburg einer und für Bremen liegt bisher keine Meldung vor. Auch Todesfälle sind laut dem Robert-Koch-Institut nicht ungewöhnlich. Bereits vor der Epidemie in 2011 starben im Jahr 2010 deutschlandweit ein Mensch an Ehec und zehn an HUS, dem hämolytisch-urämischen Syndrom. Hierbei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das durch den Ehec-Erreger ausgelöst wird und zu Nierenversagen führt. Bisher sei der Tod der Sechsjährigen ein Einzelfall und liege somit im „Jahresschnitt“, sagt Klaus-Dieter Zastrow, Arzt für Hygiene und Umweltmedizin. Der Lebensmittelkeim wird auch als Schmierinfektion übertragen. „Eine Ansteckung ist nur über den Stuhlgang möglich.“ Für die Kinder, die mit dem verstorbenen Mädchen in Hamburg dieselbe Klasse besucht hatten, würde keine Gefahr bestehen. „Im Nachhinein ist eine Ansteckung eher unwahrscheinlich“, sagt der Hygienearzt. Wenn es in Hamburg bisher keine weiteren Fälle gegeben hätte, wäre das Ausmaß „nicht epidemiologisch dramatisch“ – die Gefahr eines erneuten Ausbruchs wie im Sommer 2011 sei unwahrscheinlich.  MAREN MEYER
MAREN MEYER
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Die Tragödie von Duisburg: Augenzeuge Internet - taz.de
Die Tragödie von Duisburg: Augenzeuge Internet Knapp 7.000 Treffer liefert das Videoportal YouTube zur Loveparade in Duisburg. Diese Privataufnahmen dürften nun von Interesse für die ermittelnde Staatsanwaltschaft sein. Nah am Geschehen: Teilweise regelrecht dokumentarisch wurde die Katastrophe von Besuchern per Video festgehalten. Bild: Screenshot youtube.com Es ist ein Puzzle aus Augenzeugenberichten, Videos und Fotos. Twitter, YouTube und zahlreiche Blogs dokumentieren aus erster Hand, was sich am Samstag gegen 17 Uhr beim Tunnelzugang zur Loveparade abgespielt hat. Polizei und Staatsanwaltschaft haben viele Fragen zu klären. Neben der Planung im Vorfeld, wird der genaue Ablauf der Massenpanik und das Verhalten der Polizei vor Ort eine wichtige Rolle spielen. Zahlreiche Videos, die von Besuchern vor Ort gedreht wurden, können dabei wichtige Erkenntnisse bringen. Zwei Tage vor der Großveranstaltung dokumentiert folgendes Video die Geländebesichtigung einiger Journalisten. Uwe Gerste, Geschäftsführer von Duisburg Marketing, reagiert entspannt auf die Gerüchte um mangelnde Platzverhältnisse (bei Minute 5.35): „Also bei der Loveparade geht’s schon mal ein bisschen enger zu. Das gehört zum System.“ Sowohl die Website der städtischen Marketing Agentur, als auch Gerstes Twitter-Account schweigen seit Samstag. 120 Meter lang, 16 Meter breit ist der Tunnel, der der einzigen Zugang zum Gelände ist. Zahlreiche Berichte am Samstagabend gingen von einer Panik im Tunnel aus. Die Fernsehaufnahmen zeigen Verletzte, die im Tunnel liegen und behandelt werden. Allerdings bestreiten dies zahlreiche Zeugenaussagen, so zum Beispiel der YouTube-Nutzer „Finderding“: „Ich war wirklich da, im Tunnel, auf der Rampe. Es ist keiner im Tunnel gestorben, sondern vor der Treppe, vor dem Telekomplakat, was du in vielen Videos siehst." Andere sagen weiter aus, dass die Verletzten von den Sanitätern in den Tunnel gebracht wurden, da dort am meisten Platz war. Unklar ist auch, wann und ob die Polizei den Tunnel gesperrt hat. Ein Video belegt jedenfalls, dass ein Zugang abgesperrt wurde. Der Nutzer „CapriceMiss“ schreibt dazu: „Wie dumm muss man sein und den weg am tunnelende zu versperren und nicht gleich am eingang damit die massen sich erst net drinne verstauen..?!!“ Das aufschlussreichste Video dokumentiert fast das ganze Geschehen. Private Videoaufnahmen, die von einem Besucher auf knapp 10 Minuten geschnitten wurden, zeigen verzweifelte Besucher, die über die kleine Treppe flüchten, sich an Kabeln hochziehen und Flutlichtmasten besteigen. Auffällig ist, dass keine herunterfallenden Menschen zu sehen sind, die nach offiziellen Angaben als Auslöser der Panik gelten. Vielmehr ist zu sehen, wie sich das Gedränge auf Treppe und Baucontainer fokussiert. Die Besucher im Tunnel und unmittelbar vor dem Tunnel scheinen auf dem Video nicht panisch zu sein. Die Polizisten, die am oberen Ende der Treppe standen, müssen auch unmittelbar die Lage erkannt haben, waren sie doch direkt über dem Geschehen. Vermutlich zu einem etwas späteren Zeitpunkt sieht man einige Polizisten, die sich im Getümmel vor der Treppe aufreihen. „rkjorge70“, der das Video auf YouTube hochgeladen hat, kritisiert das langsame Reagieren der Sicherheitskräfte: „Bis die Helfer die Situation verstanden hatten und in entsprechender Menge zum Problemort vor gekommen waren vergingen locker 20-30 Minuten.“ Gegen 19 Uhr wird der nahe gelegene Hauptbahnhof wieder geöffnet. Menschenmassen warten darauf, nach Hause fahren zu können. Noch immer hat sich die Tragödie nicht bei allen Partygästen herumgesprochen, es wird bis zwei Uhr morgens dauern, bis die letzten Besucher das Gelände verlassen haben.
Dominik Schmidt
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100-Tage-Bilanz: Nicht immer ordentlich regiert - taz.de
100-Tage-Bilanz: Nicht immer ordentlich regiert An diesem Freitag ist der SPD-Senat seit 100 Tagen im Amt. Zeit für eine erste Bilanz seiner bisherigen Leistungen und, zum Beginn der großen Ferien, ein paar Noten. Nicht alle haben nach 100 Tagen so einen guten Eindruck gemacht wie hier beim SPD-Parteitag: Die Senatorenriege des Olaf Scholz (5. v. l.). Bild: dpa Jutta Blankau (SPD): Blass, blasser, Blankau - in ihren ersten 100 Tagen erwies sich die langjährige Gewerkschaftlerin im Amt der Umweltsenatorin als Fehlbesetzung. Sie demontierte schwarz-grüne Öko-Projekte, brachte die Naturschutzverbände gegen sich auf, setzte bislang aber keinen eigenen Akzent für die Umwelthauptstadt. Beim Thema Wohnen verzettelte sie sich erst in einer unfruchtbaren Diskussion über Wohnungsnot, bevor sie sich ihrem Hauptjob widmete: dem Wohnungsbau. Note: Mangelhaft. Frank Horch (parteilos): Der ehemalige Handelskammerpräses verkörpert den Typ des klassischen, ganz auf die Hafenwirtschaft fokussierten Wirtschaftssenators. Ob Elbvertiefung oder Straßenverkehr: Horch fiel hauptsächlich durch Ankündigungen auf. Bei City-Maut und Umweltzone musste er sich vom Bürgermeister zurückpfeifen lassen, auch andere Verkehrsprojekte wie die Stadtbahn, Kreisverkehre und Shared Space wurden beerdigt. So verdient sich der Senator des Stillstands noch gerade ein knappes Ausreichend. Barbara Kissler (parteilos): Die Kultursenatorin überzeugt durch souveränes, professionelles und engagiertes Auftreten - man traut ihr zu, die Stadt wieder in einen fruchtbaren Dialog mit der Kunst und ihren Protagoniosten zu bringen, die Kulturmetropole in ihrer Vielfalt und Strahlkraft zu stärken. Dass ihr Haushalt aufgestockt wurde, macht es ihr leichter. Trotzdem lautet das erste Fazit: Nicht nur ordendlich, sondern gut regiert. Michael Neumann (SPD): Der Innensenator balanciert zwischen Hardliner-Strategie und Liberalität - wie fast alle seine SPD-Amtsvorgänger. Er riegelte die halbe Stadt ab, um sich als Verhinderer größerer Mai-Krawalle im Schanzenviertel feiern zu lassen, schickte bei den Studentenprotesten erst Hundertschaften vor, um sie dann persönlich zurück zu pfeifen. Die Legalisierung von Bauwagenplätzen oder ein Abschiebestopp für Roma sind mit Neumann nicht zu machen, den Konflikt um die Rote Flora versucht er geräuschlos zu lösen. Mehr kann man von einem SPD-Innensenator nicht erwarten - befriedigend. Cornelia Prüfer-Storks (SPD): Kaum im Amt, musste die Gesundheitssenatorin schon die erste Großkrise namens Ehec meistern - und tat das unaufgeregt, kompetent und nahezu fehlerfrei. Die gelernte Journalistin und ehemalige AOK-Vorständlerin legte so gleich zu Beginn ihre Meisterprüfung ab und verdiente sich als 100-Tage-Note ein vollmundiges: gut. Ties Rabe (SPD): Lange hat kein Schulsenator einen so gemütlichen Start gehabt: Der Primarschul-Streit ist ausgefochten, die Strukturdebatte tot. Stattdessen muss er von Schwarz-Grün beschlossene Reformen umsetzen und Altlasten aufarbeiten. Rabe neigt zum Pragmatismus, wird kaum als großer Reformer in die Chronik eingehen. Entscheidungen wie die Wiedereinführung benoteter Diktate in der Grundschule zeigen, dass Rabe auch mal gegen wissenschaftlichen Rat aus dem Handgelenk entscheidet. Gesamtnote: befriedigend bis ausreichend - oder im Zeugnissprech: Das kannst du bestimmt noch besser, Ties! Detlef Scheele (SPD): Begann seine Amtszeit mit einem wahnwitzigen Zickzackkurs zum Thema Ein-Euro-Jobs, mit der er die Träger nachhaltig verunsicherte. Noch immer droht, dass der Sozialsenator sich als Totengräber sinnvoller Sozialprojekte profiliert. Konzepte sind hier nicht erkennbar. Zu zentralen Themen wie Einwanderung, soziale Integration und Spaltung ist von Scheele nichts zu vernehmen. Bislang: mangelhaft Jana Schiedek (SPD): Kein Traumstart: Die Justizsenatorin wurde erst von Olaf Scholz zurückgepfiffen, als sie sich zum Beamten-Weihnachtsgeld äußerte, bekam dann einen auf den Deckel, als sie bei einem Interview Fragen einfach strich. Außer einer passablen Bürgerschaftsrede hat man vom jüngsten Senatsmitglied bislang nur vernommen, dass die gerade erst eingerichtete "Arbeitsstelle Vielfalt" quasi aufgelöst wird. Zwischennote: knapp ausreichend. Dorothee Stapelfeld (SPD): Die Wissenschaftssenatorin erwischte einen miesen Start: In der Opposition hatte sie Sparpläne an den Hochschulen kritisiert, nun muss sie diese noch verschärfen. Es gelang ihr weder, im Senat genügend Mittel für die Hochschulen einzuwerben noch die Hochschulpräsidenten in einen konstruktiven Dialog einzubinden. Stattdessen hagelt es Proteste und Demos. Während der Ruf der SPD als Bildungspartei abschmiert, läuft ihr jetzt auch noch UKE-Chef Debatin davon. All das: völlig ungenügend. Peter Tschentscher (SPD): Visionär geht anders, aber als oberster Buchhalter und Sparkommisar hat Tschentscher sich in seinen ersten 100 Tagen als Finanzsenator einen soliden Ruf erworben. Seine statischen Haushaltsprognosen haben wenig mit kreativer Gestaltung zu tun, doch aufgrund unerwartet hoher Steuereinnahmen hat Tschentscher bei seinem Konsolidierungskurs immerhin eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Sein Auftritt ist hanseatisch-souverän, seine Leistung auch aufgrund der vorgefundenen Haushalts-Baustellen: befriedigend.
M. Carini
An diesem Freitag ist der SPD-Senat seit 100 Tagen im Amt. Zeit für eine erste Bilanz seiner bisherigen Leistungen und, zum Beginn der großen Ferien, ein paar Noten.
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Experiment EU-Armee in Südosteuropa - taz.de
Experiment EU-Armee in Südosteuropa Die Nato will ihre Kontingente in der Region reduzieren. Kann eine EU-Armee an ihrer statt den Frieden sichern? Auf 7.000 Mann wird die Nato ihr Kontingent in Bosnien und Herzegowina reduzieren. Das klingt vernünftig, ist es doch in den letzten Jahren gelungen, die Armeen der ehemaligen Kriegsparteien im Lande stark zu verkleinern. Mit der vom Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, Paddy Ashdown, durchgesetzten Armeereform werden die militärischen Formationen der Bosniaken (Muslime), Kroaten und Serben im Lande bis Jahresende unter ein einziges Oberkommando gebracht. Langfristig sollen die Armeen der einstigen Kriegsparteien zu einer einheitlichen Armee zusammenwachsen, die dann in die Nato integriert wird. Ausländische Friedenstruppen wären, liefe alles nach Plan, nicht mehr nötig. Doch so weit ist es noch nicht. Mit dem Anspruch der EU, nicht nur die eigenen Militärstrukturen zu stärken, sondern auch in Südosteuropa die militärische Verantwortung zu übernehmen und die Präsenz der Nato zurückzudrängen, ist ein neues Element in der sicherheitspolitischen Debatte aufgetaucht. Wie schon in Mazedonien soll nach Plänen aus Brüssel bis Ende 2004 die EU-Armee in Bosnien die Nato ablösen. Was mit den US-Kontingenten passiert, ist noch nicht ausgemacht. Zwar haben angesichts anderer Brennpunkte in der Welt die USA ein Interesse daran, ihr Personal auf dem Balkan zu reduzieren, als politisch-militärischer Faktor möchte Washington jedoch nicht von der Landkarte dieser Region verschwinden. Der Anspruch der EU und die Interessen der USA können angesichts dieser Konstellation kollidieren. In der Vergangenheit drängte Frankreich darauf, den Oberbefehl über die Nato Europa-Süd mit der Kommandozentrale in Neapel von den USA zu übernehmen. Über den Umweg EU-Armee könnte dies gelingen. Wenn aber USA und EU in Südosteuropa in Konflikt geraten, könnte der Friedensprozess in der Region insgesamt einen Rückschlag erleiden. Der Westen ist nur einig stark, das lehrte der Bosnienkrieg. Für die Öffentlichkeiten in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo, auch Mazedonien verfügen die USA und die Nato über beträchtliche Autorität, während die Rolle Frankreichs und Großbritanniens in den Balkankriegen der 90er-Jahre kritisch gesehen wird. Es ist also fraglich, welche sicherheitspolitischen Vorteile eine EU-Armee gegenüber der Nato in Bosnien und im Kosovo brächte. In Mazedonien ist zu lernen, dass das Kontingent der EU bisher nur durch die Unterstützung der Nato ihre Rolle ausfüllen kann. Sollte es wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen, würde die Nato eingreifen müssen. Die Autorität der EU-Armee ist nicht besonders hoch. In Sarajevo fordert die Öffentlichkeit die USA auf, im Lande zu bleiben. Nach dem Rechtsruck in Kroatien und der zu erwartenden Niederlage der Reformkräfte in Serbien könnten nationalistische Kräfte wieder gestärkt werden. Die Präsenz der Nato kann sie im Zaume halten. Eine EU-Armee jedoch produziert Unsicherheit. In Brüssel sollte man ernsthaft prüfen, ob das Experiment EU-Armee unbedingt auf dem Rücken der leidgeprüften Bevölkerung der Region durchgesetzt werden muss. ERICH RATHFELDER
ERICH RATHFELDER
Die Nato will ihre Kontingente in der Region reduzieren. Kann eine EU-Armee an ihrer statt den Frieden sichern?
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Datenklau bei der EZB: Hacker erpressen Zentralbank - taz.de
Datenklau bei der EZB: Hacker erpressen Zentralbank Die Europäische Zentralbank ist Ziel eines Hacker-Angriffs geworden: Unbekannte haben Tausende Kontaktdaten geklaut. Nun verlangen sie Geld. Den Tätern fielen rund 20.000 E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Post-Anschriften in die Hände. Bild: dpa FRANKFURT/MAIN dpa | Hacker haben bei der Europäischen Zentralbank (EZB) Tausende Kontaktdaten geklaut und dann von der Notenbank Geld gefordert. Über ein Leck auf der EZB-Internetseite verschafften sich die Unbekannten vor allem E-Mail-Adressen von Journalisten und Seminarteilnehmern, wie die Währungshüter am Donnerstag mitteilten. Die EZB versicherte, interne Systeme oder sensible Marktdaten seien nicht betroffen gewesen. Nach Angaben einer EZB-Sprecherin in Frankfurt fielen den Tätern etwa 20.000 E-Mail-Adressen sowie in einigen Fällen Telefonnummern oder Post-Anschriften in die Hände. Der Datendiebstahl sei am späten Montagabend aufgefallen, als eine anonyme E-Mail die Zentralbank erreichte. Deren Absender habe Geld für die gestohlenen Daten verlangt. Wer hinter dem Hacker-Angriff steckt, war zunächst unklar. Die Polizei nahm nach EZB-Angaben Ermittlungen auf. Die Frankfurter Polizei wollte sich am Donnerstag auf Anfrage nicht äußern. Die EZB selbst informierte potenziell ausgespähte Nutzer ihres Webangebots und setzte sämtliche Passwörter sicherheitshalber zurück. Außerdem habe man Schritte unternommen, um zu verhindern, dass sich ein solcher Vorfall wiederhole, heißt es in einer E-Mail der EZB an betroffene Nutzer. Bei den entwendeten Daten handelt es sich den Angaben zufolge vor allem um Kontaktdaten von Personen, die sich für Veranstaltungen wie Konferenzen oder zu Besuchen bei der Notenbank angemeldet haben. Die geknackte Datenbank arbeite getrennt von den internen EZB-Systemen. Ihr Inhalt sei zu großen Teilen verschlüsselt gewesen, einige Daten allerdings nicht – etwa E-Mail-Adressen, Post-Anschriften und Telefonnummern, teilte die EZB mit. In den vergangenen Monaten hatte es im Internet immer wieder Datendiebstähle gegeben, bei denen zum Teil Millionen E-Mail-Adressen und andere Daten entwendet wurden. So waren im Frühjahr bei Ermittlungen 18 Millionen E-Mail-Adressen samt Passwort entdeckt worden.
taz. die tageszeitung
Die Europäische Zentralbank ist Ziel eines Hacker-Angriffs geworden: Unbekannte haben Tausende Kontaktdaten geklaut. Nun verlangen sie Geld.
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In der wilden Westtürkei - taz.de
In der wilden Westtürkei Nicht nur Badeurlaub, sondern vor allem Wandermöglichkeiten in Natur pur bietet die Region zwischen Bafasee und Latmosgebirge. Zum Beispiel im Davutlar-Nationalpark an der Südseite der Dilek-Halbinsel mit seinem Canyon VON DIRK ENGELHARDT Leichter Nebelhauch überzieht vom Süden her den Bafasee. Die Sonne taucht die schroffen Felsen des Latmosgebirges am Westufer in warmes Goldbraun. Kein Anzeichen von Zivilisation trübt den Blick über die Weite der fast spiegelglatten dunkelblauen Seehaut. Fast wirkt es so, als ob jemand ein ruhiges Gebirgstal am Vortag zur Hälfte mit Wasser aufgefüllt hätte. Auf einer Insel im See entdecke ich Ruinen, eine alte Burganlage, die den Eindruck der Unwirklichkeit verstärkt. Die „Truman Show“ hätte hier ein ideales Setting gefunden. Der Bafasee im Hinterland des lärmigen, kosmopolitischen Bodrum wird von Reiseführern gern als „leicht brackig“ bezeichnet. Vielleicht deshalb ist die Gegend von Touristen weitgehend verschont geblieben. Der 25 Kilometer lange See hat die Ausmaße des Genfer Sees und ist Natur pur. Einzig eine Öko-Ferienclubanlage, deren restaurierte kleine Bauernkaten sich an den Olivenhang schmiegen, bietet Touristen Unterschlupf. Im Schaukasten (der übrigens vorher ein Kühlschrank war, wie mir die türkische Clubchefin, Frau Koch, später erklärt), lese ich: „Die Ferienclubanlage ohne Animation“. Und dieser kurze Satz gibt die Atmosphäre des Club-Dorfes am besten wieder. Es ist ruhig hier. Ein Stückchen weiter an der Seeuferstraße weist ein rostiges Schild zum Hotel „Turgut“. Der dreistöckige Bau wurde ohne Baugenehmigung errichtet, deshalb untersagten die Behörden kurz daraufhin den Betrieb. Der klobige Betonkasten wurde vor kurzem wieder abgerissen. Die Region um den See, der einst als Fjord Verbindung zum Mittelmeer hatte, war von Karern, Persern, Ptolemäern, Seleukiden, Makedoniern, Pergamesen und Römern besiedelt. Zahlreiche Ruinen, Befestigungsmauern und Burganlagen, verstreut in Pinienwäldchen und Olivenhainen, sind Zeugen dieser Zeit. Erst im 12. Jahrhundert drangen die islamisch-türkischen Seldschuken in das Gebiet ein und errichteten erste Moscheen. Vom Dörfchen Iassos am Ostufer des Sees startet meine Wandertour ins Latmosgebirge. Erdal, der Bergführer vom Club Natura Oliva, will mir das Kloster der sieben Brüder zeigen, das sich sieben Kilometer bergaufwärts in einem Felsental versteckt. Unterwegs bieten sich tolle Ausblicke auf die urwüchsige Landschaft mit ihren verstreuten Felsbrocken aus Granit, Glimmerschiefer und Gneis. Sie machen den Eindruck, als ob ein Riese in einer Mußestunde vom Berggipfel Weitwurf geübt hätte. Tief unten liegt der blaue Bafasee, bis auf entferntes Vogelgezwitscher ist es vollkommen still. Erdal erzählt von den sieben Mönchen, die die gewaltige Klosteranlage gründeten. Sie kamen im 9. Jahrhundert von der Sinai-Halbinsel, und wegen der zunehmenden Verbreitung des Islam fanden sie Zuflucht beim Bischof von Herakleia. Die Außenmauern der Burganlage mit Zinnen und Türmen sind noch zu erkennen. Ein wenig abseits befindet sich eine kleine Einsiedlerhöhle, die mit Heiligengemälden und einem Bild von Jesus am Kreuz farbenprächtig ausgeschmückt ist. Nur die Köpfe sind allesamt ausradiert – Muslime dulden keine Abbildungen von Heiligen. In einer Höhle dieser Art hat der Sage nach die Mondgöttin Selene ihren Geliebten, den schönen Hirtenknaben Endymion, in ewigen Schlaf versetzt, damit er nicht altern könne. Im Tal pflücken Tagelöhner die Baumwolle per Hand. Überall im Tal erstrecken sich Baumwollfelder. Hundert Kilogramm handgeernteter Baumwolle bringen ungefähr 35 Euro, und eine gute Tagelöhnerin verdient etwa 400 Euro, für die Türkei ein akzeptabler Monatslohn. Die Baumwollpflückerinnen wohnen direkt an den Baumwollfeldern in brüchigen Plastikzelten, bis die Ernte vorbei ist. Aus großen Kochtöpfen, die auf offenem Holzfeuer stehen, dampft es – ganze Familien werden hier unter freiem Himmel, nach harter Arbeit, verköstigt. An der Landstraße nach Milas machen wir auf dem Rückweg einen Abstecher zum Euromos-Tempel, der wie viele antike Schätze noch in wesentlichen Teilen erhalten ist. Genau wie im Apollon-Tempel von Didima, der größten Tempelanlage an der Westküste, befand sich auch hier ein Orakel. Die dorischen Säulen des Tempels ragen in den violett gefärbten Himmel. Die Abendsonne taucht die Szenerie in warmes, rötliches Licht. Am nächsten Tag fühle ich mich in eine andere Welt versetzt. Erdal verspricht mir „die schönste Tour“, und abends weiß ich, dass er nicht gelogen hat. Er fährt mit mir in den Davutlar-Nationalpark an der Südseite der Dilek-Halbinsel mit seinem Canyon. Die Fahrt mit dem Dolmus führt über sanft geschwungene Olivenhaine, die durch hohe Zypressenreihen geteilt werden. Die Wanderung ist diesmal vergleichsweise bequem – ein breiter Kiesweg schlängelt sich 17 Kilometer, vom Sandstrand beginnend, den Canyon hinauf. Auf halbem Weg, bei einer Rast an einer kühlen Quelle, bietet sich ein großartiges Panorama auf die Insel Samos. Erdal müsste für sie allerdings ein Visum beantragen, denn sie gehört zu Griechenland. Auf dem Rückweg wird ein auffallend gepflegter Mischlingshund zu unserem Begleiter, er folgt uns den ganzen Rückweg, bis wir am Strand des Naturparks ankommen. Die braun gefärbten Wellen haben kleine Schaumkronen, die Badesaison hat noch nicht begonnen. Vom Ende des Kieselstrands weht ein appetitanregender Duft nach gegrilltem Fisch herüber. Auch wenn es von außen nicht so aussieht, zeigt sich in der kleinen Taverne die türkische Küche von ihrer besten Seite. Als Erstes kommt die Lamm-Kuttelfleck-Suppe, eine türkische Nationalspeise. Draußen am Grill brät Yussuf, der Chef, unterdessen höchstpersönlich fangfrische, kleine Seebarben, in Mehl gewendet, in einer Pfanne mit siedendem Öl. Dazu gibt es eingelegte Zucchini in Joghurtsauce, Reis und Salat mit Tomaten, Zwiebeln und Schafskäse. Abseits der Touristenzentren an der Küste ist das Angebot an Restaurants zwar knapper, die Kost dafür wesentlich schmackhafter.
DIRK ENGELHARDT
Nicht nur Badeurlaub, sondern vor allem Wandermöglichkeiten in Natur pur bietet die Region zwischen Bafasee und Latmosgebirge. Zum Beispiel im Davutlar-Nationalpark an der Südseite der Dilek-Halbinsel mit seinem Canyon
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Nachhaltigkeit beim Bauen: Angst vor den Betonmonstern - taz.de
Nachhaltigkeit beim Bauen: Angst vor den Betonmonstern Abriss und Neubau verbraucht mehr Energie als Umbau. Trotzdem wird die Betonarchitektur der 1970er Jahre oft abgerissen. Sie ist doch eigentlich nett, vor allem ihr Name: Die „Laubfroschoper“ soll abgerissen werden Foto: Klaus Englert Nach der leichten Architektur der 1950er kam die schwere der 1970er. Doch ihre Betonbauten, zumeist öffentliche wie Rathäuser oder Stadthallen, behagen nicht jedem. In der Bundesrepublik nimmt der Abriss solcher Gebäude unvermindert zu, obwohl viele unter Denkmalschutz stehen und ihre Schleifung ökologisch eine Untat ist. Erst kürzlich forderte eine breit unterstützte Initiative von Bauministerin Klara Geywitz ein Abrissmoratorium für Bestandsbauten. Offenbar machen sich Bürgermeister und Stadträte aber keine Gedanken über die ökologischen Folgelasten von Abriss und Neubau. So war es im westfälischen Ahlen, wo der Stadtrat letztes Jahr das Ende des Rathauses von Brigitte und Christoph Parade aus den 1970er Jahren zugunsten eines kostspieligen Neubaus beschloss. Und auch in Mettmann bei Düsseldorf hat der Stadtrat das Totenglöcklein für eine denkmalgeschützte Stadthalle geläutet. Er folgt damit bereitwillig dem Willen der Stadtverwaltung. Sie will die von Wolfgang Rathke entworfene, wegen ihrer Farbgebung gern auch „Laubfroschoper“ genannte Mehrzweckhalle mit einst Restaurant, Stadtbücherei oder Festsaal unbedingt loswerden. Der Fall ist typisch für viele Städte. Dabei verlangt nicht nur der Koalitionsvertrag der Bundesregierung und der Green Deal der EU-Kommission eine „Kreislaufwirtschaft im Gebäudebereich“. „Gegen die Wegwerfkultur im Bauen“ fordern auch unisono – in Frankfurt und Basel – das Deutsche und Schweizer Architekturmuseum. Im bergischen Mettmann werden nun Stimmen gegen den leichtfertigen Abriss der Stadthalle von 1980 laut. Prominente Architekten wie Christoph Ingenhoven und Werner Sobek führen an, dass gegenüber dem investorengetriebenen Abriss- und Neubauwahn allein eine Kultur des Pflegens und Reparierens hilft. Doch die Stadtverwaltung folgt lieber dem Gutachten einer Karlsruher Beratungsgesellschaft, das einseitig auf Immobilieninvestoren setzt. Investoren mischen mit Den Abwehrreflex von Verwaltung und Stadtrat in Mettmann sieht man auch in anderen Kommunen, wenn es um die „lästigen“ Betonarchitekturen aus den 1970er und 1980er Jahren geht. Denkmalschutz gilt gemeinhin als störend. Mit Verweis auf klamme Stadtkassen überträgt man gerne privaten Investoren das Recht, die Stadt nach ihrem Bild zu formen, als hätte eine glatte Investorenarchitektur nicht bis heute schon ganze Stadtlandschaften verschandelt. Dabei wird zumeist übersehen, dass selbst ein klimaneutraler Neubau wenig Sinn ergibt, wenn Abriss und Neubau klimaschädliche Treibhausgase erzeugen. Und viele Mandatsträger, die sich in der Hoffnung wiegen, der Bauschutt werde recycelt, blenden aus, dass nur 7 Prozent davon im Neubau wiederverwendet werden. Desinteresse und mangelnder Sachverstand sind notorisch. Vorbilder für eine Umnutzung auch schwieriger Altbauten gibt es. Die „Kohlenwäsche“ der Zeche Zollverein wurde von Rem Koolhaas’ Büro OMA zum Museum, das Getreidesilo in Düsseldorf von ingenhoven associates zu einem Loftbau umgewandelt. Die Sperrigkeit ihrer Architektur ist bei diesen kein ästhetisches Hindernis, sondern Bestandteil eines diversen Stadtbilds. Klaus EnglertDer Autor Klaus Englert ist Initiator eines offenen Briefs gegen den Abriss der Neandertalhalle in Mettmann (openpetition.de). Mit intelligenter Umnutzung der ungeliebten Betonarchitektur würden sich in Mettmann und anderswo ungeahnte Raumpotenziale erschließen. Dafür ließe sich auch jenseits prominenter Namen wie Ingenhoven und Koolhaas der große Pool junger Architekten anzapfen, die gerade zu Experten im Umbau von Bestandsarchitektur ausgebildet werden. Möglich wäre dann ein wirklich nachhaltiges Bauen. Stattdessen werden Ressourcen und kreative architektonische Fantasie vergeudet.
Klaus Englert
Abriss und Neubau verbraucht mehr Energie als Umbau. Trotzdem wird die Betonarchitektur der 1970er Jahre oft abgerissen.
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Aufnahme-Rituale bei Bundeswehr: Jukebox und Rotarsch - taz.de
Aufnahme-Rituale bei Bundeswehr: Jukebox und Rotarsch Die Rituale bei den Gebirgsjägern sind kein Einzelfall, belegen 23 Zuschriften von Exrekruten an den Bundeswehrbeauftragten Robbe. Diese nehmen an, dass die Vorgesetzten von den Exzessen wussten. Grosser Zapfenstreich zum 50. Jubiläum der Gebirgsjäger im Skistadion von Garmisch-Partenkirchen, Juli 2006. Bild: ap BERLIN dpa | Die Affäre um ekelerregende Aufnahme-Rituale bei der Bundeswehr weitet sich aus. Der Bundestags-Wehrbeauftragte Reinhold Robbe legte den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses am Montag eine Sammlung von 23 Zuschriften vor, in denen Reservisten über Exzesse bei der Bundeswehr in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten berichten. Die Schreiben deuten darauf hin, dass die Rituale der Gebirgsjäger im bayerischen Mittenwald kein Einzelfall waren. In zwei E-Mails wird über ähnliche Vorgänge im Gebirgsjägerbataillon in Bischofswiesen-Strub berichtet. Zudem enthält die Sammlung Schilderungen über Rituale und Exzesse in anderen Teilen der Bundeswehr, beispielsweise bei der Marine. Robbe wird voraussichtlich an diesem Mittwoch vor dem Verteidigungsausschuss zu den neuen Erkenntnissen Stellung nehmen. Zuvor wolle er in der Öffentlichkeit keinen Kommentar dazu abgeben, sagte er. "Selbstverständlich müssen alle zusätzlich eingegangenen Hinweise überprüft werden." Erst dann könne eine Bewertung vorgenommen werden. Der Wehrbeauftragte hatte den Verteidigungsausschuss Mitte Februar über die Aufnahmerituale bei den Gebirgsjägern in Mittenwald informiert. Dort mussten Neulinge den "Fuxtest" über sich ergehen lassen, zu dem das Essen roher Schweineleber und Alkoholkonsum bis zum Erbrechen gehört. Die Enthüllung hatte für großes Aufsehen gesorgt und zu staatsanwaltlichen Ermittlungen geführt. Zwei E-Mails, die Robbe jetzt an die Abgeordneten übermittelte, handeln von ähnlichen Ritualen in Bischofswiesen-Strub, nur wenige Kilometer von Mittenwald entfernt. Die Absender geben an, 1993/94 und 2003/2004 ihren Wehrdienst bei den dortigen Gebirgsjägern geleistet zu haben. "Es werden ein paar Bier um die Wette getrunken, man muss um die Wette unter Stühlen durchrobben, zwischendurch erneut ein paar Bier trinken. Und muss aus einer ekligen Suppe (Stichwort: Rohe Leber) was trinken", heißt es in einer Mail. In der anderen wird erwähnt, dass es die Rituale "bis vor einiger Zeit" auch in Reichenhall gegeben habe. In beiden Schreiben ist die Rede davon, dass die Vorgesetzten von den Ritualen wussten: "Bezogen auf die Dienstgrade muss ich sagen, dass ich davon ausgehe, dass so gut wie jeder Unteroffizier und Feldwebel, der eine Weile dabei ist, weiß was passiert und auch in welchem Umfang", schreibt einer. In dem anderen Schreiben heißt es: "Zu meiner Zeit hatte nahezu jeder Soldat, der in einem der Gebirgsjägerbataillone Dienst tat, zumindest andeutungsweise von den Dingen gehört, nicht nur die Hochzügler." Mehrere weitere Schreiben befassen sich mit Alkoholexzessen und Ritualen in anderen Einheiten. "In meinen Dienstjahren war ich in 3 Einheiten und musste feststellen, dass man als Antialkoholiker in der Truppe einen schweren Stand hat", heißt es in einem Schreiben unter der Überschrift "Mittenwald ist nur die Spitze des Eisbergs". "Bei sogenannten Veranstaltungen geselliger Art ist das Trinken von Alkohol praktisch befohlen, ohne dass dies jemand ausspricht." Ein ehemaliger Obergefreiter, der zwischen 1996 und 1998 als Zeitsoldat an verschiedenen Standorten im Süden Deutschlands eingesetzt war, berichtet aus seiner Zeit im baden-württembergischen Ellwangen (Jagst) über verschiedene "Spiele". Beim Spiel "Jukebox" werde ein Soldat in seinen Spind eingeschlossen und darin dann umgestoßen, während er bestimmte Lieder singen müsse. Ein anderer Soldat, der vor 20 Jahren auf einem Marine-Zerstörer eingesetzt war, berichtet vom sogenannten "Rotarsch-Ritual": "Eine Bohnermaschine (eine mobile Maschine mit einer großen elektrisch betriebenen Borstenscheibe) wurde in Betrieb gesetzt und dem Rekruten an den nackten Hintern gehalten, bis dass dieser rot war." Robbe teilte den Abgeordneten mit, dass er insgesamt 54 Zuschriften zu dem Fall Mittenwald erhalten habe. Drei Einsender habe er um Konkretisierungen gebeten. Dabei handelt es sich nach Angaben des Wehrbeauftragten um die Schreiben, die sich mit den Vorgängen bei den Gebirgsjägern befassen. Die Textsammlung ließ Robbe auch dem Heeresführungskommando und dem Verteidigungsministerium zukommen.
taz. die tageszeitung
Die Rituale bei den Gebirgsjägern sind kein Einzelfall, belegen 23 Zuschriften von Exrekruten an den Bundeswehrbeauftragten Robbe. Diese nehmen an, dass die Vorgesetzten von den Exzessen wussten.
