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Betreuungsgeld vor dem BVerfG: Streitpunkt „Erforderlichkeit“ - taz.de
Betreuungsgeld vor dem BVerfG: Streitpunkt „Erforderlichkeit“ Das Bundesverfassungsgericht debattiert über das Betreuungsgeld: War diese Leistung „erforderlich“? Und: Durfte der Bund das überhaupt? Mancherorts eine knappe Ressource: der Kitaplatz. Bild: reuters KARLSRUHE taz | Wenn das Betreuungsgeld kippt, dann nicht, weil es Eltern ungleich behandelt oder Rollenbilder verfestigt, sondern aus Kompetenzgründen. Möglicherweise durfte der Bund das Gesetz nämlich gar nicht beschließen. Diese Klippe zeichnete sich an diesem Dienstag bei der mündlichen Verhandlung am Bundesverfassungsgericht ab. Das Betreuungsgeld prämiert Eltern mit monatlich 150 Euro, wenn sie ihr Kind im zweiten und dritten Lebensjahr nicht in eine staatlich geförderte Kita schicken. Eingeführt wurde die Sozialleistung auf Druck der CSU unter der schwarz-gelben Koalition. Die Bundes-SPD wollte das Betreuungsgeld eigentlich wieder abschaffen, konnte sich bei Bildung der großen Koalition aber nicht durchsetzen. Doch das SPD-regierte Bundesland Hamburg hatte 2013 eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht erhoben. In Karlsruhe begründete jetzt Sozialsenator Detlef Scheele die Motivation: „In Hamburg haben fünfzig Prozent der Kleinkinder Migrationshintergrund. Diese Kinder haben deutlich weniger Sprachprobleme, wenn sie frühzeitig in die Kita gehen. Hamburg wirbt daher bei den Eltern für den Kitabesuch. Inzwischen ist sogar der Kitabesuch kostenlos. Und dann kommt der Bund und zahlt eine Prämie von 150 Euro dafür, das Kind nicht in die Kita zu geben.“ Mit diesem „Fehlanreiz“ konterkariere der Bund die Hamburger Politik. Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) konterte: „Wer behauptet, 1- bis 2-jährige Kinder verpassen Bildungschancen, wenn sie zu Hause betreut werden, verunsichert Eltern.“ Es gebe Untersuchungen, wonach auch zweijährige Kinder mit Migrationshintergrund zu Hause genauso gut aufgehoben sind wie in der Kita. „Wer etwas anderes behauptet, diffamiert die Eltern dieser Kinder“, so Müller. Gute Elternschaft sei „keine Frage der Herkunft“. Bund: „Öffentliche Fürsorge“ Die juristisch entscheidende Frage wird sein: Durfte der Bund das Betreuungsgesetz überhaupt beschließen? Die Bundesregierung berief sich auf die Bundeskompetenz der „öffentlichen Fürsorge“. Hamburg kritisierte, dass die Elternschaft „keine individuelle Notlage“ sei. Doch die Bundesregierung erinnerte daran, dass auch schon das Kindergeld, das Elterngeld und die Lohnfortzahlung im Mutterschutz auf diese Kompetenz gestützt wurden. So sehen es wohl auch die Richter. Probleme könnte es aber geben, weil der Bund nur dann Gesetze zur „öffentlichen Fürsorge“ beschließen darf, wenn „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ eine bundesweite Regelung „erforderlich macht“. So steht es in Artikel 72 Grundgesetz. Der Bund räumte ein, dass das Betreuungsgeld allein nicht bundesweit erforderlich sei. Man müsse deshalb das „Gesamtkonzept“ betrachten. Einerseits wurde für Ein- bis Zweijährige ein Anspruch auf einen Kitaplatz eingeführt. Andererseits sollten die Eltern, die ihr Kind privat betreuen (lassen), eine „materielle Anerkennung“ erhalten, erläuterte Michael Sachs, der Rechtsvertreter des Bundes. Er bat die Richter, das Kriterium der „Erforderlichkeit“ nicht allzu streng auszulegen. Doch Gabriele Britz, die federführende Verfassungsrichterin, gab zu bedenken, dass die „Erforderlichkeitsklausel“ 1994 zum Schutz der Länder gezielt verschärft worden war. Im Jahr 2006 wurde sie zwar für viele Materien wieder entschärft, aber nicht für die öffentlich Fürsorge. „Daran müssen wir uns halten“, betonte Britz. Der Senatsvorsitzende Friedrich Kirchhof warnte: „Man kann Kompetenzschranken nicht durch politische Kompromisse überspielen“. Ergebnis der Beratung: offen Ralf Kleindiek, der SPD-Familienstaatssekretär, ist eigentlich ein Gegner des Betreuungsgelds, verteidigte aber vehement die „Handlungsfähigkeit des Bundes“. Zuhilfe kam ihm der bayerische Rechtsvertreter Martin Burgi: „Es gehört zum Einschätzungsspielraum des Bundesgesetzgebers, wann ein ’Gesamtkonzept‘ vorliegt.“ Da zeigte sich Richterin Britz erstaunt: „Das würde dem Bund aber enorme Spielräume eröffnen. Wollen Sie das wirklich?“ Der Professor bejahte – jedenfalls wenn es um das Betreuungsgeld geht. Ob die Richter sich überzeugen lassen, blieb offen. Fünf der acht Richter müssten dem Hamburger Antrag zustimmen. Dann gälte das Gesetz über das Betreuungsgeld als verfassungswidrig. Grundrechtsfragen wurden in der knapp vierstündigen Verhandlung nur noch am Rande diskutiert. Hamburg hatte moniert, dass die umstrittene Sozialleistung in die Entscheidungsfreiheit von Eltern eingreife und die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau behindere. Das Urteil wird in einigen Monaten verkündet.
Christian Rath
Das Bundesverfassungsgericht debattiert über das Betreuungsgeld: War diese Leistung „erforderlich“? Und: Durfte der Bund das überhaupt?
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Kriminalisierung von Klimaktivist*innen: Wen schützt der Verfassungsschutz? - taz.de
Kriminalisierung von Klimaktivist*innen: Wen schützt der Verfassungsschutz? Klimaschutzgruppen werden vom Verfassungsschutz wie Rechtsextremisten behandelt. Undemokratisch sind aber die Strukturen unserer Gesellschaft. Aktivist*innen von Ende Gelände Foto: Christian Mang, Warming Stripe: showyourstripes.info Im Mai 2020 hat der Verfassungsschutz Berlin die lokale Ortsgruppe von Ende Gelände als linksextrem eingestuft. Daraufhin brach eine Debatte über Sinn und Unsinn der Behörde los. Macht der Verfassungsschutz, was der Name verspricht? Die kurze Antwort darauf lautet: nein. Die lange auch, aber mit deutlich mehr schockierenden Details. Der Verfassungsschutz (VS) schreibt sich auf die Fahne, die freiheitlich demokratische Grundordnung (fdGO) zu schützen. Dass Schutz gute Gründe haben kann, leuchtet wahrscheinlich recht schnell ein, wenn man an rechte Vernetzungen innerhalb der Bundeswehr denkt, die sich bewaffnet auf einen (politischen) Tag X vorbereiten. Allerdings sieht der VS die Bedrohung für die fdGO nicht (nur) bei Nazis, sondern eben auch in Klimagerechtigkeitsgruppen wie Ende Gelände. Das liegt an der theoretischen Basis des Verfassungsschutzes: der Extremismustheorie, von der die Hufeisentheorie eine der bekanntesten Ausarbeitungen ist. Hufeisen deswegen, weil der Theorie zufolge politische Meinungen in links, Mitte und rechts einzuteilen sind, wobei die Mitte als klarer Orientierungspunkt gilt, und die äußeren Ränder nicht mehr inhaltlich zu sehen sind, sondern nur noch in ihren Extremen – wodurch sie sich annähern. Dadurch entsteht die Form eines Hufeisens und auch eine große Dummheit. Erschreckende Gleichsetzung Mit der Hufeisentheorie wird gesagt, dass eine Ideologie, in der Menschen nach Hautfarbe hierarchisiert werden und die nationale Abgrenzung als Lösung aller Probleme ansieht, Ähnlichkeiten mit einer Ideologie hat, die Gleichheit, Freiheit und ein gutes Leben für alle anstrebt. In der Praxis sieht das Ganze noch erschreckender aus. Man kann nur mutmaßen, ob die Morde des NSU erst ermöglicht wurden durch die Zuschüttung der rechten Szene mit Geldern durch V-Männer. Nur mutmaßen auch, weil der VS in manchen Bundesländern im Rahmen der Ermittlungen die „Aktion Konfetti“ durchführte und den Großteil der Unterlagen zum NSU schredderte. Die Geschehnisse rund um den NSU sind wahrscheinlich das schockierendste Beispiel von der Bedrohung, die der VS selbst für unsere Demokratie darstellt, allerdings zeigen Personen wie Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Präsident des VS, dass der VS immer wieder durch rechte Strukturen und Meinungen auffällt. Der Kampf für Klimagerechtigkeit, der durch die Einstufung als „linksextrem“ kriminalisiert wurde, und somit delegitimiert werden sollte, ist nicht extrem, sondern notwendig. In einer Zeit, in der täglich Hitzerekorde und neue Dürren verkündet werden und in der der globale Norden systematisch seinen klimaschädlichen Lebensstil auf Kosten des globalen Südens auslebt, muss dafür gekämpft werden, dass genau dieses System überwunden wird. Ganz einfach deshalb, weil das wirtschaftliche System, in dem wir leben, auf Ausbeutung und unendlichen Wachstum beruht, was mit unseren endlichen Ressourcen nicht möglich ist. Diesen System Change, den die Bewegung fordert, als undemokratisch darzustellen, unterstellt nicht nur, dass Antikapitalismus auch antidemokratisch wäre; sondern es ignoriert die zutiefst antidemokratischen Strukturen unserer kapitalistischen Gesellschaft, in der Interessen von Konzernen (zum Beispiel in der Kohleindustrie) über die der Bevölkerung gestellt werden. Diese intendierte Vermischung von Kapitalismus und Demokratie kriminalisiert den Kampf für ein gutes Leben für alle, für ein solidarisches, nachhaltiges und eben auch zutiefst demokratisches Zusammenleben.
Ronja Weil
Klimaschutzgruppen werden vom Verfassungsschutz wie Rechtsextremisten behandelt. Undemokratisch sind aber die Strukturen unserer Gesellschaft.