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Verdeckte Apartheid - taz.de
Verdeckte Apartheid Eine neue Studie schockt Brasilien – Schwarze leben deutlich schlechter als die Weißen  ■ Aus Rio de Janeiro Patricia Sholl In der Hauptstadt Brasilia plappert alles von Aufschwung und Kaufkraftzuwachs; deutsche Firmen bringen in Brasilien, der neuntgrößten Wirtschaftsnation, bereits 15 Prozent der Industrieproduktion. Doch irgendwie hat die dunkelhäutige Bevölkerungshälfte der 150 Millionen Brasilianer nicht viel davon, wie eine neue Studie zeigt. Die von Wissenschaftlern des Sozialforschungsinstituts FASE erstellte Untersuchung betont, daß Brasilien gemäß dem UNO-Index über menschliche Entwicklung auf dem 63. Platz rangiert – die über 70 Millionen Dunkelhäutigen befänden sich nach den UNO-Kriterien indessen nur an 120. Stelle, zusammen mit Lesotho und Simbabwe. Um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, wieder nur Trübe-Pessimistisches verbreiten zu wollen, nutzte FASE durchweg nur offizielle brasilianische Angaben. Danach liegt die Lebenserwartung aller Brasilianer durchschnittlich bei 65 Jahren, die der dunkelhäutigen aber nur bei 59. Von diesen sind außerdem über ein Drittel Analphabeten, was nur auf 15 Prozent der Hellhäutigen zutrifft. In nichtoffiziellen Untersuchungen werden weit krassere Gegensätze benannt.In Brasilien sind derzeit nicht nur die meisten Grundnahrungsmittel teurer als in Deutschland – Schwarze als typische Slumbewohner sind indessen die klassischen Empfänger des Mindestlohns von umgerechnet nur etwa 170 Mark, Supermarkt- Kassiererinnen Rios, die außer sonntags jeweils zwölf Stunden Preise eintippen, kriegen maximal zwei Mindestlöhne und sind fast durchweg dunkelhäutig. Ein perfides System von Diskriminierungen, die sogenannte verdeckte Apartheid, sorgt dafür, daß nur eine verschwindende Minderheit von Negros oder Mulatos den Aufstieg in die Mittelschicht schafft. Daher rührt ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst im Spielverhalten der Kinder äußert: 1995 wird erstmals eine schwarze Puppe namens Lola auf den Markt gebracht – entgegen den Erwartungen wird sie ein Flop, der Hersteller stoppt die Produktion. Die weiße Version der Puppe verkauft sich dagegen nach wie vor sehr gut. Eine Spielzeugverkäuferin fragte ein weißes Mädchen, warum es die schwarze Lola will, und bekam zur Antwort: „Ich habe schon einen Haufen weißer Puppen, die wird jetzt deren Hausdienerin.“ Das Beispiel ist direkt noch harmlos – andere schmerzen mehr. In Südbrasilien verklagt ein dunkelhäutiges Ehepaar Ärzte, die vor sieben Jahren bei der künstlichen Befruchtung offenbar Samen eines Weißen anstatt wie ausdrücklich erbeten eines Schwarzen verwendet hatten. Wegen der Existenz des inzwischen sechsjährigen, völlig weißen und glatthaarigen Sohnes werden die Eltern in der Öffentlichkeit diskriminiert und verspottet. Beide wechselten deshalb zwölfmal die Wohnung, die Mutter unternahm einen Selbstmordversuch. Dürfte man in Deutschland problemlos von der Bühne heruntersingen, daß Schwarze stinken? In Brasilien geht das. Sony produzierte 1996 eine sehr erfolgreiche CD des Komponisten und Sängers Tiririca, auf der in einem Lied eine schwarze Frau als häßlich, dreckig und stinkend bezeichnet wird – was auf übelste Weise existierende Vorurteile gegen die Sklavennachfahren verstärkt. Sony gegen Verbot rassistischer CD Weiße Kinder ärgerten mit dem Lied schwarze in den Vorschulen, auch dunkelhäutige Frauen wurden damit beleidigt, genervt, bis schließlich eine Richterin ein Verkaufsverbot verhängte, Sony-Manager und Tiririca wegen rassistischer Praktiken anklagte. Weder Sony noch die Funkmedien hielten sich indessen ans Verbot, die CD wurde nun erst recht massenhaft verkauft. Sony: „Die Ausdrucksfreiheit unserer Künstler ist unantastbar.“ Die auch in Deutschland sehr bekannten Gruppen Olodum und Ilê-Âye sahen das anders, protestierten. Billy Arquimine von Olodum: „Im Ausland sagen sie, daß es in Brasilien keine rassistischen Vorurteile mehr gibt, aber das stimmt nicht. Wir werden das wahre Gesicht Brasiliens zeigen.“ Inzwischen ist die Tiririca-CD vergriffen, Schwarzpressungen kriegt man aber fast noch überall. Auch der dunkelhäutige Popstar Djavan spielt oft in Deutschland: „Wenn du berühmt wirst, verlierst du sozusagen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen, sie beginnen nur, dich zuzulassen.“ Wer wie Djavan den sozialen Aufstieg schafft, hat dennoch im Alltag Ärger fast ohne Ende: Eine erfolgreiche schwarze Schauspielerin wird in Rio auf der Straße immer wieder von weißen Madames gefragt, ob sie nicht als Hausdienerin anfangen wolle – sie sehe so gut und gesund aus. Rios schwarzer Sänger Dicaor wurde mehrmals von der Polizei „geschnappt, als ich meinen eigenen Wagen klauen wollte“. Sicherheitsbeamte wollten ihn schon einmal zu seiner eigenen Show nicht auf die Bühne lassen. Schwarze Fußballstars verdienen auch im Ausland Millionen, fahren natürlich dann dicke Importwagen. Oleudo Ribeiro, ein Pelé-Nachfolger, wird mit Blaulicht in seinem Ford-Jeep gestoppt, den Revolver am Kopf, gründlich durchsucht: „Mein tiefentsetzter Sohn wollte danach wissen, ob diese Männer Banditen waren – schwierig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.“ Der Sohn des dunkelhäutigen Ökonomen Euvaldo Ferreira hat einen General-Motors-Vectra, wird deshalb immer wieder von Militärpolizisten gestoppt. Ein Polizist sagt: „Der Crioulo, der einen Vectra fährt, muß immer anhalten.“ Crioulo heißt in Brasilien ungefähr soviel wie Nigger.
Patrica Sholl
Eine neue Studie schockt Brasilien – Schwarze leben deutlich schlechter als die Weißen  ■ Aus Rio de Janeiro Patricia Sholl
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Aus Handels- wird Währungskrieg - taz.de
Aus Handels- wird Währungskrieg Im Streit mit den USA wertet China seine Währung ab. Betroffen sind davon allerdings auch andere Länder Von Felix Lee Eigentlich wollte die chinesische Führung sich nicht mehr dem Vorwurf der Währungsmanipulation aussetzen und ihre Landeswährung nach Belieben abwerten. Viele Jahre lang war das für sie zum Vorteil der Exportwirtschaft gang und gäbe. Doch China wollte ein verlässlicher Partner werden und hat den Yuan-Kurs in den letzten Jahren schrittweise stärker vom Markt bestimmen lassen. Doch in dem seit nunmehr anderthalb Jahren andauernden Handelskrieg mit den USA geht China die Munition aus. Anfangs konnte die Führung in Peking auf Strafzölle der USA stets mit Gegenzöllen auf US-Importe in ähnlichem Umfang kontern. Doch China importiert eben nicht so viel aus den Vereinigten Staaten wie umgekehrt. Nachdem US-Präsident Donald Trump vergangene Woche weitere Strafzölle ankündigte, rächt sich Peking nun. Und zwar mit einer Abwertung des Yuan. Zum ersten Mal seit elf Jahren kostete der US-Dollar am Montag wieder mehr als 7 Yuan. Auch im Vergleich zu anderen Währungen wie dem Euro oder dem japanischen Yen gab der Yuan deutlich nach. Anders als frei konvertierbare Währungen wie Dollar, Euro oder Yen bewegt sich die chinesische Währung nicht komplett frei nach Marktkräften. Bis 2005 war der Vorwurf auch noch berechtigt, dass China seine Währung künstlich niedrig hält, um auf diese Weise seine Waren auf dem Weltmarkt besser verkaufen zu können. Seither hat China den Yuan aber immer weiter freigegeben. Zuletzt hatte die chinesische Notenbank jeden Tag einen Referenzkurs festgelegt, der zum Dollar maximal um 2 Prozent nach oben oder unten schwankt. Zudem wurde die Festsetzung des Wechselkurses an einen Währungskorb gebunden, den die Führung ebenfalls sukzessive erweiterte. Der Wert des Yuan war in den letzten Jahren also weitgehend marktgesteuert. Die Abwertung des Yuan begründet die chinesische Notenbank mit „protektionistischen Tendenzen“ und meint damit den Handelskrieg. Als weitere Maßnahme gegen Trump hat die Regierung in Peking chinesische Unternehmen zudem angewiesen, keine Agrargüter mehr aus den USA einzuführen. Dabei hatten sich erst vergangene Woche die Unterhändler beider Seiten in Schanghai getroffen. Um den Konflikt zu entschärfen, hatte China zugesagt, die Agrarimporte aus den USA zu erhöhen. Dieses Angebot ist nun offenbar vom Tisch. Leidtragende eines schwächeren Yuans sind aber nicht nur die USA. Auch die europäische Exportindustrie ist von einer Abwertung der chinesischen Währung betroffen. Deutsche Produkte etwa, die sich in China großer Beliebtheit erfreuen, werden für die chinesischen Abnehmer nun ebenfalls entsprechend teurer.
Felix Lee
Im Streit mit den USA wertet China seine Währung ab. Betroffen sind davon allerdings auch andere Länder
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Das Wahlkampfeisen - taz.de
Das Wahlkampfeisen Gemeinsam, getrennt, mit oder ohne Gebühren? In Niedersachsen dreht sich die bildungspolitische Debatte um Schulsystem und Studiengebühren VON CLAAS GIESELMANN Viele umstrittene Themen gibt es im niedersächsischen Wahlkampf nicht. Doch eine Diskussion ebbt nicht ab: Welches Schulsystem ist das richtige? CDU und FDP vertrauen auf Altbewährtes, SPD und Grüne setzen auf Reformen – und fordern gleichzeitig die komplette Rücknahme des Errichtungsverbotes für Gesamtschulen, das Kultusminister Bernd Busemann (CDU) eingeführt hatte. Immerhin kündigte Ministerpräsident Christian Wulff (auch CDU) an, bei entsprechender Nachfrage von Eltern wieder neue Gesamtschulen zulassen zu wollen. Die Sozialdemokraten sprechen allerdings von einem reinen „Lippenbekenntnis“ der Regierung. Die Eltern der Schülern würden sich schließlich am vorhandenen Schulangebot orientieren. Und für die Grünen ist diese Äußerung Wulffs lediglich „ein Spiel auf Zeit“. Im ideologisch geführten Streit die Steilvorlage für das heiße Wahlkampfeisen: Eine Hildesheimer Gesamtschule gewann jüngst den Deutschen Schulpreis. Abschaffung der Orientierungsstufe, eigenverantwortliche Schule, Schul-TÜV, Abitur nach zwölf Jahren, Umwandlung in Ganztagsschulen: Eltern und Schülern haben in den vergangenen fünf Jahren unter einer Flut von Erlassen gestöhnt. Selbst in der eigenen Partei stießen Busemanns Umkrempeleien zum Schluss nicht mehr nur auf Gegenliebe. Bei der Systemfrage wollen CDU und FDP aber weiter am Status quo festhalten: Die dreigleisige Gliederung in Haupt-, Realschule und Gymnasium müsse bleiben. Die von SPD wie Grünen geforderte „Einheitsschule“ bedeute wegen sinkender Schülerzahlen das „Aus für Hunderte von Schulstandorten“, sagt Minister Busemann. Ausgerechnet er will jetzt „Ruhe in der Schulstrukturdebatte“. Die CDU will die von den Eltern massenweise abgewählte Hauptschule durch zusätzliche Förderstunden retten, mehr Ganztagsschulen bauen und das Ganztagsangebot auf alle allgemein bildenden Schulformen ausweiten. 550 Schulen mit Ganztagsangebot gibt es bereits im Land. Die FDP ist nicht nur aus finanziellen Gründen gegen Integrierte Gesamtschulen: „Die Schwächsten gehen dort kaputt, weil sie 15-mal am Tag erfahren, wie schwach sie sind“, sagt Schulexperte Hans-Werner Schwarz. Die Opposition setzt dagegen auf eine neunjährige gemeinsame Schule, die das dreigleisige System ablösen soll. Während die Grünen planen, diese verbindlich einzuführen, machen die Sozialdemokraten das von der Akzeptanz der betroffenen Eltern in den einzelnen Regionen abhängig. Als Sofortmaßnahme planen beide Parteien, das „Errichtungsverbot“ für Gesamtschulen komplett aufzuheben. Geht es nach den Vorstellungen der Linken, würden die Gesamtschulen sogar zur alleinigen Regelschule in Niedersachsen werden, verbunden mit maximalen Klassengrößen von 20 Schülern und einer Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit. Diese fordert auch die Opposition im Landtag, die Grünen allerdings nur für die Kinder von Sozialhilfe- und ALG II-Beziehern. Das zweite große bildungspolitische Thema in Niedersachsen sind die Hochschulen. Auch hier hat sich die CDU-Position verändert: Vor fünf Jahren ging die CDU mit einem Nein zu Studiengebühren in den Wahlkampf, im Herbst 2006 war Niedersachsen eines der Bundesländer, das die „Uni-Maut“ einführte. Nun will die CDU die Autonomie der niedersächsischen Hochschulen stärken und Förder- und Stipendiatenprogramme ausbauen. SPD, Grüne und Linke dagegen wollen die Möglichkeiten des Hochschulzugangs ohne Abitur verbessern. Hauptangriffspunkt der Opposition waren jedoch bislang die Studiengebühren. Ministerpräsident Wulff entschärfte am Vortag in der taz auch diesen Konflikt: Ehrenamtlich tätigen Studenten solle künftig ein Teil der Gebühren erlassen werden, regte er an. „Wenn man in der Kneipe jobbt, verdient man auch Geld, die ehrenamtlich Engagierten sollen nicht schlechter gestellt werden“, sagte ein Ministeriumssprecher. Unklar ist noch, wie viel Stunden ehrenamtlicher Arbeit Voraussetzung sind.
CLAAS GIESELMANN
Gemeinsam, getrennt, mit oder ohne Gebühren? In Niedersachsen dreht sich die bildungspolitische Debatte um Schulsystem und Studiengebühren
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G A S T K O M M E N T A R Einmischung - taz.de
G A S T K O M M E N T A R Einmischung ■ USA verstärken Druck auf Panama Für den rechtsextremen US–Senator Jesse Helms hatte sich Präsident Carter vor zehn Jahren des Verrats an Volk und Vaterland schuldig gemacht. Die geplante Übergabe des Panama–Kanals an die Regierung des mittelamerikanischen Landes, festgelegt in den sogenannten Torrijos–Carter–Verträgen, ist Helms eine Dauerfehde wert. Schon ist der Blick auf die Wahlen in Panama 1989 gerichtet. Und das nicht erst seit den umstrittenen Enthüllungen des Oberst Umberto Diaz in Panama, der Militärchef General Antonio Noriega mit Mord und Wahlfälschung in Verbindung gebracht hat. Seit Anfang 1976 hat das Lateinamerika–Komitee des US–Senats den Druck auf Noriega fortschreitend verstärkt. Fehlender Wille zur Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten bei der Bekämpfung des Drogenhandels, Menschenrechtsverletzungen, Panamas aktive Mitarbeit in der Contadora–Gruppe und die Forderungen der Regierung Eric Delvalle nach mehr Mitsprache bei der Kanalverwaltung waren die Kritikpunkte. Angesichts der unleugbaren Selbstherrlichkeit, mit der die Koalition aus Regierungspartei und Militär in Panama schaltet und waltet, kein schwieriges Unterfangen. Die USA wollen den Abtritt von General Noriega und Rückzug der Militärs aus der Politik. Dies hat zwei Gründe. Noriega wäre kein sicherer Partner bei einer eventuellen militärischen Intervention in Mittelamerika, bei der dem US–Stützpunkt in diesem Land eine wichtige Bedeutung zukäme. Außerdem steht die politisch dominierende Armee für die Forderung nach Selbstbestimmung des Landes über den Kanal. 1990 tritt die nächste Stufe der Kanalverträge in Kraft. Dann wird erstmals ein Panamaer an der Spitze der Kanalkommission stehen. Bis dahin müssen sich die USA des Drucks der Militärs entledigt haben, um einer genehmen Regierung in Panama–Stadt die Konditionen diktieren zu können. Ulrich Stewen, Mitarbeiter der Dritte Welt–Nachrichtenagentur Inter Press Service (ips), Bonn
Ulrich Stewen
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Eine erregte Debatte - taz.de
Eine erregte Debatte Uefa-Präsident Lennart Johansson wünscht sich erotischere Trikots für die kickenden Damen – die Empörung ist groß. Wird eine Sportart wirklich attraktiver, wenn sich die Sportler „sexier“ kleiden? Seit dem gestrigen Spätnachmittag wird entweder die deutsche oder die norwegische Fußball-Nationalmannschaft der Frauen als Europameister feststehen. Und vermutlich haben das in England ausgetragene Endrundenturnier wieder einmal ziemlich wenige Menschen verfolgt. Weniger noch als beim letztjährigen Weltmeisterschaftstriumph – woran nicht nur die Parallelität der Ereignisse (Confederations-Cup) schuld sein dürfte. Was tun? „Sex sells“, wird sich da der schwedische Uefa-Präsidenten Lennart Johansson gedacht haben: „Wenn man über dieses Thema spricht, ist sicher nichts dagegen zu sagen, wenn der Dress der Frauen auch nett aussieht. Sicher wäre es manchmal schön, wenn man sehen könnte, dass es Frauen sind“, sagte der 75-Jährige dem englischen Radiosender BBC. Der Frauenfußball solle also körperbetonter werden, wie beim Beach-Volleyball, einer Sportart, die RTL inzwischen zur besten sonntäglichen Sendezeit live überträgt. Ein ähnlich klägliches Bild bietet nun auch die aktuelle Debatte. Da sind allesamt männliche Verbandsfunktionäre, die den Frauenfußball wegen seiner vermeintlich fehlenden Anmut geißelten und jetzt in der plumpen Zurschaustellung des vermeintlichen Sexappeals die größtmögliche Distanz zum eigentlichen Männersport bewahren wollen: dem „echten“ Fußball. Wenn sich das Ganze dann noch gut verkauft – umso besser. Es sind, wohl gemerkt, dieselben Funktionäre, die umgekehrt der (männlichen) Nationalmannschaft Kameruns, den „Löwen“, gerade erst endgültig die körperbetonten, ärmellosen Puma-Trikots verboten haben. Längst liegen lesbische Blicke ähnlich wohlwollend auf der deutschen Damen-Nationalmannschaft wie auf TV-Kommissarin Ulrike Folkerts – das voyeuristische Vergnügen eines schwulen Publikums allerdings, dieses größte Tabu im Profi-Fußball, soll offenbar unter allen Umständen verhindert werden. Schließlich kommt man hierzulande durch „Kampf zum Spiel“, nicht zum Sex – wenn auch die Popularität mancher Tennisspielerinnen auf den spitzen Schreien zu beruhen scheint, die sie in der Anstrengung des Spiels ausstoßen und damit gelangweilte Zuschauer auf eine Weise unterhalten, die über das technische Vergnügen an einem guten Volley hinausgeht. Dennoch ist die Frau auf dem Court als Athletin anerkannt, während sie beim Fußball offenbar in mehr als nur sportlicher Hinsicht eine gute Figur machen muss. Zumal die männlichen Fußballer längst zum Lustobjekt weiblicher Zuschauer gereift sind. Das geheime Leben der Spielerfrauen interessiert zwar als TV-Format kein müdes Mäuschen, aber ein Leben als Spielerfrau erscheint dennoch vielen als erstrebenswert. Der Portugiese Manuel Rui Costa beispielsweise verkörpert – fernab von der Beckham-Manie – alles, was Frauen an Fußballern schätzen: Er sieht gut aus, ohne allzu gestylt zu wirken, ist männlich und, wie wir vermuten, nicht eben arm. Zwar behauptet er, seine Schulbildung vernachlässigt zu haben. Aber wenn er erst mal läuft, dann interessiert es die Frauenwelt wenig, ob er nun wirklich weiß, wo der Nil entspringt. Dergleichen würde frau ja nun gar nicht mit ihm besprechen wollen. Hauptsache, er zieht irgendwann beim Elfmeterschießen seine Socken nach unten. Frauen braucht also niemand zu sagen, dass Fußball sexy sein muss. Zumal das Objekt der Begierde im Idealfall reich, im Idealfall durchtrainiert, bereist und oft, durch seine weltweiten Kontakte, multikulturell angehaucht daherkommt. Keine schlechte Partie. Hierzulande ist das absolute Alpha-Männchen in dieser Hinsicht Franz Beckenbauer. Ihm ist offenbar mühelos gelungen, den Reiz seiner überlegenen Physis allmählich durch eine mindestens ebenso erotische Aura der Macht zu ersetzen – und so seinem kaiserlichen Beinamen mit der Zeit immer gerechter zu werden. Seinem ehemaligen Mannschaftskollegen von 1974, dem später als Gastronom in den USA geschäftlich gescheiterten Gerd Müller, ruft man den „Bomber“ nur noch aus Spott oder Melancholie nach. Beckenbauer indes, dieser Traum aller Chefsekretärinnen, bewährt sich auch im Alter als Mann der Tat. Und da ist leider auch eine deutsche Frauenfußballnationalmannschaft, die die Regeln des (Show-)Geschäfts bereits jetzt schon viel zu gut beherrscht. Im Werbeclip für ein fettfreies Fruchtgummi haben ausgerechnet die beiden den gängigen, männlich definierten Schönheitsidealen am eindeutigsten entsprechenden Spielerinnen die Hauptrollen übernommen: die blondhaarige Mia Künzel und die dunkelhäutige Steffi Jones. Die Damen mit den dickeren Schenkeln und den kürzeren Haaren gucken im Bildhintergrund zu. Wer die Fremdzuschreibungen auf die eigenen Körper so hinreichend ökonomisiert, hat sich letztlich wohl nicht zu wundern, wenn ein Uefa-Präsident auf doofe Gedanken kommt. CLEM, FRA, NAT
CLEM / FRA / NAT
Uefa-Präsident Lennart Johansson wünscht sich erotischere Trikots für die kickenden Damen – die Empörung ist groß. Wird eine Sportart wirklich attraktiver, wenn sich die Sportler „sexier“ kleiden?
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Streit um Museums-Sammlung in Berlin: Das Hakenkreuz bleibt - taz.de
Streit um Museums-Sammlung in Berlin: Das Hakenkreuz bleibt Ein Künstler will Nazi-Devotionalien aus einem Bezirksmuseum entfernen, die Zusammenarbeit platzt. Bleibt die Frage: Wie umgehen mit alten Sammlungen? Über seine Sammlung lässt sich diskutieren: das Bezirksmuseum Reinickendorf Foto: Bezirksmuseum Reinickendorf Joshua Schwebel sagt, das sei Zensur, was er in der Zusammenarbeit mit dem Museum Reinickendorf erlebt hat. Er ist immer noch verletzt und fassungslos. Schwebel, ein jüdisch-kanadischer Künstler aus Berlin, war Teil einer Gruppe von Künstler*innen, die das Museum für ein Ausstellungsprojekt eingeladen hatte. Sie sollten die dortige Dauerausstellung zur Geschichte Reinickendorfs mit künstlerischen Kommentaren versehen. Joshua Schwebels Idee war, eins der Nazi-Objekte aus dem Museumsarchiv zu entfernen. Diese Intervention wollte er mit einem Brief und einem Video einbetten. Doch Schwebels Beitrag ist in der seit Mai gezeigten Ausstellung mit dem Titel „Interventionen. Kunst und Geschichte im Dialog“ nicht zu sehen. Sein Name taucht auch nicht mehr in der Liste der beteiligten Künstler*innen auf. „Mich hat das Konzept ‚Heimat‘ interessiert. Wen es repräsentiert und wen nicht“, sagt Schwebel über sein Interesse an dem Ausstellungsprojekt. „Außerdem wollte ich wissen, wo die Objekte herkommen, die das Museum im Archiv und in der Dauerausstellung hat, und wie sie festlegen, was sie zeigen.“ Er sei generell interessiert an den – oft nicht auf den ersten Blick sichtbaren – Entscheidungen, die Ausstellungen beeinflussen oder festlegen, was archiviert wird. Dies sei der Hintergrund für seine Arbeit. Schwebel fragte im Museum also nach Nazi-Objekten im Archiv. Diese Anfrage habe sie etwas ratlos gemacht, erklärt Cornelia Gerner, Leiterin des Museums Reinickendorf. Sie hätten dann aber eine Auswahl getroffen und ihm ein paar Objekte präsentiert, unter anderem ein Mutterschaftskreuz, ein Gesangbuch und eine Urkunde mit Hakenkreuz, alle aus der Nazizeit aus Reinickendorf. „Die Objekte sind in den fünfziger oder sechziger Jahren in unsere Sammlung gekommen, viele durch Schenkungen von Menschen aus Reinickendorf“, erklärt Gerner. Damals hätte das Museum noch keine Informationen zu den Objekten aufgenommen; sie seien gesammelt worden, ohne die Geschichte hinter den Objekten zu kennen. Erst seit etwa zwanzig Jahren würde das Museum die Geschichte der Objekte erfassen. Künstler Joshua Schwebel„Sie haben kein Recht, mir vorzuschreiben, was ich ausstelle“ „Herr Schwebel war sehr erstaunt, dass wir den Hintergrund der Objekte nicht vermerkt haben“, sagt Gerner. „Er wollte dann die Archivarin dabei filmen, wie sie die Objekte hochhält und sagt, dass sie nichts über diese Objekte wisse.“ Da dies vorher nicht abgesprochen war, habe die Archivarin sich geweigert. „Es war stressig für unsere Mitarbeiterin, er hat brüsk und verärgert darauf reagiert, die Archivarin hat sich bedrängt gefühlt und war nach dem Treffen sehr bedrückt“, sagt Gerner, die selbst allerdings bei diesem Termin nicht anwesend war. Daher habe sie sich bereit erklärt, das Interview mit Schwebel zu führen. In dem so entstandenen Video sind Gerners Hände zu sehen, die eine Urkunde oder ein Mutterkreuz halten, dazu erklärt sie, welche Objekte es sind und warum das Museum diese Objekte aufhebt. Natürlich sei es unbefriedigend für das Museum, dass die Dinge ohne genauere Angaben und damit ohne historischen Kontext in der Sammlung seien, meint Gerner. „Aber meine Haltung ist: Sie sind Teil unserer Geschichte, auch ohne Informationen zu ihrer Herkunft oder Kontext. Wir können sie nicht entsorgen. Damit würden wir die Geschichte wegwischen.“ Der Künstler und das MuseumDer Konzeptkünstler Joshua Schwebel interessiert sich insbesondere für Präsentations- und Rezeptionsformen in der Kunstwelt und setzt sich in seinen Arbeiten mit den zugrundeliegenden Machtstrukturen auseinander. Er lebt in Montreal und Berlin. 2015 hatte er eine Residenz am Künstlerhaus Bethanien, bei der er sein Ausstellungsgeld dafür nutzte, die unentgeltlich beschäftigten Praktikanten zu entlohnen.Das Museum Reinickendorf ist hervorgegangen aus einer 1930 entstandenen heimatkundlichen Ausstellung des örtlichen Gymnasiums – ähnlich wie viele andere bezirkshistorische Museen. Später wurden die Ausstellungsobjekte Teil einer sogenannten Heimatschau, die bis 1959 im Gutshaus Wittenau untergebracht war. Auf diese Sammlung geht der heutige Museumsbestand zurück. Seit 1980 befindet sich das Museum in einem ehemaligen Schulgebäude in Hermsdorf. Seit 2002 wird die Dauerausstellung überarbeitet.Die Ausstellung„Interventionen. Kunst und Ge­schichte im Dialog“ ist noch bis 5. August zu sehen. Alt-Hermsdorf 35. Geöffnet Mo.–Fr. und So. 9–17 Uhr. (usch) Joshua Schwebel sagt, dass ihn das Interview im Nachhinein sehr nachdenklich gestimmt habe. Zeugnisse der Nazizeit überlebten geschützt im Archiv des Museums, gerechtfertigt durch einen ihnen zugeschriebenen historischen Wert. Jüdisches Leben in Reinickendorf werde dagegen – wenn überhaupt – in der Dauerausstellung nur über tote Menschen vermittelt. Er schreibt dem Museum einen Brief, in dem er eine „Geste des Umdenkens“ vorschlägt, eine „Entwendung als Reparationszahlung“: In Zusammenarbeit mit dem Museum möchte er ein Objekt aus der Nazizeit dauerhaft aus dem Museumsarchiv entfernen, um so eine Leerstelle zu schaffen, die auf die in seinen Augen problematischen Sammlungsaktivitäten von Museen hinweisen soll. Keine Antwort erhalten Der Brief solle zusammen mit dem Video und gegebenenfalls den Spuren des von ihm entfernten Objekts – ein Pergamentumschlag, ein leerer Platz, eine Beschreibung – seine Intervention, sein Beitrag zur Ausstellung sein. Auf diesen Brief habe er allerdings bis heute keine Antwort bekommen, sagt Schwebel. Museumsleiterin Cornelia Gerner wehrt sich gegen Schwebels Vorwurf, dass jüdisches Leben in der Ausstellung und von dem Museum nicht repräsentiert werde. „Wir haben einen Bereich in der ständigen Ausstellung, und wir erzählen ausführlich die Geschichte von Annemarie Wolff, einer jüdischen Heil­erzieherin, die bis 1933 im Bezirk ein Kinderheim geleitet hat“, sagt sie. Außerdem hätten sie ausführliche Biografien zu den Stolpersteinen im Bezirk erarbeitet, sich mit Zwangsarbeit und Euthanasie beschäftigt. „Es gibt nicht viele Objekte, das ist richtig. Aber wir haben viele Aspekte jüdischen Lebens in Reinickendorf erforscht und dazu auch publiziert.“ Sie habe Schwebel gebeten, den Anfang und das Ende des Videos, und damit die Teile, die nicht zum eigentlichen Interview gehörten, herauszuschneiden; zwei kurze Passagen, in denen sie „nur Wischiwaschi“ geredet habe. Da das Museum nicht auf seinen Brief geantwortet habe und gefordert habe, dass Schwebel das Interview bearbeite, sei es nicht mehr die Arbeit gewesen, die er geplant habe, und er habe sich aus dem Projekt zurückgezogen. „Sie haben nicht das Recht, mir vorzuschreiben, was ich ausstelle“, sagt er. „Ich verstehe vor allem nicht, warum sie komplett aufgehört haben, mit mir zu kommunizieren.“ Das Verhalten des Museums sei unakzeptabel, und es habe ihn verletzt. Seine Arbeit hätte ein Gedankenanstoß sein können, findet er. „In der ganzen Stadt wird über die Herkunft von Objekten in den Museen diskutiert. Ich finde es wichtig, auch über die Herkunft von Nazi-Objekten nachzudenken und über die Frage, ob und wie wir sie aufbewahren müssen.“ Diese Diskussion hätte er gern geführt – oder würde es tun, wenn er die Gelegenheit hätte. „Ich bin nach wie vor bereit, das zum Beispiel bei einer Podiumsdiskussion mit der Museumsleitung zu tun“, sagt Jo­shua Schwebel.
Uta Schleiermacher
Ein Künstler will Nazi-Devotionalien aus einem Bezirksmuseum entfernen, die Zusammenarbeit platzt. Bleibt die Frage: Wie umgehen mit alten Sammlungen?