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Wo kein Friedenswille ist, ist im Kongo ein Kriegspfad - taz.de
Wo kein Friedenswille ist, ist im Kongo ein Kriegspfad Bei Sonderberatungen zum Kongo im UN-Sicherheitsrat nächste Woche setzt US-Botschafter Holbrooke auf das Verhandlungsmodell Dayton. Erfolgschancen gering Kampala (taz) – Alle Parteien im Kongo-Konflikt – Präsident Laurent Kabila und seine Verbündeten, die Rebellen und ihre Unterstützer – sind nächste Woche zur UNO nach New York eingeladen. Sie sollen an einer fünftägigen Sondersitzung des Sicherheitsrats unter Vorsitz des US-Botschafters bei der UNO, Richard Holbrooke, teilnehmen. Die USA haben seit Jahresbeginn den rotierenden Ratsvorsitz inne, und die Kongo-Sitzung ist eines von vier Treffen, mit denen die USA den Januar zum „Monat Afrikas“ bei der UNO machen wollen. Zweck der Sitzung ist laut UN-Generalsekretär Kofi Annan, die Kongo-Kriegsparteien zu „verschärften Anstrengungen“ aufzufordern, um das im Sommer 1999 geschlossene Kongo-Waffenstillstandsabkommen von Lusaka umzusetzen. Annan schlug in einem Bericht an den Sicherheitsrat am Mittwoch die Entsendung von 5.537 UN-Blauhelmen in den Kongo zur Überwachung des Friedens vor. Aber zunächst muss es im Kongo Frieden geben. Wird Richard Holbrooke, der die Dayton-Friedensverhandlungen für Bosnien 1995 erfolgreich führte, zu Ende brachte, sich auch im Kongo durchsetzen? Beobachter halten es für unwahrscheinlich. Es hängt davon ab, dass die politischen Kräfte in dem zerrissenen Land ihre konträren Machtambitionen fallen lassen. Indem Holbrooke beide Seiten nach New York eingeladen hat, greift er zur gleichen Taktik wie bei den Bosnien-Verhandlungen 1995, als alle Parteien auf einem verlassenen Luftwaffenstützpunkt bei Dayton zusammengepfercht wurden. Aber der Kongo-Krieg ist anders als der in Bosnien: Beide Seiten wollen die Macht im ganzen Land, und beide sind von ausländischen Mächten abhängig, die sich gegenseitig misstrauen. Kabila kämpft mit Soldaten aus Simbabwe, Angola und Namibia. Die in sich gespaltenen Rebellen hängen für militärische Unterstützung und politische Beratung von Ruanda und Uganda ab. Uganda und Ruanda verachten Kabila: Sie brachten ihn 1996–97 im Krieg gegen Mobutu an die Macht und sehen ihn nun als Verräter, der auf ihrem Rücken nach Kinshasa ritt, um nach dem Sieg sofort die Seiten zu wechseln und ugandische und ruandische Flüchtlingsarmeen wie zum Beispiel die Hutu-Miliz Interahamwe im Kampf gegen seine einstigen Busenfreunde und Paten zu unterstützen. Die beiden Länder und die von ihnen unterstützten kongolesischen Rebellen werden daher wohl jeden Aufruf zu politischen Verhandlungen mit Kabila kaltschnäuzig abwehren. Ugandas Präsident Yoweri Museveni behandelt Kabilas politische Äußerungen als nicht ernst zu nehmende Witze, weil er denkt, dass Kabila es mit dem Frieden nicht ernst meint. Ruandas Regierung ist kompromisslos im Kampf gegen die von Kabila unterstützten Hutu-Milizen. Sie will die „Völkermordmilizen“ auslöschen, wo auch immer sie sich aufhalten. Die kongolesischen Rebellen versuchten erst diesen Monat bei einem Treffen in der ugandischen Stadt Kabale, eine gemeinsame Führung zu bilden. Damit wollten sie ihren Anspruch auf Anerkennung als legitime politische Macht stärken. Gleichzeitig ist das aber auch ein Rezept für die erneute Eskalation des Krieges, denn sie denken, dass sie geeint besser kämpfen können. Bei ihrem Treffen erregten sie sich sogar darüber, dass Kabila nach New York eingeladen worden ist: Er habe das Lusaka-Waffenstillstandsabkommen über 70 Mal gebrochen und sei daher kein Gesprächspartner mehr. Auch Kabila kennt seine Feinde, denn sie waren früher seine Freunde. Er traut ihnen nicht, egal was sie machen. Diese Haltung liegt hinter den zahlreichen Brüchen des Waffenstillstands in den letzten Monaten. Sogar wenn Simbabwe, Angola und Namibia ihre Truppen aus dem Kongo abzögen, würde Kabila keiner Machtteilung mit den Rebellen zustimmen, da er diese für Marionetten Ugandas und Ruandas hält. Er weiß, dass diese beiden Länder früher von ihm verlangten, dass er nach ihrer Pfeife tanzt, und die Gewehre auf ihn richten, seit er das verweigert. Uganda und Ruanda werden aber den Kongo nicht verlassen, solange die bewaffneten Gegner der beiden Regierungen aus dem Kongo heraus kämpfen können. Im Lusaka-Abkommen ist die Entwaffnung dieser marodierenden Gruppen vorgesehen – aber sie sind schwer zu identifizieren, da sie zum Teil in Kabilas Armee eingegeliedert worden sind. Und sollte Kabila versuchen, sie als Verhandlungsmasse einzusetzen, würden sie sich wehren. So ist schwer zu sehen, welchen Einfluss die USA auf die Kriegsparteien des Kongo ausüben können. Die US-Initiative in der UNO, so ein unter Analytikern kursierender Verdacht, soll lediglich die Welt davon überzeugen, dass die USA tatsächlich, wie Holbrooke vor kurzem verkündete, „lange und hart“ an der Befriedung Afrikas arbeiten – auch wenn es kein unmittelbares Ergebnis gibt. Levi Ochieng
Levi Ochieng
Bei Sonderberatungen zum Kongo im UN-Sicherheitsrat nächste Woche setzt US-Botschafter Holbrooke auf das Verhandlungsmodell Dayton. Erfolgschancen gering
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Kein Gestein, kein Gestrüpp - taz.de
Kein Gestein, kein Gestrüpp Nur noch Linien und Felder: Das Babylon-Mitte zeigt zwei neuere Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet über den fotografischen Ursprung des Bewegungsbildes Natürlich kann man in einem Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nicht wohnen. Die Filme der Straubs sind einfach viel zu karg und abweisend, als dass man sich darin wirklich wohl fühlen könnte. Soll man ja auch nicht. „Wenn ein Film abläuft, der nicht auf Betrug beruht, dann passiert eben überhaupt nichts. Das kann nur im Zuschauer passieren, was passiert . . .“, hat Straub einmal gesagt und damit die Voraussetzung seines ästhetischen Programms formuliert. Im 1998 entstandenen Film „Sicilia!“ zum Beispiel ist in gewisser Hinsicht die im Off stattfindende Einfahrt eines Zuges der erzählerische Höhepunkt. Während der Zug den Bahnhof erreicht, sieht der Zuschauer nur ein Schild und auffliegende Tauben. „Sicilia!“, nach Elio Vittorinis Roman „Gespräch in Sizilien“, „erzählt“ von einer Heimkehr. Von einem Mann, der nach Sizilien zurückkommt, sich nach seiner Ankunft mit einem Obstverkäufer unterhält, Zug fährt und ein langes Gespräch mit seiner Mutter über die Vergangenheit führt. Am Ende trifft er auf einen Scherenschleifer, der sagt: „Die Frage ist, dass einer nicht weiß, wie er es halten soll mit den Fremden.“ „Sicilia!“ ist einerseits ein Film über die Musikalität der Sprache, weil der Text als Melodie deklamiert wird, ohne gesungen zu werden. Andererseits führen die Straubs das Bewegungsbild immer wieder auf seinen fotografischen Ursprung zurück, indem sie es entschleunigen, manchmal fast zum Stolpern bringen. Dann sieht man ein Gesicht, das plötzlich wie eingefroren erstarrt, als wäre die Person aus der Zeit gefallen. Filme aus der Tonspur heraus zu entwickeln, ist überhaupt eine zentrale Strategie der Straubs. Die Schönberg-Oper „Von heute auf morgen“ (die Musik stammt von Arnold Schönberg, das Libretto von seiner Frau) diente als Vorlage für den gleichnamigen Film, der 1996 entstand. Es geht um eine alltägliche Ehekrise, Eifersuchtsszenen und die anschließende Versöhnung mit einer wunderschönen Schlusspointe. Vorlage bedeutet in diesem Fall aber nicht nur die Adaption von Figuren, Dialogen und Handlung, sondern bezieht sich auch auf die Form. Sämtliche Einstellungen – sieht man von den zwei Szenen des Vorspanns ab – wurden aus der Partitur abgeleitet, auch der Schnitt orientiert sich an der Dynamik des musikalischen Materials. In der einzigen Außenaufnahme des Films, der ansonsten in einer Bühnenkulisse aufgenommen wurde, zeigt eine zweiminütige Einstellung eine Mauer, auf der die Frage „Wo liegt euer Lächeln begraben?“ steht. Und der Zuschauer kann eine halbe Ewigkeit lang beobachten, wie das Licht im Zusammenspiel mit einem hinter dieser Mauer stehenden windbewegten Baum diese Schrift-Spur aufleuchten und verblassen lässt. Immer wieder geht es in den Filmen von Straub/Huillet um das Verhältnis einer solchen vorgefundenen Wirklichkeit und den Möglichkeiten ihrer filmischen Erfahrbarkeit. Eine Szene in „Sicilia!“ verdeutlicht dabei das Verfremdungspotenzial des Mediums: Die Kamera nimmt die Perspektive eines Reisenden ein und blickt durch ein Zugfenster auf die vorüberziehende Küstenlandschaft. Wenn dann noch die Zuggeräusche verstummen, die Reise-Bilder in absoluter Stille vorüberziehen, kann man irgendwann die Dinge nicht mehr erkennen, kein Gestein, kein Gestrüpp, sondern nur noch Linien, Muster und Felder unterschiedlicher Schattierungen. Das eigentlich „realistische“ Bewegungsbild einer Außenwelt verwandelt sich in ein fließendes Gemälde und entwickelt eine eigene, abstrakte Qualität. Während hier sozusagen jede Bedeutungsschicht ausradiert wird, gibt es im Straub’schen Universum auch das umgekehrte Verfahren. Immer wieder beginnen sich dort gewöhnliche Objekte (eine Melone, eine Tür) mit ungeahnten Bedeutungen aufzuladen und entfalten – allein durch den insistierenden Blick der Kamera – eine sinnliche Dimension, die eigentlich nur das Kino freilegen kann. SIMON ROTHÖLER „Von heute auf morgen“ läuft am 20./21. Juli und „Sicilia!“ am 27. und 29. Juli im Babylon-Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30
SIMON ROTHÖLER
Nur noch Linien und Felder: Das Babylon-Mitte zeigt zwei neuere Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet über den fotografischen Ursprung des Bewegungsbildes
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„Phelps ist gegen jeden Delfin eine Kröte“ - taz.de
„Phelps ist gegen jeden Delfin eine Kröte“ Der Olympiasieger Michael Groß kritisiert den Deutschen Schwimmverband und wundert sich, dass der Überschwimmer Michael Phelps nicht auch mal ein Rennen in den Sand setzt: „Fehler machen Menschen menschlich“ MICHAEL GROSS (44) gewann 1984 und 1988 drei olympische Goldmedaillen im Freistil und Schmetterling. Er ist Unternehmensberater. taz: Herr Groß, der Deutsche Schwimmverband kann das erste Olympiagold seit 1992 bejubeln. Hat er doch alles richtig gemacht? Michael Groß: Britta Steffen ist ein fantastisches Rennen geschwommen. Das ist aber allein der Erfolg von Britta Steffen, nicht der des DSV. Steffen war mit Paul Biedermann, der über 200 Meter Freistil persönliche Bestzeit geschwommen ist, die Einzige, die an ihre Leistung von den deutschen Meisterschaften herangekommen ist. Man muss sagen, dass sie ihre Leistung nicht wegen, sondern trotz des DSV gebracht haben. Was hat der Verband falsch gemacht? Zum einen die unmittelbare Wettkampfvorbereitung. Eigentlich qualifizierte Schwimmer eine interne Ausscheidung austragen zu lassen, ist Quatsch. Zum Zweiten ist die Saisonplanung zu statisch, zu unflexibel. Ein Paul Biedermann ist seit dem 13. Lebensjahr an Höhentrainingslager gewöhnt, andere haben das zum ersten Mal gemacht und kommen damit nicht zurecht. Drittens ist das System zu zentralistisch. Deutschland ist ein föderales Land. Das ist unsere Stärke. In Stuttgart, Berlin, Hamburg, überall sind Leute mit guten Ideen unterwegs. Doch das wird vom Verband in den letzten Jahren schlicht plattgemacht. Wie kann sich das ändern? Wenn in der freien Wirtschaft etwas dermaßen vor die Wand gefahren wird, dann werden die verantwortlichen Leute ausgetauscht. Alles richtig gemacht hat Michael Phelps. Fasziniert er Sie? Wenn man genau hinsieht, ein paar Frequenzen stoppt, dann sind die einzelnen Leistungen ziemlich nachvollziehbar. Erstaunlich ist vor allem die Regenerationsfähigkeit. Was der hier für ein Programm durchzieht! Und das macht er ja nicht nur hier. Das hat er bei anderen Wettkämpfen auch schon gezeigt. Sie meinen die Weltrekorde, die er im Stundentakt aufstellt. Genau. Letztlich macht es einen Menschen menschlich, wenn er Fehler macht, Schwäche zeigt. Aber er zieht hier ein Programm durch, da sage ich Chapeau. Aber wie das funktioniert? Keine Ahnung. Sie sind ratlos? Vielleicht hat man ja die Möglichkeit, ein bisschen hinter die Kulissen zu schauen, um zu überprüfen, ob es rationale Erklärungen gibt, um auch allen möglichen Gerüchten nachzugehen. Sie denken an Doping? Egal, welche Gerüchte. Vielleicht macht Michael Phelps ja weiter und hat dann 20 Goldmedaillen. Das ist so weit entfernt von dem, was man sich bislang vorstellen konnte. Ich habe auch ein paar Rennen bei Olympischen Spielen in den Sand gesetzt. Und das ist ja auch ganz normal. Die Schwimmparty in Peking wird doch recht unbeschwert gefeiert. Bei der Leichtathletik wäre so etwas wohl nicht mehr möglich. Schwimmen ist nach wie vor eine Sportart, die anatomisch noch lange nicht an ihre Grenzen gestoßen ist, einfach weil die Menschen von Natur aus keine Schwimmer sind. Auch Michael Phelps ist gegen jeden frisch geborenen Delfin eine Kröte. Wenn wir uns in den 80er-Jahren angesehen haben, wie Mark Spitz geschwommen ist, das war eher putzig anzusehen. Deshalb würde ich den Leistungssprung im Schwimmen nicht sofort mit flächendeckendem Doping in Verbindung bringen. Die deutschen Schwimmer sind nach ihren Leistungen keinen Verdächtigungen ausgesetzt. Wenn man es ernst meint mit dem Thema Dopingbekämpfung, müsste man in Deutschland sagen: Zu Olympischen Spielen dürfen alle deutschen Meister – egal, wie gut sie im internationalen Vergleich sind. Da sind auch die Medien gefordert. Die sollten das Unwort „Olympiatourist“ aus ihrem Wortschatz streichen. Denn damit wird den Sportlern unterstellt, sie seien in einem Bereich schlecht, in dem man mit normalen Mitteln gar nicht besser sein kann. INTERVIEW: A. RÜTTENAUER
A. RÜTTENAUER
Der Olympiasieger Michael Groß kritisiert den Deutschen Schwimmverband und wundert sich, dass der Überschwimmer Michael Phelps nicht auch mal ein Rennen in den Sand setzt: „Fehler machen Menschen menschlich“
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Gesundheitssystem in der Corona-Krise: Zehn Millionen Atemmasken geliefert - taz.de
Gesundheitssystem in der Corona-Krise: Zehn Millionen Atemmasken geliefert Letzte Woche hatte sich noch ein Engpass abgezeichnet. Jetzt verteilt die Kassenärztliche Vereinigung neue Schutzausrüstung an die Praxen. Zehn Millionen Atemschutzmasken für Arztpraxen in Deutschland, eine für die „Schneidersfrau“ in Köln Foto: Hardt/Future Image/snapshot-photography BERLIN taz | Deutschlands Kassenärzte können in der Corona-Krise vorerst mit einer Entspannung bei der Versorgung mit Schutzausrüstung rechnen. Insgesamt zehn Millionen Schutzmasken würden im Laufe des Tages von den Herstellern geliefert, kündigte Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), am Donnerstag in Berlin an. Über die Kassenärztlichen Vereinigungen sollen diese in den kommenden Tagen an die Arztpraxen in den Bundesländern verteilt werden. In der vergangenen Woche hatte sich ein Engpass abgezeichnet. Am Montag warnte die KBV davor, dass in Zukunft immer mehr Arztpraxen schließen müssten, sollte sich die Versorgungslage nicht verändern. Auch in anderen Bundesländern wurde ein Mangel an Schutzausrüstung beklagt. „Um die Regelversorgung aufrechtzuerhalten, benötigen die Praxen zeitnah zusätzliches Schutzmaterial, auf das wir händeringend warten“, teilte ein Sprecher der KV Nordrhein der taz mit. KBV-Chef Gassen wies auf die Bedeutung der Arztpraxen für die Bewältigung der ­Pandemie hin: „Niedergelassene Arztpraxen sind der Damm der Versorgung. Bricht dieser Damm, werden die Krankenhäuser maßlos überfordert sein.“ Die Arztpraxen sind derzeit besonderen Herausforderungen ausgesetzt: Zu den drei Millionen Patienten, die laut KBV täglich in der Regelversorgung behandelt werden, kommen nun viele potenzielle Corona-Infizierte hinzu. Einzelne Praxen müssen wegen Quarantänemaßnahmen schließen. Zudem kommt es aufgrund von Krankheit oder Kinderbetreuung zunehmend zu Personalknappheit. Nur im Notfall zum Arzt KBV-Vize Stephan Hofmeister appellierte daher an das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung: Auf nicht dringend notwendige Arztbesuche sollte möglichst verzichtet werden. Auch die kassenärztliche Notdienst-Hotline, die alleine am Montag 170.000-mal angerufen worden sei, müsse für akut Erkrankte frei gehalten werden. Zudem bittet Hofmeister um Verständnis dafür, dass es nicht genügend Kapazitäten gebe, um alle Menschen einem Coronatest zu unterziehen. Dennoch könne man nun „vorsichtig Entwarnung geben“, stellte Gassen mit Blick auf die Atemmaskenlieferung fest. Auch die Versorgung mit Desinfektionsmittel könne sichergestellt werden. Apotheken hätten ausreichende Kapazitäten, um Desinfektionsmittel herzustellen, so der KBV-Vorsitzende. Wenn es derzeit zu Engpässen kommen sollte, so liege dies an vorübergehenden logistischen Pro­ble­men in den neuen Lieferketten. Der Bedarf an Masken, Schutzbrillen, Einmalanzügen und Desinfektionsmitteln werde in Zukunft weiterhin hoch bleiben, stellen die KBV-Vertreter klar. Es sei davon auszugehen, dass der zentrale Krisenstab weitere Bestellungen in Auftrag geben werde. „Hierbei handelt es sich vermutlich um einen Marathon“, so Hofmeister.