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Arabische Liga tagt in Saudi-Arabien: Putins Freund und Putins Feind - taz.de
Arabische Liga tagt in Saudi-Arabien: Putins Freund und Putins Feind Bei der Arabischen Liga hat sowohl Russlands Verbündeter Assad einen Auftritt als auch Wolodimir Selenski. Für Letzteren kein einfacher Auftritt. Der syrische Präsident Baschar Al-Assad bei seiner Ankunft in Saudi-Arabien Foto: Syrian Presidency apaimages/imago KAIRO taz | Es war ein spektakulärer Beginn des Arabischen Gipfeltreffens in der saudischen Rotmeer-Hafenstadt Dschidda. Zunächst kam der syrische Präsident Baschar Al-Assad mit breitem Lächeln in den großen Saal des Treffens der Arabischen Liga, herzlich begrüßt, geküsst und umarmt vom Gastgeber, dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman. Der Diktator aus Damaskus genoss sichtlich seine Wiederaufnahme in die Reihen der arabischen Autokratenfamilie, zwölf Jahre, nachdem die syrische Mitgliedschaft in der Liga wegen des brutalen Umgangs des Regimes mit seiner Opposition suspendiert worden war. Doch kurz darauf stahl ihm ein besonderer diesjähriger Gast beim Gipfeltreffen die Show, der überraschend angereiste ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. So saßen sie dann beide im Raum, Assad, der wichtigste Alliierte Russlands in der Region, der die Fortsetzung seiner Macht nur der militärischen Intervention Putins in Syrien verdankt, und Selenski, der gekommen war, um bei den arabischen Staaten für eine stärkere Unterstützung der Ukraine gegen Russland zu werben. Der Gastgeber Bin Salman begann das Treffen denn auch gleich mit einem Angebot Saudi-Arabiens, zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. Gerade als große ölexportierende Länder sind Saudi-Arabien und Russland in der sogenannten OPEC+-Gruppe verbunden. Wie die meisten anderen arabischen Länder im Raum haben die Saudis im Ukraine-Krieg bisher keine Position bezogen und haben sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligt. So befand sich Selenski bei seiner Gastrede anderes als bei seinen bisherigen Auslandsbesuchen in Europa und den USA beim Treffen der Arabischen Liga auf keinem einfachen Terrain. Dabei redete er aber nicht lange um den heißen Brei. „Ich bin sicher, dass hier im Raum einige sitzen, die bei dieser illegalen Annektierung in die andere Richtung schauen. Ich bin hier, damit alle hier ehrlich auf diesen Konflikt schauen, egal wie stark Russland versucht, Einfluss zu nehmen. Es muss trotzdem Unabhängigkeit geben“, erklärte er gegenüber den arabischen Präsidenten, Königen, Kronprinzen und Emiren. Auf Saudi-Arabiens Vermittlungsangebot antwortete er vage diplomatisch: „Saudi-Arabien spielt eine wichtige Rolle, und wir sind bereit, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Ebene zu heben.“ Syrien, Iran, Jemen, Sudan – jede Menge Spannungen Für den Gastgeber Saudi-Arabien spielte die überraschende Einladung Selenskis wohl nicht nur die Rolle, sich als möglicher Vermittler zu präsentieren. Als positiver Nebeneffekt führte sie auch dazu, dem auch in Teilen der arabischen Welt umstrittenen Assad nicht zu viel Raum bei seinem ersten Auftritt einzuräumen. Denn die Entscheidung, Assad wieder in der arabischen Staatenfamilie aufzunehmen, stieß nicht bei allen arabischen Staaten auf Gegenliebe. Der Außenminister des Emirates Katar, Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, hatte vor wenigen Tagen bei einem Besuch seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock erklärt, dass er eigentlich gegen die Wiederaufnahme Syriens in der arabischen Liga sei. Katar, wie auch Jordanien, Kuwait und Algerien, wollten eigentlich die Rückkehr Assads an Bedingungen knüpfen, wie etwa einen demokratischen Prozess oder auch, dass das Regime in Damaskus seine Beziehungen zu seinem wichtigsten Verbündeten in der Region, dem Iran, zurückschraubt. Doch am Ende haben sie sich widerwillig einem arabischen Konsens gebeugt. Der Iran ist ein Thema, das indirekt über dem Gipfel hängt, der auf fünf Tage angesetzt ist. Die Frage dabei ist, wie sich die in den letzten Monaten von China vermittelte Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran auf die arabische politische Landschaft auswirken wird. Das betrifft nicht nur die Rückkehr des vom Iran unterstützen Assad, sondern auch den Jemen, in dessen Krieg Saudi-Arabien und der Iran unterschiedliche Seiten unterstützen. Zwar scheint der Waffenstillstand im Jemen zu halten, ein umfassender Friedensprozess will aber bislang nicht so recht in die Gänge kommen. Das wohl wichtigste Regionalthema wird aber Sudan sein, denn in dieser Frage ist die arabische Welt gespalten. Die Arabischen Emirate sind der wichtigste Unterstützer der RSF-Milizen von Mohammad Hamdan Dagalgos, der sich mit dem Militärchef Abdel Fattah Burhan in einem blutigen Krieg um die Alleinmacht befindet und der seinerseits von Ägypten gesponsort wird. Bei Gesprächen mit beiden Kriegsparteien, die seit zwei Wochen ebenfalls in Dschidda stattfanden, sollte zumindest ausgehandelt werden, dass humanitäre Hilfe möglich ist. Sie haben aber bisher zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Die Hoffnung ist jetzt, dass hinter den Kulissen in den nächsten Tagen Gespräche geführt werden, die diesen Konflikt entschärfen.
Karim El-Gawhary
Bei der Arabischen Liga hat sowohl Russlands Verbündeter Assad einen Auftritt als auch Wolodimir Selenski. Für Letzteren kein einfacher Auftritt.
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Wiederaufbau Berliner Stadtschloss: Die Maske der Vergangenheit - taz.de
Wiederaufbau Berliner Stadtschloss: Die Maske der Vergangenheit Die Rückkehr des Historizismus in Berlin: Im Wiederaufbau des Stadtschlosses drückt sich ein Unbehagen mit der Gegenwart aus. Eine Streitschrift. Reaktionär? Sicher. Das fast fertige Stadtschloss, mitten in Berlin Foto: dpa Je mehr sich die Fassade des Humboldtforums über dem Beton schließt, desto mehr wird das Gebäude zum Symbol für einen neuen Historismus – nicht nur in der Architektur. Denn Historismus ist nicht nur ein Stil, wie er im 19. Jahrhundert Mainstream war. Historismus ist eine Haltung, eine Weltanschauung und – so könnte man sagen – das Mittel, sich über die Fragwürdigkeit des eigenen Selbst hinwegzuhelfen. Dieses Gefühl war kennzeichnend für eine Zeit, die zu ihrem wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschreiten keinen formalen Ausdruck gefunden hatte. Das heißt, im Grunde war man sich seines Status in der Weltgeschichte keinesfalls wirklich bewusst. Die Großspurigkeit, die im Laufe des 19. Jahrhunderts im Bauen Einzug hielt, versichert sich doch immer nur durch die Anleihe bei anderen Epochen der eigenen vermeintlichen Größe. Man denke hier nur an den Berliner Dom, der, obwohl im 20. Jahrhundert fertiggestellt, doch eine der letzten Ausgeburten des vor­angegangenen Jahrhunderts darstellt und als protestantische Kirche klar erkenntlich dem katholischen Petersdom Konkurrenz machen will. Über die Rekonstruktion des Berliner Schlosses gleich gegenüber vom Dom ist bereits viel gesagt und gestritten worden. Fest steht, dass auch dieser Bau als symbolische Form und Ausdruck der Berliner Republik gedacht ist. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) spricht vom „bedeutendsten Kulturprojekt Deutschlands, auf das die ganze Welt schaut“. Was also soll das Berliner Schloss bedeuten? Zunächst ist der Neubau der Schlossattrappe ein Siegeszeichen über die untergegangene DDR. Die hatte ihrerseits an gleicher Stelle mit dem Palast der Republik ebenfalls schon ein Zeichen setzen wollen, und zwar durch Abriss der Kriegsruine des Berliner Hohenzollernschlosses. Das Schloss wiederholt nun mit der Überbauung des Orts noch einmal die gleiche Geste: Das Nachwendedeutschland rekonstruiert hier das Äußere eines barocken Prunkbaus, der zur Erhöhung Friedrich I., als erstem König „in Preußen“ im Jahre 1701, das nötige repräsentative Prestige bereitstellen sollte. Die Verherrlichung der preußischen Herrschaft wird der rekonstruierten barocken Fassade nun also noch einmal eingeschrieben. Dazu in merkwürdiger Diskrepanz steht das Innere des Gebäudes mit seiner Nutzung als Museum für die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (siehe Grafik). Das alte Außen und das moderne Innen der Museumsräume des Humboldt-Forums passen eigentlich nicht zusammen. Aber gerade diese Diskrepanz zwischen Fassade und dem sie tragenden Bauwerk zeichnet den Historismus aus. Die repräsentativen Gebäude dieser Epoche setzten sich Masken auf, die Architektur war im Grunde eine regelrechte Verkleidung, ein jeweilig als passend erachtetes Stilgewand. Banken bekamen eine italienische Renaissancearchitektur verpasst, Museen sahen aus wie antike Tempel, Gerichte wie barocke Schlösser und Kirchen wurden bevorzugt im gotischen Stile errichtet. Nun also wiederholt das Schloss als Symbolbau der Berliner Republik jene Manie des 19. Jahrhunderts, sich in allem Tun und Wirken immerfort auf die Geschichte berufen zu müssen. Friedrich Nietzsche hat über „Nutzen und Nachteil der Historie“ eigentlich schon 1874 alles Wesentliche gesagt. Und man kann in diesem Pamphlet auch Passendes zur Rekonstruktion des Berliner Schlosses finden: „Denen wird der Weg verlegt; denen wird die Luft verfinstert, wenn man ein halb begriffenes Monument irgendeiner großen Vergangenheit götzendienerisch und mit rechter Beflissenheit umtanzt, als ob man sagen wollte: ‚Seht, das ist die wahre und wirkliche Kunst: was gehen euch die Werdenden und Wollenden an!‘“ Genauso aber passiert es heute wieder: Die Geschichte wird als Argument benutzt, so, als wäre sie eine Wahrheitsinstanz und eine des guten Geschmacks noch dazu. Wie konnte es zu dieser erneuten Vergötzung der Geschichte kommen? Architektur ist dabei ja nur das sichtbarste Symptom einer historistischen Haltung, wie sie schon einmal im 19. Jahrhundert vorexerziert wurde. Denn die Geschichte ist ja nichts anderes als eine kodifizierte Erzählung der Vergangenheit. Der Klotz wächst und wächstDrei Jahre dauert es noch, mindestens: Die Eröffnung des Humboldt-Forums ist für den 14. September 2019 geplant. Allerdings soll das Gebäude schon im Sommer 2018 baulich fertig und bezugsfähig sein, das Richtfest wurde bereits im Juni 2015 gefeiert.Wer an der Baustelle vorbeigeht, bekommt einen Eindruck vom Fortschritt der Bauarbeiten: Auf der Seite des Lustgartens haben die ersten Fassadenabschnitte die Traufe erreicht und es wird bereits die Balustrade montiert. Auch die Schlossplatzseite ist ähnlich weit gediehen. Die Westfassade mit dem "Eosander-Portal" hat das zweite Obergeschoss erreicht. Im "Schlüterhof" steht der Rohbau der Galerien, der auch bis zum zweiten Obergeschoss reicht. Ebenfalls bereits fortgeschritten ist der Aufbau der beiden Portale. An einem von ihnen sind die Kolossalsäulen bereits montiert und erhalten momentan ihre Kapitelle.Im Inneren des Gebäudes beschäftigt man sich seit Mai 2016 mit Verputzarbeiten, Verkabelungen und den Installationen für Heizung, Lüftung und Sanitär. Baustellenführungen gibt es wegen des laufenden Innenausbaus zurzeit nicht mehr.Der Wiederaufbau folgt einem Beschluss des Bundestags von 2002. Die Baukosten sind mit rund 595 Millionen Euro veranschlagt, von denen der Bund 483 Millionen Euro und das Land Berlin 32 Millionen Euro übernehmen sollen. Das restliche Geld soll aus Spendengeldern für die Rekonstruktion der Fassaden erworben werden, aktueller Stand: 59 Millionen konnte der Förderverein Berliner Schloss bereits zusammen sammeln. Zunächst scheint es dabei bloß um Sinngebung zu gehen. Doch damit geht noch etwas anderes einher: Das Heute legitimiert sich durch eine Geschichte, die in der Gegenwart ihr – vermeintlich – teleologisches Ziel gefunden hat. All jene, die von dieser Gegenart profitieren, die Macht, Einfluss und Prestige haben, berufen sich deshalb nur allzu gern auf Geschichte. Es sind schließlich immer die Sieger, die (ihre) Geschichte schreiben. Wer heute die Gegenwart zu seinen Gunsten umgestalten will, der sucht seine Vorlagen und Vorbilder nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Das ist der entscheidende Unterschied zur Moderne. Denn seit Mitte der 70er Jahre scheint in die Zukunft kein Heilsversprechen mehr zu liegen. Der sogenannte Fortschritt hatte zwar fließend Warmwasser, Massenmotorisierung und Bildung für alle gebracht, aber er konnte das Gefühl der existenziellen Unbehaustheit in den modernen Verhältnissen nicht vermeiden. Die egalitäre Massengesellschaft der Moderne fand damals ihren Ausdruck in „unwirtlichen“ Großsiedlungen am Stadtrand, die – kaum waren sie in Beton gegossen – als gescheitert galten. Und das, obwohl keiner in das Mietskasernenelend mit Außenklo und Kohleofen zurückkehren wollte. Nur: Glanz und Gloria, Prunk und Prestige, womit sich die ehemaligen Untertanen immer noch gern identifizieren, lassen sich offenbar mit sozialem Wohnungsbau – anders als mit einem Schloss – nur unzureichend verwirklichen. Oder anders gesagt: Wer sich – zum Beispiel beim Bauen – zur Fortsetzung einer großen Tradition erklärt, erhöht sich selbst, auch wenn die eigene Größe unter Umständen nur eine Augentäuschung darstellt, weil man sich auf den Schultern von Riesen platziert. Die städtebauliche Entwicklung der letzten vier Jahrzehnte ist dafür ein prädestiniertes Beispiel. Das „Europäische Denkmalschutzjahr“ 1975 mit seiner Aufwertung des Historischen an sich steht als Wendepunkt für den Rollback der Traditionalisten gegen die Moderne. Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre – Berlin ist da keine Ausnahme – wird die Moderne durch die Idee einer Postmoderne angegriffen. In den Achtzigern blickt man im Städtebau nur noch zurück. Zeilenbau und Wohnhochhäuser sind von nun an passé und Großsiedlungen wie die Gropiusstadt und das gerade erst 1974 fertiggestellte Märkische Viertel werden als anti­urban verteufelt. Josef Paul Kleihues bebaut 1971–76 im kahlschlagsanierten Brunnenviertel im Wedding als Erster wieder ein ganzes Straßengeviert mit einem Wohnblock in traditionellen Dimensionen – nur die Hinterhöfe fehlen. Prompt wird er ab 1979 Planungsdirektor der Internationalen Bauaustellung (IBA) und prägt in den Achtzigern mit dem Stichwort „Kritische Rekonstruktion“ die weitere Geschichte im Berliner Stadtbau. Blockrand und Traufhöhe werden dann in der Ära des Senatsbaudirektors Hans Stimmann von 1991 bis 2006 für die Berliner Innenstadt zum Dogma. So gut wie alle Neubauten haben sich seitdem in ein historisches Korsett zu fügen, auch wenn das angeblich Historische sich bei näherem Betrachten als höchst zweifelhaft ausnimmt. Hochhäuser versenkt Zum Beispiel in der barocken Friedrichstadt, die 1688 als westliche Stadterweiterung im Schachbrettmuster angelegt wurde – übrigens auf Geheiß ebenjenes Friedrich I., der sich bei Andreas Schlüter eine imposante Erweiterung seiner Berliner Residenz bestellte, die jetzt in der Fassade des Humboldtforums kopiert wird. Daher also der Name Friedrichstadt. Der Geist der Vergangenheit: Stücke für die Fassade des Stadtschlosses Foto: dpa Die barocke Bebauung dieser Gegend, die heute von der U-Bahn als „Stadtmitte“ bezeichnet wird, war zunächst niedrig, die Höfe noch Gartenland. Das sogenannte Schleiermacher-Haus in der Taubenstraße/Ecke Glinkastraße von 1738 mit einem einzigen Obergeschoss und Mansardendach ist heute das letzte Zeugnis der Bebauung des 18. Jahrhunderts. Was jetzt aber in dem auf Stimmann zurückgehenden Planwerk Innenstadt als historisch festgeschrieben wird, ist eine wilhelminische Überbauung des Blocks, also ein Zustand aus der Zeit um etwa 1900 – eine Historie wird der anderen vorgezogen. Was nun heute im barocken Stadtgrundriss steht, sind allerdings keine parzellengroßen Wohn‑ und Geschäftshäuser mehr wie um 1900, sondern Megastrukturen, die einen ganzen Block umfassen und bis zu fünf Tiefgeschosse und mehrere Dachgeschosse über der „historischen“ Traufhöhe von 22 Metern aufweisen. Es sind also in Wirklichkeit im Boden steckende Hochhäuser. So viel zur Berufung auf die Geschichte. Überkommene Idee Als Argument für die Doktrin des (Pseudo‑)Historischen beim derzeitigen Bauen dient noch ein weiterer Begriff als Argument: die sogenannte europäische Stadt. Auch das meint in Wirklichkeit kein historisches Phänomen, sondern ist reine Ideologie, die eine bestimmte überkommene Idee von Stadt als Norm für die aktuelle Stadtgestalt festlegen will, und zwar ähnlich herrschaftlich wie einst im alten Preußen. Das von der Moderne so vehement bekämpfte „steinerne Berlin“ wird jetzt zum Vorbild für den Städtebau. Die Hierarchisierung in Straßenfront‑ und Hinterhof, aber auch in Zentrum und Peripherie ist einer der Effekte der Rückkehr zur „europäischen Stadt“ genauso wie die Korridorstraße, die rechts und links von Häuserreihen gesäumt ist, und die Lochfassade, die weniger Licht hereinlässt und Flexibilität erlaubt als durchgehende Fensterbänder. Allesamt Merkmale, die die Moderne abschaffen wollte. Aber was ist so schlecht am „befreiten Wohnen“ mit Licht, Luft und Sonne, das die Moderne forderte? Nun, vielleicht die Tatsache, dass es bei der „europäischen Stadt“ gar nicht in erster Linie um gutes Wohnen geht, sondern um die Rekons­truktion einer idealisierten Historie, ungeachtet der Tatsache, dass sich Schmuckplätze im Stadtgefüge oder kleine Läden im Erdgeschoss heute nur ausnahmsweise realisieren lassen. Der Stil kommt zum Schluss Die sogenannten „europäische“ manchmal auch „historische Stadt“ genannten Areale, in Berlin also das Altbaugebiet innerhalb des S-Bahn-Rings, werden ungeachtet veränderter Lebens‑, Arbeits‑ und Verkehrsverhältnisse von der real existierenden Stadtplanung zur idealen Schablone auch für das heutige Bauen festgeschrieben. Und das historische Vorbild gilt inzwischen nicht mehr allein im Städtebau, sondern wird immer öfter auch auf die jeweilige Architektur appliziert, bei der Säulen, Gesimse und Quaderputz keine Seltenheit mehr sind. Beim Häuserbau läuft es heute strukturell ähnlich wie im 19. Jahrhundert, ob bei Wohnbauten oder Bürohäusern: Es wird ein Kasten mit Fensterlöchern aus Beton gegossen, dann kommt heute die Wärmedämmung dran, und obenauf folgt schließlich, was früher „der Stil“ war. Statt aus Stuck ist das heute meist eine dünne Steintapete. Am Ende sieht alles ziemlich gleich aus. Der 1997 fertiggestellte Block von Aldo Rossi in der Friedrichstadt ist hier zugleich Ausnahme und Regel: Rossi hat seinem 08/15-Bau – mit postmodernem Augenzwinkern – an der Schützenstraße drei Fensterachsen vom Palazzo Farnese aus Rom aufgepappt: Renaissance à la Michelangelo, jedenfalls bis zur Wärmedämmung. Im Grunde unterscheidet sich dieses ironische Fassadenzitat nicht viel von jenem Gehabe aus historistischen Zeiten. Die immer wieder gern zitierte Anekdote für das Bauen im 19. Jahrhundert lautet: Kommt der Polier zum Bauherrn und fragt: „Das Haus ist fertig, was soll’n nun für ein Stil dran?“ Den Stil aber besorgte man sich in der Historie – ob aus Rom oder anderswo. Die Preußen sind zurück: Besucher in Uniform auf der Baustelle Foto: dpa Und das Stadtschloss unterscheidet sich im Prinzip nicht von dieser historisierenden Praxis, ja die Rekonstruktion des Schlosses überbietet sie sogar noch, weil hier die historische Fassade zuerst da war und das Haus gleichsam in sie hineingebaut werden musste. Nun kann man nicht sagen, dass Schlüter oder dessen Nachfolger, Eosander von Göthe, für den König von Preußen schlechten Stil fabriziert hätten, obwohl auch sie aus Rom zitiert haben. Wenn man aber heute mit einem rekonstruierten Schloss über die Geschichte triumphieren will, eine Geschichte, die den Staat Preußen ausgelöscht hat und seine Residenz gleich dazu, dann legitimiert auch der schöne Schein früherer Tage dieses Unternehmen nicht. Warum – so könnte man fragen – hat man denn nicht im Geist der eigenen Zeit gebaut? Oder ist dieser so rückwärtsgewandt, dass es ihm gefällt, sich in barocken Fassaden feudaler Herrscher widerzuspiegeln? Das wäre als Zeichen allerdings mehr als bedenklich, das wäre buchstäblich reaktionär.
Ronald Berg
Die Rückkehr des Historizismus in Berlin: Im Wiederaufbau des Stadtschlosses drückt sich ein Unbehagen mit der Gegenwart aus. Eine Streitschrift.
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Und darauf einen Schnaps - taz.de
Und darauf einen Schnaps Im Brandenburger Dorf unseres Autors zwitschern sie ganz gerne einen. Aber im Dorf gibt es keine Brennerei mehr Von Philipp Maußhardt (Text) und Karoline E. Löffler (Illustration) Zwitschern sagen sie in unserem Brandenburger Dorf zum Saufen. Die alte Inge von gegenüber zum Beispiel: „Oh, was haben wir in eurem Haus früher gezwitschert!“ Und dann leuchten ihre 85-jährigen Äuglein und sie lacht verschmitzt. Nach unserem Hauskauf benötigten wir erst einmal einen eigenen Glascontainer. Viele der Bierflaschen waren noch halbvoll, in manchen wohnte schwarzer Schimmelpilz. Das Haus hatte nach dem Tod seines letzten Bewohners vier Jahre lang leer gestanden. Vogler hieß der Vorbesitzer. Er hat sich totgesoffen, sagen sie im Dorf. Sie sagen nicht: Er hat sich totgezwitschert. 1988 trank statistisch gesehen jeder DDR-Bürger 23 Flaschen Schnaps pro Jahr. Das war doppelt so viel wie die westdeutschen Brüder und Schwestern jährlich an harten Getränken konsumierten. Goldbrand, Timms Saurer und Sambalita waren äußerst beliebt, und den allgegenwärtigen Kristall Wodka taufte der Volksmund „Blauer Würger“. Der VEB Nordhausen war schon in den 1970er-Jahren zum größten Spirituosenhersteller Europas aufgestiegen. Den Nordhäuser Doppelkorn gibt es noch heute. Er gehört inzwischen dem Sektkonzern Rotkäppchen-Mumm. Kurz vor Weihnachten hatte die Freiwillige Feuerwehr unseres Dorfes im Schlosspark einen großen Haufen Holz und Gestrüpp angezündet, man stand drumherum und schüttete sich in kurzen Abständen den Inhalt kleiner Fläschchen in den Rachen. Eckes Edelkirsch, Kleiner Feigling, Kräuterhexe. Die leeren Flaschen warf man ins Feuer, „die schmelzen, die siehst du nachher nicht mehr“, sagte einer der Feuerwehrmänner. Heringsalat fürs KaterfrühstückZutaten 200 g Rote Bete (gegart)300 g Matjesfilet4 Gewürzgurken4 Äpfel2 TL Meerrettich200 g Frischkäse0,1 l ApfelsaftSalz, Pfeffer, SchnittlauchZubereitung Den Matjes und die Gurke fein würfeln. Die Äpfel schälen, vom Kerngehäuse befreien, ebenfalls in Würfel schneiden. Frischkäse mit Apfelsaft, Schnittlauch und Meerrettich verrühren. Die Herings-, Gurken- und Apfelwürfel unter die Frischkäsemasse rühren. Die Abgetropfte Rote Bete fein würfeln, unter den Salat heben. Mit Salz und Pfeffer würzen.Tomatencocktail dazu Einen halben Liter Tomatensaft mit Salz, vier Spritzern Tabasco, 10 g kleingehacktem Ingwer, 2 TL Honig und gehacktem Basilikum verquirlen. Anschließend mit 400 ml Mineralwasser auffüllen. Anschließend ging ich noch mit ins Feuerwehrhaus, ein wenig weitertrinken, obwohl ich wusste, dass ich es am nächsten Morgen bitter bereuen würde und nur durch einen Heringsalat als Katerfrühstück wieder auf die Beine käme. Es wurde noch ein lustiger Abend, an den ich mich nur insoweit erinnere, als meine Frage, ob denn niemand einen „richtigen Schnaps“ habe, ein längeres Streitgespräch darüber entfachte, was das sei. Da, wo ich aufgewachsen bin, zwischen Neckar und Bodensee, hat fast jedes Dorf eine Schnapsbrennerei. Den Rohstoff liefern die Streuobstwiesen. Es gibt nicht nur die Williams Christbirne, die sich hervorragend zur Destillation eignet, auch die Nägelesbirne, die Wahlsche Schnapsbirne und Dutzende weitere Sorten werden einzeln oder als Mischung „abgebrannt“. Bei Quitten und Äpfeln sieht es ähnlich aus, auch Zwetschge, Vogelbeere und Schlehe – alles landet letztlich im Kupferkessel. Weil es in Ingendingen und wie die Käffer dort alle heißen, eine Frage der Ehre ist, den Schnaps aus dem eigenen Keller und nicht aus der nächsten Tankstelle zu holen. In der Prignitz suchte ich bislang vergeblich in den Dörfern meiner näheren Umgebung nach einer Brennerei. Die, die ich fand, in Wolfshagen, Gumtow oder Marienfließ, waren längst geschlossen, halb verfallen und standen zum Verkauf. Traurig reckten sie ihre Ziegelschornsteine in den Brandenburger Himmel, wie ausgestreckte Zeigefinger, die daran erinnern: Schaut auf dieses Land! Hier wurde einmal ordentlich gezwitschert. Der Grundstoff war weniger das Obst. Im Kartoffelland Brandenburg stellte man den Alkohol vorwiegend aus Erdäpfeln oder Getreide her. In ein paar Jahren wird das anders sein. In ein paar Jahren wird es wieder „richtigen Schnaps“ in der Prignitz geben. In den Elbauen hat der Nabu schon vor ein paar Jahren damit begonnen, Tausende junger Obstbäumen anzupflanzen. Von unserem Haus aus führt eine Allee aus Apfel- und Birnenbäumen bis ins Nachbardorf, die Früchte sind Gemeinschaftseigentum. Irgendwann, da bin ich mir sicher, wird jemand auf die Idee kommen, aus all diesem Obst einen Schnaps zu brennen. Das Schwierigste am Schnaps­brennen ist der deutsche Zoll. Man darf es nicht Schnaps brennen ist nämlich einfach, wenn man vorsichtig vorgeht und alles richtig macht, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Den Kessel, das Steigrohr und die Kühlspirale habe ich schon vor vielen Jahren aus Rumänien mitgebracht. Das Schwierigste am Schnapsbrennen ist der deutsche Zoll. Man darf es nicht. Jedenfalls nicht unangemeldet und ohne Genehmigung. Es ist eine Straftat. Aus diesem Grund brenne ich meinen Schnaps auch jenseits der deutschen Staatsgrenze und auch nur so viel, wie ich selbst im Jahr verkraften kann. Vor ein paar Wochen war es wieder so weit: Ich baute die Destille auf, erhitzte ganz langsam die Maische von Quitten und Zwetschgen. Es ist jedes Mal ein wunderbarer Moment, wenn es aus dem Röhrchen am Ende der Kühlspirale zu tropfen beginnt und ein ungeheuerlicher Duft den alten Ziegenstall erfüllt. Im nächsten Winter werde ich meinen eigenen Schnaps zum Fest im Schlosspark mitbringen. Ich werde ihn im Feuerschein bis in die frühen Morgenstunden ausschenken und später, im Feuerwehrhaus, werden wir beschließen, eine eigene Dorfbrennerei zu gründen, die den ersten Prignitzer Schnaps aus heimischem Obst erzeugt. Einen Feuerwehrschnaps. Ich hoffe, ich werde ihn noch zusammen mit Inge zwitschern können. Ein Schwabe in der Prignitz Kulinarisch wurde unser Autor in Frankreich und Süddeutschland sozialisiert. An dieser Stelle berichtet er einmal im Monat, wie er sich die Lebensmittelrealität Brandenburgs erschließt.
Philipp Mausshardt
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Tattoo von Mesut Özil: Botschafter von Rechtsextremen - taz.de
Tattoo von Mesut Özil: Botschafter von Rechtsextremen Ex-Fußballnationalspieler Mesut Özil erntet Kritik für ein Tattoo der rechtsextremen Bewegung Graue Wölfe. Linke und Grüne fordern mehr Gegenwehr. Mesut Özil mit Präsident Erdogan vor dem Champions League Finale im Juni in Istanbul Foto: Mustafa Kamaci/AA/picture alliance BERLIN taz | Es ist ein Bild Mesut Özils, das erneut eine Debatte auslöst. Der frühere deutsche Fußballnationalspieler posiert darauf mit einem Fitnesscoach und blanker Brust, darauf ein Tattoo der nationalistischen türkischen Ülkücü-Bewegung, hierzulande besser bekannt als Graue Wölfe. Die gehören inzwischen zu den größten rechtsextremen Gruppen in Deutschland. Grüne und Linke fordern nun mehr Gegenwehr gegen die Bewegung. Özil selbst äußerte sich bisher nicht zu dem am Wochenende veröffentlichten Bild. Sein Management ließ eine taz-Anfrage unbeantwortet. Der 34-Jährige ist aber schon länger als Erdoğan-Freund bekannt, warb für ihn vor Wahlen und lud ihn zu seiner Hochzeit ein. Zugleich war Özil immer wieder Ziel rassistischer Tiraden. Heikel ist die Causa auch, weil Özil 2014, nach dem Gewinn des WM-Pokals mit der Fußballnationalmannschaft, vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet wurde, der höchsten sportlichen Auszeichnung in Deutschland. Bundespräsidialamt gibt sich bedeckt Das Bundespräsidialamt wollte sich auf Anfrage nicht konkret zu dem Fall äußern. Der Entzug der Auszeichnung sei grundsätzlich möglich, wenn sich die Geehrten als „unwürdig“ erwiesen, sagte ein Sprecher der taz. Dies könnten Äußerungen sein, die „gegen die grundlegenden Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland verstoßen“. Bei Bekanntwerden solch eines Verhaltens werde ein Entzug geprüft. Wegen der „Vertraulichkeit im Auszeichnungswesen“ könne man über eine solche Prüfung aber nicht informieren. Mit dem Tattoo-Foto erntet Özil aber bereits deutliche Kritik. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Max Lucks, der wie Özil aus Gelsenkirchen kommt, sagte der taz, es mache ihn „wütend“, Özil mit dem Symbol der Grauen Wölfe zu sehen. „Es zeigt, wie ein abgehobener und offenkundig rechtsextremer Superreicher die gesellschaftliche Spaltung in seiner Heimat völlig rücksichtslos vorantreibt, anstatt seine Vorbildfunktion ernst zu nehmen.“ Im Ruhrgebiet lebten Menschen unterschiedlichster Ethnien friedlich zusammen, so Lucks. „Wer aber ein Symbol der Grauen Wölfe trägt, hat ein Problem mit dieser Vielfalt.“ Der Grüne forderte „gerade als politische Linke, rechtsextremen Tendenzen nicht durch einen „vermeintlich gutgemeinten Kulturrelativismus zu verklären“. Hier sei „antifaschistisches Engagement nötiger denn je“. Auch müsse Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) das Engagement gegen transnationalen Rechtsextremismus verstärken. Linke fordert Verbot der Grauen Wölfe Faesers Innenministerium äußerte sich auf Nachfrage zunächst nicht. Aber auch die Linken-Innenexpertin Martina Renner übt Kritik. „Anhänger*innen türkischer faschistischer Organisationen müssen in Deutschland wenige bis gar keine Konsequenzen fürchten“, so Renner zur taz. „Das offene Tragen des faschistischen Graue-Wölfe-Symbols durch Mesut Özil macht das deutlich. Ein Verbot wäre ein erster wichtiger Schritt.“ Renner verweist auch auf eine „mutmaßlich versuchte Auto-Attacke“ auf eine prokurdische Demonstration vergangene Woche in Berlin. Dies zeige, „wie gefährlich und potenziell tödlich“ die Aktivitäten der Bewegung seien. Der Verfassungsschutz rechnet der Ülkücü-Bewegung in Deutschland 12.100 Mitglieder zu, die meisten davon organisiert in drei großen Dachverbänden rechtsextremer türkischen Parteien. Damit liegt die Bewegung hierzulande hinter dem „unstrukturierten rechtsextremistischen Personenpotential“ (16.000), aber noch vor den Rechtsextremen, die der Geheimdienst in der AfD (10.200) oder der NPD (3.000) zählt. An­hän­ge­r*in­nen werden Waffen entzogen Der Verfassungsschutz attestiert der Ideologie der Grauen Wölfe „maßgebliche Elemente wie Rassismus und Antisemitismus“. Als Ideal gelte ein ethnisch homogener Staat aller Turkvölker bis weit hinein in den asiatischen Raum. Andere Volksgruppen würden herabgewürdigt und zu Feinden erklärt. Öffentlich hielten sich die in Deutschland aktiven Dachverbände meist zurück, nach innen werde aber die rechtsextremistische Ideologie gepflegt. Erst am Montag entschied zudem das Verwaltungsgericht Köln, dass ein Waffenentzug für Ükücü-Anhänger*innen rechtmäßig sei. Es lägen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass die Bewegung verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolge. Das Gericht wies Eilanträge von zwei Mitgliedern eines Ülkücü-Ortsvereins zurück, die sich gegen den Waffenentzug gewehrt hatten.
Konrad Litschko
Ex-Fußballnationalspieler Mesut Özil erntet Kritik für ein Tattoo der rechtsextremen Bewegung Graue Wölfe. Linke und Grüne fordern mehr Gegenwehr.
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Mostar - taz.de
Mostar Infos und Adressen Empfehlenswerter Reiseführer für Bosnien-Herzegowina: Marko Pleßnik, „Bosnien-Herzegowina entdecken“. Trescher Verlag 2005. Über Kroatien ist die Einreise mit dem Pkw möglich, die grüne Versicherungskarte muss vorgelegt werden. Direktverbindungen mit dem Bus von verschiedenen Städten Deutschlands aus nach Mostar bietet die Firma Eurolines. Fahrpläne und Buchungsmöglichkeiten unter www.eurolines.de oder Deutsche Touring GmbH, Am Römerhof 17, 60486 Frankfurt am Main, Hin- und Rückfahrtickets ab etwa 180 Euro. Direktflüge der Lufthansa von München nach Sarajevo gibt es zweimal täglich. Croatia Airlines fliegt von Frankfurt am Main über Zagreb nach Mostar. Unterkunft in Mostar: Villa Rose, Kahvina 8, Tel.: (0 03 87)36 57 83 00, Fax: (0 03 87)36 57 83 00, www.pansion-rose.ba. Die Pension befindet sich in der Nähe der Altstadt,DZ 42 Euro. Achim Beinsen
Achim Beinsen
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Filmfestpiele mit fließenden Realitäten: Kino in der Schwebe - taz.de
Filmfestpiele mit fließenden Realitäten: Kino in der Schwebe Regisseur Ye Lou zieht die Zuschauer*innen in ein chinesisches Agentenspiel. Ein dänischer Psycho-Film bringt sie in die geschlossene Anstalt. Vor der Vorstellung von „Lan Xin Da Ju Yuan“: Schauspielerin Gong Li mit Musiker Jean Michel Jarre Foto: picture alliance/dpa Während China außenpolitisch derzeit insbesondere durch die Proteste in Hongkong in Erscheinung tritt, kann man bei den Filmfestspielen in Venedig ein wenig von der Geschichte Chinas, genauer Schanghais im Zweiten Weltkrieg, erfahren. „Lan xin da ju yuan“ (Saturday Fiction) nennt der in Schanghai geborene Regisseur Ye Lou seinen Wettbewerbsfilm, der im Jahr 1941 spielt. Die Stadt ist 1937 von den Japanern erobert worden und seitdem besetzt. Chinesischer Geheimdienst und Alliierte arbeiten zusammen gegen die Japaner. Woran genau, weiß man zunächst nicht so recht. Star-Schauspielerin Jean Lu kehrt aus dem Exil nach Schanghai zurück. Wo sie auftaucht, wird sie von Pressefotografen umringt. Am Lyceum-Theater erwartet man sie für eine Produktion unter dessen Direktor Tan Na. Der hat zudem eine Liebesbeziehung zu ihr. Gong Li spielt diese Jean Lu als würdevoll unnahbare Frau, rätselhaft, in sich gekehrt, der taiwanesische Darsteller Mark Chao als freundlich-besorgter Tan Na. Und sie ergeben ein großartiges Paar. Zwischen die beiden schiebt sich jedoch bald etwas ganz anderes. Jean Lu hat neben ihrer Verpflichtung am Theater nämlich noch einen Auftrag für die Alliierten zu erledigen. Regisseur Ye Lou lässt die Dinge dabei im Ungewissen, der Blick des Publikums gleitet mit der Kamera übergangslos von einer Theaterprobe zu einem konspirativen Treffen und wieder zurück, nie ist man sich ganz sicher, auf welcher Ebene das Gezeigte gerade spielt – oder auf wie vielen gleichzeitig. Als dann das Stichwort „Hawaii“ fällt, begreift man, dass man den Tagen unmittelbar vor dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 beigewohnt hat. In historisch passendem Schwarz-Weiß gehalten, zeichnet Ye Lou so ein Porträt seiner Stadt, auch wenn diese nur in Ausschnitten zu sehen ist. Wobei er keinen Geheimagentenfilm im herkömmlichen Sinn gedreht hat, denn ebenso sehr wie um die Spionageaktivitäten in der Stadt geht es in „Saturday Fiction“ um das Theater dieser Zeit. Dazwischen kann man sich wunderbar verlieren. Überblick ist im Kino schließlich kein Muss. Träumen in der Psychiatrie Den verliert man auch in „Psykosia“, dem Spielfilmdebüt der dänischen Regisseurin Marie Grahtø. Trine Dyrholm ist darin als Psychia­terin Dr. Klein in einer geschlossenen Anstalt zu erleben. Sie erhält Unterstützung von der Suizidforscherin Viktoria, die sich einer besonders gefährdeten Patientin widmen soll. Die schwedische Schauspielerin Lisa Carlehed gibt diese Viktoria als zugeknöpfte Wissenschaftlerin, die sich einer unberechenbar impulsiven Frau als zu behandelndem Fall gegenüber sieht. Rasch zeigt sich aber, dass Viktoria mit dem Thema ihrer Arbeit einen intimeren Umgang pflegt als rein akademische Forschung. Die Realität kommt darüber mehr und mehr ins Fließen, in Bildern, deren Farben und absurde Arrangements an Traumsequenzen denken lassen. Wessen Traum das ist, erfährt man erst zum Ende. Bis dahin hält Grahtø dieses Flirren stilsicher in der Schwebe. Und wirft die beunruhigende Frage auf, ob Selbstmord, wie es beim Psychoanalytiker Jacques Lacan heißt, tatsächlich der einzige „erfolgreiche Akt“ ist.
Tim Caspar Boehme
Regisseur Ye Lou zieht die Zuschauer*innen in ein chinesisches Agentenspiel. Ein dänischer Psycho-Film bringt sie in die geschlossene Anstalt.
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Buch über Hitlers Krieg gegen die Kunst: Den Irrsinn mit Irrsinn erklären - taz.de
Buch über Hitlers Krieg gegen die Kunst: Den Irrsinn mit Irrsinn erklären Charlie English spannt in seinem Buch „Wahn und Wunder“ einen Bogen vom Euthanasieprogramm der Nazis zur „entarteten Kunst“ – und verhebt sich. Hitler beim Besuch der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1935 in Dresden Foto: Heritage Images/imago Lässt sich von der Euthanasiepolitik der Nationalsozialisten eine Verbindung herstellen zu deren irrigen Verständnis von einer „entarteten“ Kunst? Charlie English, vormals Redakteur beim britischen Guardian, hat ein Buch geschrieben, in dem er den 200.000-fachen Massenmord an Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen ab 1939 mit dem Kampf der Nazis gegen die Moderne Kunst verknüpft. Im englischen Original ist der Band vor zwei Jahren erschienen und erfuhr nicht zuletzt aufgrund seiner vermeintlich originellen These einige Aufmerksamkeit. Der Aufbau Verlag legte „Wahn und Wunder“ kürzlich in einer deutschen Übersetzung vor. Ausgangspunkt von Englishs Überlegungen ist der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn, der nach dem Ersten Weltkrieg damit begonnen hatte, Kunst von Psychiatriepatienten zu sammeln. 1922 veröffentlichte er ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Bildnerei der Geisteskranken“, das rund 5.000 Werke von 450 Künst­le­rin­nen und Künstlern in stationärer Behandlung reproduzierte. Prinzhorns Botschaft war einleuchtend: Kunst entzieht sich den medizinischen Kategorien von krank oder gesund. Ohnehin hatten sich zeitgenössische Künst­le­r aufgrund der Erfahrungen des Krieges nach 1918 eingehend mit dem Motiv der körperlichen und seelischen Versehrtheit befasst. Prinzhorns Sammlung stieß daher insbesondere bei Ver­tre­te­r:in­nen des Expressionismus und Surrealismus auf Zuspruch. Zugleich jedoch lieferte sie auch Anlass für Kritik. Nationalisten und NS-Kulturpolitiker sahen in der Ähnlichkeit von „Irrenkunst“ mit den Werken gefeierter Modernisten wie Otto Dix oder Max Beckmann die Bestätigung der seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten „Entartungstheorie“. Demnach habe die Beimischung „minderwertiger Elemente“ den Wesenskern deutscher Kultur zerstört. Der Zustand der Kunst illustriere symptomatisch die Situation des Landes. Besserung sei nur zu erreichen, davon war man in rechten Kreisen überzeugt, wenn es gelänge, die Kunst von ihren „volksfremden“ Elementen zu befreien. Zuvorderst Symbolpolitik Die kulturpolitischen Frontstellungen der 1920er Jahre skizziert English anschaulich, ebenso die bereits 1925 mit der Regierungsbeteiligung der NSDAP in Thüringen beginnende Umsetzung des Programms zur Säuberung der Kunstlandschaft. Nach der Verbannung der Modernisten aus den thüringischen Landesmuseen erfolgte ab 1933 die Ausdehnung der Maßnahmen deutschlandweit. Arbeiten von Prinzhorn-Künstlern wie Karl Genzel fanden sich 1937 in der NS-Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ neben Skulpturen des Bildhauers Eugen Hoffmann und Grafiken Oskar Kokoschkas, um den vermeintlichen Irrsinn moderner Kunst zu „belegen“. Das BuchCharlie English: „Wahn und Wunder. Hitlers Krieg gegen die Kunst“.Aus dem Englischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2023, 400 Seiten, 28 Euro. Die Zeitungen druckten die plakativen Gegenüberstellungen ab, zynisch mit der Frage an ihre Leserschaft versehen, bei welchem Werk es sich wohl „um die Dilettantenarbeit von Insassen eines Irrenhauses“ handle. Traurige Ironie der Geschichte: Prinzhorn selbst bekannte sich 1933 zum Nationalsozialismus, da dieser es vermöge, die Jugend zu begeistern. So detailliert English die Maßnahmen der NS-Kunstpolitik beschreibt, so sehr verhebt er sich mit dem Ansinnen, den Bogen zum Euthanasieprogramm der Nazis zu spannen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass zahlreiche Künstler der Sammlung Prinzhorn von den Nazis ermordet wurden. Doch mussten sie eben gerade nicht sterben, weil sie den Nazis als künstlerisch „entartete“ galten, sondern weil sie nicht deren wahnhaften Vorstellungen „wertigen“ Lebens entsprachen. Ein solches Schicksal drohte den in Deutschland verbliebenen oder später im besetzten europäischen Ausland lebenden Vertretern Moderner Kunst ausdrücklich nicht. Der Kampf der Nazis gegen die Künstler der Moderne war zuvorderst Symbolpolitik zum Zweck der gesellschaftlichen Ideologisierung, das Euthanasieprogramm zielte auf die physische Vernichtung der Menschen. Theoretische Diffamierung eines künstlerischen Stils und Massenmord sind aber zwei so grundsätzlich unterschiedliche Kategorien, dass der Versuch der Verknüpfung ethisch auf die schiefe Bahn führt.
Florian Keisinger
Charlie English spannt in seinem Buch „Wahn und Wunder“ einen Bogen vom Euthanasieprogramm der Nazis zur „entarteten Kunst“ – und verhebt sich.
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Neuer Roman „The German Girl“: Ein Jahrzehnt auf Speed - taz.de
Neuer Roman „The German Girl“: Ein Jahrzehnt auf Speed Ulrike Sterblich erzählt von deutsch-amerikanischen Amphetamin-Freundschaften. Und liefert eine eigens kuratierte Playlist zu ihrem Roman. Sterblichs Protagonistin sucht ihr Glück als (Bein-)Model in New York Foto: Ernst Haas/getty images Immer wieder liegen da diese Bartstoppeln im Waschbecken. In ihrem New Yorker Apartment, bei der Rückkehr in ihre Heimatstadt Berlin, wo sie im feinen Hotel Kempinski am Ku’damm residiert, sogar im mexikanischen Acapulco bei einem Shooting für Nylonstrumpfhosen: Überall entdeckt das German Girl Mona Friedrich dieselben rotbraunen Haarspitzen im Bad. Als wäre noch jemand in ihren vier Wänden oder hätte zumindest heimlich Zugang dazu. Oder sieht sie vielleicht doch Gespenster, ein Gedanke, der angesichts ihres beträchtlichen Konsums von mit Methamphetamin versetzten „Vitamin“-Spritzen und Diätpillen nicht völlig abwegig wäre? Die Spur der Stoppeln zieht sich als kleine Nebenspannungskurve durch Ulrike Sterblichs Roman über das New York der sechziger Jahre, bevor sie gegen Ende ihre überraschende Auflösung findet. Aber auch der größere Erzählbogen bricht mit den Erwartungen: Die Geschichte von Mona, die das Nachkriegswestberlin hinter sich gelassen hat und, befeuert von einer verflossenen Liaison mit einem GI, ihr Glück als (Bein-)Model in New York sucht, könnte sehr leicht auch ein Absturzdrama werden. Denn das gut recherchierte historische Setting, das Sterblich um Mona rekonstruiert, legt einen Schwerpunkt auf eine ziemlich verrückte deutsch-amerikanische Connection. Das Who’s who der US-Prominenz ließ sich fit spritzen Die in den dreißiger Jahren aus Nazideutschland emigrierten Ärzte Max Jacobson und Robert Freymann unterhielten in den sechziger Jahren florierende Praxen an der Upper East Side mit Patientenkarteien, die sich wie das Who’s who der US-Prominenz dieser Jahre lesen: Politiker wie John F. Kennedy, Hollywoodstars wie Marilyn Monroe, Billy Wilder und Liz Taylor, Schriftsteller wie Tennesse Williams, Truman Capote, Henry Miller und Musiker wie Eddie Fisher ließen sich von den deutschen Ärzten fit spritzen. Dass es sich bei den Injektionen um mehr als nur Vitamine handelte, war wohl auch den meisten Pa­ti­en­t*in­nen klar. Die sogenannte „Leistungsdroge“ Amphetamin, auch Speed genannt, kam in den USA erst Anfang der siebziger Jahre auf den Betäubungsmittelindex; als Bestandteil etwa von Appetitzüglern, die die Stones als „Mother’s Little Helper“ besangen, war sie in den Sechzigern legal. Das BuchUlrike Sterblich: „The German Girl“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 384 Seiten, 20 Euro Ironie der Geschichte: In den dreißiger Jahren hatten die Deutschen nicht nur als erste Methamphetamin unter dem Namen Pervitin im großen Stil produziert und vertrieben, sie setzten es auch gezielt in der Wehrmacht ein, bis klar wurde, dass selbst im Krieg die Nachteile der Entzugserscheinungen die Vorteile der kurzfristigen Leistungssteigerung überwogen. Hitler selbst erhielt jedoch bis zuletzt von seinem Leibarzt Theo Morell ganz ähnliche „Vitamin“-Spritzen wie die New Yorker Boheme gut 20 Jahre später von den „Dr. Feelgoods“. Im Roman konstatiert der Pathologe Dr. Baden nach dem Tod von Jacobsons Patient Mark Shaw, einem Fotografen, der eng mit Kennedy befreundet war, dass der Tote an akutem und chronischem Amphetaminmissbrauch starb. Er beginnt, den Arzt und seine Behandlungsmethoden auszukundschaften. Später steigen Journalisten der New York Times mit in die Recherchen ein. Parallel zur Mondlandung erscheinen die ersten Vorwürfe auf der Titelseite, doch die Approbation verliert Jacobson erst 1975. Autorin Ulrike Sterblich als „Supatopcheckerbunny“ Auch die fiktive Mona gerät in dieser Zeit auf Empfehlung eines ihrer glamourösen Künstler- und Partyfreund*innen, des schönen Obdachlosen Adam, in die überfüllten Wartezimmer der Meth-Doktoren, die in Sterblichs Schilderungen eher an die Wiesen Woodstocks als an medizinische Räumlichkeiten erinnern. Die Falle der Abhängigkeit könnte leicht zuschnappen, wenn sich Monas On-off-Beziehung zum kunstliebenden Unternehmersohn Sidney nicht im Laufe des Romans in eine doch sehr solide Liebe verwandeln würde. Ulrike Sterblich, die in der Berliner Literatenszene der späten Neunziger bei den „Höflichen Paparazzi“ schrieb und später als „Supatopcheckerbunny“ eigene Lesungs- und Buchformate entwickelte, erzählt ihren ersten Roman in einem angenehm flüssigen Ton zwischen Sachlichkeit und Anschaulichkeit. Stets aus freundlich zugewandter Distanz blickt sie dabei auf ihre vielen Figuren und speist in genau der richtigen Dosis kleine bildhafte Exzentrizitäten ein, wie etwa Schuhe, die aussahen „wie von einem geistesgestörten Schuster zusammengenähtes Herbstlaub“. Mit Kakadu Winnetou und Spotify-Playlist Details zählen, sei es Monas zugeflogener Kakadu Winnetou, das geheimnisvolle Parfüm „Berlin“, das ihr die Türe zu den richtigen Leuten öffnet, oder die Songs von Aretha Franklin bis Pat Suzuki (die Ex-Frau von Mark Shaw), die Sidney in seiner Radioshow spielt und die die Autorin in einer Playlist auf Spotify hinterlegt hat. Auch dass Monas Geschichte eben kein Aufguss eines anderen deutschen Models der Sechziger – Nico – wird, sondern dessen bürgerlichere Variante erzählt, unterstreicht die Stilsicherheit, mit der Sterblich ihren Stoff sanft gegen den Strich bürstet. Allerdings doch um den Preis, dass keine der Figuren und ihre Konflikte, noch nicht einmal die zwischen Autonomiewunsch und Gefährdung schwankende Mona einen so richtig in den Schwitzkasten nimmt. Aber vielleicht ist es ja besser, beim Besuch in diesem heißen Speed-Jahrzehnt einen halbwegs coolen Kopf zu behalten.
Eva Behrendt
Ulrike Sterblich erzählt von deutsch-amerikanischen Amphetamin-Freundschaften. Und liefert eine eigens kuratierte Playlist zu ihrem Roman.
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PAPST-WORTE - taz.de
PAPST-WORTE In Castel Gandolfo hat Papst Benedikt XVI. gestern Bedauern über die Reaktionen auf seine Rede in Regensburg geäußert. Wörtlich sagte er: „Dieser Passus wird als Beleidigung der religiösen Gefühle von islamischen Gläubigen empfunden, während es sich doch um das Zitat eines mittelalterlichen Textes handelte, der in keiner Weise mein persönliches Denken ausdrückt. (…) Die Rede war und ist (…) eine Einladung zum offenen und ehrlichen Dialog, mit großem gegenseitigem Respekt.“ In Regensburg hatte der Papst den byzantinischen Kaiser Manuel II. mit den Worten zitiert: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“Innerhalb der Kurie in Rom ist das inkriminierte Zitat des Papstes offenbar auf Kritik gestoßen. Die italienische Zeitung La Stampa sprach von Unmut unter den Mitarbeitern des Papstes. Il Manifesto hingegen frohlockte: „Benedikt XVI. hat endlich, nach 2.000 Jahren, definitiv und unabweislich die Fehlbarkeit des Papstes bewiesen.“ AB
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Diskussion zu Holocaust und Nakba: Zoff um Goethe-Event in Israel - taz.de
Diskussion zu Holocaust und Nakba: Zoff um Goethe-Event in Israel Das Goethe-Institut in Tel Aviv hatte für den 9.11. zu einer Podiumsdiskussion geladen. Nach empörten Protesten wird die Veranstaltung vertagt. „So oder so ist es eine Unverschämtheit“, sagt Israels Botschafter Ron Prosor Foto: Bernd Elmenthaler/imago BERLIN/TEL AVIV taz | Konstruktiv werde das Buch zur Debatte beitragen. Zumindest war dies die Hoffnung des Rezensenten in der Frankfurter Rundschau. In einer begeisterten Besprechung des Buches „Den Schmerz der Anderen begreifen“ schrieb Micha Brumlik im Sommer: Dem Buch der Autorin Charlotte Wiedemann könne es gelingen, die festgefahrenen Fronten in der Diskussion über das Verhältnis von kolonialen Gräueltaten und nationalsozialistischem Judenmord und die Singularität der Shoah wieder aufzulockern. Das ist bislang offenbar nicht gelungen. „Inakzeptabel und respektlos!“ – mit diesen Worten hat Ron Prosor, Israels Botschafter in Berlin, nun eine Podiumsdiskussion zu dem Buch skandalisiert, die das Goethe-Institut mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv ursprünglich für diesen Mittwoch, den 9. November, geplant hatte – den Jahrestag der Reichspogromnacht. Nach einem breiten Aufschrei haben die Veranstalter die Diskussion nun auf Sonntag verlegt. Auch der Untertitel der Veranstaltung, der wohl der eigentliche Stein des Anstoßes gewesen sein dürfte – „Holocaust, Nakba und deutsche Erinnerungskultur“ –, verschwand am Dienstag von der Webseite des Goethe-Instituts. „Am Gedenktag an die Novemberpogrome 1938 haben das Goethe-Institut und die Rosa-Luxemburg-Stiftung beschlossen, die Erinnerung an den Holocaust zu verharmlosen. Und das ausgerechnet in Israel“, kritisierte Botschafter Prosor auf Twitter. Das Außenministerium in Jerusalem äußerte am Dienstag „Erschütterung und Abscheu angesichts der dreisten Trivialisierung des Holocaust“ und unterstellte eine „zynische und manipulative Absicht, eine Verbindung (zwischen Holocaust und Nakba, d. Red.) herzustellen, deren ganzes Ziel die Diffamierung Israels ist“. Auf die Verschiebung folgte eine weitere Mitteilung: Die Veranstaltung sei allgemein eine „Schande“ und dürfe „an keinem Datum“ stattfinden. Amos Goldberg: Niemand will vergleichen Mit dem Wort Nakba (Katastrophe) bezeichnen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und andere Ara­be­r*in­nen die mit der Staatsgründung Israels 1948 verbundene Flucht und Vertreibung von großen Teilen der arabischen Bevölkerung aus dem damaligen Mandatsgebiet Palästina. Dabei kam es teilweise auch zu Massakern an Zi­vi­lis­t*in­nen. Für hunderttausende Menschen bedeutete die Gründung eines mehrheitlich jüdischen Staates, auf die mehrere arabische Staaten mit einem Angriffskrieg reagierten, den dauerhaften Verlust ihrer Heimat. Nach aktuellem Stand der Forschung verließen zwischen 1947 und 1949 zwischen 700.000 bis 750.000 Menschen das heutige israelische Staatsgebiet. Bei der Veranstaltung solle es nicht um einen Vergleich mit dem Holocaust gehen, kommentierte einer der Dis­ku­tan­t*in­nen am Mittwoch gegenüber Haaretz. Vielmehr sei die Frage, „wie es möglich ist, katastrophale Erinnerungen an Ereignisse zu verarbeiten, die sich in einer Situation des Konflikts, der Besatzung und der Apartheid stark voneinander unterscheiden, und wie die Arbeit der gemeinsamen Erinnerung uns vielleicht auch einer politischen Lösung näher bringen könnte“, so Amos Goldberg von der Fakultät für jüdische Geschichte und zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Botschafter: „So oder so ist es eine Unverschämtheit“ Im zunehmend rechtslastigen und teils offen antipalästinensischen Diskurs in Israel wird der Begriff Nakba mitunter als „antiisraelisch“, teils auch als antisemitisch gebrandmarkt, was die Erinnerung an die Flucht und Vertreibung von Ara­be­r*in­nen aus Palästina delegitimiert. Auch in Deutschland sind derartige Stimmen seit Jahren zu vernehmen. Wiedemanns Buch war bereits im August Gegenstand einer Debatte. Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, warf der Autorin vor, „die Shoah im Namen einer angeblich antirassistischen, also guten Geschichtsrevision zu relativieren“. Er räumte jedoch ein, das Buch nicht gelesen zu haben, sondern sich auf lediglich einen auf Twitter veröffentlichten Satz zu beziehen. Botschafter Prosor teilte auf Nachfrage der taz, was seine inhaltliche Kritik am Buch sei, am Mittwoch lediglich mit: „So tragisch ein historisches Ereignis aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden mag, es kann nicht mit dem Holocaust verglichen werden. Ganz unabhängig davon drückt das gewählte Datum entweder die Ignoranz zweier deutscher Institutionen oder ihre zynische Berechnung aus. So oder so ist es eine Unverschämtheit.“ Wiedemann, die auch für die taz schreibt, spürt in ihrem Buch in Form von Reportagen und Essays der Frage nach, wie eine deutsche Erinnerungskultur den Holocaust im Zentrum behalten kann, sich aber gleichzeitig entwickeln und für die Erinnerung an andere Menschheitsverbrechen öffnen kann, etwa an die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika vor 1914. So geht es in dem Buch etwa auch um Perspektiven Schwarzer Soldaten im Zweiten Weltkrieg oder um osteuropäische Erinnerungskulturen und das ihnen inhärente Spannungsverhältnis zwischen Erinnern an den Stalinismus und an den Holocaust. Nur in wenigen Kapiteln thematisiert die Autorin unmittelbar den Nahostkonflikt. Sie stellt fest, dass im Geschichtsbild sowohl in Israel als auch unter Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen der Schmerz der jeweils anderen Seite geleugnet wird. Es folgen Überlegungen über Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Deutschland und die Feststellung, dass die Existenz von 200.000 Palästinastämmigen in Deutschland auch die Nakba zu einem Teil einer gemeinsamen deutschen Geschichte macht. Demo-Aufruf in Tel Aviv Die rechtsnationalistische israelische NGO Im Tirtzu rief für Mittwochabend zu einer Demonstration in Tel Aviv auf. „Steht mit uns auf gegen die diffamierende antiisraelische Veranstaltung im Herzen Tel Avivs“, hieß es auf Facebook. Im Tirtzu hat sich seit ihrer Gründung 2006 laut Selbstbeschreibung die „Erneuerung der zionistischen Ideologie“ auf die Fahnen geschrieben. Kri­ti­ke­r*in­nen werfen der NGO vor, faschistoide Züge zu haben und eine „Gedankenpolizei“ schaffen zu wollen. Im Tirtzu fährt aggressive Kampagnen gegen linke NGOs und Akademiker*innen. Eine ihrer Kampagnen richtet sich auch gegen das Narrativ der Nakba. Eine Broschüre trägt etwa den Titel Nakba Harta (Nakba-Blödsinn). Die Nakba wird darin als „Lüge“ und „politischer Mythos“ bezeichnet, „die uns wie ein Tsunami zu ertränken droht“.
Jannis Hagmann
Das Goethe-Institut in Tel Aviv hatte für den 9.11. zu einer Podiumsdiskussion geladen. Nach empörten Protesten wird die Veranstaltung vertagt.
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Bundestagsabgeordnete verlässt die AfD: Joana Cotar tritt aus und nach - taz.de
Bundestagsabgeordnete verlässt die AfD: Joana Cotar tritt aus und nach Die Abgeordnete Cotar ist aus Partei und Fraktion ausgetreten. Sie spricht von „Dauermobbing“ und „korrupten Netzwerken“ in der AfD. Äußerte vorm letzten Parteitag heftige Kritik an AfD-Chef Chrupalla und ist nun ausgetreten: Cotar Foto: imago/Future Image BERLIN taz | Be­ob­ach­te­r*in­nen hatten ihren Rücktritt bereits erwartet. Denn Anfragen hatte die Bundestagsabgeordnete letzte Woche nicht mehr beantwortet und kürzlich bereits das „AfD“ von ihrer Website und aus ihren Social-Media-Accounts gestrichen. Nun ist Joana Cotar endgültig ausgetreten: Die hessische Abgeordnete teilte am Montagmorgen mit, dass sie aus Partei und Bundestagsfraktion der extrem rechten AfD ausgetreten ist. Die frühere Mitstreiterin des ebenfalls Anfang des Jahres ausgetretenen Ex-Parteivorsitzenden Jörg Meuthen war eine der größten Kritikerinnen der Parteispitze um Tino Chrupalla. Cotar war mit Meuthens Unterstützung vor der letzten Bundestagswahl als Spitzenkandidatin gegen den vom völkischen Flügel unterstützten Chrupalla angetreten und dabei gescheitert. Ebenso hatte sie vorm Parteitag in Riesa im Juni heftige öffentliche Kritik an Chrupalla geäußert und war mit weiteren Un­ter­stüt­ze­r*in­nen mit einer Palastrevolution krachend gescheitert. Seither ist wenig zu hören von den vermeintlich gemäßigten Kräften der AfD. Der Austritt von Cotar ist wohl einer der letzten Sargnägel für das Lager der Selbstverharmloser. Cotar sagte zu ihrem Austritt, dass ihr der Schritt nach über zehn Jahren in der Partei nicht leicht gefallen sei – „schließlich habe ich die Partei in Hessen mit aufgebaut“, so Cotar. Doch es seien zu viele rote Linien überschritten worden: „Sei es durch Anbiederung an Regime wie Russland, China oder den Iran, durch den Opportunismus und das Dauermobbing im Kampf um Posten und Mandate oder durch den Aufbau korrupter Netzwerke in der Partei.“ Mit Verweis auf ihre rumänische Herkunft hatte sie immer wieder mit der putinfreundlichen Russlandpolitik ihrer Partei öffentlich gefremdelt – zuletzt hatten einzelne AfD-Abgeordnete sich ganz offen an das iranische Regime angebiedert. AfD sei selbst „Altpartei“ Cotar zieht mit dem Schritt Konsequenzen aus permanenten internen Angriffen und tritt ihrerseits noch einmal nach: „Statt um Inhalte geht es hauptsächlich um bezahlte Mandate und Ämter“, sagte Cotar. Die „Alternative“ sei mittlerweile selbst zu einer „Altpartei“ geworden – mit dem Begriff bezeichnet die AfD hämisch die demokratische Konkurrenz. „Im Kampf gegen innerparteiliche Gegner ist Dauermobbing an der Tagesordnung – angefeuert von der Spitze der Partei und ihren Netzwerken“, so Cotar. Anstand spiele in den korrupten Netzwerken innerhalb der Partei keine Rolle mehr. Anders als ihr ehemaliger Protegé Jörg Meuthen tritt Cotar allerdings ohne Verweis auf Rechtsextremismus aus der Partei aus: Nicht der „extreme Rechtsaußen-Rand“ sei das Problem, sondern „die Opportunisten, die für Mandate ihre Überzeugungen aufgeben, sich kaufen lassen und morgen das Gegenteil dessen vertreten, für das sie heute noch stehen“, sagte Cotar, die selbst mit Hetze in sozialen Netzwerken auffiel. Ihr Mandat wollte die Bundestagsabgeordnete trotz Austritt behalten. Cotar ist nicht die erste Abgeordnete, die in dieser Legislatur hinwirft: Nachdem Anfang 2022 bereits Uwe Witt mit Verweisen auf rechtsextreme „Grenzüberschreitungen“ aus der Fraktion ausgetreten war, war der Rechtsextremist Matthias Helferich letztes Jahr gar nicht erst in die Fraktion eingetreten. Zuletzt war Anfang September mit dem sachsen-anhaltischen Abgeordneten Robert Farle ein Hinterbänkler ausgetreten. Der bayerische Abgeordnete Johannes Huber verließ die Fraktion ebenfalls Anfang des Jahres – er war Administrator einer Chatgruppe, in der unter anderem hochrangige bayerische AfD-Mitglieder ihre Umsturz- und Bürgerkriegsfantasien auslebten.
Gareth Joswig
Die Abgeordnete Cotar ist aus Partei und Fraktion ausgetreten. Sie spricht von „Dauermobbing“ und „korrupten Netzwerken“ in der AfD.