Georg Sturm
Letzte Woche hatte sich noch ein Engpass abgezeichnet. Jetzt verteilt die Kassenärztliche Vereinigung neue Schutzausrüstung an die Praxen.
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Keine Chance für Feuilletonisten - taz.de
Keine Chance für Feuilletonisten Vor 100 Jahren starb Theodor Mommsen – der einzige Historiker, der einen Nobelpreis für Literatur bekam. Er ist bis heute eine Ausnahme: Guter Stil ist in den Geisteswissenschaften bisher Nebensache. Die Sensibilität für Sprache wächst nur langsam von GRIT EGGERICHS Als der Berliner Historiker Theodor Mommsen 1902 den Nobelpreis bekam, war nicht zu sagen, wer größere Ehren erwarb: der erst ein Jahr alte und noch unbekannte Preis – oder Mommsen, 80-jährig, längst ein berühmter Mann. Mommsen war der erste Deutsche, der den Nobelpreis erhielt, und er war der einzige Wissenschaftler, der ihn für seine Schreibkunst bekam. Zwei Erklärungen bieten sich an: Wissenschaft und Kunst sind zwei strikt getrennte Welten. Und: Wissenschaftler können nicht schreiben. „Im akademischen Leben spielt die leserfreundliche Gestaltung von Texten keine Rolle“, bedauert Stefan Wolle, Historiker und Autor des Bestsellers „Die heile Welt der Diktatur“, einer DDR-Alltagsgeschichte. Dass man sich mit einem gut geschriebenen Buch an der Uni nicht gerade beliebt macht, hat er selbst erlebt. „Man erntet eher Missgunst und Kopfschütteln, wenn man versucht, für den Leser zu schreiben, und damit auch Leute anspricht, die nicht Geschichte studiert haben.“ Wissenschaftlichkeit scheint sich noch immer aus komplizierten Formulierungen und prächtigen Fußnotenapparaten zu speisen. Viele Fachautoren vermeiden es offenbar gezielt, LeserInnen schlüssige und spannend geschriebene Geschichte zu präsentieren. Vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs muss sich mit schlecht geschriebener Literatur plagen. „Nichts ist schlimmer als Schachtelsätze, der exzessive Gebrauch von Fremdwörtern und ein riesiges Theoriegebäude, das man auch nach mehrmaligem Lesen nicht versteht.“ Maria Schultz hat eben ihre Magisterarbeit in Geschichte an der Humboldt-Universität angemeldet. Sie legt in ihren schriftlichen Arbeiten zwar Wert auf guten Stil, aber an der Uni hat sie das nicht gelernt: „Nur wenige Professoren achten darauf und machen bei Hausarbeiten eine ausführliche Stilkritik.“ Im Vorlesungsverzeichnis finden sich inhaltliche Seminare und Tutorien, die Studienanfängern den Umgang mit Quellen und Methoden nahe bringen sollen. Keine Schreibkurse. Kiran Klaus Patel, Juniorprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Uni, bedauert diesen Mangel. „Wir erwarten, dass Studenten gut schreiben können, wenn sie an die Uni kommen – aber oft ist das Gegenteil der Fall.“ Zuerst versage die Schule, dann die Universität. Viele Studenten scheitern aber nicht am Stil, sondern oft schon an der Anforderung, überhaupt etwas zu Papier zu bringen. „In ihrer ersten Arbeit müssen Studenten schon mal mindestens 15 Seiten schreiben. Da wird unheimlicher Druck aufgebaut, an dem dann auch viele scheitern“, sagt Anna Schmidt, ebenfalls Studentin an der Humboldt-Uni. Schmidt hat das letzte Semester an der University of Sussex studiert. Studenten an britischen Unis schreiben statt langer Elaborate regelmäßig kurze Essays. „Das ist nicht schlecht“, erklärt sie, „man verliert durch Routine die Angst vorm leeren Blatt“. Sie wünscht sich ein breiteres Angebot an Seminaren, in denen man kreativ zu schreiben lernt. HU-Professor Kiran Patel ist zuversichtlich, dass mit der Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master fachübergreifende Kurse eingerichtet werden, die das Schreiben lehren. Für Historiker Wolle ist das allerdings keine Lösung. Er beschreibt ein strukturelles Problem: „Stil ist ja immer Persönlichkeit. Die wird im Universitätsbetrieb aber eher unterdrückt. Der Student, selbst der Habilitant, soll so schreiben, wie ihm das der Professor vorschreibt. Und um Gottes willen nicht besser!“ Der liberale Politiker Theodor Mommsen schrieb seine „Römische Geschichte“, nachdem die Revolution von 1848 gescheitert war. Sein Engagement und der Zorn über den Misserfolg lassen sich bei der Lektüre deutlich herauslesen. Mommsen schrieb mit Leidenschaft und holte so längst Vergangenes in die Gegenwart. Dafür bestraften ihn die zeitgenössischen Kritiker. Bis heute bewegt man sich in den Geisteswissenschaften auf unsicherem Eis, wenn man sich mit eigenem Stil und pointierter Meinung zu weit vorwagt. Sich von diesem Muff eines hehren Wissenschaftbegriffs zu befreien ist für Studierende nicht ganz einfach. Für Maria Schultz ist der Schlüssel zum guten Schreiben ein „Denken fernab der Forschungsliteratur“. Sie liest viel Belletristik, auch Autoren wie Thomas Mann, Fontane und Kleist. „Eine gewisse Breite ist ganz wichtig. Romane helfen, das Gefühl für eine Zeit zu bekommen, seinen Blickwinkel zu verändern und dann auch Fragen zu stellen, die vor einem noch keiner gestellt hat.“ So viel Originalität mag nicht im Sinne des Professors sein, doch der Qualität eines Textes kommt es in jedem Fall zugute. Sich anderswo umzusehen, den engen Kreis der eigenen Disziplin zu verlassen, das fördert die Universität kaum. Wissenschaftliche Karrieren sollen vor allem eines sein: geradlinig. Ist man einmal draußen, hat man nur schwer eine Chance, die Laufbahn fortzusetzen. Dabei werden viele gute Bücher gerade nicht von strebsamen Universitätsdienern geschrieben, sondern von Quereinsteigern wie dem Komiker und Kabarettautor Georg Friedell, der eine sehr lesenswerte „Kulturgeschichte der Neuzeit“ schrieb. Stefan Wolle bewundert an Friedell den schlichten einprägsamen Stil, vor allem aber „den Mut zum Urteil“. Das Buch wird bis heute verlegt. Dennoch: Gute Platzierungen in Bestsellerlisten sind leider kein Nachweis für Qualität. Das Urteil „feuilletonistisch“ mag manchem akademischen Kritiker aber auch als Selbstschutz dienen.
GRIT EGGERICHS
Vor 100 Jahren starb Theodor Mommsen – der einzige Historiker, der einen Nobelpreis für Literatur bekam. Er ist bis heute eine Ausnahme: Guter Stil ist in den Geisteswissenschaften bisher Nebensache. Die Sensibilität für Sprache wächst nur langsam
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Belarussischer Regimegegner in Kiew: Schischow tot in Park aufgefunden - taz.de
Belarussischer Regimegegner in Kiew: Schischow tot in Park aufgefunden Der Aktivist war die Schlüsselfigur der belarussischen Opposition in der Ukraine. Die Polizei schließt einen Mord, getarnt als Suizid, nicht aus. In Kiew tot aufgefunden worden: der belarussische Aktivist Vitalij Schischow Foto: Human Rights Center Viasna/ap KIEW taz | Vitalij Schischow, belarussischer Staatsbürger und Chef des „Belarussischen Hauses in der Ukraine“, ist tot. Am Dienstagmorgen meldete die Kiewer Polizei, man habe die Leiche des belarussischen Regimegegners, der im Herbst 2020 durch seine Flucht nach Kiew einer Verhaftung in Belarus entgehen konnte, erhängt an einem Baum in einem Park entdeckt. Schischows Frau hatte bereits am Montag Alarm geschlagen, nachdem ihr Mann von seinem morgendlichen Jogging-Training nicht mehr zurückgekehrt war. Noch am selben Tag hatten Freunde von Schischow den Park an den Stellen abgesucht, an denen er zu joggen pflegte. Die Polizei schließt einen Mord, getarnt als Suizid, nicht aus, und ermittelt derzeit in beide Richtungen, hieß es am Dienstag auf einer Pressekonferenz der Polizei in Kiew. Schischows Freunde und Weggefährten sind sich sicher, dass Schischow ermordet worden ist und Diktator Alexander Lukaschenko hinter diesem Mord steckt. Man sei von ukrainischen Geheimdiensten gewarnt worden, dass ein Netz von belarussischen KGB-Agenten in der Ukraine aktiv sei, berichtet ein Weggefährte gegenüber der Kiewer Zeitung Nowoje Wremja. Schischow habe sich sehr für diese Agenten interessiert. „Er war gewissermaßen unsere Gegenspionage“, so der Mann. Schischow habe gewusst, dass diese Agenten Jagd auf ihn machen, berichtet er. Presseberichte, wonach Schischows Nase gebrochen gewesen sei, dementierte der Nationale Polizeichef Igor Klimenko am Dienstag. Er habe nur Hautschürfungen an Nase, Knie und Brust gehabt. Auch an dem linken Teil der Oberlippe habe man eine Hautschürfung festgestellt. Ein Gutachten müsse herausfinden, ob diese von Schlägen verursacht sei. Schischows dunkle Vorahnung Auch Jurij Schtschutschko, ebenfalls ein Weggefährte von Schischow, ist sich sicher, dass es vorsätzlicher Mord war. Nichts sei gestohlen worden, das Mobiltelefon habe in der Nähe des Toten gelegen. Schischow habe eine Vorahnung gehabt, berichtet Schtschutschko. Er habe ihn gebeten, sich um seine Freunde zu kümmern. Andere Freunde des Toten berichteten dem Portal currenttime.tv, Schischow habe sich in letzter Zeit in Kiew verfolgt gefühlt. Unbekannte Personen hätten ihn und seine Frau immer wieder grundlos angesprochen. Das „Belarussische Haus in der Ukraine“ hilft belarussischen Flüchtlingen bei der Integration in die ukrainische Gesellschaft. Es berät diese in praktischen und juristischen Fragen, unterstützt sie bei der Suche nach Wohnung und Arbeit. Aber das „Belarussische Haus“ ist auch politisch aktiv: So hatte es eine 60-tägige Mahnwache vor der belarussischen Botschaft in Kiew organisiert, es informiert die ukrainische Öffentlichkeit über das Vorgehen der Lukaschenko-Diktatur und veranstaltet öffentlichkeitswirksame Solidaritätsaktionen für die belarussische Opposition. Der 1995 in Belarus geborene Vitalij Schischow, da sind sich seine Weggefährten einig, war die Seele dieser Einrichtung und auch Administrator der Facebookseite der Gruppe. Unterdessen wurde bekannt, dass ein weiterer Flüchtling aus Belarus in Kiew angekommen ist. Am Montag traf Arseni Sdanewitsch, Ehemann der belarussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja, in Kiew ein. Er habe sich während der dramatischen Ereignisse um seine Frau in Tokio innerhalb von 30 Minuten zur Flucht entschieden, zitiert ihn die ukrainische Seite von BBC.
Bernhard Clasen
Der Aktivist war die Schlüsselfigur der belarussischen Opposition in der Ukraine. Die Polizei schließt einen Mord, getarnt als Suizid, nicht aus.
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Kommentar Greta im Vatikan: Die Jugend muss den Papst leiten - taz.de
Kommentar Greta im Vatikan: Die Jugend muss den Papst leiten Warum begegnet Greta Thunberg dem Papst? Ganz einfach: Franziskus hat einen größeren Einfluss auf die Menschen als Politik. Zur Papst-Audienz nach Rom gereist: Greta Thunberg Foto: vatican media via reuters Greta Thunberg trifft auf den Papst Franziskus. Für viele Gläubige ein besonderes Erlebnis, für Greta ein Termin von vielen. Doch warum der Papst? Ganz einfach: Franziskus hat größeren Einfluss auf die Menschen als Politik. Religion war Ursache vieler Kriege, jetzt folgt der Krieg für unsere Erde. Der Papst äußerte sich mehrfach solidarisch gegenüber Greta und forderte unverzügliches Handeln. Weltweit prägt er nicht nur das Klischee frommer Gläubiger, die konservativ alles abblocken, was die Jugend bewegt, sondern vor allem auch Jugendliche, wie der Weltjugendtag in Panama Anfang des Jahres bewies. Rund 700.000 Mitglieder haben die katholischen Jugendverbände, und das, obwohl es spätestens, seitdem die Missbrauchsfälle aufgedeckt wurden, gar nicht mehr so einfach ist, anderen zu erzählen, dass man katholisch oder sogar ehrenamtlich in der Jugendarbeit aktiv ist. Dabei ist Jugendarbeit in der katholischen Kirche politisch, demokratisch, vielfältig. Sie setzt sich für Kinderrechte, Nachhaltigkeit, Mitbestimmung und Rechte für Frauen und LGBTQ+ ein. Jugendliche treffen sich dort keinesfalls bloß um zu beten, sie leben einen anderen Aspekt des christlichen Glaubens, die Gemeinschaft. Dazu gehören sowohl Freizeiten und Gruppenstunden, gemeinsames Spielen und Spaß, als auch gemeinsam den Mund aufzumachen, sich für eine Sache einzusetzen. Das spricht natürlich meistens ­gegen das Handeln der Kirche selbst, aber damit diese uralten Überzeugungen irgendwann einmal ausradiert werden können, muss die Jugend die Kirche wandeln, sie zu einer besseren Version machen. Die Jugend muss auch den Papst mal leiten können. Sonst stirbt die Kirche endgültig aus. Dadurch würde aber ein wichtiges internationales Kommunikationsmittel verloren gehen. Glaube, Kirche und der Papst verbinden. Greta kann in Franziskus eine wichtige Stütze finden, die Gläubigen den Klimaschutz näherbringen und Initiativen in Gemeinden ins Rollen bringen kann. Vielleicht werden so auch am Karfreitag, wie Greta in Rom, mehr Christ*in­nen auf die Straße gehen, aber der weltpolitische Einfluss des Papstes wird leider doch zu klein bleiben.
Vanessa Paschinski
Warum begegnet Greta Thunberg dem Papst? Ganz einfach: Franziskus hat einen größeren Einfluss auf die Menschen als Politik.
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Ein Engländer aus Kairo - taz.de
Ein Engländer aus Kairo In seinem Buch „Orientalismus“ hat er die Sicht des Westens auf die arabische Welt als eine Wunschprojektion entlarvt. Sein politisches Engagement im Nahostkonflikt war von der palästinensischen Wurzellosigkeit geprägt: Zum Tod von Edward Said von DANIEL BAX Es gibt dieses Bild von Edward Said, auf dem der 65-Jährige bei einem Besuch im Südlibanon einen Stein gegen einen israelischen Grenzposten schleudert. Es ist unklar, unter welchen Umständen diese Aufnahme entstanden ist, auf der er mit Schiebermütze und hochgekrempelten Jackettärmeln ein wenig einem angegrauten Fußball-Hooligan gleicht. Aber sie passt in das Bild, das von Edward Said im Westen, insbesondere in den USA, vorherrschte: das eines leidenschaftlichen Anwalts der Palästinenser, dem im Überschwang des Engagements schon mal die Pferde durchgehen. Edward Said hat die altmodische Rolle des engagierten Intellektuellen gespielt, wie sie im Buche steht. Er fühlte sich einer Wahrheit verpflichtet, die er über die meist deprimierende Tagespolitik des Nahen Ostens stellte, das hat er als seine Berufung verstanden und in seinem Buch über den „Ort des Intellektuellen“ hinreichend dargelegt. Bis zur Erschöpfung konnte er in seinen Leitartikeln und Essays, die in vielen internationalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden, über die Ungerechtigkeiten der Welt polemisieren, speziell über die Ungerechtigkeiten gegen die arabische Welt, und dabei zeigte er sich oft parteiisch, manchmal selbstgerecht und nicht immer frei von Ressentiments gegen andere, von denen er annahm, dass sie ihm den Rang streitig machen könnten als Deuter der Regungen der arabischen Seele. Dabei sah er sich selbst nie als Experte für die islamische Welt an; vielmehr war ihm solches Expertentum per se suspekt. Es gibt nur wenige Autoren, deren Lebenswerk so sehr mit einem Buchtitel verbunden wird. „Orientalismus“ von Edward Said erschien 1977 und bündelte alles, was ihn zu dieser Zeit beschäftigte: sein Interesse an der europäischen Literatur und am westlichen Imperialismus. Gegründet auf Foucaults Diskurs- und Machttheorien, suchte er in der Orientliteratur insbesondere des 19. Jahrhunderts nach Spuren, die vom kolonialen Dominanzstreben jener Zeit zeugten. Seine Kritik an diesem europäischen Orientdiskurs, den er als Teil einer Strategie begriff, sich die arabische Welt untertan zu machen, weitete er später auf die moderne Medienberichterstattung über die heutigen Konflikte in der Region aus. Die westliche Animosität glaubte er in einem tief empfundenen Konkurrenzgefühl begründet, aufgrund dessen der Okzident den Orient als Gegenspieler betrachte und als Alter Ego imaginiere. So avancierte „Orientalismus“ zum Schlagwort, mit dem jede als verzerrt empfundene Vorstellung vom Orient als Konstrukt gebrandmarkt werden konnte, als Produkt westlicher Projektionen. 25 Jahre nach dem Erscheinen des Buches ist das Schlagwort noch immer aktuell. Das ließ allerdings manche Widersprüche in Edward Saids Argumentation in den Hintergrund treten. Dabei drehte sich Saids Auseinandersetzung mit Koryphäen der Islamwissenschaft wie Bernard Lewis, der Zeit seines Lebens so etwas wie sein Intimfeind war, im Kern um die Frage, ob der Grund für die Krise der islamischen Welt vor allem im eigenen Versagen begründet liegt oder aber äußerer Einwirkung geschuldet ist, sprich: dem Kolonialismus und der andauernden Einflussnahme des Westens. Lewis suchte auch nach inneren Faktoren, welche zur Krise führten. Said betrachtete das als Ablenkungsmanöver von den wahren Problemen. Saids offenkundige Abneigung gegen die moderne, sozialwissenschaftlich inspirierte Nahostforschung, deren Vorliebe für Empirie und Mangel an Empathie er schon in „Orientalismus“ beklagte, spricht aus all seinen Büchern. Gleichzeitig blieb er jedoch die Frage schuldig, was denn die Alternative sein könnte. Allein die Literatur? Mag sein, dass ihm die angeblich zweckfreie Philologie der traditionellen deutschen Islamkunde sympathischer war. Aber die Sehnsucht nach einem warmen, entrückten westöstlichen Diwan jenseits kalter Machtinteressen hatte auch so ihre Tücken, wie die seltsame Weltentrücktheit der deutschen Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel aufzeigte. Den Irakkrieg resümierend, hatte Edward Said jüngst in einem Essay (in Le Monde diplomatique vom September) seine Thesen aus „Orientalismus“ bekräftigt und eine „Kultur der Einfühlung“ gefordert. Das klang doch sehr nach einem Plädoyer für einen naiven Multikulturalismus, der grundsätzliche Konflikte unter dem Mäntelchen des Miteinander-Redens beilegt. Und auch der kann ja reines Machtkalkül sein: Samuel Huntington etwa, der vielfach missverstandene Warner vor einem „Kampf der Kulturen“, wollte sein Traktat ja gerade als Mahnung verstanden wissen, es nicht auf einen solchen Konflikt ankommen zu lassen und deshalb die vermeintlich kulturellen Differenzen besser auf sich beruhen zu lassen. Lieber gar nicht erst über Menschenrechte reden, als anderen Kulturen unsere Wertmaßstäbe zu oktroyieren, so sein Fazit: Eine Forderung, mit der Huntington bei Autokraten aller Länder, von Iran bis Singapur, auf offene Türen stieß. In diesem Licht erschien der Marshallplan für eine schrittweise Demokratisierung der arabischen Welt, mit der die gegenwärtige US-Administration vor dem Irakfeldzug so vollmundig hausieren ging, sicherlich als das progressivere Konzept, wenngleich es auch kaum glaubwürdig verfolgt wird: Bislang ist es bloßes Lippenbekenntnis. Auf der anderen Seite hat diese Doppelzüngigkeit den latenten Antiamerikanismus in der arabischen Welt nur verstärkt, wie auch Edward Said bedauerte. In einem seiner letzten Essays für Le Monde diplomatique vom März 2002 warnte er vor den „Gefahren eines allzu schlichten, reduktiven oder statischen Denkens über Amerika“ in der Region. Ein solcher Okzidentalismus, der im Westen die Wurzel allen Übels sieht, sei nur die Kehrseite des westlichen Orientalismus. Dass er an Leukämie litt, an der er am vergangenen Donnerstag in New York mit 67 Jahren starb, hatte Edward Said vor elf Jahren durch eine Routineuntersuchung beim Arzt erfahren. Das Wissen um seine Krankheit hatte ihn zur Niederschrift seiner Memoiren bewegt. Doch als seine Autobiografie „Am falschen Ort“ vor drei Jahren erschien, sorgte sie für Erstaunen. Kein Wort war da die Rede von seinem politischen Engagement und seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit. Stattdessen berichtete Edward Said detailreich über seine Kindheit und Jugend, die so gar nicht mit dem palästinensischen Schicksal verbunden schien. Salman Rushdies auf den Umschlag gedruckte Widmung, das Buch vermittle „einen Eindruck davon, was es in den vergangenen fünfzig Jahren bedeutet hat, Palästinenser zu sein“, legte jedenfalls nur einen Schluss nahe: dass der befreundete Schriftsteller das Buch nicht gelesen hatte, bevor er dieses Urteil abgab. Edward Said war 1935 bei einem Familienbesuch seiner Eltern in Jerusalem geboren worden. Der Vater, ein palästinensischer Christ, hatte durch einen längeren Aufenthalt in Amerika einen US-Pass erworben und betrieb in Kairo ein florierendes Schreibwarengeschäft, das seine Produkte bald im gesamten arabischen Raum vertrieb. Trotz ihres Wohlstands aber blieb die Familie aufgrund ihrer Herkunft doch nur Außenseiter im großbürgerlichen Milieu der Stadt. Ihren Fluchtpunkt suchte die Mutter, die aus einer angesehenen palästinensischen Familie stammte, in der Anpassung an die Etikette der schwindenden britischen Kolonialmacht. So wuchs der junge Edward, mit englischem Namen ausgestattet, am Victoria College in Kairo auf wie ein junger Engländer. Peinlich genau bis ins körperliche Detail beschreibt Edward Said die Zurichtungen seiner Erziehung: Wie er zwischen Schule, Sportclub und dem elterlichen Zuhause aufwächst, einigermaßen abgeschottet von den turbulenten Entwicklungen in Ägypten, die schließlich zum Sturz des Königs Faruk führen. Aber da ist Edward Said längst in die USA übergesiedelt, als Student zunächst nach Princeton, später als Doktorand nach Harvard. Hier endet die Biografie. Das politische Engagement setzte erst später ein, mit dem Sechstagekrieg. 1977 wurde Edward Said als unabhängiger Kandidat ins Exilparlament der PLO gewählt, 1991 trat er wieder aus dem Gremium aus – aus Protest gegen das Friedensabkommen von Oslo, das er als Ausverkauf palästinensischer Interessen deutete. Seine Kritik entzündete sich daran, dass alle wesentlichen Fragen – die Flüchtlingsfrage, der Status von Jerusalem, die Siedlungen und Grenzen sowie die ausgebliebene Anerkennung israelischer Schuld bei der Vertreibung – im Friedensvertrag ausgeklammert worden waren. Was damals wie ein starrsinniges Beharren auf utopischen Maximalforderungen wirkte, erwies sich jedoch im Rückblick als durchaus klare Voraussicht. Denn nicht zuletzt an diesen offen gebliebenen Fragen ist der Friedensprozess von Oslo gescheitert: Der Siedlungsbau und die Schikanen gingen weiter. Und dafür bekamen die Palästinenser eine Autonomiebehörde, deren Inkompetenz, Korruption und mangelndes Demokratieverständnis Edward Said nicht müde wurde anzuprangern. Seine Kritik an Arafats Führungsstil brachte ihm zeitweilig sogar ein Verbot seiner Bücher in den autonomen Gebieten ein, so tief ging der Bruch mit dem einstigen Mitstreiter. Stattdessen gründete er, der als verhinderter Konzertpianist stets eine Passion für klassische Musik pflegte, mit dem Dirigenten Daniel Barenboim ein Forum für junge arabische und israelische Musiker, sein letzte Projekt. Seit 1963 arbeitete Edward Said an der Columbia University in New York, wo er bis zuletzt als Professor für Englische Literatur lehrte. Hier war er genau am richtigen Ort. Denn nur hier konnte er zur wichtigsten intellektuellen Stimme der palästinensischen Diaspora avancieren. Und vielleicht war er, in seiner inneren Zerrissenheit und seiner Überidentifikation mit einem Land, das er kaum je aus eigener Anschauung gekannt hatte, eben gerade doch ein typischer Palästinenser, lebt doch die große Mehrheit quer über den Globus verstreut im erzwungenen Exil.