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Ist der Angriff gegen Gaddafi richtig? - taz.de
Ist der Angriff gegen Gaddafi richtig? KRIEG Eine Koalition der Willigen greift in Libyen ein – doch die Entscheidung ist international umstritten nächste frageDie sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.www.taz.de/sonntazstreit JA Kerstin Müller,47, ist außenpolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen Der UN-Sicherheitsrat hat mit der Resolution 1973 keine „Angriffe gegen Gaddafi“ legitimiert, sondern beschlossen, den „Schutz der Zivilbevölkerung“ sicherzustellen , deren Leben in den Städten Misurata und Bengasi unmittelbar bedroht war. Seitdem Kofi Annan 2005 die „Responsibility to protect“ auf den Weg brachte, ist es das erste Mal seit Srebenica und Ruanda, seit Darfur, dass die Staatengemeinschaft in dieser Reichweite ihre Pflicht zum Handeln bei solchen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch wahrnimmt. Das war richtig und konsequent. Es ist dennoch bitter. Denn der Einsatz militärischer Mittel bedeutet, dass die Politik bereits dramatisch versagt hat. Jahrelang hatten „dieselben“ Politiker Gaddafi hofiert und aufgerüstet. Es ist auch riskant. Ein Eingreifen kann die Situation eskalieren, führt zu zivilen Opfern, kann lange dauern. Trotz dieser Zweifel hätte die Bundesregierung zustimmen müssen, auch wenn sie sich militärisch nicht beteiligt. So hat sie Europa gespalten und dramatisch an Glaubwürdigkeit in der UNO und in der arabischen Welt verloren. Eine schwerwiegende Fehlentscheidung! Ensam Kalamo Salam, 42, aus Kairo, war schon vor dem arabischen Frühling Aktivist Als Aktivist aus Ägypten bewegt mich die Situation der Menschen in den anderen arabischen Ländern sehr. Ich wünschte, die Situation in Libyen wäre anders und der Diktator würde das Land friedlich verlassen – wie es in Ägypten geschehen ist. Aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die Zivilbevölkerung zu schützen, bin ich mit der internationalen Aktion einverstanden, solange sie kurz ist und nur dazu dient, diesen arroganten Führer zu stürzen und Zivilisten zu schützen. Auf keinen Fall darf sie wirtschaftliche Zielen haben wie den Zugang zu Öl – das würde die Kluft zwischen den Menschen in arabischen Ländern und der EU und USA weiter vertiefen. Stefan Göpke, 45, lebt in Braunschweig und hat den Streit auf taz.de kommentiert Allein diese immer wieder gestellte Frage zeugt von dem Unwillen, sich mit aktuellen und reellen Problemen zu beschäftigen. Die Menschen, die unbequeme Entscheidungen meiden, definieren Frieden in einer äußerst fragwürdigen Art. „Frieden“ bedeutet für sie nur bequeme Ruhe, der sich alle anderen Werte unterzuordnen haben. Ohne Freiheit und Menschenrechte ist Frieden nur eine seichte Illusion, eine leere Worthülse. Manchmal muss man aber auch für seine Grundwerte kämpfen. Dieses Paradoxon lösen die Bequemen für sich, indem sie einfach jeden, der ihre Ruhe stört, zum Friedensfeind erklären. Sie üben lieber einen Schulterschluss mit Freiheitsfeinden, die den Begriff Frieden auch schon lange für sich vereinnahmt haben und Terror als friedlichen Widerstand, aber Selbstverteidigung als kriegerische Gewalt definieren. Ist das der „Frieden“, über den diskutiert wird? Aber mal konkret: Nachdem nun in der Vergangenheit die Zivilgesellschaft bezüglich Gaddafi versagt hat (Claudia Roth plädierte 2004 zum Abwarten – danach war nichts mehr zu hören), mögen jene doch bitte für die konkrete, von ihnen mitverantwortete Situation eine gewaltfreie Lösung vorschlagen. Eine, bei der nicht Tausende von Zivilisten massakriert werden. Mit einem Sieg Gaddafis würde sicher auch wieder „Frieden“ einkehren, aber nicht meine Vorstellung von Frieden! NEIN Johan Galtung, 80, ist Mathematiker, Soziologe, Politologe und Friedensforscher Ein Arzt, der seine Feinde nicht behandelt, bricht den hippokratischen Eid; eine Organisation, die nur gegen ihre Feinde interveniert, bricht das Prinzip der humanitären Hilfe. Hätte es eine Flugverbotszone auch über Bahrain oder dem Gazastreifen gegeben, hätte man sie auch eingerichtet, um die Qassam-Raketen der Hamas abzuwehren, wäre die aktuelle Intervention sicher leichter zu rechtfertigen. So aber bestätigt der Einsatz der Koalition aus politischer Sicht die gängigen Klischees über das Verhalten imperialistischer Kräfte. Für Großbritannien, Frankreich und die USA wird sich das negativ auswirken. Aus ökonomischer Sicht geht es sowieso nur ums Öl. Aus menschlicher Sicht muss man sagen, dass dieser Einsatz mehr Menschen töten wird, als er retten kann. Dieser Krieg kann viele Jahre andauern. Gaddafi ist ein Autokrat, aber er ist auch aufgestanden für sein Volk, um gegen ein Unrechtsregime zu kämpfen. Und er besitzt immer noch eine enorme Strahlkraft: Sollte er durch die Angriffe der Koalition ums Leben kommen, wird er als Märtyrer in die Geschichte eingehen. Konstantin Kosatschew, 48, ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses der Duma Unter den jetzigen Bedingungen wäre eine neue Resolution vonnöten. Russland hat versucht, im Sicherheitsrat eine präzisere Resolution zu formulieren, die einen wie auch immer gearteten Missbrauch von vornherein ausgeschlossen hätte. Unser Vorschlag fand aber keine Unterstützung. Daher haben wir uns für das so genannte kleinere Übel entschieden. Wenn auch nur indirekt kam dies einer Unterstützung der humanitären Intervention gleich. Gleichzeitig bedeutet dies aber eine Absage an eine militärische Operation, hinter der sich nichts anderes als eine politische Intervention verbirgt. Wir lehnen die Methoden der antilibyschen Koalition, Ordnung in dem Land herzustellen, ab. Denn es entsteht der Eindruck, dass die Intervention andere Ziele verfolgt: die Unterstützung der Opposition nämlich. Das bedeutet jedoch Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Staates. Nur das libysche Volk hat das Recht, die Zukunft seines Landes zu bestimmen. Norman Paech, 83, ist Völkerrechtler und war außenpolitischer Sprecher der Linken Wo kämen wir hin, wenn wir jeden Schurken mit Krieg überziehen würden? Wo war der Sicherheitsrat, als Bush Irak überfiel mit zigtausenden von Toten? Wer den US-Präsidenten angreift, ist ein Terrorist und greift die Menschheit an. Wer Gaddafi angreift, aber rettet die Menschheit? Erst päppelt man den Schurken, rüstet ihn auf über Jahrzehnte, sichert sich sein Öl und benutzt ihn zur Abwehr der Flüchtlinge. Passt er nicht mehr ins Konzept und sinken die Umfragewerte zu Hause, greift man zur Waffe und lässt die Kriegsintellektuellen ihr Lied von den Menschenrechten singen. Man schlägt alle Vermittlungs- und Verhandlungsangebote aus, erklärt, es gibt keine Alternative, und setzt auf Bomben und Raketen, um den alten Verbündeten zu liquidieren. Wie verlogen ist diese Politik? Wer sind hier die Schurken? Kann man sich sein Öl und Gas nicht mit zivilisierten Mitteln sichern? Haben die blutigen Massaker, die vielen Toten in Afghanistan und Irak den Menschenrechten genutzt? Wer die Menschenrechte mit Krieg retten will, hinterlässt immer ein Schlachtfeld. Eines, auf dem es keine Menschenrechte mehr gibt.
Kerstin Müller / Ensam Kalamo / Stefan Göpke / Johan Galtung / Konstantin Kosatschew / Norman Paech
KRIEG Eine Koalition der Willigen greift in Libyen ein – doch die Entscheidung ist international umstritten
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Black & white – Geschichten aus dem neuen Südafrika Von Bartl Grill - taz.de
Black & white – Geschichten aus dem neuen Südafrika Von Bartl Grill Der Nachbarshund schlendert gerade über die Straße. Steigt in das kleine Blumengärtchen just vor dem Bürofenster. Schaut sich kurz um. Und legt ein fettes Ei. Wie freut sich da der Korrespondent! Dieses Ereignis untermalt das Thema unseres heutigen Beitrages: Wir wollen uns dem Hund im neuen Südafrika widmen. Ein Brief des Schatzmeisters von Johannesburg ist nämlich eingegangen. Darüber steht, blaßgrün auf weiß, folgendes geschrieben: „Ansoek om Hondebelasting.“ Der Steuerantrag für Hunde, fortan Honde genannt. Jetzt schlägt die schwarze Regierung zu: Millionen von Honden, Milliarden an Steuern. 15 Rand für die ersten zwei, 55 Rand für jeden weiteren. Das wird teuer für den Nachbarn mit den Bullterrier-Zwillingen, dem Kampfdackel und den drei Pinschern. Oder für die alte Dame, die mit ihrem lefzenden Schäferhond-Dreigespann allabendlich durch den Paterson Park fuhrwerkt und uns gerne anknurrt, wenn wir darüber Beschwerde führen, daß ihre Untiere die Luft aus unseren wertvollen UEFA-Lederball lassen wollten: „Aber Sie kommen doch aus Germany!“ – „Jawoll, Madam. Unser Parlament heißt ja auch Hundestag. Wir aber gehören zur Randgruppe der leidenschaftlichen Hundehasser.“ In Südafrika ist der Hond als solcher noch höher gestellt als in Deutschland. In der guten alten Apartheidzeit kam er privilegien- mäßig gleich hinter den weißen Herrchen und Frauchen und Kinderchen. Seine Hütte war in der Regel besser ausgestattet als die Unterkünfte der schwarzen „maids“ und „boys“. Er hatte Farbfernseher, Leibweste für den kalten Winter, Hondeshampoo von Dr. Bello und viel Ansprache. Auch wenn er hin und wieder mal ein Kleinkind riß, als Kämpfer wider den Kommunismus und gegen die „swart gevaar“ war er stets ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft. Denn der Hond geht bevorzugt auf Schwarze los. Ein Rätsel für Hondeforscher. Rassistenhalter von Rassehonden behaupten: „Sie können Kaffern nicht riechen.“ Das traut sich jetzt niemand mehr laut zu sagen, weil der „Kaffer“ schließlich die Macht hat. Aber der Hond rangiert in der Wohlstandshierarchie immer noch weit oben. Man muß nur mal am Wochenende zu Pick'n Pay gehen. Da brechen die Einkaufswagen unter der Last des Hondefutters zusammen. Nährpillen, Fellbürsten, Flohbänder mit Halbedelsteinen – für's Kampfhondi ist das Beste gerade gut genug. Beinahe hat das Brathuhn für Patience keinen Platz mehr. Ausgaben heute: 200 Rand für den Hond, neun Rand für die Haushaltsmagd. Im Township aber hat der Hond nichts zu lachen. Dort wird nämlich von den Großen getreten und von den Kleinen getriezt und auf seine wahre Natur des zotteligen, verdreckten, hinterhältigen Streuners zurückgeführt. Unsere Freundin Andrea, die gestern ausgeflogen ist, will ihrem schneeweißen Darling ein solches Los ersparen. Ginger, der Hond, jettete ins Dackelland Bayern mit. Sein Flugticket hat schlappe 4.000 Rand gekostet. Dafür sind 15 Rand Steuer eingespart worden ... Wir werden jetzt den blaßgrünen Antrag ganz schnell und wahrheitsgetreu ausgefüllt an den Stadtkämmerer zurückschicken: Ek sertifiseer dat daar geen honde op hierdie perseel is nie – Auf unserem Anwesen ist kein Hond. Nie nicht. Hondertprozentig.
Bartl Grill
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Alliierte greifen aus der Luft an: „Begrenzter“ Militärschlag in Syrien - taz.de
Alliierte greifen aus der Luft an: „Begrenzter“ Militärschlag in Syrien Mit Angriffen gegen Ziele in Syrien reagieren die USA und ihre Verbündeten auf einen mutmaßlichen Giftgasangriff. Russland droht mit Konsequenzen. Damaskus in der Nacht zum Samstag Foto: dpa WASHINGTON/DAMASKUS dpa/ap/afp | Die USA, Frankreich und Großbritannien haben als Vergeltung für einen mutmaßlichen Giftgaseinsatz Ziele in Syrien angegriffen. Russland, Verbündeter und Schutzmacht der syrischen Führung von Präsident Baschar al-Assad, drohte umgehend mit Konsequenzen. Befürchtet wird eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den USA und Russland. Nach US-Militär- und syrischen Angaben wurden 110 Raketen auf mindestens drei Ziele abgefeuert. An den Militärschlägen waren zwei US-Kriegsschiffe beteiligt sowie vier britische Bomber und eine ungenannten Zahl französischer Bomber. Die Briten griffen ein Ziel nahe Homs an. US-Medien schrieben von Dutzenden Marschflugkörpern. Es handele sich um eine begrenzte, einmalige Aktion. Weitere Schläge seien nicht geplant, sagte US-Verteidigungsminister James Mattis. Unklar bleibt, ob das stimmt. Trump hatte zuvor gesagt, es könne weitergehen: „Wir sind darauf vorbereitet diese Antwort aufrechtzuerhalten, bis das syrische Regime seinen Einsatz chemicher Mittel beendet.“ Nach syrischen Angaben wurden mindestens drei Zivilisten verletzt. Aus Armeekreisen hieß es, sechs Soldaten seien bei der Stadt Homs verletzt worden. US-Präsident Donald Trump sagte am Freitagabend in einer Rede an die Nation, die Angriffe seien die Antwort auf den Einsatz chemischer Waffen durch die syrische Regierung unter Präsident Baschar al-Assad gegen das eigene Volk. „Dies sind nicht die Taten eines Menschen“, sagte Trump. „Es sind die Verbrechen eines Monsters.“ Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte: „Die rote Linie ist überschritten.“ Die britische Premierministerin Theresa May bezeichnete den Angriff als alternativlos. Russland drohte mit Konsequenzen. Man werde den UN-Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen lassen. Das teilte der russische Präsident Wladimir Putin am Samstag mit. „Wir sind wieder bedroht worden“, hieß es zudem in einer Erklärung des russischen Botschafters in Washington, Anatoli Antonow, auf Twitter. „Wir haben gewarnt, dass solche Aktionen nicht ohne Konsequenzen sein werden.“ Alle Verantwortung dafür hätten nun die Regierungen in Washington, London und Paris zu tragen. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, schrieb auf Facebook, es gebe weiterhin keine Beweise für den mutmaßlichen Giftgasangriff auf die Stadt Douma. Schwere Explosionen in Damaskus Syrien kritisierte einen Verstoß gegen internationales Recht. „Einmal mehr bestätigen die USA und die Achse zur Unterstützung des Terrors, dass sie gegen internationales Recht verstoßen, über das sie bei den Vereinten Nationen prahlerisch reden“, meldete die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana. Auch Iran, eine weitere Schutzmacht Assads, verurteilte die Angriffe als klaren Verstoß gegen internationale Vorschriften. Mattis sagte, der Schlag gegen Syrien sei härter gewesen als der im Vorjahr. Es seien etwa doppelt so viele Waffen eingesetzt worden wie beim Angriff 2017. Der Militäreinsatz richtete sich nach Angaben von US-Verteidigungsminister Mattis gegen die Infrastruktur der chemischen Waffenproduktion Syriens. Der Einsatz von Chemiewaffen könne unter keinen Umständen geduldet werden. Nach US-Angaben gab es keine Verluste bei den gemeinsamen Angriffen auf eine Forschungszentrum wohl nordöstlich der Hauptstadt Damaskus, eine mutmaßliche Lagerstätte für chemische Waffe sowie einer Kommandoeinrichtung bei Homs. Nach dem Beginn des Angriffs waren in der Hauptstadt Damaskus schwere Explosionen zu hören gewesen. Das berichteten Anwohner am frühen Morgen. Der Generalstabschef des US-Militärs, Joseph Dunford, sagte, nahe Homs sei der chemische Kampfstoff Sarin gelagert worden. Die USA hätten den Angriff nicht mit Russland koordiniert. Es habe lediglich Kommunikation über den regulären Kanal zwischen dem russischem und amerikanischem Militär zur Vermeidung von Zwischenfällen über Syrien gegeben. Mattis sagte, der Schlag gegen Syrien sei härter gewesen als der im Vorjahr. Es seien etwa doppelt so viele Waffen eingesetzt worden wie beim Angriff 2017. Vier Flugzeuge der britischen Royal Air Force beteiligt Es ist das zweite Mal, dass die USA und Präsident Trump die Assad-Regierung direkt angreifen. Das US-Militär hatte vor einem Jahr die Luftwaffenbasis Schairat beschossen. Das war eine Reaktion auf den Giftgasangriff mit Dutzenden Toten auf die Stadt Chan Scheichun, für den UN-Experten die Regierung Assads verantwortlich machten. Das Eingreifen der USA galt aber weitgehend als symbolisch. An dem Einsatz nun waren auch vier Flugzeuge der britischen Royal Air Force beteiligt. Es habe „keine gangbare Alternative zum Einsatz der Streitkräfte gegeben“, um das syrische Regime vom Einsatz der Chemiewaffen abzuschrecken, sagte die britische Premierministerin May. Die militärische Antwort sei ein „begrenzter und gezielter Schlag“. Es gehe nicht darum, in einen Bürgerkrieg einzugreifen. Es gehe auch nicht um einen Regimewechsel, sagte May. Der französische Präsident Macron sagte: „Dutzende von Männern, Frauen und Kindern wurden beim Einsatz chemischer Waffen in Duma am 7. April massakriert. Ich habe deshalb den französischen Streitkräften befohlen einzugreifen.“ Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian nannte den Einsatz rechtmäßig. Das Vorgehen richte sich nicht gegen die Verbündeten Syriens – Russland und Iran – und auch nicht gegen die Zivilbevölkerung. Assad solle davon abgehalten werden, weiter Chemiewaffen einzusetzen. Man gehe davon aus, dass das Chemiewaffenarsenal in Syrien nun zum großen Teil zerstört sei, fügte Außenminister Drian am Samstagvormittag in Paris hinzu. Er führte weiter aus, Frankreich verfüge über „verlässliche Informationen“, dass die syrische Staatsführung hinter dem mutmaßlichen Chemiewaffenangriff vom 7. April in der Stadt Douma stecke. UN-Generalsekretär warnt vor einer weiteren Eskalation Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg unterstützt den Angriff und erklärte: „Das wird die Fähigkeiten der Führung einschränken, weiter die Menschen in Syrien mit chemischen Waffen anzugreifen.“ UN-Generalsekretär António Guterres rief die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Zurückhaltung auf und warnte vor einer weiteren Eskalation. Die syrische Armee war seit Tagen in voller Alarmbereitschaft und hatte sich am Mittwoch von weiteren Stützpunkten zurückgezogen. Die deutsche Bundesregierung hat sich indes hinter die westlichen Angriffe auf Syrien gestellt. „Der Militäreinsatz war erforderlich und angemessen, um die Wirksamkeit der internationalen Ächtung des Chemiewaffeneinsatzes zu wahren und das syrische Regime vor weiteren Verstößen zu warnen“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag in Berlin. „Wir unterstützen es, dass unsere amerikanischen, britischen und französischen Verbündeten als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats in dieser Weise Verantwortung übernommen haben.“ Trump hatte zuvor unverhohlen mit dem Angriff gedroht. Er sagte in seiner sehr kurzfristig angekündigten, etwa acht Minuten dauernden Ansprache, die USA seien darauf vorbereitet, ihre Einsätze fortzusetzen, bis die syrische Regierung ihren Einsatz verbotener chemischer Waffen beende. An Russland und den Iran gerichtet, fragte Trump: „Was für eine Art Nation würde im Zusammenhang stehen wollen mit dem Massenmord an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern?“ Die syrische Armee war seit Tagen in voller Alarmbereitschaft und hatte sich am Mittwoch von weiteren Stützpunkten zurückgezogen. Schon am Dienstag verließ die Armee einige Militärbasen, um einer möglicherweise bevorstehenden Attacke der USA und seiner Verbündeten Frankreich und Großbritannien weniger Angriffsfläche zu bieten. 13 Raketen abgefangen? Die staatliche Nachrichtenagentur Sana meldete, die Luftabwehr Syriens habe die „amerikanisch-britisch-französische Aggression“ bekämpft. Es seien 13 Raketen abgefangen worden. Aus Armeekreisen hieß es, es seien Dutzende Abwehrraketen abgefeuert worden, unter anderem vom Militärflughafen Al-Schairat. Das Pentagon wollte zu dieser Darstellung keine Stellung nehmen. Begonnen hatte die Eskalation mit einem mutmaßlichen Giftgasangriff auf die letzte damals noch von Rebellen kontrollierte Stadt Douma in der Region Ost-Ghuta am 7. April. Dabei sollen der Hilfsorganisation Weißhelme zufolge mindestens 42 Menschen getötet worden sein. Mehr als 500 Personen wurden demnach in Krankenhäusern behandelt. Experten der Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) wollten am Samstag in Duma untersuchen, ob dort tatsächlich Chemiewaffen eingesetzt wurden. Ihr Auftrag lautet jedoch nicht, die Verantwortlichen zu ermitteln. Russland hatte den Vorfall als inszenierte Provokation Großbritanniens eingestuft. „Wir haben Beweise, dass Großbritannien an der Organisation dieser Provokation in Ost-Ghuta direkt beteiligt ist“, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Die britische UN-Botschafterin Karen Pierce bezeichnete den Vorwurf als „grotesk“, „bizarr“ und „offenkundige Lüge“.
taz. die tageszeitung
Mit Angriffen gegen Ziele in Syrien reagieren die USA und ihre Verbündeten auf einen mutmaßlichen Giftgasangriff. Russland droht mit Konsequenzen.
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500 Kilometer Ölrohre durch vulkanisches Gebiet - taz.de
500 Kilometer Ölrohre durch vulkanisches Gebiet Die WestLB – Deutschlands größte öffentlich-rechtliche Bank – will ein umstrittenes Pipelineprojekt durch Ecuadors Urwälder finanzieren BERLIN taz ■ „Passend“ zur Weltklimakonferenz Ende Juli in Bonn ist jetzt offiziell bestätigt worden: Ausgerechnet die Westdeutsche Landesbank (WestLB) will die Finanzierung einer höchst umstrittenen Ölpipeline in Ecuador sichern. Das berichtet der Stern in seiner aktuellen Ausgabe. Demnach bedroht das Projekt nach Auffassung zahlreicher Umweltorganisationen einzigartige Regenwälder und damit die Existenzgrundlage der lokalen Bevölkerung entlang der geplanten Trasse. 500 Kilometer lang soll die Pipeline werden. Dabei führt sie durch erdbebengefährdetes und vulkanisch aktives Gebiet. Durch die daraus resultierenden Gefahren seien die elf Schutzgebiete, die von der Trasse durchschnitten werden, bedroht. Dazu gehört auch das international anerkannte „Mindo-Nambillo“-Reservat – ein bedeutender Lebensraum für seltene Vogelarten, der zur ersten „Important Bird Area“ Südamerikas erklärt wurde. Die Kapazitätsauslastung der neuen Pipeline erfordert eine deutliche Steigerung der Ölproduktion in Ecuador. Kritiker warnen, dass das Projekt gegen auch in Ecuador garantierte Menschenrechte und international verbindliche Verpflichtungen der Regierung verstoße. Unter Missachtung der Verfassung seien die Existenzängste, Sorgen und Alternativvorschläge der von dem Projekt Betroffenen praktisch ignoriert worden. „Die lebensbedrohende Gewalt geht von Schreibtischtätern in den Banken aus“, kritisiert Reinhard Behrend von „Rettet den Regenwald“ aus Hamburg. Diese hat gestern eine Kampagne gestartet unter dem Motto: „Stoppt die gewaltsame Regenwaldzerstörung durch die WestLB noch vor der Klimakonferenz!“ Zeitgleich gingen Protestbriefe an den Vorstandsvorsitzender der WestLB, Friedel Neuber, und den NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement. Das Land NRW besitzt 43,2 Prozent der Anteile an der WestLB, dem größten öffentlich-rechtlichen Kreditinstitut in Deutschland. Auch in Ecuador ist es schon zu heftigen Protesten gegen die Pipeline gekommen, mehrere Klagen wurden bereits eingereicht. Am kommenden Wochenende ist in Mindo ein großes Musik- und Künstlerfestival gegen das Projekt geplant, zu dem bis zu 4.000 Menschen erwartet werden. In dem südamerikanischen Land fordern Wissenschafter, nationale Umweltgruppen und betroffene Dorfgemeinschaften unabhängige Umweltgutachten. Zudem müsse der Verlauf der Pipeline geändert werden, um das „Mindo-Nambillo“-Reservat zu retten. Das internationale Firmenkonsortium will dagegen von der bisherigen Routenplanung nicht abweichen, weil sie technische und wirtschaftliche Vorteile bietet. Das hoch verschuldete Ecuador ist dringend auf Devisen aus dem Ölexport angewiesen. Nationale Umweltschützer kritisieren allerdings, dass 80 Prozent der Einnahmen für den Schuldendienst verwendet werden sollen, statt der armen Bevölkerung eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Lebensgrundlage aufzubauen. WERNER PACZIAN Infos: www.regenwald.org
WERNER PACZIAN
Die WestLB – Deutschlands größte öffentlich-rechtliche Bank – will ein umstrittenes Pipelineprojekt durch Ecuadors Urwälder finanzieren
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Wie Mönche knallhart Politik machen - taz.de
Wie Mönche knallhart Politik machen Buddhismus Die nationalistische und antimuslimische Ma-Ba-Tha-Vereinigung der Mönche will mit fragwürdigen Methoden verhindern, dass die Bevölkerung die „falschen“ Kandidaten wählt Mönchsprotest gegen internationale Kritik am Umgang mit der Minderheit der Rohingya Foto: dpa Von Aung San Nach der Verfassung von 2008 sind die etwa 500.000 buddhistischen Mönche des Landes von den Wahlen ausgeschlossen. Sie dürfen sich auch nicht parteipolitisch organisieren. Umso wichtiger ist es, den Blick auf die Aktivitäten der Mönche zu richten – und auf mögliche Folgen. Erst vor wenigen Wochen hat die „Organisation für den Schutz nationaler Rasse und Religion“ ihre zweite Konferenz in diesem Jahr beendet. Diese buddhistische Gruppierung ist auch im Ausland mit ihren antimuslimischen Aktivitäten aufgefallen. In ihrer Heimat ist sie besser unter dem Namen Ma Ba Tha bekannt. Sie ist eine von zwei wichtigen buddhistischen Vereinigungen in Birma. In ihr haben sich nationalistische Mönche zusammengefunden. Ihr Einfluss im birmesischen Alltag wächst. Zum Ende des dreitägigen Treffens im Koster Aung San Tat Oo, das im Bezirk Insein im Norden Yangons liegt, veröffentlichte die Gruppe eine Erklärung zu den bevorstehenden Wahlen. Einer der führenden Mitglieder der Ma Ba Tha, der Mönch U Daeweinda Bhivamsa, erklärte nach der Konferenz: „Da das politische Ziel von Ma Ba Tha der Schutz der Nation ist, wenden wir uns gegen Entwicklungen, die unser Land bedrohen.“ Um das Ziel zu erreichen, plane Ma Ba Tha aber nicht, sich selbst zur Wahl zu stellen und bestimmte wirtschaftliche und soziale Programme zu präsentieren. Politische Kommentare der Mitglieder würden stets als private Meinungen geäußert. „Es ist die Politik der Ma Ba Tha, keine politischen Stellungsnahmen abzugeben.“ Der Mönch fügte hinzu, dass Ma Ba Tha für 2015 friedliche und erfolgreiche Wahlen wünsche – zugleich aber nicht sehen wolle, dass die Bevölkerung den falschen Kandidaten zum Präsidenten wähle. Daher werde die Gruppierung „objektive Empfehlungen zu den grundlegenden politischen Zielen aller Parteien“ abgeben. Ähnlich äußerte sich der bekannte Mönch U Wirathu vom Kloster Masoeyein in der Stadt Mandalay, der auch ein Führungsmitglied von Ma Ba Tha ist, in einem Interview mit der britischen BBC: „Wir fordern die Wahlkommission der Union Myanmars auf, freie und faire Wahlen sicherzustellen, wie es das Ausland wünscht. Ma Ba Tha wird keine Wahlempfehlungen für bestimmte Parteien oder Kandidaten geben. Wenn wir politische Parteien kritisieren, dann werden wir ihre Politik und Qualität objektiv beurteilen. Wir werden den Menschen erklären, dass sie die glaubwürdigsten und verlässlichsten Kandidaten für ihre Region, Rasse und Religion wählen sollen – und sich in ihren Wahl­ent­scheidungen nicht nach bestimmten Leuten oder politischen Parteien richten.“ Als Beispiel für das geplante Vorgehen der Ma Ba Tha nannte der Mönch: Wenn in einem Wahlkreis fünf Kandidaten ins Rennen gehen, „werden wir sie zunächst befragen und die mit ihnen zusammenhängenden Fakten aufzeichnen. Dann werden wir Informationsschriften über sie drucken und diese in der Öffentlichkeit verteilen.“ Mönche machen Druck Den Plan zur Überprüfung der Kandidaten hatten die führenden Mönche schon vor einiger Zeit bekannt gemacht. Man werde Tonaufnahmen und Videos von den Kandidaten herstellen und von Tür zu Tür gehen, um die Ma-Ba-Tha-Schriften unter die Leute zu bringen. „Dann können die Menschen wählen, wie sie wollen“, erklärten die Mönche. Auf der jüngsten Konferenz ist dies nun zur offiziellen Politik der Organisation erklärt worden. Das bedeutet: Obwohl Ma Ba Tha nicht direkt für eine politische Partei Wahlkampf macht, übernehmen die Mönche Aufgaben, für die gewöhnlich Nichtregierungsorganisationen oder die Medien zuständig sind. Das heißt: Informationen sammeln, Kandidaten befragen und sie filmen, die so gewonnenen Informationen zusammenfügen und verbreiten, Videodokumente anlegen und sie auf DVDs oder Webseiten verbreiten. Bei den Wahlen von 2010 waren etwa 3.000 Kandidaten angetreten. Im November 2015 werden es mindestens 5.000 Bewerber sein. Daher fragt sich, wie viele Mönche aufgeboten werden, um Informationen über so viele Personen zu sammeln und zu verbreiten. Besonders interessant: Wo kommt das Geld her, um all das zu finanzieren? Wenn Ma Ba Tha dafür etwa Spenden der buddhistischen Gläubigen verwendet, muss geprüft werden, ob es angemessen ist, so viel Geld aufzuwenden. Und wer kontrolliert, ob diese Mittel ordentlich verwendet werden? Dabei wäre es wichtig zu wissen, ob die nationale Wahlkommission diese Aktivitäten von Ma Ba Tha überhaupt für rechtmäßig erklärt. Die Weisung der Ma-Ba-Tha-Führung an die Mönche ist nicht geeignet, reibungslose und ordentliche Wahlen durchzuführen, sondern könnte vielmehr neue Probleme schaffen. Das Thema ist heikel. Außer der oppositionellen Nationalen Liga für Demokratie (NLD) hat sich bislang keine einzige politische Partei kritisch über die Aktivitäten der Ma-Ba-Tha-Mönche geäußert. Der NLD-Sprecher Nyan Win erklärte: „Offen gesagt, nach dem Gesetz haben Mönche nicht das Recht, sich politisch zu engagieren.“ Man werde zu gegebenem Zeitpunkt über das Thema mit der Wahlkommission verhandeln.
Aung San
Buddhismus Die nationalistische und antimuslimische Ma-Ba-Tha-Vereinigung der Mönche will mit fragwürdigen Methoden verhindern, dass die Bevölkerung die „falschen“ Kandidaten wählt
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Aus den Augen, nicht aus dem Sinn - taz.de
Aus den Augen, nicht aus dem Sinn Obwohl sein Opfer abgeschoben wurde und im Prozess nicht mehr gegen ihn aussagen konnte, verurteilte das Harburger Amtsgericht gestern einen Mann, der seine 26-jährige Frau eingesperrt und wiederholt geschlagen haben soll Von Yasemin Erginund Elke Spanner Das Harburger Amtsgericht hat gestern einen Mann wegen der Misshandlung seiner Frau verurteilt, obwohl sie selbst vor Gericht nicht gegen ihn aussagen konnte – sie wurde im Mai 2004 vor Prozessbeginn nach Mazedonien abgeschoben. Dennoch sieht das Gericht ihre Geschichte als erwiesen an: Fahriye S. hatte diese vor ihrer Abschiebung gegenüber der Polizei zu Protokoll gegeben, und das Gericht attestierte ihr gestern Glaubwürdigkeit. Amir I. kommt wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung ein Jahr und zehn Monate in Haft. Noch im Gerichtssaal klickten die Handschellen. Während die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten gefordert hatte, hat der Rechtsanwalt von Amir I., Winfried Günnemann, auf Freispruch plädiert. Die polizeiliche Aussage vor der Polizei, führte er aus, sei nicht verwertbar, weil die Ermittler bei der Vernehmung einen Fehler begangen hätten: Er nämlich war als Anwalt des Beschuldigten nicht hinzugezogen worden. Deshalb aber hatte das Amtsgericht versucht, Fahriye S. für eine erneute Aussage aus Mazedonien vorzuladen. Das war nicht möglich: Ein Arzt hatte sie wegen einer psychischen Erkrankung für nicht reisefähig erklärt. Daraufhin führte das Amtsgericht das polizeiliche Aussageprotokoll in das Verfahren ein. Das 26-jährige Opfer war in Mazedonien nach muslimischer Tradition mit Amir I. getraut worden und Ende 2002 ohne gültige Papiere in Deutschland eingereist. Hier wurde sie nach Überzeugung des Gerichtes von Amir I. in der Wohnung eingesperrt und wiederholt geschlagen, mehrfach auch mit Gegenständen wie Gürtel und Nudelholz. Mit einem Sprung aus dem Fenster versuchte die schwangere Frau schließlich, ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Sie erlitt einen Beckenbruch und eine Fehlgeburt. Dass Fahriye S. nunmehr offenbar psychisch erkrankt ist, nahm Anwalt Günnemann zum Anlass, ihr mangelnde Glaubwürdigkeit zu unterstellen. Eine psychologische Gutachterin hingegen führte aus, dass der Fenstersprung eine suizidale Handlung als Folge von Misshandlungen war, Hinweise auf psychische Störungen gebe es nicht. Während ihres Krankenhausaufenthaltes nach dem Fenstersprung waren großflächige Blutergüsse festgestellt worden, die offenkundig von Misshandlungen herrührten. Auch der Vorwurf der Freiheitsberaubung wurde durch die Polizei, die nach dem Fenstersprung den Tatort untersuchte, bestätigt. Die Staatsanwaltschaft hatte anders als die Verteidigung keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Opfers. Alle Aussagen seien stimmig und passten ins Bild der von der Geschädigten dargestellten Leidensgeschichte. Die junge Frau sei zur Heirat mit Amir I. gezwungen und von ihrer Familie unterdrückt worden, was den Mangel an expliziten, den Angeklagten belastenden Zeugenaussagen erkläre. Der Amtsrichter bedauerte in seiner Urteilsbegründung, dass das Gericht nicht „hinter die ganze Wahrheit“ gekommen sei. Und fügte hinzu: „Es mag sein, dass es in Mazedonien Standard ist, wenn Männer Frauen wie ihren Besitz behandeln.“ Das Motto „andere Länder, andere Sitten“ gelte aber in einem so schweren Fall von Misshandlung und Unterdrückung nicht.
Yasemin Ergin / Elke Spanner
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Kadaver-Tourismus an der Nordsee - taz.de
Kadaver-Tourismus an der Nordsee ■ In der Nordsee vor Sylt und Röm sind elf Pottwale gestrandet und verendet. Die toten Säuger werden zur Attraktion. „Diese Respektlosigkeit“, sagt Lothar Koch, „hinterläßt ein trauriges Gefühl.“Der Biologe und Leiter der Schutzstation Wattenmeer auf der nordfriesischen Insel Sylt steht leicht fassungslos dem Kadaver-Tourismus auf der benachbarten dänischen Ferieninsel Röm gegenüber. Hunderte Autos und sogar Busse rollen auf den Strand, in direkte Nähe zu den beiden toten Pottwalen. Kinder klettern auf den 15 Meter langen Walen herum, Familien posieren zum Erinnerungsfoto, und die nur ein paar Schritte entfernte fahrbare Würstchenbude ist dicht umlagert. Kochs Kollegen von dänischen meeresbiologischen und zoologischen Instituten untersuchen die Pottwale und versuchen, bevor der Fäulnisprozeß einsetzt, zu retten, was zu retten ist, bevor die Leichenfledderer zugreifen. Denn auch tote Wale sind durch das Wa-shingtoner Artenschutzabkommen geschützt. Nur diese zwei der elf jeweils 20 bis 30 Tonnen schweren Meeressäuger konnten gestern auf der Sandbank Juvre – rund drei Kilometer vor der Insel – geborgen werden. Wasser- und Windverhältnisse lassen das ganze Unternehmen zu einer voraussichtlich mehrwöchgen Arbeit werden. Die Wale müssen zunächst mit Booten in Strandnähe gezogen werden. Zwei Radbagger schaufeln und wälzen sie dann auf den festen Strand, der für Lkw zugänglich ist. 16 der riesigen Meeressäuger irrten fast eine Woche lang in der Nordsee zwischen den Niederlanden und den nordfriesischen Inseln herum, bevor die meisten der halbwüchsigen Tiere vor Sylt und Röm bei einsetzender Ebbe auf der Sandbank hängenblieben. Die Pottwale haben sich nach Ansicht der Experten auf dem Weg vom Nordatlantik in Richtung Afrika vor Schottland falsch orientiert und sind so in die Nordsee geraten. Aus dieser „Sackgasse“fänden sie, da sie sich nicht westlich Richtung Kanal, sondern naturgemäß nach Süden orientierten, nun nicht mehr heraus. Wegen Futtermangels könnten auch die Wale, die nicht gestrandet sind, in absehbarer Zeit verenden, befürchtet Koch. Normalerweise ernährten sich die Zahnwale in der Tiefsee von größeren Tintenfischen. „Die gesamte Schule ist sicherlich dem Tode geweiht“. Der zur Gattung der Zahnwale gehörende Pottwal ist weltweit verbreitet. Der Bestand der gesellig lebenden Säuger wird auf etwa zwei Millionen geschätzt. Friedhelm Caspari
Friedhelm Caspari
■ In der Nordsee vor Sylt und Röm sind elf Pottwale gestrandet und verendet. Die toten Säuger werden zur Attraktion.