DANIEL BAX
In seinem Buch „Orientalismus“ hat er die Sicht des Westens auf die arabische Welt als eine Wunschprojektion entlarvt. Sein politisches Engagement im Nahostkonflikt war von der palästinensischen Wurzellosigkeit geprägt: Zum Tod von Edward Said
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ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL: Bei uns daheim im Ghetto - taz.de
ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL: Bei uns daheim im Ghetto Schüsse peitschen, auf dem Spielplatz gibt es Drogen und die Rütli-Schule ist um die Ecke. Wir leben in Neukölln Ich sehe es immer schon an der Vorwahl auf dem Display des Telefons: (0 23 **) * ** **. Meine Oma ruft an. Sie kommt aus einer Zeit, in der telefonieren noch teuer war. Also ruft sie nur an, wenn sie sich Sorgen macht. Da die meisten ihrer Freundinnen tot sind, sie einen Fernseher hat und den Videotext bedienen kann, macht sie sich allerdings ziemlich viel Sorgen. – „Junge, geht es euch gut?“ fragt sie dann. – „Klar, Oma“, sage ich. „Alles klar. Warum denn nicht?“ – „Ach, ich habe nur im Fernsehen gelesen, dass in Berlin ein Mietshaus gebrannt hat. Und da bin ich irgendwie ganz unruhig geworden …“ – „Oma, mach dir keine Sorgen. Bei uns ist alles klar. Weißt du, Berlin ist groß, Oma.“ So ging das ständig und irgendwann hatte ich keine Lust mehr, nach jedem Brand, jedem Supermarktüberfall, jedem schweren Verkehrsunfall und jeder Schießerei in der Hauptstadt zu Hause Entwarnung geben zu müssen. Deshalb habe ich meiner Oma genau erklärt, wo ich wohne: – „In Neukölln, Oma. Ich wohne in Berlin-Neukölln. Nur was in Neukölln passiert, ist in unserer Nähe.“ Das war ein Fehler. Denn seit zehn Tagen wird meiner Oma vom Videotext (und allen anderen Medien) erklärt, wo ihr Enkelsohn, seine Freundin und ihr Urenkel leben. Im Slum. Im Ghetto. Dort, wo die Gewalt regiert. Meine Oma ruft immer noch an, aber ich muss sie nicht mehr beruhigen. Es reicht ihr, wenn sie meine Stimme hört. Ich möchte meine Oma hier nicht vorführen. Sie ist 88 Jahre alt und ihre Nerven haben sich von der Luftschlacht ums Ruhrgebiet nie erholt. Damit ist sie in etwa so cool wie die Reporter und Redakteure unserer Zeitungen, Magazine, Sender und Nachrichtenagenturen. Meine Freundin und ich sind selbst Journalisten, wir kennen viele andere Journalisten, ein paar wissen, dass wir in Neukölln wohnen, und haben unsere Nummer weitergegeben. Was soll ich sagen? Meine Oma hat sich wenigstens noch beruhigen lassen wollen. Die Telefonate verlaufen immer ähnlich: Gewalterfahrungen? Keine, tut uns leid. Machokultur? Meine Freundin ist vor drei Jahren an einer Haltestelle von einem Unbekannten gefragt worden, ob sie mit ihm schlafen wolle. War aber kein Araber. Gilt also nicht. Rütli-Schule? Dort war bei der Bundestagswahl unser Wahllokal. Nein, Einschusslöcher sind uns nicht aufgefallen. Alteingesessene Neuköllner, berichtet unser Nachbar, haben eine Theorie entwickelt: Diese Art der Hysterie trete periodisch auf. Ungefähr alle sieben Jahre, sie beginne mit Artikeln im Lokalblatt Tagesspiegel und schaukle sich zu Spiegel-Texten hoch und klinge dann mit Fernsehbeiträgen und Bild-Schlagzeilen langsam aus. Das habe aber auch sein Gutes: Bei Mieterhöhungen in den vergangenen Jahren hefteten viele Neuköllner an den kommentarlosen Widerspruch einfach eine Kopie des letzten Spiegel-Artikels über den Bezirk: „Schüsse peitschen über die Straße“, stand schon im zweiten Satz. Unsere 85 Quadratmeter Altbau mit Parkett, Stuck, Balkon und Blick auf den Landwehrkanal kosten übrigens 530 Euro. Warm. Mit Nebenkosten. Aber das ist schon in Ordnung, schließlich werden auf dem Spielplatz gegenüber nachts Drogen verkauft. Gestern Abend klingelt das Telefon schon wieder. Ich fürchte weitere Ghettorecherchen und will schon nicht mehr drangehen, da sehe ich die vertraute Vorwahl auf dem Display. – Hey, Oma, alles klar, du machst dir bestimmt Sorgen, nicht wahr? – „Ach, Junge“, sagt sie. „Ich hab den ganzen Tag im Fernsehen geguckt, was die da aus deinem Neukölln zeigen. Und ich wollte dir nur sagen: Als wir vor drei Jahren alle bei dir waren und spazieren gegangen sind an diesem Kanal mit den vielen Cafés, da war es wirklich sehr schön.“ Fragen zu Neukölln? [email protected] Montag: Arno Frank über GESCHÖPFE
ROBIN ALEXANDER
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An die eigene Nase gefasst - taz.de
An die eigene Nase gefasst Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus? Die Bürgerschaft hat die Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes einstimmig beschlossen. Damit darf ab dem 1. Januar 2009 auch in Einkaufspassagen und Einkaufszentren nicht mehr geraucht werden. Grünen-Sprecher Matthias Makosch wies daraufhin, dass offene Bereiche wie die Lloyd-Passage entgegen anderslautender Berichte, etwa in der „Bild“-Zeitung, nicht von dem Verbot betroffen sind. Gleiches gilt für Festzelte. Ausnahmen gibt es auch für Gaststätten, die nicht größer als 75 Quadratmeter sind und keine zubereiteten Speisen verkaufen. Sie müssen klar als Raucher-Lokale gekennzeichnet sein und dürfen Jugendlichen unter 18 Jahren keinen Zutritt gewähren. Auf Nachfrage erklärte Makosch, dass der Nichtraucherschutz auch in den Fraktionsräumen der Grünen konsequent umgesetzt werde. Allerdings: Die Abgeordneten gingen in der Regel nicht vor die Tür. Stattdessen machen sie es sich in einem kleinen Hinterzimmer gemütlich – aus diesem „blue salon“ zieht es dann schon manchmal in die Büroräume. „Ein kleines Problem“, wie Makosch zugibt. Während die FDP nur nicht-rauchende Abgeordnete hat gibt es bei der SPD auch einen Raucher-Raum. Die Fraktion bestehe zu einem Drittel aus Rauchern, erklärt SPD-Sprecher André Städler. Bisher habe sich aber noch kein Nichtraucher beschwert. Auch die CDU jagt ihre Raucher nicht komplett aus dem Gebäude: Hier gibt es einen winzigen Balkon, der halb legal als Raucherecke dient. Dabei dürfe man sich allerdings nicht von CDU-Chef Thomas Röwekamp „erwischen lassen“, heißt es im Vorzimmer. Inga Nitz von der Linkspartei – die sich vor allem über die von der Bürgerschaft beschlossenen Zugeständnisse an die Eckkneipen freut – antwortet in Bezug auf die eigene Geschäftsstellen-Praxis mehrdeutig: „Es gibt bei uns im Büro Nichtraucherschutz, aber auch keine Raucherdiskriminierung.“ Steven Heimlich
Steven Heimlich
Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus?
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Der Kahle, das bin ich - taz.de
Der Kahle, das bin ich ESSAY Die Philosophin Michela Marzano artikuliert Unbehagen an den gegenwärtigen Körperpraktiken und Körpertheorien Das Spannende am Körper ist, dass er eine Dreieinigkeit ist: Er ist die biologische Basis des Menschen, er ist ein gesellschaftliches Konstrukt, und sein jeweiliges Leben und Erlebtwerden hängt von der psychosozialen Geschichte der Individuen ab. Letzteres weiß die Autorin der jetzt auf Deutsch vorliegenden „Philosophie des Körpers“ sehr genau: die in Paris lebende Italienerin litt in ihrer Jugend an Anorexie. Nicht nur ihr Leibkörper, auch der Sprachkörper ihrer Gedanken scheint für sie nicht unproblematisch zu sein: Michela Marzano schreibt ihre Bücher nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch. Der Körper, seit einiger Zeit fast so etwas wie ein Modethe- ma in den Kulturwissenschaften, kann aus sehr verschiedenen Blickwinkeln heraus anvisiert werden. Immensen Einfluss hatte in den letzten Jahrzehnten die Foucault’sche Perspektivierung des Körpers als Gegenstand von Normalisierung und Disziplinierung. Die eher konservative Marzano interessiert sich nur am Rande für solche Zusammenhänge von Macht und Körper. Ihr Ansatz ist phänomenologisch. Unter Bezug auf Maurice Merleau-Ponty geht sie von der sicherlich richtigen Beobachtung aus, dass zur Körpererfahrung eine Ambiguität gehört: Man weiß nicht so genau, ob man seinen Körper hat oder ob man er ist. In manchen Momenten hat man ihn eher, wenn man etwa vor dem Spiegel sich darüber ärgert, dass die Schädelhaut, unbekümmert um das eigene Schönheitsideal, das ohnehin schütter gewordene Haar weiterhin einfach ausfallen lässt. Fast im selben Moment ist man aber auch sein Körper; ganz elend angesichts der hingeschwundenen Haarpracht stöhnt man: Dieser kahler werdende Kerl, der da blass aus dem Spiegel starrt, das also bin ich. Aber auch euphorisch ist man hin und wieder sein Körper: wenn in den Feierstunden des Paarlebens prickelnde Erregtheit den Körper entflammt, steht außer Frage, dass diese Lustmembrane, die da mit einer anderen Lustmembrane Haut an Haut liegt, ich bin. Ein zentrales Anliegen von Marzanos Buch ist es zu zeigen, dass viele der gegenwärtigen Körperpraktiken und Körpertheorien dieser Ambiguität des eigenen Körpers, gleichzeitig Objekt, zu dem man auf Distanz gehen und das man instrumentell benutzen kann (der Dichter Jean-Paul hatte einmal den Körper als „Ich-Besteck“ bezeichnet), und Subjekt, das die eigene Existenz konstituiert, zu sein, nicht gerecht werden. Schon in früheren Publikationen hatte sich die „angewandte Ethikerin“, wie sie sich selbst definiert, in ähnlicher Intention mit Pornografie beschäftigt und die Frage gestellt, ob Pornodarsteller nicht als Schauspieler in der Nacktheit ihrer ausgestellten Körper untergehen. Der Überblick, den sie jetzt über die Philosophiegeschichte des Körpers gibt, will zeigen, dass gegenwärtige Körperpraktiken unreflektiert weiterführen, was im philosophiegeschichtlichen Diskurs längst zu den Akten gelegt ist. Die Queer-Bewegungen, für die die Geschlechterdifferenz eine subversiv zu dekonstruierende „Markierung“ ist, die Cyborg-Fantasien von Dona Haraway oder die Performance-Auftritte der Carnal-Art-Künstlerin Orlan, bei denen diese sich chirurgischen Eingriffen unterzieht, um dann als „reinkarnierte Orlan“ die Bühne zu verlassen, bedeuten für sie das Fortleben der dualistischen Körper-Seele-Philosophie. Wie bei Platon, so polemisiert sie, werde der eigene Körper immer noch als Hindernis erfahren, nun aber nicht mehr als Hindernis zur Erkenntnis der wahren Ideen, sondern zur absoluten Freiheit. Für die Autorin bedroht das Zusammenspiel von dem, was sie als „liberalistisch-individualistisches“ Denken empfindet, und moderner Medizintechnologie die „natürliche Wahrheit des Körpers“. Wenn sie beispielsweise die (sehr seltenen) Fälle von Gesichtstransplantationen diskutiert, scheint ihr die Dialektik von Alterität und Intimität, die zur Körperlichkeit gehört, vor unentwirrbare Probleme gestellt. Es charakterisiert den eingängigen Stil des Buches, aber mehr noch dessen konservativen Gestus, wenn die Autorin den Körper nicht als Möglichkeit zur Entgrenzung, sondern als das, was „uns an die Wirklichkeit ‚nagelt‘“, definiert. CHRISTOF FORDERER ■ Michela Marzano: „Philosophie des Körpers“. Diederichs Verlag, München 2013, 144 Seiten, 14,99 Euro
CHRISTOF FORDERER
ESSAY Die Philosophin Michela Marzano artikuliert Unbehagen an den gegenwärtigen Körperpraktiken und Körpertheorien
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Modemarken und Nachhaltigkeit: Weniger Chemie in den Stoff - taz.de
Modemarken und Nachhaltigkeit: Weniger Chemie in den Stoff Weil sich die Kunden das wünschen, wollen zehn italienische Modemarken die Gifte in ihrer Kleidung reduzieren. Generell wollen sie nachhaltiger werden. Auch Gucci will weniger Chemie einsetzen. Foto: reuters PARIS afp | Auf der Pariser Modemesse Première Vision haben zehn italienische Modemarken wie Gucci, Prada, Armani und Versace zugesagt, den Chemieeinsatz bei der Herstellung ihrer Kleidungsstücke zu reduzieren. „In unserer Branche gibt es keine Zukunft ohne nachhaltige Entwicklung“, sagte am Mittwoch der Vorsitzende des italienischen Textilverbands, Carlo Capasa, in Paris. Er verwies auf eine Untersuchung von Boston Consulting, wonach 13 Prozent der Kunden die nachhaltige Entwicklung als ein Einkaufskriterium nannten. „Das mag gering erscheinen, aber vor zwei Jahren waren es erst zwei Prozent“, sagte Capasa. Vertreter der zehn italienischen Marken tüfteln in einer Arbeitsgruppe des Textilverbandes an Nachhaltigkeitskriterien, die laut Capasa im Oktober veröffentlicht werden sollen. Betroffen seien zum Beispiel rund 500 chemische Stoffe – die Textilindustrie soll die derzeit geltenden Grenzen unterschreiten und will sich Ziele für eine weitere Reduzierung setzen. In den kommenden zwei, drei Jahren wollen die Marken zudem nachweisen, woher Garn, Stoff oder Leder kommen, und wie die Arbeitsbedingungen bei der Herstellung sind. Capasa sagte, idealerweise werde die ganze Branche mitmachen. Die Veranstalter der Modemesse verschickten an rund 2000 Aussteller einen Fragebogen zur Rückverfolgung der Materialien, zum Energieverbrauch, zur Abfallentsorgung, zu Arbeitsbedingungen und Löhnen. 150 Firmen antworteten.
taz. die tageszeitung
Weil sich die Kunden das wünschen, wollen zehn italienische Modemarken die Gifte in ihrer Kleidung reduzieren. Generell wollen sie nachhaltiger werden.
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Gerichtsurteil in Ungarn: „Lebenslänglich“ für Morde an Roma - taz.de
Gerichtsurteil in Ungarn: „Lebenslänglich“ für Morde an Roma Ungarns oberstes Gericht bestätigt eine erstinstanzliche Verurteilung von drei Rechtsradikalen. Sie hatten sechs Roma umgebracht. Fassungslosigkeit nach dem Anschlag in 2009 in dem Dorf Tatarszentgyörgy, nahe Budapest. Foto: dpa BUDAPEST taz | Dreimal „lebenslänglich“: Das oberste Gericht Ungarns hat am Dienstag die Strafen für drei Männer im Prozess um den Mord an sechs Roma bestätigt. Die rassistische Mordserie, zu deren Opfern ein fünfjähriges Kind zählte, ereignete sich zwischen 2008 und 2009 im Nordosten Ungarns. Fünf weitere Angehörige der ungarischen Roma-Minderheit wurden dabei schwer verletzt. Die brutalen Anschläge hatten in Ungarn großes Aufsehen erregt. Insgesamt 78 Schüsse wurden auf die Fenster der Häuser der Opfer abgegeben, mit elf Molotowcocktails die Roma-Unterkünfte in Brand gesetzt und die Menschen auf ihrer Flucht vor den Flammen beschossen. Die Angeklagten, die Brüder Árpád und István Kiss sowie Zsolt Petö sind im rechtsradikalen Milieu anzusiedeln. Während der Urteilsverkündung bestanden die beiden Brüder darauf, von den Wächtern abgeführt zu werden. Zsolt Peto nahm das Urteil mit einem Lächeln im Gesicht auf. Der vierte Angeklagte, István Csontos, der die Mörder bei zwei Anschlägen mit seinem Auto transportiert hatte, war bereits im Mai 2015 rechtskräftig zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. „Wir können von Glück sagen, dass bei den Anschlägen nicht mehr Menschen gestorben sind“, sagte die Richterin Rósa Mészár im Gerichtssaal. Sie nannte die Straftat und die Täter abscheulich. Die Urteilsverkündung fand vor vielen Zuhörern statt. Einige trugen T-Shirts mit der Aufschrift „shooting club“ und der Abbildung einer Waffe. Das öffentliche Interesse an den Opfern des beispiellosen Verbrechens jedoch hielt sich in Ungarn in den vergangenen Jahren in Grenzen. So blieb den Opfern am Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal eine Gedenkminute verwehrt. Etwa 7 bis 8 Prozent der zehn Millionen Ungarn gehören den Roma an. Sie werden diskriminiert und leben überwiegend in großer Armut.
Tibor Rácz
Ungarns oberstes Gericht bestätigt eine erstinstanzliche Verurteilung von drei Rechtsradikalen. Sie hatten sechs Roma umgebracht.
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Nachhaltige Energieproduktion: Ein zartes Pflänzchen - taz.de
Nachhaltige Energieproduktion: Ein zartes Pflänzchen Pflanzen werden häufig angebaut, um aus ihnen Strom oder Wärme zu gewinnen. Nachhaltiger wäre es, sie erst anders zu nutzen und nur Abfälle zu verbrennen. Erst wachsen lassen, um dann zu verbrennen: Ernte im brasilianischen Sojafeld. Bild: imago / Fotoarena BERLIN taz | Für den deutschen Biokraftstoffverband beginnt ein Jahr des Schreckens. „2013 wird es für die Biodieselhersteller wieder schwieriger“, sagt Geschäftsführer Elmar Baumann. 100.000 Tonnen reiner Biodiesel werden derzeit in Deutschland noch abgesetzt, das ist die Jahresproduktion eines mittelgroßen Herstellers. Am 1. Januar sind die Steuern auf puren Biodiesel von 18,60 Cent pro Liter auf 45 Cent pro Liter gestiegen – „damit fliegt der reine Biodiesel raus“, sagt Baumann. Als Geschäftsfeld bleibt, Biodiesel an die Mineralölkonzerne zu verkaufen, die das Öl aus Raps, Soja oder Palmöl dann ihrem fossilen Diesel beimischen. Während die Dieselindustrie stöhnt, geht es der Bioethanol-Konkurrenz dank hoher Beimischungsquoten besser: In den ersten drei Quartalen hat sie rund 447.000 Tonnen Treibstoff abgesetzt, ein Plus von 21 Prozent. Allerdings erwartet die ganze Branche im kommenden Jahr Ärger, in Form des sogenannten Iluc-Faktors. Iluc klingt erst mal putzig; doch die Abkürzung steht für die Anstrengung, für die Kraftstoff- und Energieproduktion nur noch solche Pflanzen zu benutzen, für die etwa keine Regenwälder gerodet oder Moore trockengelegt wurden. Das gluckst im TankB7 ist fossiler Diesel mit 7 Prozent Biodiesel aus Raps, Soja oder Palmöl. Alle Dieselfahrzeuge können B7 tanken.E85 ist Benzin aus 85 Prozent Bioethanol und 15 Prozent fossilem Sprit. In den USA und Brasilien durchaus verbreitet, wird E85 in Deutschland in einer kleinen Nische mit einem Marktanteil von 5 Prozent verkauft.95 Prozent des Ethanols aus Pflanzen werden Benzin aus Erdöl beigemischt und an der Tankstelle als E10 (mit 10 Prozent Pflanzensprit) oder Super (mit 5 Prozent Pflanzensprit) verkauft. (hho) Eigentlich wollte die Europäische Union das ganz einfach in einer Verordnung regeln: Die Importeure von Soja, Palmöl oder Mais müssen genauso wie heimische Rapsbauern nachweisen, dass ihre Pflanzen nachhaltig angebaut wurden. Nur Pflanzen mit solch einem Nachweis dürfen die Mineralölkonzerne ihrem Erdölsprit beimischen, um die vorgegebenen Quoten zu erfüllen. Eigentlich eine gute Idee. Sie hat nur nicht funktioniert: Heute stammt das Palmöl für den Biodiesel von schon lange bestehenden Plantagen. Und nebenan wird Regenwald gerodet, um neue Plantagen anzulegen, deren Ernte für die Herstellung von Schokolade, Pizza oder Waschmittel verwendet wird. Nachhaltiger ist also gar nichts. Die EU will nun gegensteuern, und im Laufe dieses Jahres ein neues Konzept entwickeln, das solche „indirekten Landnutzungsänderungen“ – Englisch: indirect landuse change (Iluc) – einberechnet. Doch das ist kompliziert. Wie soll ermittelt werden, welche Äcker nur deswegen für Futtermittel bestellt wurden, weil an anderer Stelle mehr Energiepflanzen wuchsen? Mehr Holz verbrannt als verbaut „Der Vorschlag der EU-Kommission basiert auf einem hanebüchenen Konzept und komplett realitätsfernen Berechnungen“, wettert Baumann. Viel wirksamer als komplizierte Regelwerke seien bilaterale Verhandlungen mit Staaten wie Indonesien oder Brasilien; Importe von Biokraftstoffen müssten davon abhängig gemacht werden, dass diese „Krisenländer“ nicht länger ihre Regenwälder rodeten. „Aber dagegen sprechen andere wirtschaftliche Interessen“, so Baumann, „das ist eine scheußliche Heuchelei“. Den Biokraftstoffen würde somit systematisch der Garaus gemacht, die Arbeitsplätze der rund 128.000 Beschäftigten der mittelständischen Branche vernichtet. „Halt!“, ruft da Michael Carus. Er ist Geschäftsführer des Kölner Nova-Instituts, das sich seit Jahren mit der Frage befasst, auf welche Arten sich Pflanzen nutzen lassen. Auch er sieht eine Fehlentwicklung in Deutschland, aber eine ganz andere als die Biokraftstoffindustrie: Es wird nämlich immer mehr Mais, Raps und Holz gebraucht, um Energie zu gewinnen. Für Carus eine bedenkliche Entwicklung: „Heftig wird diskutiert, dass Solaranlagen zu hoch subventioniert werden“, so der Experte, „dass Energie aus Pflanzen ebenfalls viel zu hoch gefördert wird, spielt in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle.“ Dabei sei diese Fehlsteuerung wesentlich folgenreicher. „Das erste Mal in der Geschichte dieser Region haben wir in Deutschland mehr Holz verbrannt, als es stofflich zu nutzen“, sagt Carus. Auch das Umweltbundesamt hat das Thema auf dem Schirm. Erste Ergebnisse seines Projekts „Ökologische Innovationspolitik – Mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz durch nachhaltige stoffliche Nutzungen von Biomasse“ hat es kürzlich in Berlin vorgestellt. Einer der Redner auf der Konferenz: Michael Carus. Um seine Sorge über die fehlgesteuerte Energiepolitik zu illustrieren, hat Carus eine Grafik mit zwei Linien gemalt: Die grüne steht für Holz, das zu Dachstühlen, Treppen, oder Schränken verarbeitet wurde; die rote Linie steht für Holz, das verbrannt wurde, um Strom und Wärme zu erzeugen. Immer verlief diese Linie unter der grünen. Doch vor Kurzem haben sie sich gekreuzt, die rote hat die grüne überholt. Als Ursache nennt Carus eine falsche Förderpolitik: „Wer aus Pflanzen Energie gewinnt, wird immens gefördert“, sagt er, „wer sie stofflich nutzt, bekommt nichts“. Die Beispiele dafür, dass die energetische Nutzung die stoffliche verdrängt, sind so zahlreich wie verschieden. Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen – zum Beispiel aus Mais oder Zuckerrüben – quetschen sich seit Jahren in kleinen Marktnischen. Laut Umweltbundesamt hatten die Biokunststoffe 2009 am voluminösen Verpackungsmarkt in Deutschland – insgesamt wurden hier 2,64 Millionen Tonnen Kunststoffe verbraucht – einen Marktanteil von nur 0,5 Prozent. Energie aus Abfällen Seit Jahren verkündet die Branche stolz wachsende Produktionskapazitäten, nur will kaum jemand ihre Folien und Tüten kaufen. Bioplastik habe inzwischen einen ähnlich schlechten Ruf wie Biokraftstoff, klagt Mark Vergauwen, beim globalen Branchenführer Natureworks fürs Europageschäft zuständig. Noch verwendet das amerikanische Unternehmen Mais als Rohstoff; die Zukunft sieht es anderswo. Zum Beispiel ist es an Forschungsvorhaben beteiligt, in denen Kunststoffe aus Abfällen oder landwirtschaftlichen Reststoffen hergestellt werden. Allerdings zeichnen sich auch hier Probleme ab. In Brüssel und Berlin sind Abfall und Reststoffe (wie Stroh) derzeit sehr in Mode, gelten sie doch als ein Ausweg aus dem Tank-Teller-Dilemma: Schließlich kann man sie, anders als Mais und Weizen, nicht essen. Also heißt es: Aus Stroh, Restholz und Kartoffelschalen können wir wunderbar Energie gewinnen, anstatt sie wegzuschmeißen. Das Problem ist nur: Das tun wir gar nicht. Bioabfälle, also etwa Gras aus Parks, Äste aus Kleingärten oder Apfelgriepsche aus dem Mülleimer, werden fast gänzlich zu Kompost verarbeitet. Die wertvolle Erde, die daraus entsteht, landet überwiegend auf Äckern der Landwirte, aber auch bei Hobbygärtnern, im Park- oder Landschaftsbau. „Das ist eine funktionierende Kreislaufwirtschaft“, sagt Michael Schneider, Geschäftsführer des Verbandes der Humus- und Erdenwirtschaft. Aber durch die Förderung durch das Erneuerbare Energien-Gesetz „geraten immer mehr Bestandteile in den Ofen, die eigentlich zurück auf den Boden gehören“, so Schneider. Bei reinen Holzabfällen – etwa Baumschnitten aus Parks – sind es schon bis zu 30 Prozent. Denkt Denny Ohnesorg an Holz, fallen ihm nicht als Erstes Kompostanlagen ein, sondern Möbel oder Häuser. Aber auch der Geschäftsführer des Holzwirtschaftsrats, der Unternehmen wie Tischlereien oder Sägewerke vertritt, sieht mit Sorge steigende Holzpreise und ein stetig knapperes Angebot. Allein ein Drittel des Holzes aus deutschen Wäldern werde inzwischen in privaten Öfen verbrannt, berichtet er, auch effiziente Pelletanlagen saugten große Mengen auf. Erst verbauen, dann verbrennen Die politischen Initiativen, mehr Pflanzen zu nutzen, um CO2 einzusparen, sieht er kritisch: „Die Energiestrategie und die Biomassestrategie der Bundesregierung sind nicht aufeinander abgestimmt.“ Anstatt Holz einfach zu verbrennen, müsse es in Kaskaden genutzt werden, also erst als Bauholz oder Möbel, dann als Spanplatte und erst dann zur Verbrennung. Ob Biokunststoffe, Bauholz oder Kompost – die Liste lässt sich fortsetzen –, die biobasierte Wirtschaft kommt nicht auf die Beine, sagt Carus. Inzwischen habe sich in Deutschland ein völlig undifferenzierter Diskurs entwickelt, der beinahe jede Nutzung von Biomasse verteufele. Der Kampf verschiedener Umweltorganisationen gegen Kunststoffe auf Pflanzenbasis zum Beispiel ist für den Fachmann nicht nachvollziehbar. „Irgendwie müssen wir Erdöl ersetzen, das wird jeden Tag schmutziger“, sagt er. Es müsse eine realistische Vorstellung über die Verfügbarkeit von Ölpflanzen, Holz und Getreide entwickelt werden, fordert Carus, um dann ein Konzept für eine möglichst effiziente Landnutzung zu entwickeln. Es sieht nicht so aus, als ob die Experten in den Ministerien und Behörden in Brüssel und Berlin in diesem Jahr dazu Zeit hätten. Sie müssen ja die Iluc-Faktoren für die Biokraftstoffe entwickeln.