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Halleluja für einen Glauben mit Köpfchen - taz.de
Halleluja für einen Glauben mit Köpfchen Diese Woche tagt die Synode der evangelischen Kirchen – der Berliner Bischof Wolfgang Huber fordert eine politische Kirche, die auch der Mitgliederschwund nicht zum Teufel jagt Können Sie unseren heidnischen LeserInnen mal erklären, was es mit der Religion auf sich hat? Bischof Huber:Es ist mir neu, daß die taz nur von Heiden gelesen wird ... Ein Bischofswort für die Heiden und Nichtheiden unter unseren Lesern, bitte. Wir können unser Leben nicht aus eigener Kraft hervorbringen und gestalten, sondern sind auf Orientierung und Hilfen angewiesen, die nicht aus uns selber kommen. Wir alle müssen mit Grundproblmen wie Tod und Leben, Schuld und Vergebung, Streit und Versöhnung umgehen. Glauben Sie an Gott? Ja, Sie nicht? Zur Mission kommen wir später. Wie sieht Ihr Gott aus? Gott sieht nicht aus. Gott ist ansprechbar – insofern ist er ein personaler Gott –, aber für den christlichen Glauben, wie für den jüdischen, gilt das Bilderverbot. Ein Christ soll beten: „Vater unser, im Himmel ...“ Verlangen Sie das allen Ernstes von einem aufgeklärten Menschen? Diese Vorstellung ist doch reine Mythologie. Das ist ein sehr aufgeklärtes Gebet, deshalb kann das auch ein aufgeklärter Mensch hinbekommen. Es wäre kein Zeichen von Aufklärung, die mythische Dimension des Lebens zu verdrängen. Das Gebet ist aufklärerisch, weil es das Bild vom drohenden Gott, der ungreifbar über den Wolken thront, aufhebt und die Nähe Gottes zu den Menschen betont. Dieses Gottesbild ist sehr wohl vereinbar mit dem Grundimpuls der Aufklärung. Ich setze auf Menschen, die ein reflektiertes Verhältnis zur relgiösen Dimension haben – und insbesondere ein reflektiertes Verhältnis zur Kirche. Religiöses wird zwar wiederentdeckt – aber außerhalb der Kirchenmauern ... ... in fundamentalistischen oder esoterischen Formen. Diese gehen davon aus, daß man zur Religion nur dann ein Verhältnis haben kann, wenn man den eigenen Verstand eingeschränkt nutzt. Ich plädiere für eine Wiederentdeckung der Religion, bei der das Bündnis von Glaube und Vernunft eine Chance hat. Das haben Protestanten immer getan. Was aber vielen Menschen fehlt, ist die spirituelle Dimension des Glaubens. Trotzdem wird auch in Ihrer Zeitung manchmal über christlichen Glauben geredet, als zeichne sich dieser in seiner evangelischen Form durch besondere Unvernunft aus. Das ist überhaupt nicht der Fall. Am 12. November geht das katholische Kirchenvolksbegehren zu Ende, bei dem die Basis mehr Rechte für Frauen fordert, eine offenere Haltung zur Sexualität einklagt, den Zölibat abschaffen und mehr Demokratie innerhalb der Kirchenhierarchie einführen will. Werden die Katholiken plötzlich fortschrittlicher als die Evangelen? Nein. Katholiken reiben sich stärker an den Vorgaben der Kirche als Institution. Im übrigen: Auch das Kirchenvolksbegehren zeigt, daß wir in das ökumenische Zeitalter des Christentums eingetreten sind. Die Themen dieses Begehrens gehen zum großen Teil nicht nur die katholische Kirche an. Richtig ist aber auch: Die Frauenordination und die Demokratie gibt es in der evangelischen Kirche schon; und der Zölibat war nie unser Problem. „Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen.“ Das konstatierte der Theologe Friedrich Schleiermacher schon Anfang des letzten Jahrhunderts. Der Verfall ist kräftig fortgeschritten: das Kruzifix- urteil, die Abschaffung kirchlicher Feiertage, die Diskussionen um den Sonntagsschutz, der Streit um den christlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, zunehmende Kirchenaustritte. Ist die Kirche noch gesellschaftsfähig? In Fragen der Christlichkeit gibt es starke Wellenbewegungen. Das Jahr 1989 und seine Folgen haben einen starken Säkularisierungsschub ausgelöst. Warum 1989? Weil 17 Millionen Heiden dazugekommen sind? So wäre es verkürzt ... Die Fluchtbewegung aus der Kirche gibt es seit den 70er Jahren. Richtig. Und wann war denn der letzte Aufschwung? Nach 1945, in den Nachkriegsjahrzehnten. Das ist fünfzig Jahre her. Momentan verliert Ihre Kirche pro Tag rund tausend Mitglieder. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus, daß die großen Kirchen in Deutschland nicht zur Sekte schrumpfen werden? Es ist selbstverständlich, daß sich die Kirchen darum bemühen. Das ist Programm. Wo bleibt die Prognose? Die überlasse ich im Augenblick anderen. Was würde sich für die Kirche in der Minderheitenposition ändern? Schon jetzt treffen bestimmte Vorstellungen von Volkskirchlichkeit nicht mehr die Wirklichkeit unserer Kirche. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung hat bereits in der 2. oder 3. Generation keinen Zugang zu Glaube und Religion gehabt. Wir müssen gesellschaftlich so handeln, daß auch diese Menschen verstehen, was wir tun. Außerdem müssen wir bewußt zu Kenntnis nehmen, daß wir mit Menschen zusammenleben, die andere Überzeugungen haben und sich anderen Religionen und Glaubensweisen zugehörig fühlen. Was heißt das für die Kirche nach innen? Wir haben einen großen Bedarf an Strukturveränderungen. Einerseits weil unsere finanzielle Möglichkeiten geringer werden, andererseits weil wir eine neue Form von Beweglichkeit entwickeln müssen. Gemeinden und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich von einer überwiegend volkskirchlichen Mentalität verabschieden. Überzeugungsarbeit muß auch bei denen geleistet werden, die in großer Distanz zur Kirche leben. Mission? Das ist der traditionelle Begriff. Ich sage lieber: Überzeugungsarbeit. Warum finden Sie sich nicht einfach damit ab, eine Minderheitenkirche zu werden? Auch in der Minderheitenposition werden die beiden großen Kirchen ihre öffentliche Verantwortung wahrnehmen. „Öffentliche Verantwortung“ hieß bei der evangelischen Kirche auch immer Nähe zum Staat. In erster Linie geht es nicht um das Verhältnis von Kirche zum Staat, sondern von Kirche zur Gesellschaft. Es gibt eine Tendenz in einem Teil der Gesellschaft und der Politik, Glaube und Religion als Privatsache anzusehen und sie aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Bereich zu verdrängen. Aber es gibt auch Gegenströmungen. Denn der christliche Glaube hat nicht nur mit der privaten, sondern auch der öffentlichen Existenz der Menschen zu tun. Die Kirchen müssen soziale und politische Aufgaben wahrnehmen können. Darüber müssen Absprachen zwischen Kirche und Staat stattfinden. Von daher gibt es keinen Rückzug aus der Gesellschaft, auch nicht aus dem staatlich gestalteten Bereich, sondern eine aktive Präsenz in diesen Bereichen. Denken Sie an die Diakonie, die Verantwortung im Bildungsbereich. Ich denke an die Kirchensteuer. Die Kirchensteuer einfach abzuschaffen ist ausgesprochen phantasielos. Es wäre kein Zugewinn an Freiheit, sondern nur der Verzicht auf ein Instrument, das sich im kirchlichen Bereich bewährt hat. Phantasievoller wäre es zu überlegen, ob man diese Form des Geldeinzugs auch für andere Verbände öffnet. Das Kirchensteuersystem ist also nicht revisionsbedürftig? Es ist nicht revisionsbedürftig, sondern entwicklungsfähig. Sie sind ein Sophist! Das ist nicht sophistisch, sondern realitätsbezogen. Braucht die Kirche mehr Freiheit vom Staat? Die Frage ist, ob sie von ihrer Freiheit immer einen zureichenden Gebrauch machen – zum Beispiel wenn es darum geht, politische Entscheidungen zu kritisieren. Doch es sind nicht die staatskirchenrechtlichen Regelungen, die sie daran hindern. Sondern? Die Rücksicht auf die Positionen ihrer eigenen Mitglieder. Kirchenleitungen und Bischöfe fragen sich immer – gerade bei Äußerungen zu politischen Problemen –, wie die Kirchenmitglieder darauf reagieren könnten. Wo soll sich die Kirche politisch einmischen? Es gibt aktuelle Beiträge der beiden Kirchen, von denen ich mir wünsche, sie würden bewußter wahrgenommen: Der Diskussionsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, die Asyl- und Ausländerpolitik. Oder die Diskussion über die Auswirkungen neuer Biotechnologien, Hirntotdefinition, Organtransplantation. Das sind Beispiele dafür, daß sich die Kirchen bei brisanten Themen und an neuralgischen Punkten einmischen. Für die evangelische Kirche nehme ich in Anspruch, daß sie die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Wirklichkeit weitertreibt. Nur wird das überdeckt durch die Diskussion über Kirchenaustritte und Kirchensteuer. Selbt kirchenintern. Die Klage über das fehlende Geld darf aber in der Kirche nicht lauter hörbar werden als das Evangelium. Haben Sie ein Programm gegen Kirchenaustritte? Ich habe ein Programm für Kircheneintritte. Darüber sollte man genauso intensiv reden wie über die Austritte. Die Eintritte sind aber nicht das Problem. Welche Motive stecken hinter den Austritten? Vielfältige. Es gibt viele Mitglieder, die in erheblicher Distanz zur Kirche leben. Dann braucht es nur einen zusätzlichen Anlaß – häufig ist es ein finanzieller – und sie treten aus. Wir müssen uns vor übertreibenden Dramatisierungen hüten. Solche hat es auch in der Diskussion um das Kruzifixurteil gegeben. Was halten Sie davon, daß sich Bayerns Regierung nicht an das Verfassungsgerichtsurteil halten will? Dieselben Leute, die zunächst die Aufhebung des Buß- und Bettags betrieben haben, forderten anschließend, daß in Bayern das Aufhängen von Kruzifixen Pflicht bleibt. Ich würde es sehr begrüßen, wenn diejenigen Politiker, die sich jetzt so laut für das Kreuz ausgesprochen haben, auch die Wiederherstellung des Buß- und Bettags betreiben würden. Das steht an, denn diese Finanzierungsform für die Pflegeversicherung war ein eklatanter politischer Fehler. „Bayern ohne Balkensepp“ titelte die taz nach dem Kruzifixurteil. Hat Ihnen die Überschrift gefallen? Nein, sie hat mich empört. Sie war geschmacklos und falsch. Haben Sie Visionen? Ich habe die Vision einer offenen und öffentlichen Kirche, die einladend ist, aber auch zu den Menschen auf dem Weg ist. Einer Kirche, die sich einerseits mit den persönlichen Lebensproblemen beschäftigt – also die seelsorgerliche Dimension wieder stärkt. Die sich aber andererseits auch der Frage zuwendet, woher denn die Bedingungen kommen, unter denen Menschen leben müssen und die sie oft scheitern lassen. Eine Kirche, die öffentlich präsent bleibt. Halleluja! Von mir aus dürfen Sie das Gespräch gern so beenden. Das Gespräch führten Bernhard Pötter und Bascha Mika
B. Pötter / Bascha Mika
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Nach dem Tod von George Floyd: Weltweite Proteste gegen Rassismus - taz.de
Nach dem Tod von George Floyd: Weltweite Proteste gegen Rassismus In den USA und zahlreichen anderen Ländern gehen Menschen auf die Straße, um ein Ende von Rassismus und Polizeigewalt zu fordern. Bürgermeisterin Muriel Bowser auf der neuen „Black lives Matter Plaza“ in Washington, D.C. Foto: Manuel Balce Ceneta/ap Die 16th Street NW, die in Washington auf das Weiße Haus zuläuft, hat einen neuen Namen: Ein Abschnitt heißt nun „Black Lives Matter Plaza“. Muriel Bowser, die schwarze Bürgermeisterin der US-Bundeshauptstadt, ließ die Parole am Freitag in riesigen gelben Lettern auf den Asphalt pinseln. Am Samstag versammelte sich dort eine gewaltige Schar DemonstrantInnen, um einen grundlegenden Wandel der Polizei und ihres Umgangs vor allem mit AfroamerikanerInnen zu fordern. Sie vereinte die Trauer um den vor knapp zwei Wochen in Polizeigewalt verstorbenen George Floyd. Der 46-jährige Afroamerikaner war in Minneapolis von Beamten nach der Festnahme erstickt worden. Sie waren dabei gefilmt worden, was diese Tat von den vielen anderen Fällen rassistischer Polizeigewalt unterschied. Die brutalen Videobilder sorgten seither täglich für Proteste in den gesamten USA, die immer größer wurden und sich auf immer mehr Städte ausweiteten. Am Samstag waren es nicht nur mehr als 10.000 DemonstrantInnen in Washington, DC, sondern auch in New York, Los Angeles, San Francisco, Chicago, Philadelphia und Dutzenden weiterer Städte. Viele forderten von ihren gewählten VertreterInnen dabei, die Polizei nicht nur zu reformieren, sondern ihr das Geld abzudrehen. Nach Washington waren sie aus dem gesamten Land angereist, und ihnen blieb diesmal die Konfrontation mit martialischen Ordnungskräften erspart, die an manchen Tagen zuvor die US-Bundeshauptstadt wie einen von Truppen besetzten Ort erscheinen ließen. Nur weiträumig gezogenen Zäune hielten die Demonstranten diesmal vom Weißen Haus fern. Trauergottesdienste vor Floyds Beisetzung Wie jetzt bekannt wurde, beabsichtigte Trump auf dem Höhepunkt der Proteste, bis zu 10.000 Soldaten der Streitkräfte in die Stadt zu holen, um die Demonstrationen zu ersticken. Er selbst hatte am Montag einen brutalen Polizeieinsatz mit Tränengas auf dem Lafayette Square neben dem Weißen Haus angeordnet, um Platz zu haben für eine Machtdemonstration, bei der er dort vor einer Kirche wortlos eine Bibel hochhielt. Sein Verhalten und seine verbalen Drohungen haben wohl die Vehemenz der Proteste noch verstärkt, genau so wie die Angst vieler um ihr wirtschaftliches Überleben nach der Corona-Pandemie. Bei einem Trauergottesdienst im US-Bundesstaat North Carolina nahmen am Samstag hunderte Menschen Abschied von George Floyd. In dem rund 5.000 Einwohner zählenden Ort Raeford war der Leichnam des 46-Jährigen in einem goldfarbenen Sarg aufgebahrt. George Floyd sei nicht umsonst gestorben, sagte der Baptistenpastor Christoppher Stackhouse. Floyds Tod sei der Funken einer neuen Bewegung. Am Dienstag ist eine weitere Trauerfeier für Floyd in der „The Fountain of Praise“-Megakirche in Houston in Texas geplant. Bislang unbestätigten Berichten zufolge will Ex-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Joe Biden daran teilnehmen. Floyd soll in Houston beigesetzt werden. Der ehemalige Profiboxer Floyd Mayweather übernimmt Medienberichten zufolge die Kosten der Bestattung. Demos auch in Großbritannien und Frankreich Antirassistische Solidaritätskundgebungen mit Floyd fanden in anderen Ländern statt. In London kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Beamten in den Straßen nahe der Downing Street, dem Regierungssitz von Premierminister Boris Johnson. Die Zusammenstöße flammten zum Ende weitgehend friedlicher Proteste auf. Auch in mehreren Städten Frankreichs gingen Tausende Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße. In Paris widersetzten sich die Menschen am Samstag Demonstrationsverboten. Die DemonstrantInnen versammelten sich in der Hauptstadt, in Lyon, Lille und Rennes, wie auf Fernsehbildern zu sehen war. Die Pariser Polizei hatte wegen der Covid-19-Pandemie etliche Proteste in der Hauptstadt verboten. Mit ap/dpa/epd
Stefan Schaaf
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Neues Amt für Franziska Giffey: Der graut vor nix - taz.de
Neues Amt für Franziska Giffey: Der graut vor nix Familienministerin Franziska Giffey will Landeschefin der Berliner SPD werden. Aber passt sie überhaupt zur Hauptstadt? Sie packt mit an: Noch-Bundesfamilienministerin Giffey (SPD) begleitet die Berliner Stadtreinigung Foto: Björn Kietzmann BERLIN taz | Und schon hat sie ihm die Show gestohlen. Es ist Samstagnachmittag, fernab vom Berliner Alltag haben sich die 38 Mitglieder der SPD-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses im Grand Hotel Méridien in Nürnberg zur Klausur zurückgezogen. Gerade hat der SPD-Landeschef und Regierende Bürgermeister Michael Müller seine Rede beendet, da tritt Franziska Giffey auf. „Ich war gerade in der Gegend, um die Nürnberger SPD im Kommunalwahlkampf zu unterstützen“, sagt sie und lächelt unschuldig. Dann wickelt sie die Berliner Abgeordneten um den Finger. Sie hält die SPD-Broschüre „Eine Stadt für alle“ hoch und fragt, als ob sie eine Gruppe SchülerInnen vor sich hätte, entzückt: „Wer hat das denn gemacht? Etwa ihr alle?“ Während ihr die GenossInnen allen Ernstes zujubeln, sucht Müller das Weite. Vor dem Saal unterhält er sich an den Kaffeetischen mit einem Staatssekretär. Eine Szene, die symbolischer nicht sein könnte: Giffey kommt, Müller geht. Seit Mittwoch ist das nun offiziell. Beim SPD-Landesparteitag im Mai wird die Bundesfamilienministerin und ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeisterin zusammen mit Fraktionschef Raed Saleh als Doppelspitze für den Landesvorsitz kandidieren. Eine Kampfkandidatur wird es nicht geben: Müller räumt das Feld. Damit dürfte Giffey auch als Spitzenkandidatin der Berliner SPD für die Wahl zum Abgeordnetenhaus im Herbst 2021 gesetzt sein. Es sei denn, sie übernimmt das Amt schon früher, wofür sie als Bundesministerin zurücktreten müsste. Und die Perspektive? Die zielt nach ganz oben. Der Schritt in die Landespolitik könnte ihr am Ende sogar die Kandidatur als Kanzlerin einbringen. Passen Berlin und Franziska Giffey zusammen? Giffeys fast schon kometenhafter Aufstieg vollzieht sich parallel zum Niedergang der SPD. Viele HoffnungsträgerInnen hat die Partei derzeit nicht. Giffey aber hat gezeigt, wie der Weg nach oben geht. Mit 29 tritt die heute 41-Jährige in die SPD ein, das erste Amt: Kassiererin im Neuköllner Kreisvorstand. Als Heinz Buschkowsky – damals Deutschlands bekanntester Kommunalpolitiker in Deutschlands skandalträchtigstem Bezirk – 2015 abtritt, folgt ihm Giffey als Bezirksbürgermeisterin. „Deutschlands Bürgermeisterin“, wird die Süddeutsche Zeitung sie später nennen. Rot-Rot-Grün in BerlinSeit der Abgeordnetenhauswahl 2016 wird Berlin von einem rot-rot-grünen Bündnis regiert. Die SPD war damals mit 21,6 Prozent stärkste Partei geworden, gefolgt von Linken (17,6) und Grünen (15,6).Neueste Umfragen aber sehen seit Monaten die Grünen vorne. Sie rangieren bei 23 Prozent, die Linke bei 19, die SPD bei 15.Sollte Franziska Giffey nicht nur einen Machtwechsel an der Berliner SPD-Spitze anstreben, sondern auch im Roten Rathaus, gäbe es zwei Möglichkeiten. Entweder stimmen Grüne und Linke zu, oder es gibt Neuwahlen.Beides wäre für die Koalitionspartner mit Risiken verbunden. Im ersten Fall würden sie Giffey für die Wahl 2021 einen Amtsbonus verschaffen. Im zweiten könnte schon jetzt der Giffey-Boom wahlentscheidend sein. (wera) Drei Jahre später holt die SPD sie als Familien- und Frauenministerin ins Kabinett, ein Überraschungscoup. Und nun der Griff nach der Macht im Roten Rathaus. Giffey weiß genau, dass ihre Partei nach der nächsten Bundestagswahl wohl nicht mehr an der Regierung sein wird. Wenn sie es aber schafft, die Berliner SPD bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl zur stärksten Kraft zu machen, hätte sie den Nimbus der Gewinnerin. Derzeit liegen die Berliner GenossInnen bei 15, die Koali­tions­partner Grüne und Linke bei 23 bzw. 19 Prozent. Die CDU kommt auf 18, die AfD auf 13 Prozent. Ein Selbstläufer, das muss auch Giffey klar sein, wird das nicht. Und: Passt das zusammen? Berlin und Franziska Giffey? Was der letzte Regierende mit Strahlkraft – Klaus Wowereit – mit Berlin verband, ist zumindest nicht das, was Giffey damit verbindet. Links und liberal, arm, aber sexy: bei diesem Markenkern dürften Giffey, die als SPD-Rechte gilt, die ordentlich zurechtgemachten Haare zu Berge stehen. Armut ist für Giffey nicht sexy, sondern etwas, was bekämpft werden muss – vor allem, wenn es um Kinder geht. Als Bezirksbürgermeisterin in einem der ärmsten Stadtteile der Republik packte sie an. Sie machte sich für kostenlose Mittagessen stark und dafür, die Ganztagsbetreuung auszubauen. Sie verstärkte die Polizeipräsenz im Bezirk und in­stal­lierte Wachschutz an Schulen. Sie befürwortete aber auch Burkinis, damit Mädchen schwimmen lernen konnten – fern von Ideologie, geprägt von Pragmatismus. „Allen Kindern eine Zukunft bieten“ steht auch heute auf ihrer Website. Durch das Amt als Bundesministerin geadelt Das ist, was auch ihre Politik als Bundesministerin prägt: Familienpolitik. Feminismus? Ist nicht so ihr Ding. Positionen, die als radikal gelten könnten, sind es schon gar nicht. Giffey setzt nicht auf Maximalforderungen und Konfrontation, sie setzt auf Kompromiss und Zusammenarbeit. Die Quote in der Wirtschaft vertritt sie zwar, doch ein Gefühl für diejenigen, die diese schon lange fordern, musste sie sich erst erarbeiten. Bei einem ihrer ersten Auftritte als Ministerin etwa sprach sie vor vollem Haus vor der „Initiative für mehr Frauen in die Aufsichtsräte“. „Frauen können alles!“, spornte sie die Wirtschaftsfrauen an. Als müsste man denen das sagen. Ein freundliches Auftreten, immer beschwingt, immer adrett: Markenzeichen von Franziska Giffey Foto: Stefan Boness/Ipon Auch mit der Abschaffung des Paragrafen 219a, der es ÄrztInnen verbietet, auf ihren Websites über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, fremdelt sie. Verständnis dafür, dass ein Thema wie dieses die Koalition zum Wackeln bringen kann, wie kurzzeitig geschehen, hat sie keines. Sie will etwas schaffen, sie will an dem arbeiten, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist – und sie legt den Schwerpunkt auf Themen, die sie aus Neukölln gut kennt: das Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Giffey ist Familienministerin. Die Frauen schwingen eher mit. Doch dass sie ihre bisherige politische Biografie durch das Amt als Bundesministerin geadelt hat, wird sie im Berliner Wahlkampf nutzen können. Eine fast zarte Stimme, ein freundlich-bestimmtes Auftreten, immer beschwingt, immer adrett – „blass“ wie Müller, dem dieses Etikett seit Amtsantritt anhaftet, wird Giffey nicht bleiben. Müller vergräbt sich in Akten, sie geht offen auf Menschen zu. Müller ist misstrauisch und verlässt sich nur auf seinen engsten Zirkel. Giffey kann auf Bundesebene auch mit Unionsleuten wie Spahn – und verbündet sich auf Landesebene nun mit SPD-Fraktionschef Raed Saleh, der ihr en passant die nötige Mehrheit beim Parteitag beschaffen soll. Aber für welches Berlin steht die Politikerin, die in Frankfurt (Oder) geboren wurde? Für das Berlin, das sich gerne als Labor einer neuen Mobilität versteht, die Verkehrswende voranbringen und die Verbrennungsmotoren aus der Innenstadt verbannen will? Für das Berlin der Initiativen, die große Wohnungsunternehmen enteignen wollen? Für das diverse Berlin in Kreuzberg und Mitte? Für die Start-ups und Kreativen, die der Berliner Wirtschaft derzeit einen ungeahnten Boom bescheren? So lässig wie Berlin ist Franziska Giffey nicht „Ich bin Berlinerin, ich liebe meine Stadt“, sagte Giffey bei der Pressekonferenz am Mittwoch, bei sie ihre Ambitionen deutlich machte. Dass sie oft U-Bahn fährt, erzählt sie gern: „Ich muss ja mitkriegen, was in Berlin passiert.“ Und auch Sätze wie diese sagt sie: „Berlin ist einfach mal geil.“ Soll heißen: Ich bin auch kompatibel mit dem lässigen Berlin. Lässigkeit aber ist nun wirklich nicht das, was die grundsolide Verwaltungsfachfrau Giffey verkörpert, die manchmal leise aus der Zeit gefallen wirkt. Wahrscheinlicher ist, dass sie das Berlin der kleinen Leute anspricht – die klassischen WählerInnenschichten der SPD. Wenn sie diese zurückgewinnen kann für die SozialdemokratInnen, dann wäre Giffey womöglich nicht nur ein paar Jahre Regierende Bürgermeisterin, sondern auch eine ernst zu nehmende Kanzlerkandidatin. Kann ihrem Weg nach oben noch etwas im Weg stehen? Ihre Krisen jedenfalls übersteht sie mit Zurückhaltung und Redlichkeit: Für den SPD-Vorsitz kandidierte sie nicht, weil unklar war, ob ihr der Doktortitel wegen Plagiats aberkannt werden würde. Sie selbst hatte die Überprüfung beantragt, als der Verdacht aufgekommen war – und kündigte an, ihr Ministerinnenamt zurückzugeben, sollte er sich erhärten. Statt SPD-Bundeschefin zu werden, unterstützte sie fortan Olaf Scholz. Die Freie Universität war gnädig: Giffey wurde nur gerügt. Ihr Vorgehen aber bescherte ihr letztlich Glaubwürdigkeit. Und auch die Affäre um ihren Mann, der wegen mutmaßlichen Betrugs den Beamtenstatus aberkannt bekam, scheint ihr zumindest bislang nicht zu schaden. Auch hier ist ihre Strategie Zurückhaltung. Persönliche Angelegenheiten, heißt es nur, werde sie nicht kommentieren. Weiter abschmieren mit der „Lame Duck“ Schaden könnte Giffey nur, wenn sie nun ungeduldig werden sollte. Bislang haben Müller, Giffey und Saleh nur verabredet, wer die beiden nächsten SPD-Landesvorsitzenden werden sollen. Eine vorzeitige Wachablösung im Roten Rathaus gehört zumindest nicht zum offiziellen Plan. Sollte Giffey sie forcieren, müsste sie auch von Grünen und Linken gewählt werden. Die aber haben sichtlich keine Lust, ihre Konkurrentin bei den Wahlen 2021 mit einem Amtsbonus auszustatten. Am Ende könnte es sogar zu einem Bruch von Rot-Rot-Grün und zu Neuwahlen kommen. Dann müsste die neue Landeschefin auch als Spitzenkandidatin sofort ins kalte Wasser springen. Wartet sie dagegen den regulären Wahltermin ab, könnte die SPD trotz der erhofften Heilsbringerin mit der Lame Duck Michael Müller weiter abschmieren. Wie egal der Berliner SPD die Landespolitik ist, zeigt ausgerechnet die Bekanntgabe der Personalie ­Giffey. Sie erfolgte einen Tag vor der Verabschiedung des Mietendeckels – des wichtigsten Projekts, das Rot-Rot-Grün auf den Weg gebracht hat.
Patricia Hecht
Familienministerin Franziska Giffey will Landeschefin der Berliner SPD werden. Aber passt sie überhaupt zur Hauptstadt?
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Ausgehen und rumstehen von Aleksandar Zivanovic: Wo ist der Schädel von Friedrich Wilhelm Murnau? - taz.de
Ausgehen und rumstehen von Aleksandar Zivanovic: Wo ist der Schädel von Friedrich Wilhelm Murnau? Irgendwer ist im Sommer 2015 in den Südwestfriedhof in Stahnsdorf eingebrochen und dann zum Grabmal des bekannten Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau gelaufen. Irgendwer hat dort zunächst die Tür der Gruft, dann den Sarg aufgebrochen und anschließend den einbalsamierten Schädel des Nosferatu-Filmregisseurs geklaut. Die Gräber seiner beiden Brüder, die in der gleichen Gruft begraben liegen, wurden hingegen nicht angerührt. Wachsspuren wurden gefunden, Reste einer schwarzen Messe? Wer hat Murnaus Schädel geklaut? Und wo befindet sich der Schädel jetzt? Bis heute ist der Murnau-Kopf nicht aufgetaucht, die Staatsanwaltschaft in Potsdam hat im vergangenen Jahr den Fall sogar eingestellt. Wir aber bleiben in dieser Angelegenheit nicht untätig und haben unsere Recherchen am vergangenen Wochenende weiter intensiviert: Am Samstagabend beispielsweise, kurz vor 0 Uhr, da haben sie im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg Platz Murnaus Stummfilm „Phantom“ (1922) gezeigt, live begleitet durch die ausgezeichnete Orgelspielerin Anna Vavilkina – selbstverständlich sind wir dorthin ausgerückt, eine gute Möglichkeit sich in der Szene umzuschauen. Es ist ein ganz besonderes Erlebnis einen Stummfilm in einem Kino anzuschauen, das 1929 speziell für diesen Zweck gebaut wurde, mit dem Klang der restaurierten Originalorgel, eine Verlockung für Murnau-Liebhaber. Wer weiß, vielleicht taucht hier möglicherweise der Murnau-Fan auf, der den Schädel zu Hause in seiner Vitrine ausgestellt hat? Etwa 150 Menschen sind zur Spätaufführung erschienen, allesamt zwischen 25-60 Jahre alt. Niemand verhält sich in irgendeiner Art und Weise auffällig, niemand flüstert uns etwas über Murnau-Schädel-Partys zu. Der Film dauert insgesamt 117 Minuten. Um es kurz zu machen: In dem Film geht es um unerfüllte Liebe, Betrügereien, Besäufnisse, angespannte Familienverhältnisse, um Norm und Abweichung und andere Dinge. Es geht auch um die Tagträume des stets melancholisch dreinschauenden Hauptprotagonisten, in denen er entweder wie ein aufgescheuchtes Zombie einer weißen Geisterkutsche hinterherläuft, oder aber selbst von derselben Kutsche über die Straße gejagt und manchmal ziemlich fies überfahren wird – es ist sein Trauma. Diese Traumsequenzen werden durch Überbelichtungseffekte ein- und ausgeblendet. Durch das durchgehend begleitende und rhythmische Orgelspiel kann es durchaus passieren, dass man hin und wieder eingelullt wird, die Augenlider langsam zufallen und einen der Kurz-Schlummer heimsucht. Irgendwann jedenfalls bin ich mir nicht mehr so ganz sicher ob das jetzt die Tagträume und Erinnerungen des Hauptprotagonisten sind oder aber … keine Ahnung, ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Der große Abschlussapplaus jedenfalls gilt auch der sympathischen Orgelspielerin. Unsere Ausgehen und Rumstehen Vorort-Recherche am Samstag hat folgendes ergeben: Wir sind uns sicher, dass der Schädeldieb nicht da war. Als wir das Kino verlassen, sind die Straßen leer und es weht ein kühler Wind.