Heike Holdinghausen
Pflanzen werden häufig angebaut, um aus ihnen Strom oder Wärme zu gewinnen. Nachhaltiger wäre es, sie erst anders zu nutzen und nur Abfälle zu verbrennen.
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Gen-Kartoffel Amflora: Es ist angerichtet - taz.de
Gen-Kartoffel Amflora: Es ist angerichtet Erstmals ist der kommerzielle Anbau der Gen-Kartoffel EU-weit erlaubt. Ob die Knolle nur industriell genutzt wird, bleibt fraglich. Feldversuch mit Amflora in Bütow (Müritzkreis). Umweltschützer meinen aber: trotz Zulassung besteht keine Gefahr. Bild: dpa BRÜSSEL taz | Der neue Gesundheitskommissar John Dalli hatte es eilig. Nach gerade einmal vier Wochen im neuen Amt setzte der maltesische Exminister und Jurist gestern seine Unterschrift unter die Zulassung für die genveränderte Kartoffel Amflora. Die Knolle, die eine Antibiotikaresistenz enthält, darf nun als Lebensmittel und Tierfutter in der Europäischen Union angebaut und verkauft werden. Damit ist trotz der Bedenken von Gesundheitsexperten genverändertes Saatgut für den Anbau in der EU zugelassen worden. Beobachter fragen sich, warum diese Entscheidung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt kommt, wo eine grundlegende Wende in der Zulassungspolitik erwartet wird. EU-Kommissionspräsident Barroso hat bis zum Sommer einen Vorschlag angekündigt, wie es Mitgliedsstaaten rechtlich ermöglicht werden soll, genveränderten Anbau auf ihrem Territorium auf Dauer zu verbieten. Mehrere EU-Länder, darunter Deutschland, genehmigen den Anbau des seit 1998 zugelassenen Genmaises MON810 nicht, bewegen sich damit aber in einer rechtlichen Grauzone. Amflora allerdings will BASF bereits in diesem Frühjahr in Tschechien und Deutschland anpflanzen Experten der EU-Kommission und der Europäischen Lebensmittelzulassungsbehörde EFSA argumentieren, dass BASF die Kartoffel nicht als Nahrungsmittel, sondern zu industriellen Zwecken entwickelt habe. Die darin enthalte Stärke eignet sich besonders gut zur Papierherstellung. Doch die nun erteilte Zulassung schließt eine andere Nutzung nicht aus. Es ist sogar ausdrücklich vorgesehen, dass Abfallprodukte aus der Stärkegewinnung als Futtermittel verwertet werden. Für den Anbau hat die Kommission strenge Auflagen erlassen. Weder auf dem Acker noch bei der Ernte oder beim Transport darf Amflora mit anderen Kartoffeln in Berührung kommen. Im Folgejahr dürfen keine genfreien Kartoffeln auf einem Amflorafeld angebaut werden. Doch letztlich erlaubt die Kommission eine unabsichtliche Verschmutzung traditioneller Kartoffelprodukte von bis zu 0,9 Prozent. "Nach ausführlicher und gründlicher Analyse der fünf offenen Zulassungsanträge war es klar für mich, dass alle wissenschaftlichen Aspekte ausführlich berücksichtigt wurden", erklärte Dalli gestern. Nach der langen Übergangsphase einer nur kommissarisch amtierenden EU-Kommission sei es nun Zeit, offene Entscheidungen abzuschließen. "Die EU muss sich an ihre eigenen juristischen Regeln halten und Rechtssicherheit herstellen", erklärte Dalli. Genau das aber tut die EU-Kommission nach Überzeugung vieler Experten nicht. In der Richtlinie, auf die sich die Zulassung von Amflora gründet, wird ausdrücklich festgelegt, dass von Ende 2004 an in der EU keine genveränderten Pflanzen mehr angebaut werden sollen, die gesundheitsbedenkliche Antibiotikaresistenzen enthalten. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch die Europäische Arzneimittelbehörde halten es für möglich, dass Amflora die Wirksamkeit bestimmter Medikamente einschränken könnte, die gegen Tuberkulose eingesetzt werden. Sogar innerhalb der Lebensmittelzulassungsbehörde EFSA hatten zwei Gutachter vergangenen Sommer erstmals vor den gesundheitlichen Risiken gewarnt. Noch kurz vor ihrem Ausscheiden aus der EU-Kommission hatte Dallis Vorgängerin Androulla Vassiliou Ende Januar auf eine Anfrage des EU-Parlaments zu Amflora geantwortet: "Die Kommission prüft derzeit die Auswirkungen der Stellungnahme der EFSA hinsichtlich des Risikomanagements für alle genetisch veränderten Erzeugnisse, die Antibiotikaresistenzen enthalten." Diese Prüfung hält Dalli offensichtlich für überflüssig. Eine Übertragung der Resistenzen auf Krankheitserreger sei völlig ausgeschlossen, erklärte eine Mitarbeiterin seiner Abteilung gestern. Falls es aber doch dazu komme, sei das ohnehin bedeutungslos, da derartige Resistenzen bei Tuberkuloseerregern schon jetzt zu finden seien. Der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling meint: "Damit stellt der europäische Gesundheitskommissar die Interessen eines Unternehmens an einer Kartoffel für industrielle Verwertung höher als das Menschenrecht auf Gesundheit."
Daniela Weingärtner
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Terror in der Türkei: Anschläge und „Säuberungen“ - taz.de
Terror in der Türkei: Anschläge und „Säuberungen“ Zehntausende sind von den „Säuberungen“ in der Türkei betroffen. Derweil wurden bei Anschlägen mehrere Menschen getötet und über zweihundert verletzt. Nach der Explosion vor der Polizeistation im osttürkischen Elazig Foto: dpa ISTANBUL/ANKARA dpa/rtr | Bei zwei Autobombenanschlägen gegen Polizeieinrichtungen im Osten der Türkei sind nach offiziellen Angaben mindestens sechs Menschen getötet worden, darunter vier Polizisten. Mehr als 200 Menschen seinen bei den Explosionen in der Provinzhauptstadt Elazig und in der osttürkischen Provinz Van verletzt worden. Die Anschläge wurden der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zugeschrieben, ohne dass sich die auch von der EU als terroristisch eingestufte Organisation zu den Attacken bekannte. In der südosttürkischen Stadt Elazig richtete sich der Anschlag gegen das Polizeipräsidium. Bei der gewaltigen Explosion starben dort am Donnerstagmorgen nach Angaben des Provinzgouverneurs Murat Zorluoglu drei Polizisten, fast 150 weitere seien verletzt worden, darunter auch Zivilisten. Ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug detonierte auf einem Parkplatz vor dem vierstöckigen Gebäude und richtete schwere Verwüstungen an. Fernsehbilder zeigten eine graue und schwarze Rauchsäule über der Stadt. Bereits in der Nacht zum Donnerstag war eine ferngezündete Autobombe vor einer Polizeibehörde in der Provinz Van in der Nähe der Grenze zum Iran explodiert. Bei diesem Anschlag wurden ein Polizist und zwei Zivilisten getötet, etwa 75 weitere Menschen wurden verletzt, darunter 20 Polizisten. Auch für diesen Anschlag machten die Behörden die PKK verantwortlich. Diese äußerte sich zunächst nicht dazu. In der Südosttürkei verübt die PKK immer wieder Anschläge vor allem auf Sicherheitskräfte. Ein mehr als zwei Jahre andauernder Waffenstillstand war im Sommer vergangenen Jahres gescheitert. Seither ging die türkische Armee massiv gegen Kämpfer der PKK vor, die sich in Städten verschanzt hatten. Die PKK gilt in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation. Der türkische Verteidigungsminister Fikri Isik gab sich nach den Anschlägen am Donnerstag zuversichtlich, dass die Türkei die PKK bezwingen werde. Die Türkei sei nach der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15. Juli stärker geworden, sagte er in einem Interview der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Über 40.000 Festnahmen Von der vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch im Juli angekündigten „Säuberungswelle“ sind bislang Zehntausende Menschen betroffen. 79.900 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes hätten ihre Jobs verloren, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim am späten Mittwochabend in einer im Fernsehen übertragenen Rede. 40.029 Menschen seien festgenommen worden, gegen 20.355 von ihnen sei Haftbefehl ergangen. Zudem wurden 4.262 Firmen und Einrichtungen geschlossen, weil sie mit dem Prediger Fethullah Gülen zusammengearbeitet haben sollen. Die Regierung in Ankara hält den seit 1999 im selbst gewählten Exil in den USA lebenden Gülen für den Drahtzieher des Putschversuchs am 15. Juli. Gülen hat den Umsturzversuch von Teilen des Militärs verurteilt und bestreitet eine Verwicklung darin. Die Gülen-Organisation versteht sich als vom Islam inspirierte soziale Bürgerbewegung. Schulen, Unis, Unternehmen Die von Erdogan durchgesetzten „Säuberungen“ richten sich gegen Gülen-Anhänger in Polizei, Militär, Justiz, Verwaltung, Bildungswesen und Medien. Mehr als 130 Zeitungen und andere Medien wurden ebenso geschlossen wie Schulen und Universitäten. Zuletzt nahm die Regierung auch Unternehmen ins Visier. Am Donnerstag gab es allein in Istanbul Razzien an mehr als 100 Orten. Die Aktionen würden von der Abteilung Wirtschaftskriminalität der Polizei geleitet und richteten sich gegen Anhänger der Gülen-Bewegung, meldete die Nachrichtenagentur Dogan. Außerdem seien zehn führende Mitglieder einer militanten linken Gruppierung festgenommen worden, die Anschläge in der Türkei verübt haben sollen.