Aleksandar Zivanovic
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Die Wochenvorschau für Berlin: Schwarz-Rot versucht es noch mal - taz.de
Die Wochenvorschau für Berlin: Schwarz-Rot versucht es noch mal Eine Bahn fährt nicht mehr, eine Koalition fährt noch nicht und am Wochenende dürfen wir alle mit Stift und Zettel auf Vögel abfahren. Eins, zwei, drei, ganz viele: Nein, das hat nichts mit der Berliner CDU zu tun Foto: dpa Bevor wir hier ins Politische eintauchen, ein wichtiger Hinweis für all jene, die nach Berlin pendeln oder aus anderem Grund auf der Stadtbahn mit den Regionalzügen unterwegs sind: Ab Donnerstag beginnt die Sanierung der Ost-West-Achse zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof; sie soll volle fünf Wochen dauern. Regional- und Fernverkehr werden deswegen unterbrochen und im besten Fall umgeleitet, Verzögerungen sollten deswegen genauso eingeplant werden wie eventuell veränderte Start- und Endbahnhöfe. Der Grund: Die Berliner Stadtbahn gehört zu den meist befahrenen Bahnstrecken in Deutschland, entsprechend hoch ist der Verschleiß. Die gute Nachricht: Die S-Bahn ist nicht betroffen, es sind also nur die üblichen spontanen Ausfälle zu erwarten. Und damit kommen wir zum versprochenen zweiten Versuch von Schwarz-Rot, mit Schwung in die Regierungsphase zu starten. Bekanntlich hat das mit der Kür von Kai Wegner nicht so richtig gut geklappt; es wird wohl immer im Raum stehen, dass der erste CDU-Regierende seit 22 Jahren möglicherweise nur dank Stimmen aus der AfD-Fraktion ins Amt kam. Nachdem das zehnköpfige Se­na­to­r*in­nen­team die ersten Tage im Amt für einige Ankündigungsinterviews genutzt hat („Wir wollen …“, „Wir werden …“, „Wir müssen …“), beginnt nun der politische Alltag: Am Donnerstag ist die zweite Sitzung des Abgeordnetenhauses seit Wegners Wahl. Und man kann gespannt sein, inwieweit die „Minderheitsregierung“, wie der grüne Fraktionschef Werner Graf Schwarz-Rot im taz-Interview genannt hat, auf ihre Legitimation angesprochen wird. Erster Jahresbericht Tags zuvor schon hat Berlins neuer Bürger- und Polizeibeauftragter Alexander Oerke seinen ersten Jahresbericht ans Parlament übergeben. Der dürfte Stoff für viele Debatten geben – schließlich war mit der Einrichtung dieser Position durch Rot-Grün-Rot ein jahrzehntelanger Traum vieler Linker endlich umgesetzt worden. Mal sehen, ob die SPD dieses Amt weiterhin notwendig findet, nun da sie mit der CDU innenpolitisch eher auf Hardlinerkurs ist. Spannend wird auch, inwieweit ein Vorfall vom 1. Mai in der Debatte noch mal eine Rolle spielt: Augenzeugen und Videoaufnahmen belegen, wie eine Polizeieinheit wohl aus Mecklenburg-Vorpommern rüpelhaft versucht hat, am späten Abend die Oranienstraße frei zu machen. Dann ist auch schon fast Wochenende, und wie immer am Ende der zweiten Maiwoche dürfen Interessierte Stift und Zettel bereitlegen und Vögel in Gärten, Parks und auf Balkons zählen. Bundesweit ruft der Naturschutz dazu auf. Die Ergebnisse liefern, so der Nabu, Aufschluss über die Entwicklung der heimischen Vogelwelt.
Bert Schulz
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Blogbetreiber über Freak-Rezepte: „Fleischwurst geht immer“ - taz.de
Blogbetreiber über Freak-Rezepte: „Fleischwurst geht immer“ Lukas Diestel sammelt irre Rezepte von chefkoch.de auf dem Blog „Worst of Chefkoch“. Ein Gespräch über Mett am Stock, Wienerle Hawaii und die Faszination des Ekels. Noch nicht bei Worst of Chefkoch, aber sicherlich bald: Schoko-Gewürzgurken-Burger Foto: Miss X / photocase.de taz am wochenende: Herr Diestel, haben Sie schon mal Chinakohlsalat mit Pfirsich-Leberwurst-Dressing probiert? Lukas Diestel: Nein. Und wie sieht es mit Nudelauflauf mit Teewurst aus? Oder Raclette-Salat? Um Himmels willen, nein. Genau diese Gerichte finden Sie und Jonathan Löffelbein, wenn Sie die Untiefen von chefkoch.de durchforsten, einer Seite, auf der jeder seine Lieblingsrezepte veröffentlichen kann. Die seltsamsten Einträge veröffentlichen Sie auf Ihrem Tumblr-Blog „Worst of Chefkoch“ und schreiben dazu ironische Kommentare über Machart und Zutatenauswahl. Aber über Menschen, die versuchen, in der Küche ein bisschen kreativ zu sein, macht man sich doch nicht lustig! Das stimmt. Deswegen achten wir darauf, uns nie persönlich über den Menschen lustig zu machen, sondern nur über das Rezept, das bei chefkoch.de hochgeladen wurde. Ist das nicht das Gleiche? Nein, wir wollen niemanden persönlich attackieren. Oft handelt es sich ohnehin um User, die eher viele Rezepte posten. Wenn dann mal eines dabei ist, das sich für uns komisch liest, können die Leute das in der Regel vertragen. Es geht auch gar nicht darum, zu sagen: So darf man nicht kochen. Es soll einfach humorvoll bleiben. Wie kommt man auf die Idee, solche Rezepte zu sammeln? Das war Zufall. Einer von uns hatte ein völlig absurdes Gericht auf chefkoch.de gefunden und mit dem anderen geteilt. Wir haben dann angefangen, weiterzusuchen, und sind ziemlich schnell fündig geworden. Bei insgesamt rund 30.000 Rezepten auf chefkoch.de ist das auch nicht schwer. Es hat uns nur gewundert, dass es noch keine Sammlung dieser Abartigkeiten gab. Also haben wir uns gesagt: Gut, dann machen wir es eben. Im Juli 2017 haben wir den ersten Eintrag online gestellt: Weincreme aus der Mikrowelle. Kann man die kulinarische Hölle denn einteilen? Eine Kategorie sind die „… mal anders“-Rezepte. Die sind nicht alle schlecht, aber bei dem Begriff werden wir oft aufmerksam. Dann gibt es Rezepte, die mit absurd viel Fleisch arbeiten. Zum Beispiel zwei Kilogramm Gehacktes, dafür aber nur ganz wenig Käse und Sahne. Was auch oft vorkommt, sind Kombinationen aus Fleisch mit ganz viel Obst. Also ganz nach dem alten Toast-Hawaii-Prinzip? Das geht ja noch. Es gibt da ganz bizarre Ideen. Zum Beispiel „Wienerle Hawaii“. Dafür werden Wurststücke durch Ananasscheiben gesteckt, dann kommt noch Ketchup und Mayonnaise drauf. im Interview:Lukas DiestelFoto: taz28, lebt in Freiburg und hat Amerikanistik studiert. Er schreibt Kurzgeschichten und nahm im vorigen Jahr am Berliner Literaturwettbewerb Open Mike teil. Gemeinsam mit Jonathan Löffelbein, 26, betreibt er worstofchefkoch.tumblr.com. Im Mai gehen die beiden auf Tour: 6. Mai, Stuttgart, Merlin Kulturzentrum. 7. Mai, Frankfurt/Main, Brotfabrik. 8. Mai, Karlsruhe, Kulturzentrum Tollhaus. 16. Mai, Berlin, Volksbühne. Mir scheint, Fleischwurst und Schmelzkäse spielen oft eine Rolle. Ein Rezept verwendet einen kompletten Fleischwurstring. Der wird in Ecken geschnitten, und die werden mit Senf und Ketchup bestrichen und dann mit Apfelstücken eine halbe Stunde gebacken. Aber das funktionierte halbwegs, ich hätte gedacht, das ist viel ekliger. Sprechen wir über Ekel … Das Rezept, das ich persönlich am schlimmsten finde, nennt sich „Nufleika“. Ein Toast, der mit Nutella bestrichen wird, dann kommt Fleischwurst drauf, und alles wird dann noch mit Käse überbacken. Gibt es denn auch Gerichte, die sich durch eine absurde Zubereitung auszeichnen? Das ist eine weitere Kategorie. Es gibt zum Beispiel Rezepte, die gar keine Zubereitung haben. Man findet auf chefkoch.de etwa das Rezept für „belegtes Brot“. Es kann doch nicht alles so schlimm sein. Was sind Ihre persönlichen Lieblingsrezepte? Wir sind große Freunde von Rezepten, in denen der Titel auch das Rezept abbildet. Das Lieblingsrezept von Jonathan ist Hackfleisch-Kloßteig-Auflauf und besteht tatsächlich daraus, Hackfleisch mit fertigem Kloßteig zu vermengen, dann in den Ofen zu schieben und noch mit Käse zu überbacken. Das ist also ziemlich schnell gemacht. Und ich bin wiederum großer Fan von einem Rezept, das sich ganz einfach Fußballpizza nennt. Hmmmmmmm … schmackofatz! Screenshot: worstofchefkoch.tumblr.com Eine Pizza wird mit einem Fußball belegt? Nein, da wird Pizzateig rechteckig auf ein Blech ausgewalkt. Darauf kommt dann Rahmspinat als Entsprechung für den Rasen. Der Spielfeldrand inklusive 16-Meter-Raum und Mittelkreis wird mit Mozzarella­streifen gekennzeichnet. Als Spieler kommen 22 kleine Würstchen in den Spinat rein. Da finde ich es halt so schön, dass jemandem die Ästhetik des Fußballplatzes so viel wichtiger ist als der Geschmack der Pizza. Die Betonung bei dem Rezept liegt auf „wenig Käse“. Gibt es Leute, die absichtlich Unappetitliches posten, nur um dann von Ihnen bemerkt zu werden? Hin und wieder liegt der Verdacht nahe. Es gibt zum Beispiel ein Rezept, das ist einfach nur Mett an einem Stock, das man über dem Lagerfeuer zubereiten soll. Da dachte ich zuerst: Das ist ja wie gemacht für uns. Aber es war erst zwei Tage alt. Wir achten darauf, wann ein Rezept veröffentlicht wurde und wie viele Rezepte der User sonst schon eingestellt hat. Eigentlich nehmen wir nur Rezepte, die schon auf chefkoch.de existierten, bevor es unsere Seite gab, um auf Nummer sicher zu gehen. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Sie gehen im Mai auf Tour, und es gibt Worst of Chefkoch live. Ja, wir lesen aus dem Blog, kochen dabei auch Rezepte nach. Wir haben unveröffentlichte Texte dabei, aber genauso Texte, die sich nicht nur aufs Kochen beziehen. Wir machen ja auch Poetry Slam. Die Seite ist noch nicht mal ein Jahr alt und hat inzwischen unheimlich viele Fans. Wie erklären Sie sich den Erfolg? Ist es die Faszination des Ekels? Ich glaube, die Leute finden es toll, in den sozialen Netzwerken auch mal Bilder von wirklich hässlichem Essen zu sehen. Essen ist dort ja meist toll ausgeleuchtet, in den schönsten Farben abgebildet. Aber das, was man zu Hause vor sich auf dem Teller hat, sieht nicht so aus. Uns schreiben immer wieder Leute, dass sie sich bei uns auf der Seite rumtreiben, weil sie sich dann nicht ganz so schlecht fühlen, wenn sie sich abends nur einen Teller Nudeln mit Soße kochen.
Jörn Kabisch
Lukas Diestel sammelt irre Rezepte von chefkoch.de auf dem Blog „Worst of Chefkoch“. Ein Gespräch über Mett am Stock, Wienerle Hawaii und die Faszination des Ekels.
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■ Mit der Ölförderung auf du und du: Weniger ist nicht mehr - taz.de
■ Mit der Ölförderung auf du und du: Weniger ist nicht mehr Berlin (taz) – Auf der arabischen Halbinsel brauchen die Scheichs zwar nur einen Stock in den Wüstensand zu stecken, um an Erdöl zu kommen. Doch nützt ihnen der natürliche Reichtum nicht mehr viel. Der Rohölpreis verfällt seit Anfang 1998 beständig und lag in den Wintermonaten zuletzt bei rund 10 Dollar pro Barrel (159 Liter). In den vergangenen zwei Wochen war der Preis immerhin auf knapp über 11 Dollar gestiegen, doch ist das den Erdölstaaten in der Opec immer noch zu wenig. Sie streben 21 Dollar für ein Barrel ihres hochwertigen Rohöls an. Die Ölminister von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten haben daher beschlossen, ihre Förderung zu drosseln. Denn weniger Öl, so ihre Überlegung, müßte den Preis hoch treiben. Saudi-Arabien, mit rund acht Millionen geförderten Barrel am Tag der größte Ölproduzent der Welt, wird ab dem 1. April 585.000 Barrel weniger pumpen. Die Vereinigten Emirate, mit 2,15 Millionen Barrel der zweitgrößte Förderer, drosselt seine Produktion täglich um 157.000 Barrel. Die Ölminister wollen ihre Entscheidungen auf der Konferenz der erdölexportierenden Länder (Opec) am Dienstag in Wien ihren Kollegen der anderen Mitgliedsstaaten mitteilen. Immerhin ist der Barrel-Preis für das konkurrierende Nordseeöl schon auf über 13 Dollar gestiegen. Experten rechnen jedoch damit, daß geringere Förderquoten der Opec nicht weiterhelfen. Denn wie hoch oder niedrig auch immer die Quoten in der Vergangenheit waren, haben sich die Kartellstaaten doch eh nicht daran gehalten und gefördert, wieviel ihnen beliebte. Damit haben sie den Preis nach unten getrieben und die Macht des Kartells geschwächt. Außerdem gibt es momentan zu viel Öl auf dem Weltmarkt. Die Abnehmerländer in Asien liegen wegen der wirtschaftlichen Krise danieder, die Bewohner der nördlichen Halbkugel haben im jüngsten warmen Winter weniger verbraucht, als von der Opec erhofft. Außerdem hat die Opec Konkurrenz aus Lateinamerika, Rußland und den in der Nordsee fördernden Staaten bekommen. Und langsam machen sich auch die Bemühungen der Industriestaaten bemerkbar, den Ölverbrauch zu senken. Neue Kraftwerke werden zudem mit Gas betrieben werden, als mit Opec-Öl. Rohölexperten rechnen daher in Zukunft mit fünf Dollar für das Barrel. ufo
ufo
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Dreckluft: Röpke mahnt - taz.de
Dreckluft: Röpke mahnt ■ BI: Schon jetzt zu viele Schadstoffe Für gesundheitsverträgliche Wohnverhältnisse an der Schwachhauser Heerstraße will sich Gesundheitssenatorin Karin Röpke (SPD) einsetzen. Das sicherte die Senatorin in einem Brief der Bürgerinitiative (BI) „Keine Stadtautobahn durch Bremen“ zu. Im laufenden Planfeststellungsverfahren für den vierspurigen Ausbau der Schwachhauser Heerstraße zwischen Kurfürsten- und Hollerallee habe das Gesundheitsamt bereits „angemahnt“, dass nicht nur die aktuell gültigen, sondern auch die ab 2010 verbindlichen EU-Grenzwerte für Benzol und Stickstoffdioxid in der Luft eingehalten werden. Den AnwohnerInnen ist das zu unkonkret. Röpke solle darlegen, welche Konsequenzen das „Anmahnen“ habe, forderte BI-Sprecher Günter Knebel. Vom Mahnen alleine werde die Luft nicht besser. Die Bürgerinitiative hält insbesondere den geplanten vierspurigen Ausbau der Trasse vor dem St.-Joseph-Stift für falsch, weil dann noch mehr Verkehr durch die Stadt fließen werde. Knebel: „Die Schadstoffkonzentration an der Kreuzung Bismarckstraße/Schwachhauser Heerstraße liegt schon jetzt permanent über den Grenzwerten.“ Dringender Handlungsbedarf besteht nach Auffassung der AnwohnerInnen auch beim Lärmschutz. Statt Straßen aus- und Schallschutzfenster einzubauen, müsse das Gesundheitsressort im Senat darauf drängen, dass der Lärm an sich vermindert werde, erklärte Knebel: „Das heißt für uns: Verkehrsvermeidung“. hoi
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■ BI: Schon jetzt zu viele Schadstoffe
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Legales Kiffen: Wenig berauschend - taz.de
Legales Kiffen: Wenig berauschend Bei der Legalisierung von Cannabis steht die Koalition juristisch vor einer Herausforderung. Sie würde gegen internationales Recht verstoßen. Statt mit Bierchen mit Tütchen in der Kneipe zu sitzen, kann hierzulande noch dauern Foto: imago Die Legalisierung von Cannabis wird nicht so schnell vorangehen, wie manche Befürworter gehofft haben. Auch aufgrund juristischer Hürden wird es schwer werden, die Freigabe psychotroper Hanfprodukte für den Freizeitkonsum gegen Völkerrecht und EU-Vereinbarungen durchzusetzen. Zumindest wird es seine Zeit dauern. So ist Deutschland einer Reihe von Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Drogenpolitik beigetreten, die die Verfügbarkeit von Suchtmitteln einschränken sollen. Das wichtigste ist die „Single Convention on Narcotic Drugs“ von 1961. Von Anbau über Verkauf bis zu Handel verbietet dieser völkerrechtliche Vertrag im Prinzip alles, was mit Cannabis zu tun hat. Aber auch auf EU-Ebene würde eine Legalisierung Recht brechen. Die juristische Lage in Europa lässt sich besonders gut am Beispiel eines Gerichtsverfahrens von 2010 beschreiben. Ein Coffeeshop-Betreiber aus dem niederländischen Maastricht hatte gegen die neuen Bestimmungen in seiner Stadt geklagt, denen zufolge er Cannabisprodukte nicht mehr an Nichtniederländer verkaufen durfte. Er machte geltend, dass diese Regelung zu einer Ungleichbehandlung von EU-Bürgern führe. „Anbieten, feilhalten, verkaufen“ unter Strafe Der Europäische Gerichtshof wies die Klage ab. Ausfuhr und Abgabe „von Suchtstoffen und psychotropen Stoffen aller Art einschließlich Cannabis“ sei schon gemäß Schengen-Übereinkommen von 1990 zu unterbinden, so die Richter. Zudem müsse laut EU-Recht jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass unter anderem das „Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern“ von Drogen unter Strafe gestellt werden, wenn dies „ohne entsprechende Berechtigung“ erfolge. Damit sei in der Europäischen Union eindeutig auch Cannabis gemeint, befand das Gericht. „Lediglich ein streng überwachter Handel, der der Verwendung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke dient, ist davon ausgenommen.“ Wie also will Deutschland angesichts dieser Rechtslage Cannabis zu Genusszwecken legalisieren? Dessen Besitz ist auch nach dem niederländischen Betäubungsmittelrecht verboten. Doch das niederländische Opportunitätsprinzip gibt einen Ermessensspielraum bei der Frage, welche Straftaten überhaupt von den Behörden verfolgt werden oder nicht – etwa kriminalpolitische Schwerpunkte. Doch nicht nur kommt das Opportunitätsprinzip im deutschen Recht in weit geringerem Maße zur Anwendung – das holländische Modell als solches gilt schon lange nicht mehr als Vorbild. Illegale Quellen Denn der Stoff, dessen Verkauf in kleinen Mengen über den Tresen der Coffeeshops geduldet wird, stammt aus illegalen Quellen, wodurch ein Nährboden für die Drogenmafia entsteht. Es ist aber auch schlicht keine juristisch saubere, konsequente Lösung. Ähnliches gilt für die US-amerikanische Variante: Dort wurde Cannabis in einzelnen Bundesstaaten für den Freizeitkonsum legalisiert, ist aber durch Bundesrecht weiterhin verboten. Kanada dagegen, ein wichtiges Vorbild für die neue deutsche Drogenpolitik, hat mit der Cannabislegalisierung schlicht und einfach Völkerrecht gebrochen: Der Internationale Suchtstoffkontrollrat INCB hat die Entscheidung mehrfach gerügt. Ähnlich hat der INCB Uruguay mehrfach abgemahnt und Sanktionen angedroht. „Für eine saubere Lösung des Cannabis-Dilemmas kommen wir um eine Änderung europäischen und internationalen Rechts nicht herum“, schreibt Robin Hofmann, Professor für Strafrecht, Kriminologie und Kriminalistik an der Universität Maastricht, auf der Seite verfassungsblog.de. Einfacher im Völkerrecht Zumindest, was das Völkerrecht betrifft, geht es wohl auch einfacher. „Eine gute Grundlage für die anstehenden parlamentarischen Beratungen bietet der Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes aus der letzten Wahlperiode“, antwortet Kirsten Kappert-Gonther, drogenpolitische Sprecherin der Grünen, auf taz-Anfrage. In dem Entwurf – von den Grünen eingebracht, von der Linken unterstützt, aber 2017 mit der Mehrheit von Union und SPD abgelehnt – wird vorgeschlagen, Cannabis aus dem Strafrecht zu entfernen. Um den damit verbundenen Bruch des Völkerrechts zu vermeiden, ist es möglich, aus dem UN-Vertrag auszusteigen – und unter Vorbehalt wieder einzusteigen, wie der Gesetzentwurf beschreibt. „Darin sind auch Zeiträume für die (Teil-)Kündigung internationaler Verträge enthalten“, so Kappert-Gonther. Die sind allerdings nicht eben kurz: Sechs Monate dauert es mindestens, bis die Kündigung wirksam wird. Gleichzeitig darf der Wiedereintritt beantragt werden – der erfolgen kann, wenn nicht mindestens ein Drittel der Vertragsparteien Einspruch erheben. Erfolgreiches Vorbild Bolivien Immerhin gibt es für dieses Verfahren bereits es ein erfolgreiches Vorbild: Bolivien ist diesen zeitintensiven Weg bereits 2012 bei der Legalisierung der traditionell konsumierten Koka-Blätter gegangen. 2013 trat das Land wieder ein. Indien, Pakistan und Bangladesch, in deren Kulturen der Konsum psychotroper Hanfprodukte eine lange Tradition hat, hatte bereits bei Eintritt in das Abkommen 1961 Vorbehalte für die Verwendung von Cannabis zu Genusszwecken eingelegt. Keine Blaupause gibt es dagegen für das juristische Vorgehen auf EU-Ebene. Deutschland wäre mit einer klaren juristischen Lösung Pionier. In dem Gesetzentwurf zum Cannabiskontrollgesetz wird unter anderem auf die „neue“ EU-Politik verwiesen, die stärker auf Subsidiarität setze und deshalb einer spezifischen deutschen Regelung „voraussichtlich nicht im Wege stehen“ werde. Auch müsse ja der Besitz von Cannabis zu persönlichen Konsumzwecken nach EU-Recht nicht kriminalisiert werden. Zudem wird argumentiert, es sei nicht definiert, dass die Abgabe von Cannabis nur zu medizinischen Zwecken legal ist. Sie lasse sich daher „als Abgabe mit entsprechender Berechtigung“ bewerten – was die Richter im Falle des Coffeshop-Besitzers aus Maastricht freilich anders gesehen hatten. Wichtiger Faktor: Geduld Vielleicht räumt der Gesetzentwurf aufgrund der vorhersehbaren rechtlichen Tücken so klar ein, dass auch hier noch einmal Geduld ein besonders wichtiger Faktor ist: „Selbst wenn europarechtliche Verpflichtungen dem Regelungsvorschlag entgegenstünden, so böte der lange Zeitraum bis zum Inkrafttreten des Gesetzes hinreichend Zeit, diese anzupassen“, heißt es. Aber spielt den deutschen Legalisierungspionieren nicht ein neuer Zeitgeist in die Hände? Kappert-Gonther verweist darauf, dass sich die politische Haltung zu Cannabis etwa in Italien, Malta und Luxemburg ändere. Nur hat das bisher wenig genützt. Luxemburg zeigt sogar eher einen Rückschlag: 2018 sollte dort eine komplette Legalisierung umgesetzt werden. Drei Jahre später sieht die Realität für Konsumenten wenig berauschend aus. Das Vorhaben sei mit EU-Recht nicht vereinbar, so Gesundheitsministerin Paulette Lenert Ende 2021. So ist aus der Legalisierung nicht mehr als eine Entkriminalisierung geworden: Privates Kiffen wurde erlaubt, ein paar Pflänzchen auf dem Balkon auch. Alles andere bleibt illegal. Die zu erwartenden rechtlichen Herausforderungen seien keineswegs der einzige Grund dafür, dass es so schleppend vorangeht mit der Legalisierung, betont der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler. „Einerseits gibt es einfach extrem viel anderes zu tun zurzeit, das wichtiger ist.“ Anderseits sei die Legalisierung in vielerlei Hinsicht ein komplexes Vorhaben, nicht nur in juristischer. Es sei gut, dass das jetzt deutlich werde. „Es ist eben nicht so trivial, dass man sagen kann: Macht mal eben.“
Oliver Schulz
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Krieg in der Ukraine: Geländegewinne und Nebelkerzen - taz.de
Krieg in der Ukraine: Geländegewinne und Nebelkerzen Russland räumt mehrere wichtige Verteidigungsstellungen im Süden der Ukraine. Gleichzeitig greifen Moskaus Truppen im Osten des Landes an. Feuer frei: Ukrainische Soldaten feuern am 12. August unweit von Bachmut auf russische Stellungen Foto: Libkos/ap BERLIN taz | Die Fronten in der Ukraine geraten immer stärker in Bewegung – aber ein einheitliches Bild zeichnet sich noch nicht ab. Im nördlichsten Bereich der 1.500 Kilometer langen Frontlinie versucht Russland offenbar, in Richtung der Stadt Kupjansk vorzustoßen, rund zehn Kilometer von der Front entfernt. Von bis zu 100.000 russischen Soldaten dort ist die Rede und die Ukraine erließ vergangene Woche eine Evakuierungsanordnung für Dutzende Siedlungen. Russische Geländegewinne, die über ein bis zwei Kilometer hinausgehen, sind jedoch nicht belegt. Manche Kommentatoren meinen, dass die Ukraine die Lage bei Kupjansk bewusst überdramatisiere, damit Russland in der Hoffnung auf einen großen Erfolg Truppen aus anderen Frontbereichen dorthin verlegt. Dies würde der Ukraine dort helfen, wo sie ihre eigenen Offensivbemühungen konzentriert: an der Südfront in den Gebieten Saporischschja und Donezk. Dass die Ukraine „16 bis 20 Kilometer vorgerückt“ sei, wie die unabhängige Webseite Kyiv Independent in der Nacht zu Sonntag meldete, erscheint übertrieben. Am Wochenende waren ukrainische Einheiten an der Südfront allerdings dabei, zwei Orte rund zehn Kilometer hinter der ursprünglichen Front einzunehmen, die Russland seit Wochen besonders hartnäckig verteidigt hatte, um eine größere Entfaltung der ukrainischen Gegenoffensive abzublocken. „Die halbe Brigade betrinkt sich hinter der Front“ Sowohl aus Urozhaine sowie aus Robotyne weiter westlich wurden am Samstag und Sonntag Aufnahmen einrückender ukrainischer Soldaten und schwerer Kämpfe verbreitet. Urozhaine liegt direkt neben Staromajorske, dessen Einnahme Ende Juli den ukrainischen Einheiten den Weg in Richtung der russischen Hauptverteidigungslinie gen Mariupol freigemacht hatte; solange Urozhaine noch russisch besetzt war, waren weitere Vorstöße in dieser Richtung aber nicht möglich. Am Sonntag verbreitete das ukrainische Verteidigungsministerium Satellitenaufnahmen, die zeigen sollen, wie russische Soldaten zu Fuß aus Urozhaine fliehen und dann von ukrainischer Streumunition eingeholt werden. Ein russischer Militärblogger bestätigte auf Telegram: „Heute wurde das Dorf Urozhaine aufgegeben.“ Er beschuldigte eine Panzereinheit der 37. russischen Brigade in der Nachbarschaft, der eigenen Infanterie die Unterstützung verweigert zu haben: „Sie behaupteten, dass sie kein Personal zum Kämpfen übrig haben. In Wirklichkeit ist die halbe Brigade damit beschäftigt, sich hinter der Front zu betrinken, und ihre Offiziere können sie nicht zur Vernunft bringen. Aber aus irgendeinem Grund wird immer noch die 37. Brigade an die wichtigsten Frontabschnitte geworfen und überlässt diese erfolgreich dem Feind.“ Wachsende Aufmerksamkeit erzeugen auch die zunehmenden Überquerungen des Dnipro, der seit November 2022 bei Cherson die Frontlinie bildet. Immer öfter halten ukrainische Einheiten Brückenköpfe auf dem russisch besetzten Südufer des Flusses. Russland wiederum setzt seine Angriffe auf zivile Ziele fort. Bei einem Artillerieangriff auf Schyroka Balka an der Mündung des Dnipro-Flusses nahe Cherson wurden nach ukrainischen Angaben mindestens sieben Menschen getötet, darunter Kinder. Zudem feuerte Moskau nach eigenen Angaben am Sonntag erstmals Warnschüsse auf ein Frachtschiff im Schwarzen Meer ab, das den Hafen von Ismajil ansteuerte.
Dominic Johnson
Russland räumt mehrere wichtige Verteidigungsstellungen im Süden der Ukraine. Gleichzeitig greifen Moskaus Truppen im Osten des Landes an.
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„Wilder Westen“ in Computerspielen: Entfesselter Mythos - taz.de
„Wilder Westen“ in Computerspielen: Entfesselter Mythos Seit den 70er Jahren ist der „Wilde Westen“ ein Game-Thema. Meist beschränken sich die Spiele auf Klischees. Allmählich wird die Legende hinterfragt. Ohne Sonnenuntergänge und Canyons kommt kein Western aus: Szene aus „Red Dead Redemption 2“ Foto: Rockstar Games/Playstation Store Der „Wilde Westen“ in Videospielen beginnt mit einem Skandal. 1982 veröffentlicht das Entwicklerstudio Mystique „Custer's Revenge“. Darin müssen Spieler*innen den namensgebenden General George Custer steuern und bekommen Punkte, wenn sie eine gefesselte amerikanische Indigene vergewaltigen. Auf der Spielverpackung heißt es: „Hilfe von George ist auf dem Weg. Bei Gott! Er kommt“. Mehr als 80.000 Mal wurde das Spiel verkauft. Der 1876 in der Schlacht vom Little Bighorn getötete Custer wurde lange Zeit als US-amerikanischer Held verklärt. Erst ab den 1970er Jahren wurde der Custer-Mythos durch Filme und Forschung dekonstruiert. Aber Videospielentwickler*innen machten daraus noch in den 80er Jahren eine Rache- und Vergewaltigungsfantasie. Ähnlich zu Westernfilmen, die sich an Dime Novels und Romanen wie Owen Wisters „The Virginian“ orientiert haben, reproduzieren auch Videospiele Bilder und Motive aus Westernfilmen oder verweisen auf Gemälde der Hudson River School, sagt Sören Schoppmeier von der Freien Universität Berlin. Er forscht zur Reproduktion US-amerikanischer Kultur in Videospielen. Westernszenarien waren für Entwickler*innen in den 70er und Anfang der 80er Jahre eine Goldgrube. Trotz der begrenzten Technik sind ikonische Figuren und Objekte auch nur mit wenigen Pixeln erkennbar: ein Kaktus, ein Revolver, ein Cowboyhut. „Spielehersteller boten den Kund*innen damit vertraute Bilder und mit digitalen Revolverduellen Anreize, möglichst viel Geld in die Spielautomaten zu werfen“, sagt Schoppmeier. Mit einer faktengetreuen Darstellung des Lebens in der Frontier hatte das meist nichts zu tun. Der Kampf alter weißer Männer Einer Studie zufolge erschienen zwischen 1970 und 2015 315 Computer- und Videospiele mit Westernbezug. Die meisten davon sind Duellspiele und Ego-Shooter wie „Gun Fight“ von 1975 oder „Call of Juarez“ (2006). Um Kund*innen nicht zu verprellen, wurden Themen wie die Vertreibung und Vernichtung großer Teile der indigenen Bevölkerung oder die Sklaverei nahezu komplett ausgeblendet oder verharmlost, sagt Schoppmeier. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Während sich Westernfilme von ihren anfänglichen romantischen Verklärungen der US-amerikanischen Frontier emanzipiert haben und den Gründungsmythos der USA zerlegen, stagnieren Westernspiele auf dem Niveau von Filmen der 1960er Jahre. Erst neuere Westernspiele wie „Red Dead Redemption 2“ behandeln Themen wie Umweltzerstörung oder die Vertreibung der indigenen Bevölkerung. Für ein Blockbuster-Videospiel sei „Red Dead Redemption 2“ teilweise recht progressiv, im Vergleich zu vielen Westernfilmen aber nicht, sagt Schoppmeier, der das Spiel in seiner Promotion erforscht: „Red Dead Redemption 2 positioniert sich nicht klar zu diesen Themen, die zudem nur Nebenmissionen sind. Im Kern bleibt es der Kampf zweier alter weißer Männer vor tollen Kulissen.“ Eine Bank und die Eisenbahn: typische Filmbilder einer Westernstadt, zu sehen in „Desperados 3“ Foto: Mimimi Games Das Mitte Juni erschienene Echtzeit-Taktikspiel „Desperados 3“ des deutschen Entwicklerstudios Mimimi Games nutzt ebenfalls den „Wilden Westen“ als Szenario und spielt in den 1870er Jahren. „Unser Spiel ist ein Best-of der Westernfilme“, sagt Martin Hamberger, Lead Writer bei Mimimi Games. „Desperados 3“ sollte als Spiel nicht zu düster werden und Spaß machen, sagt Hamberger. „Deshalb haben wir uns gegen den US-amerikanischen Bürgerkrieg entschieden.“ Trotzdem haben die Entwickler*innen das Thema Sklaverei in Ansätzen aufgegriffen: In einer Mission bewegt man sich in den Sümpfen Louisianas, in der Menschen in Käfigen gehalten werden. Perspektiven indigener Communitys „Wir hätten uns unwohl gefühlt, wenn wir das ernste Thema ignoriert hätten“, sagt Hamberger. „Desperados 3“ ist im Vergleich zu anderen Spielen progressiver, die Charaktere und die Story bleiben allerdings stereotyp. Außerdem erleben die Spieler*innen die Geschichte größtenteils aus der Perspektive von weißen Menschen. Entwickler*innen von Indie-Spielen verlassen indes die meist weiße Perspektive des US-amerikanischen Westens und zeigen etwa im Lernspiel „When Rivers Were Trails“ von 2019 das Leben einer indigenen Community im 19. Jahrhundert, die von ihrem Land vertrieben wurde. Entwickelt wurde es von Elizabeth LaPensée, die selbst indigene Vorfahren hat. Einen General Custer finden Spieler*innen darin glücklicherweise nicht.
Denis Giessler
Seit den 70er Jahren ist der „Wilde Westen“ ein Game-Thema. Meist beschränken sich die Spiele auf Klischees. Allmählich wird die Legende hinterfragt.
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„Open Access“ in der Wissenschaft: Transparenz beim Publizieren - taz.de
„Open Access“ in der Wissenschaft: Transparenz beim Publizieren Wissenschafler nutzen das Internet, um überholte Strukturen im Publikationswesen abzuschütteln. Großverlage verlieren an Macht. Die Möglichkeiten des Internets können zum Machtabbau bei den großen Wissenschaftverlagen beitragen. Bild: dapd LEIPZIG taz | Das Publizieren von wissenschaftlicher Literatur steht vor einer grundlegenden Erneuerung. Open Access ist das Wort der Stunde. Wissenschaftler wie Christoph Bruch machen sich für einen offenen Zugang stark. Jeder soll über das Internet wissenschaftliche Arbeiten entgeltfrei nutzen dürfen. Auch das festgefahrene, undurchsichtige Reputationssystem muss überwunden werden. ResearchGate, eine Internetplattform für Forscher, könnte eine Lösung für beides sein. In dieser Woche fanden die 6. Open-Access-Tage in Wien statt. Fachleute diskutierten über die Umsetzung von Open Access. Christoph Bruch hielt im Auftrag der Helmholtz-Gemeinschaft einen Vortrag zum Stand in Deutschland. Vorab sagte er der taz, was es noch zu tun gebe: „Eine Untersuchung hat festgestellt, dass 20 Prozent der Artikel, die namhafte Open-Access-Zeitschriften weltweit veröffentlichen, mit einer einfachen Google-Suche gefunden werden. Das Problem: Ein Großteil dieser Artikel ist nicht mit freien Lizenzen ausgestattet.“ Man könne sie lesen und herunterladen, nicht aber weiterverwenden. In Deutschland sollten alle wissenschaftlichen Organisationen Open-Access-Richtlinien verabschieden. Wissenschaftler sollten Open Access kompatibel veröffentlichen. „Außerdem ist es oft so, dass Wissenschaftler für die Artikel in einer Open-Access-Zeitschrift bezahlen. Künftig müssen Fonds geschaffen werden, um diese Gebühren zu übernehmen“, sagt Christoph Bruch. Die Universität Konstanz hat eine solche Richtlinie im Februar verabschiedet. Anja Oberländer ist dort Beauftragte für Open Access. Sie weiß, wie es um die Umsetzung an der Uni steht: „Unsere Wissenschaftler können ihre Arbeiten auf einem Repository, einem digitalen Verzeichnis der Arbeiten, zweitveröffentlichen. Dissertationen können sogar als Erstveröffentlichung eingestellt werden.“ Die meisten Dissertationen landen laut Oberländer heute auf dem Repository. Einen Fonds an der Uni Konstanz Seit Kurzem hat die Uni Konstanz auch einen Publikationsfonds, sodass die Kosten für die Publikationen übernommen werden können. Im Schnitt sind das laut Oberländer immerhin 1.000 bis 1.500 Euro pro Artikel. Trotzdem sind einige Wissenschaftler zurückhaltend: „Viele sind unsicher, ob ihre Verlagsverträge ihnen die Open-Access-Veröffentlichung erlauben. Das ist ein großes Problem. Wir wünschen uns von der Politik ein unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht“, sagt Oberländer. Auch der Neurologe Björn Brembs war als Redner auf der Wiener Tagung. Er nutzt die Diskussion, um stellvertretend für eine Bewegung in der Wissenschaftswelt mit Großverlagen abzurechnen. Verlage mit zuviel Macht Brembs findet es falsch, dass Zeitschriften wie Science über Wissenschaftlerkarrieren entscheiden: „Natürlich brauchen wir in der Wissenschaft ein Reputationssystem. Es gibt schließlich nur eine begrenzte Anzahl an wissenschaftlichen Stellen. Außerdem brauche ich eine verifizierbare Dokumentation der Forschung“, so Brembs. Beides dürfe aber nicht in der Hand von milliardenschweren Großverlagen bleiben. ResearchGate ist eine Onlineplattform, die auf den ersten Blick der Forderung nach freiem Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und einem transparenten Reputationssystem nachkommen könnte. Forscher sollen auf der Plattform ihre Ergebnisse direkt publizieren können. Diese werden von der Onlinegemeinschaft eingesehen, kommentiert, geteilt und bewertet. „Größtenteils handelt es sich dabei um Zweitveröffentlichungen. Neun von zehn Verlagen erlauben Wissenschaftlern, ihre Artikel zum Zweck der Selbstarchivierung auf ihren eigenen Websites weiterzuverbreiten. Das ResearchGate-Profil zählt als persönliche Website“, sagt Geschäftsführer Ijad Madisch. Im August hat das Start-up aus Berlin den sogenannten RG-Score eingeführt. „Eine neue Metrik, um wissenschaftliche Reputation zu messen.“ Weltweit 2 Millionen Mitglieder 65.000 Wissenschaftler in Deutschland und zwei Millionen weltweit nutzen ResearchGate. „Forscher können Reaktionen auf ihre Publikationen von Fachkollegen weltweit bekommen. Ob Rohdaten, Grafiken oder negative Resultate, man kann alles publizieren. Das gibt anderen Forschern die Möglichkeit, jeden Schritt der Forschung nachzuvollziehen und zu bewerten. Das fließt alles in ihren RG-Score ein“, sagt Madisch. Dabei zählt die Meinung eines renommierten Professors mehr als die eines Unbekannten. Publikationen auf der Plattform sind kostenlos und für alle registrierten Nutzer frei zugänglich. Damit man sich aber registrieren kann, muss man nachweisen, ein Wissenschaftler zu sein. Darin sieht Christoph Bruch ein Defizit: „Eine freie Zugänglichkeit, auch für Nichtwissenschaftler, ist eine der Forderungen von Open Access.“ Brembs kritisiert, dass der RG-Score nur jene Arbeiten in die Reputation einbeziehe, die tatsächlich auf der Plattform veröffentlicht würden. „Alles, was nicht bei ResearchGate ist, wird nicht miteinbezogen.“ Auch die Tatsache, dass Investoren mit Geld die Plattform unterstützen, stört den Biologen: „Das ideale Reputationssystem muss von Wissenschaftlern für Wissenschaftler geschaffen werden, nicht von Unternehmen.“
Giuseppe Paletta
Wissenschafler nutzen das Internet, um überholte Strukturen im Publikationswesen abzuschütteln. Großverlage verlieren an Macht.
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Erklärungsmodell: Gier - taz.de
Erklärungsmodell: Gier THEATER Am Schauspielhaus Hamburg hat Albert Ostermaier sich mit „Ein Pfund Fleisch“ daran versucht, mithilfe von Shakespeare Zeitdiagnose zu betreiben. Das gelingt nur mittelmäßig Ostermaiers Kritik ist dabei in etwa so radikal wie die Gier seiner Hauptfiguren Das „Spielfeld“ ist ein karges Weiß. Nur in der Mitte baumelt Fleisch, eine einzelne Schweinehälfte hängt von der Decke herab. Wir sehen einen Mann im Anzug, der mit Boxhandschuhen bekleidet herumtänzelt und das tote Fleisch mit Schlägen malträtiert. Nein, das ist nicht Rocky, sondern ein Kaufmann namens Shylock (Dominique Horwitz). Ein harter Hund, der Sätze wie Schlagsalven loslässt: „Am besten kauft man dann, wenn das Blut auf den Straßen klebt.“ Im Auftrag des Schauspielhauses hat sich Albert Ostermaier daran versucht, mithilfe von Shakespeare Zeitdiagnose zu betreiben. Sein Stück „Ein Pfund Fleisch“, inszeniert von Dominique Schnizer, überträgt die Handlung von „Der Kaufmann von Venedig“ auf die heutige Finanzwelt. Das klingt so: Der junge Lebemann Bassanio (Stefan Haschke) will um die Hand der hübschen und reichen Erbin Portia (Maria Wardzinska) anhalten und bittet seinen Freund Antonio, ihm 3.000 Dukaten dafür zu leihen. Der alte Antonio, der gerade sein ganzes Vermögen investiert hat, um es noch vor Börsenschluss um ein vielfaches vermehrt wieder einzusacken, leiht sich das Geld dann ausgerechnet bei seinem Erzfeind Shylock. Dieser verzichtet zwar auf Zinsen, verlangt aber zur Sicherheit, dass ihm bei nicht-fristgerechter Zahlung „ein Pfund Fleisch“ aus Antonios Körper zusteht. Ostermaiers Versuch den Handlungsrahmen so zu reduzieren, dass dieser Deal um Menschenfleisch auf die Finanzkrise beziehbar wird, ist eine gute Idee. Doch gelingt ihm das nur auf Kosten der facettenreichen Ambivalenz, die das Shakespear’sche Original auszeichnet. Offensichtlich war Ostermaier das kritische Potenzial wichtiger. Die Kritik ist dabei in etwa so radikal wie die Gier und der Zynismus seiner Hauptfiguren. Statt Shylocks Verhalten auf seine halb entrechtete Situation als ein im Ghetto lebender Jude zurückzuführen, entscheidet sich Ostermaier für die Gier als Erklärungsmodell. Eine kapitalistische Gier, die auch vor Menschenfleisch nicht Halt macht. Das mag es geben, bei einer Figur wie Shylock erzeugt das hier und da schon mal einen schiefen Ton. Damit das Ganze dann nicht falsch verstanden wird und auf die heutige Finanzwelt anwendbar bleibt, wird der christliche und scheinheilige Antonio als ein noch übleres Schwein als der Jude Shylock dargestellt. Die einzige weibliche Figur des Stücks lässt sich als Vertreterin einer alternativen Haltung zur allgemeinen Gier verstehen. Anders als bei Shakespeare ist Portia hier nicht die Figur der Gnade, sondern eine Rebellin in Paris-Hilton-Montur, die später schließlich aus ihren goldenen Pumps steigt, sich einen Militärparka überwirft und ankündigt, dass sie als Mann, also Gratiano, verkleidet das Männer-Kapitalismus-System von innen her zerstören will. Doch wie diese Verwandlung wirkt die kritische Ausrichtung des Stücks der Handlung wie übergestülpt. „O, wie hätte Shakespeare … die Geheimnisse der Börsenherzen aufgedeckt!“, hat sich Ludwig Börne schon 1828 gefragt. Jedenfalls nicht so.  SAMUEL MOON nächste Aufführungen: 22. und 27. 9., jeweils 20 Uhr
SAMUEL MOON
THEATER Am Schauspielhaus Hamburg hat Albert Ostermaier sich mit „Ein Pfund Fleisch“ daran versucht, mithilfe von Shakespeare Zeitdiagnose zu betreiben. Das gelingt nur mittelmäßig
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Ganz Berlin ist ein Museum - taz.de
Ganz Berlin ist ein Museum Standort statt Standpunkt?  ■ K O M M E N T A R Wo bitte gehts zur Deutschen Geschichte? Vor dem Reichstag oder zwischen Kunstgewerbemuseum und Lenne-Biotop? Man muß wohl Bausenator sein, um mit der Diskussion über den Standort die über den Standpunkt vorwegnehmen zu wollen. Ist der Bauplatz erst einmal gefunden, das Haus gebaut, wird sich schon Inhalt dafür finden. Aber lehrt nicht gerade die historische Topographie des „zentralen Bereichs“, wie verblüffend schnell selbst Weltmachtzentren zur Wiese werden können? Das Verwahren historischer Erfahrung in Gebäuden, zumal in Neubauten, erscheint nicht nur unter diesem Aspekt riskant. Sicherer, wenn auch nicht ruhiger, wäre sie vielleicht in den Köpfen und im Alltag möglichst vieler Menschen aufbewahrt. Ließen sich die Peinlichkeit und der Zwang zur Großartigkeit vielleicht gerade durch Verzicht auf einen Standort überwinden? Stellen wir uns vor: Die Geschichte käme uns an jeder Straßenecke entgegen, nirgends wären Touristen wie Eingeborene vor ihr sicher, die ganze Stadt durchzöge eine Art historischer Waldlehrpfand, hier ein Hinweis darauf was hier früher einmal stand, da eine Kellerwohnung, dort eine Belle Etage, in der sich Lebens- und Denkweisen vermitteln lassen. An geeigneten Fabriketagen würde es in dieser Stadt so wenig fehlen wie an „historischen Plätzen“ im konventionellen Sinne. Dutzende von Arbeitsgruppen Interessierter und Bewanderter könnten sich einzelner Fragen und Aspekte der deutschen Geschichte annehmen und darum bemühen, all diese Einzelteile, als die uns Geschichte ja entgegenkommt, zusammenzufügen. Die Darstellung der Geschichte als selbstverständlich höchst kontroverses Projekt vieler erscheint in jeder Hinsicht spannender, lehrreicher und vor allen Dingen weniger monströs als irgend ein gigantischer Bau. Geld scheint genügend vorhanden, Interesse ließe sich ganz ohne Zweifel finden, nicht nur in West-Berlin, und statt eines Standort-Streites hätten wir die schönsten Standpunkt-Diskussionen über Jahre. Und noch etwas: „Das Museum“ könnte sich entwickeln, statt zum steinernen Symbol zu erstarren. Benny Härlin
benny härlin
Standort statt Standpunkt?  ■ K O M M E N T A R
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Shitstorm auf Twitter: Tauber lästert über Minijobber - taz.de
Shitstorm auf Twitter: Tauber lästert über Minijobber CDU-Generalsekretär Peter Tauber erntet Kritik für einen Tweet über Minijobs – zu Recht. Sein Satz ist gleich aus mehreren Gründen dumm. Nicht sein erster Shitstorm: Peter Tauber Foto: dpa BERLIN taz | Wenn Politikern etwas herausrutscht, was sie wirklich denken, kann das für sie sehr unangenehm werden. Unvergessen, wie der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck 2006 einem schimpfenden Arbeitslosen riet, wenn er sich wasche und rasiere, habe er in drei Wochen einen Job. Die Reaktionen fielen, vorsichtig gesagt, gemischt aus. Jetzt hat auch Peter Tauber seinen Kurt-Beck-Moment. Tauber ist CDU-Generalsekretär, ein wichtiger Mann für Merkels Wahlkampf, und er vergriff sich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter im Ton. In einer Diskussion über das Versprechen von CDU und CSU, bis 2025 Vollbeschäftigung zu schaffen, fragte ihn am Montagabend ein Nutzer: „Heißt das jetzt drei Minijobs für mich?“ Tauber schoss – offenbar ohne groß Nachzudenken – zurück: „Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs.“ Klatsch. Die arrogante Antwort des Christdemokraten hatte das Potential, ein echter Rohrkrepierer zu werden. Taubers Antwort klang nicht nur wie eiskalter, elitärer Technokratensprech, sie war auch aus mehreren Gründen inhaltlich falsch. Erstens schützt heutzutage eine (ordentliche) Ausbildung nicht mehr vor schlecht bezahlten Jobs, mit denen sich keine Familie ernähren lässt. Tauber sollte sich mal bei Angestellten in der Gastronomie oder im Wachschutz schlau machen. Es war seine CDU, die an der Expansion des Niedriglohnsektors tatkräftig mitgewirkt hat. Zweitens beleidigte Tauber mit dem Tweet eine Gruppe, um die er eigentlich kämpfen sollte. Der Generalsekretär gilt ja als Gesicht einer modern aufgestellten, urbanen Christdemokratie. Minijobs machen mehrheitlich Frauen Minijobs machen mehrheitlich Frauen, weil sie sich mit Kindererziehung vereinbaren lassen und steuerliche Vorteile bieten. Der häufigste Schulabschluss in dieser Gruppe ist laut einer Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung auf dem nordrhein-westfälischen Arbeitsmarkt das Abitur, der häufigste Berufsabschluss eine Lehre oder Ausbildung. Und für diese Frauen hat der CDU-General nur Verachtung übrig? Der Shitstorm folgte prompt, bis zum Dienstagmorgen antworteten 1.400 Menschen – meist mit scharfer Kritik. Ein Nutzer warf ihm eine „menschenverachtende, arrogante und elitäre Haltung“ vor. Eine andere fragte: „Würden Sie der Putzfrau attestieren, nichts ,Ordentliches`gelernt zu haben?“ Eine dritte berichtete von dem Kitaerzieher, der zusätzlich als Kassierer arbeiten müsse, weil er sonst nicht über die Runden komme. Der Satiriker Jan Böhmermann kommentierte lakonisch: „Die Schwarze Null.“ Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenWenn Sie was ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs.— Peter Tauber (@petertauber) 3. Juli 2017 Die Gegner der CDU konnten ihr Glück kaum fassen – und griffen die Vorlage dankbar auf. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann twitterte: „Und wer keinen Anstand gelernt hat, wird CDU-Generalsekretär.“ Die „pöbelnde Arroganz“ Peter Taubers zeige: „Der CDU fehlt der Respekt vor Geringverdienern“, kritisierte SPD-Generalsekretär Hubertus Heil. Und Grünen-Chef Cem Özdemir schrieb: „Traurig, wenn eine ‚christliche‘ Volkspartei den Bezug zur Lebenswelt der BürgerInnen verliert.“ Wahlprogramm ignoriert Niedrigverdiener Taubers Äußerung explodierte auch deshalb so fulminant, weil CDU und CSU am Montag ihr gemeinsames Wahlprogramm vorgelegt hatte. Jenes verspricht viele Geschenke für die (obere) Mittelschicht, lässt aber Niedrigverdiener außen vor. Und Tauber? Der Mann, der Krisenkommunikation aus dem Effeff beherrschen müsste, versuchte sich am Dienstagmorgen zunächst noch in der Vorwärtsverteidigung. Fakt sei: „Nur mit einer guten Ausbildung verdient man genug, damit man nicht drei Mini-Jobs braucht, um über die Runden zu kommen!“, legte er nach. Nun gilt auch im politischen Geschäft die Regel: Wer sich in einem Loch wiederfindet, sollte tunlichst aufhören zu graben. Schließlich sah das auch Peter Tauber ein. Wer drei Minijobs brauche, der habe es nicht leicht, twitterte er. Er habe niemandem zu nahe treten wollen. „Es tut mir leid, dass ich mein eigentliches Argument – wie wichtig eine gute Ausbildung und die richtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind, damit man eben nicht auf drei Minijobs angewiesen ist – so blöd formuliert und damit manche verletzt habe.“ Übersetzt heißt das: Sorry, Leute, ich habe Unsinn verzapft. Tauber, das muss man ihm zugute halten, hat es am Ende noch selbst gemerkt.
Ulrich Schulte
CDU-Generalsekretär Peter Tauber erntet Kritik für einen Tweet über Minijobs – zu Recht. Sein Satz ist gleich aus mehreren Gründen dumm.
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Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung - taz.de
Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd. Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt. Schon im Grundschulalter werden Kinder wegen ihrer sozialen Herkunft diskriminiert Foto: dpa Klassismus ist der älteste aller Diskriminierungsbegriffe. Bereits in den 1830er Jahren wurden Klassenunterschiede als „Classism“ bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde dieser Begriff in den USA parallel zu Sexismus von dem lesbischen Arbeitertöchterkollektiv „The Furies“ wiederbelebt. In Deutschland dauerte es noch einmal fünfzig Jahre. Jetzt endlich wird Klassismus auch hier in den Medien diskutiert. Allerdings läuft in dieser Debatte einiges schief. Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Daher ist es nötig, daran zu erinnern, wofür der Begriff Klassismus steht: Unterdrückung aufgrund des sozialen Status. Der Begriff bezieht sich also nicht nur auf Fragen der Anerkennung, wie in verschiedenen Beiträgen behauptet wird, sondern auf die ganze Palette, die die Politikwissenschaftlerin Iris M. Young in ihrem Artikel „Five Faces of Oppression“ (Fünf Gesichter der Unterdrückung) benannt hat: Ausbeutung, Machtlosigkeit, Marginalisierung, Gewalt und Kulturimperialismus. Kulturimperialismus bedeutet, dass die besondere Perspektive einer gesellschaftlichen Gruppe unsichtbar gemacht wird. Sie wird stereotypisiert und als „das Andere“ markiert. All dies sind Aspekte von Klassismus, die Geringverdiener*innen, Erwerbslose, Wohnungslose oder Ar­bei­te­r*in­nen­kin­der betreffen. Sie reichen von der Vermögens- und Eigentumsverteilung bis zum Wohnen, von der Gesundheit bis zur Bildung. Was Klassismus im Bildungssystem konkret heißt, führt pars pro toto eine Studie vor Augen, die Schulen in Wiesbaden untersucht hat. Das Ergebnis: Die Schulnote 2,5 führt bei 70 Prozent der privilegierten Schü­le­r*in­nen zu einer Gymnasialempfehlung, aber nur bei 20 Prozent der nichtprivilegierten. Nicht die Leistung, sondern der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle bei der Verteilung der Bildungschancen. Die Iglu-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zeigte 2016 bundesweit einen ähnlichen Befund. Bei gleicher Lesekompetenz und den gleichen kognitiven Fähigkeiten erhalten Kinder aus privilegierten Elternhäusern gegenüber denen aus der Arbeiterklasse 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung. 2001 betrug dieser Bevorteilungsfaktor noch 2,63. Die strukturelle Benachteiligung von Ar­bei­te­r*in­nen­kin­dern nimmt nicht ab, sie wächst. Die Ungerechtigkeiten beginnen mit der Geburt und setzen sich über Kitas, Grundschulen und weiterführende Schulen fort. Im Studium und selbst noch, wenn man promoviert hat, bleibt die soziale Herkunft ausschlaggebend, so der Elitenforscher Michael Hartmann. Heike Helen Weinbach, Professorin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Didaktik im Kindesalter, und ich haben in dem vor zwölf Jahren erschienenen Buch „Klassismus. Eine Einführung“ die ganze Palette der Klassismus-Aspekte ausgeführt. Die aktuellen Debattenbeiträge in der taz, Zeit und vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Klassismus. Überbau ohne Basis“ von Isabell Opperbeck vom 21. 4.) kreisen indes einseitig um den Begriff Anerkennung. Die Behauptung, Klassismus werde akademisch ohne Basis als Anerkennungsbegriff benutzt, führt in die Irre. Klassismus ist kein „Überbau ohne Basis“, es ist ein Basisbegriff. Mehr noch: Der Begriff Klassismus ist ein Praxisbegriff und nur ein Nebenprodukt der antiklassistischen Praxis. Die aber wird in der aktuellen deutschen Diskussion ausgeblendet. Klassismus umfasst mehr als Bildungsdiskriminierung. Das zu ignorieren ist klassistischer Kulturimperialismus Vor 20 Jahren organisierten sich erstmals studierende Ar­bei­te­r*in­nen­kin­der in einer Vollversammlung und wählten Ver­tre­te­r*in­nen mit dem politischen Auftrag, gegen die Diskriminierung von Ar­bei­te­r*in­nen­kin­dern im Bildungssystem vorzugehen. An der Uni Münster wurde das erste autonome Referat von Ar­bei­te­r*in­nen­kin­dern gegründet. Als Initiator kann ich versichern, dass es nicht darum ging, Ar­bei­te­r*in­nen­kin­der passförmig zu machen, um so Bildungsaufstiege zu erleichtern. Das Ziel ist vielmehr, den „Habitus-Struktur-Konflikt“ (Lars Schmitt) von studierenden Ar­bei­te­r*in­nen­kin­dern zu verändern, und zwar durch den Abbau der Bildungsbarrieren, die Aka­de­mi­ke­r*in­nen­kin­der privilegieren. Im Zuge dieser politischen und praktischen Selbstorganisierung habe ich auf den Begriff Klassismus zurückgegriffen. Zu dieser Praxis gehörte eine von mir initiierte internationale Konferenz der WorkingClass/PovertyClass Academics, das Arbeiterkinder-Magazin Dishwasher, das Institut für Klassismusforschung und mehr. Nach zahlreichen Anläufen gründete sich dann erst 2019 nach einer Vollversammlung das nächste Arbeiter*innenkinder-Referat. Dann ging es – trotz Corona – schnell. In Köln wurde 2020 das autonome Referat „Für antiklassistisches Empowerment“ und an der LMU München das „Anti-Klassismus-Referat“ begründet. An der ASH Berlin, den Hochschulen in Gießen, Potsdam, Frankfurt/Main gibt es weitere Projekte. Sie alle sind miteinander vernetzt. Ein als Verband fungierender Verein zum Abbau von Bildungsbarrieren, dessen Vorstand aus von lokalen Vollversammlungen gewählten (Ex-)Referent*innen besteht, sammelt nun Spenden, um das Münsteraner Blatt The Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiter*innen|kinder bundesweit herauszubringen. Wie den Her­aus­ge­be­r*in­nen der Publikationen zu Klassismus wie Heike Weinbach, Francis Seeck, Brigitte Theißl, Riccardo Altieri und den Ak­ti­vis­t*in­nen von „Klassismus ist keine Kunstepoche“ scheint es auch mir zentral zu sein, neben Anerkennungsfragen auch Vermögens- und Gewaltaspekte zu thematisieren. Man kann und muss auch von Coronaklassismus und von Klimaklassismus sprechen. Die Pandemie und der vor allem von Reichen gemachte Klimawandel treffen Arme besonders hart. Klassismus ist daher mehr als Bildungsdiskriminierung. Doch die konkrete Bewegung an den Hochschulen ist die aktuelle Basis des Klassismusbegriffs. Und es ist klassistischer Kulturimperialismus, diese Bewegung in den Debatten zu ignorieren und so unsichtbar zu machen.
Andreas Kemper
Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd. Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt.
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Kommentar Präsident in Paraguay: Demokratische Auferstehung - taz.de
Kommentar Präsident in Paraguay: Demokratische Auferstehung Der paraguayische Präsident Cartes tritt nach heftigen Protesten wegen schmutziger Deals nicht noch einmal an. Eine Seltenheit in Lateinamerika. StudentInnen protestierten schon Anfang April gegen eine erneute Kandidatur von Horacio Cartes Foto: dpa Manchmal geschehen in Lateinamerika noch Wunder. Wenn auch selten in der Politik, wo von Caracas bis Buenos Aires selbsternannte Volkstribunen unwirsch bis autoritär auf Proteste reagieren. Doch just an diesem Ostermontag ist die Demokratie in Lateinamerika auferstanden – und zwar in dem oft ignorierten Schmugglerparadies Paraguay, wo der konservative Präsidenten Horacio Cartes seit Wochen das Volk gegen sich aufbringt. Der Grund: Cartes wollte für seine Wiederwahl die Verfassung ändern. Der schmutzige Deal im Parlament führte jedoch dazu, dass das Kongressgebäude in Flammen aufging. Ein Demonstrant wurde von der Polizei erschossen, das Gespenst einer Neuauflage der 35 Jahre langen Stroess­ner-Diktatur ging um. Und dann überrascht Präsident Cartes die ganze Welt, indem er nun eine weitere Amtszeit ausschließt. „Unter keinen Umständen“, schrieb Cartes dem Erzbischof von Asunción, werde er kandidieren. Zum Schutz der Institutionen. So spät die Einsicht auch kommt, so wertvoll ist sie für Paraguay – und die Region, die sich schwer tut mit demokratischen Spielregeln, im Umgang mit dem politischen Gegner und damit, die Macht abzugeben. In Ecuador hat soeben der unterlegene Präsidentschaftskandidat das Wahlergebnis angefochten. In Brasilien wird gegen neun (!) Minister der aktuellen Regierung wegen Korruption ermittelt – nachdem vergangenes Jahr schon Expräsidentin Dilma Rousseff des Amtes enthoben wurde. Und in Venezuela zerstört der Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro jeglichen Glauben an Gewaltenteilung. Repression und Lebensmittelknappheit treiben die Bevölkerung massenweise aus dem Land. Wer bleibt, protestiert. Und wie reagiert Venezuelas Präsident Maduro? Für die heutige Großdemo hat er das Militär gegen „Vaterlandsverräter“ in Stellung gebracht und den Ausbau loyaler Milizionäre angekündigt. Es wäre ein riesiges Wunder, würde Maduro zur Raison kommen – und zurücktreten.
Ralf Pauli
Der paraguayische Präsident Cartes tritt nach heftigen Protesten wegen schmutziger Deals nicht noch einmal an. Eine Seltenheit in Lateinamerika.
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Kinder fragen, die taz antwortet: Warum wachsen Haare? - taz.de
Kinder fragen, die taz antwortet: Warum wachsen Haare? Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Abdul, 9 Jahre alt. Kopfhaare schützen den Kopf vor der Sonne, Wimpern das Auge vor Schmutz, Augenbrauen die Augen vor Schweiß Foto: Ekaterina Yakunina/imago Haareschneiden ist eine lästige Angelegenheit. Man muss zum Friseur gehen, still sitzen und am Ende dafür bezahlen, dass man wieder so aussieht wie ein paar Monate zuvor. Vielleicht schneidet dir auch jemand aus der Familie die Haare. Wenn alles klappt, ist das sehr praktisch. Aber wehe, die Haare oder gar der Pony sind schief oder zu kurz geraten – das kann dann ganz schön Krach geben. Wie angenehm wäre es da, wenn die Haare gar nicht wachsen würden! Man wäre das nervige Schneiden auf einen Schlag los. Aber warum wachsen Haare überhaupt? Das kann Angelika Dove aus Eisenach gut erklären, sie hat lange als Hautärztin gearbeitet und sie sagt, dass Haare ein Teil der Haut sind. Man findet sie fast überall am Körper, sie haben ganz unterschiedliche Funktionen. Kopfhaare schützen vor der Sonne, Wimpern schützen das Auge vor Schmutz und Insekten, Augenbrauen die Augen vor Schweiß, Nasenhaare filtern Staubteilchen aus der Luft. Es ist also schon gut, dass wir überhaupt Haare haben. So wie das Herz oder die Leber ist auch die Haut ein lebendes Organ, ihre Zellen wachsen ständig nach, erklärt Angelika Dove. „Und weil die Haare ein Anhängsel der Haut sind, wachsen auch in der Haarwurzel ständig neue Haarzellen nach.“ Haare werden so immer länger. Angelika Dove sagt, sie wachsen im Schnitt 0,35 Millimeter pro Tag. Oder: alle drei Tage einen Millimeter. Oder: einen Zentimeter im Monat. Wenn man sie nie schneidet, können Kopfhaare ganz schön lang werden. Stell dir vor, eine Frau in China hat ihre Haare 5,62 Meter wachsen lassen! So steht es jedenfalls im Guinnessbuch der Rekorde. Ein Kopfhaar kann über mehrere Jahre wachsen, wie lange, ist von Person zu Person unterschiedlich. Irgendwann ist aber Schluss, dann tritt das Haar in eine Ruhephase ein und fällt schließlich aus. Man merkt davon meistens gar nichts, weil in der Haarwurzel gleich wieder ein neues Haar zu wachsen beginnt. „Dieser Kreislauf wiederholt sich etwa 25-mal im Laufe eines Menschenlebens“, sagt Angelika Dove. Andere Haare wie Wimpern oder Nasenhaare hören deutlich schneller auf zu wachsen, deshalb sind sie kürzer. „Haare sind für die Persönlichkeit des Menschen sehr wichtig“, sagt Hautärztin Dove. So gesehen ist es dann doch sehr gut, dass Haare wachsen. Man muss sie zwar schneiden, aber man kann eben auch mal die Frisur wechseln. Schließlich erneuern sich nicht nur Haut und Haare im Laufe des Lebens ständig. Auch Geschmäcker ändern sich. Gefällt dir dein Schnitt nicht mehr, kannst du ihn einfach rauswachsen lassen.
Antje Lang-Lendorff
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Abdul, 9 Jahre alt.
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Die Raserei ist zu Ende - taz.de
Die Raserei ist zu Ende ■ Nun verläßt Helmut Thoma RTL - ein Programm, das längst nur noch hausbacken anmutet Komische Koinzidenz von Ereignissen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Da räumen dieser Tage zwei Helmuts ihre Chefsessel, die sich wahrscheinlich nie sonderlich gemocht haben, aber auch jenseits des Vornamens und ihrer Körperfülle einiges gemein haben. Kohl verläßt das Kanzleramt und Thoma die RTL- Chefetage. Mit 15 Jahren hat der Fernsehmann nur unwesentlich weniger Amtsjahre als der Ex- Kanzler auf dem Buckel, und beide gehen nicht gerade freiwillig. Kohl setzten die Wähler den Stuhl vor die Tür, bei Thoma waren es die Manager des Bertelsmann-Konzerns, dessen Tochterfirma CLT/Ufa RTL gehört. Das kam zunächst weitaus überraschender. Schließlich hatte der pfiffige Österreicher den Sender doch aus dem Nichts zu Europas größtem Werbeträger ausgebaut und ihn bereits 1990 in die schwarzen Zahlen gebracht. Doch seit ein paar Jahren warf der Kanal, gemessen am Bruttoumsatz, zuwenig Gewinne ab. Da Thoma sich allen Versuchen, aus seinem „Baby“ (Thoma) RTL eine Geldmaschine zu machen, widersetzte und sich obendrein immer wieder öffentlich über die Pay-TV- Pläne des Gütersloher Konzerns lustig machte („Digitaler Rinderwahnsinn“), mußte er gehen. So tritt nun an diesem Wochenende Gerhard Zeiler in der RTL- Zentrale den Job als Babysitter an. Daß der ehemalige ORF-Generalintendant die Profiterwartungen von Bertelsmann erfüllen kann, scheint indes mehr als unwahrscheinlich. Wie bei allen anderen Privatkanälen stagnieren auch bei RTL die Marktanteile oder befinden sich gar im Abwärtstrend. Kam der Sender 1993 noch auf knapp 19 Prozent Marktanteil, sind es derzeit gerade mal rund 15 Prozent, und vermutlich muß RTL die Marktführerschaft in der Jahresbilanz 1998 erstmals wieder an die (auch, aber nicht nur) dank Fußball-WM und Tour de France wiedererstarkte ARD abgeben. Bei den werberelevanten 14- bis 49jährigen liegt RTL mit knapp 18 Prozent zwar noch immer vor Pro 7 (13,6 Prozent), aber die Zeiten, da der Sender noch für programmliche Innovationen stand, scheinen unwiderruflich vorbei. Das aktuelle RTL-Programm verströmt allenfalls das Flair von Hausbackenheit und Mainstream. Keine neuen Formate, keine herausragenden Köpfe – gesendet wird nur noch Bewährtes. Tagsüber die bekannten Quasselbuden, abends Erfolgsserien in der x-ten Staffel, und da wundert es dann kaum noch, daß bei soviel erklärtem Mittelmaß Dumpfbacke Verona Feldbusch zum Aushängeschild des Senders mutiert. Und Gerhard Zeiler machte jüngst im Spiegel mit seiner Vision vom „Mittelklasseauto“ auch gleich deutlich, daß er am aktuellen Senderimage wenig zu ändern gedenkt. Doch ob die Konzernherren erlauben werden, mit der Formel 1 den einzig verbliebenen Rennwagen im Stall zu halten, ist auch offen. 1983, noch vor dem Schumi-Boom, von Thoma zu einem Spottpreis für zehn Jahre gekauft, dürfte die Raserei demnächst teurer werden und damit nicht mehr refinanzierbar sein. Was wird aus den Helmuts? Kohl wird einfacher Abgeordneter. Daß Thoma sich mit dem Posten im bedeutungslosen RTL- Beirat (Thoma: „Faktisch tut er nix“) zufriedengibt, ist mehr als unwahrscheinlich. Reinhard Lüke
Reinhard Lüke
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