taz. die tageszeitung
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Sexualisierte Gewalt: Tatort Sport - taz.de
Sexualisierte Gewalt: Tatort Sport Eine Studie hat die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Sportvereinen untersucht. Die Ergebnisse sind erschreckend. Wie sicher ist der Vereinssport? Die Studie geht von einer hohen Dunkelziffer unter Betroffenen aus Foto: Schreyer/imago BERLIN taz | Entzaubert und entromantisiert den Sport! Klärt schonungslos über Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auf! Und führt einen radikalen Systemwandel herbei, bei dem das Wohlergehen der Kinder und verletzlicher Gruppen an erster Stelle steht! Dazu muss sich der organisierte Sport dem Einfluss und der Kontrolle von unabhängigen Instanzen öffnen! Das ist etwas vereinfacht zusammengefasst die wuchtige Botschaft, welche die vier Verfasserinnen der Studie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“ formulieren. „Abschließende Empfehlungen“ nennen sie das. Wesentliches Ziel der Studie, so erklärte Autorin Bettina Rulofs bei der Präsentation am Dienstag in Berlin, sei es gewesen, das positive Bild des Sports zu brechen. Das Vorhaben darf man getrost als eingelöst betrachten. Wer die 173 Seiten liest, wird tatsächlich kaum noch an die segensreichen Versprechen des Sports, so gesundheitsfördernd, persönlichkeitsbildend und sozial integrativ zu sein, glauben. Im Jahr 2019 hatte die vom Bundestag eingesetzte Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Betroffene von sexueller Gewalt im Sport dazu aufgerufen, sich zu melden und ihre Geschichten zu erzählen. Wissenschaftlich ausgewertet haben die Gespräche und Berichte nun vier Autorinnen der Sporthochschule Köln. „Das Besondere an der Studie ist, dass sie in die Tiefe der persönlichen subjektiven Erfahrungen der Betroffenen hineinreicht“, sagte Heiner Keupp, Mitglied der Aufarbeitungskommission bei der Präsentation. So etwas habe es bislang nicht gegeben. In der Studie heißt es: „Das individuelle Leid der einzelnen Betroffenen kann zwar nur annähernd erfasst werden, aber es bekommt in dieser Studie ein besonderes Gewicht.“ Grundlage der Untersuchung sind Geschichten von 61 Betroffenen und 11 Fällen, die von Zeit­zeu­g:­in­nen dokumentiert wurden. Die meisten meldeten sich aus Fußball- und Turnvereinen. Sportarten, die zu den mitgliederstärksten Verbänden in Deutschland zählen. Etwa ein Viertel der Leidtragenden waren männlich, drei Viertel weiblich. Und in vier von fünf Fällen wurde die Gewalt von Trai­ne­r:in­nen verübt, wobei die Täter fast ausschließlich männlich waren. Die Mauern des Schweigens scheinen besonders dick Die Kosten der dunklen Seite des Sports sind gewaltig. So berichtet ein Betroffener: „Die Liste meiner Beschwerden seit den schmerzhaften Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe ist lang. Neben Flashbacks mit dem Gefühl, jemand liegt mit aller Gewalt und Macht auf mir und ich drohe zu ersticken, leide ich auch unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung, zudem habe ich einen Bandscheibenvorfall sowie starke Scham- und Schuldgefühle. Aufgrund all meiner Erkrankungen habe ich eine dauerhafte 50-Grad-Schwerbehinderung erhalten.“ Viele plagen sich mit Scham und Schuldgefühlen, aber auch hohen finanziellen Belastungen durch Psychotherapie Quantitative Aspekte von sexueller Gewalt im Sport sind ohnehin schwer zu erfassen. Das Dunkelfeld ist groß. Zwar haben erste wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema, wie die Safe Sport Studie im Jahre 2016, deutliche Hinweise auf eine große Zahl von Betroffenen sexualisierter Gewalt etwa im Profisport ergeben. Fünf Prozent der anonym befragten Sport­le­r:in­nen gaben damals beispielsweise an, körperliche sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Doch die Mauern des Schweigens scheinen im Kosmos des Sports besonders dick zu sein. Insgesamt haben sich bei der Aufarbeitungskommission trotz bundesweiter Aufrufe nur 117 Betroffene aus dem Sport gemeldet. Über 1.500 Anhörungen dagegen hat die Kommission in den letzten Jahren durchgeführt, als sie sich mit Betroffenen befasste, die Missbrauch in Familien, Kirchen oder staatlichen Institutionen der DDR erlebt haben. Keupp erklärte, man müsse das Thema im Sport noch mehr in das öffentliche Bewusstsein rücken. Es bewege sich aber auch schon manches. Die Recherchen und Berichte über sexuelle Gewalt häuften sich. Die jüngste Berichterstattung über den sexuellen Missbrauchs des Wasserspringers und olympischen Medaillengewinners Jan Hempel hätten viele Menschen berührt. Und die geringen Zahlen hätten natürlich auch mit den Strukturen, dem Fehlen unabhängiger Anlaufstellen zu tun. „Wer meldet sich schon bei dem Verein, wo er großen Missbrauch erlebt hat?“ Angela Marquardt, Betroffenenrat„Es geht nicht darum, noch die zweihundertste oder dreihundertste Geschichte zu hören“ Der organisierte Sport in Deutschland hat in den letzten Jahren durchaus erkannt, dass etwas getan werden muss. Es wird beispielsweise unter der Federführung der Deutschen Sportjugend fleißig an Präventionskonzepten gefeilt. Keupp spricht allerdings am Dienstag von einer „Flucht in die Prävention“, wie sie auch bei den Kirchen beliebt sei. Die Beschäftigung mit Geschehenem wird vermieden, weil sie mit einem großen Imageverlust und einem sich daraus ergebenden Handlungsdruck verbunden ist. Geschildert wird die „Normalisierung des Sexismus“ Es bräuchte mehr unabhängige Aufarbeitung von bekannten Fällen, auch um Prävention präziser ausrichten zu können. Auch wenn die Zahl der Betroffenen, die sich melden, gering ist, die aktuellen Auswertungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs verdeutlichen an Einzelbeispielen eindrücklich, wie groß das Versagen des organisierten Sports jeweils ist. Die Studie spricht von besonders „riskanten Strukturen“ im Sport, die „in dieser Form und diesem Zusammenspiel“ in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht zu finden sind, welche die Ausübung sexualisierter Gewalt ermöglichen. Geschildert wird anhand zahlreicher Beispiele die „Normalisierung des Sexismus“ im Sport, etwa wenn Trainer die Körper von Mädchen bewerten. Hinzu kommen verbreitete homophobe Einstellungen, die es von sexueller Gewalt betroffenen Jungen schwer machen, sich zu öffnen, weil sie nicht als schwul stigmatisiert werden wollen. Große Wirkung übt auch die Macht der Trainer durch das Prinzip der Auslese aus. Für eine Auszeichnung sind viele Betroffene bereit, ihre Gewalterfahrung zu verschweigen. Und in den familienähnlichen Strukturen der Vereine verschwimmt ohnehin das Bewusstsein für Grenzen, was zu nah ist oder nicht. Die Studie zeigt auch, dass Gewalterfahrungen von Opfern als normal und zum System gehörig betrachtet werden, weil Vereinsmitglieder häufig nicht einschreiten, obwohl sie Überschreitungen mitbekommen. Zwei Betroffene etwa haben der Aufarbeitungskommission über ihren Trainer erzählt: „Er hat abgefragt: ‚Wer von euch ist denn hier noch Jungfrau? – Ach, du bist noch Jungfrau, dem können wir Abhilfe schaffen, ich weiß genau, was Männer wollen, wir können das erste Mal haben‘, und so. Das hat er mit 13-Jährigen gemacht in der Turnhalle, wo noch andere Leute waren.“ Es sind viele Faktoren, die im Sport sehr spezifisch und toxisch zusammenwirken und zu einem erhöhten Risiko führen, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Ein Sonderkapitel der am Dienstag vorgestellten Studie widmet sich dem Sport in der DDR, wo das noch deutlich härtere Auslesesystem verbunden mit der politischen Bedeutungsaufladung des Sports besonders schreckliche Leidensgeschichten hervorbrachte. Kein Beitrag des Deutsche Olympischen Sportbunds Doch was folgt aus all diesen Erkenntnissen? Diejenigen, die sich mit ihren Geschichten der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs geöffnet haben, betonen zuvorderst die Notwendigkeit einer unabhängigen Anlauf- und Aufarbeitungsstelle. In kleinerem Maßstab hat das bereits die Vereinigung „Athleten Deutschland e.V.“ auf den Weg gebracht. Der Verein, der für die Interessen der nationalen Kaderathleten verantwortlich ist, setzt sich seit geraumer Zeit – mitunter auch gegen Widerstände des Deutschen Olympischen Sportbundes – für ein solch unabhängiges Zentrum ein und hat im Mai 2022 eine Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ in Betrieb genommen. Sie soll zumindest kurzfristig bei Notfällen helfen. Langfristig wirbt die politisch gut vernetzte Athleten-Vereinigung für ein unabhängiges, besser ausgestattetes und themenoffeneres Zentrum Safe Sport. Eigentlich hat sich dieser Initiative und diesem Projekt auch die Ampelkoalition im Bundestag verschrieben. Im Koalitionsvertrag ist für diese Legislaturperiode die Gründung eines unabhängigen Zentrums Safe Sport vorgesehen. Bei der Umsetzung scheint die Frage nach einer ausreichenden Finanzierung derzeit allerdings das Hauptproblem zu sein. Angela Marquardt, die im Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung sitzt und in Berlin am Dienstag auf dem Podium saß, findet es besonders kurios, dass der Deutsche Olympische Sportbund sich bislang gar weigert, seinen Beitrag dazu zu leisten. Die Maßgabe wäre wohl „Wasch meinen Pelz, aber mach mich nicht nass!“. Den Tag der Studienpräsentation nutzte Marquardt zu einem eindringlichen Appell. Die Ergebnisse der Studie hätten sie nicht wirklich überrascht. Es müsse aber nun endlich gehandelt werden. So gefiel ihr auch die Frage nach den wenigen Meldungen von Betroffenen sexueller Gewalt im Bereich des Sports nicht, weil damit, wie sie erklärte, die Verantwortung, dass etwas geschehe, diesen zugeschoben werde. „Wir haben viele Geschichten auf dem Tisch. Es geht nicht darum, noch die zweihundertste oder dreihundertste Geschichte zu hören.“
Johannes Kopp
Eine Studie hat die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Sportvereinen untersucht. Die Ergebnisse sind erschreckend.
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Ohne Punkt und Komma - taz.de
Ohne Punkt und Komma „Radix“ — eine französisch-russische Koproduktion. Westeuropäische Erstaufführung beim Festival „Perspectives“ in Saarbrücken  ■ Von Kai Voigtländer Radix — das Theater der Bilder im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: Von rechts nach links gleitet ein Damenhandtäschchen im Riesenformat über die Bühne, durchsichtig und von innen erleuchtet, mit damenhaften Accessoires im damenüblichen Durcheinander, und mittendrin im Damentäschchen sitzt ein Herr, der wispert und flüstert, zirpt und zwitschert leise Laute in unverständlicher Kunstsprache, Adam in Evas Reich, zärtlich und werbend. Schnitt. Langsam rollt ein Mädchen herein auf einem Wagen, eingespannt in ein Holzgestänge, Tänzerinnenkostüm, ganz in weiß, hell ausgeleuchtet, ihr Kopf steckt in einem kleinen Rechteck, ohne Bewegung steht sie da und singt, auf der Leinwand im Hintergrund eine Landschaft aus wogendem Korn, fast monochrom und doch in fein abgestuften Grünschattierungen, die Kamera steht lange und ruhig auf diesem Bild. Schnitt. Die Leinwand zeigt tote Köpfe, Reihen von Leichen, verbrannte Gesichter in Großaufnahme, die Tänzerin rollt zurück im gleichen Tempo, das Mädchen schreit und stöhnt, ohne auf die Bilder zu sehen, von hinten nähern sich dunkle Gestalten mit gleißenden Handlampen, ihre Strahlen tasten sich durch die riesige Halle, blenden, fangen Gesichter aus dem Publikum ein. Schnitt. Wieder das Kornfeld, der Wagen rollt in Gegenrichtung, die Handlampen verlöschen, die Gestalten ziehen sich zurück in das Dunkel, aus dem sie gekommen sind, das Mädchen singt. Schnitt. Leichen, die Tänzerin heult und würgt. Schnitt. Handlampen suchen Gesichter. Schnitt. Schnitt. Schnitt. Bizarre Bilder ohne Punkt und Komma. Radix besteht aus Endlosschleifen. Man gerät in ein Bild, dreht sich mit in der Mechanik der immergleichen Bewegungen, wird immer wieder ausgespuckt, in den nächsten Maschinenraum, während die anderen Bilder simultan weiterlaufen. Irgendwo hinter der Bühne oder auch nur vor dem inneren Auge, auf den Projektionsflächen des Gehirns. Ein visueller Orgasmus, der fast zweieinhalb Stunden lang pausenlos Bilder auswirft, Tableau an Tableau reiht, in ständigen, oft atemlosen Überkreuzmontagen aus hyperästhetisch kühlen Kunstwelten und ekelerregend realistischen Schlachthofszenen. Radix ist ein Marathon — in jeder Hinsicht. Vorne rechts auf der riesigen Bühne läuft ein Sportler auf einem Laufband gegen dessen Fahrtrichtung. Zweieinhalb Stunden lang, ohne Pause. Sein Laufschritt, über ein Mikrophon verstärkt, bildet das rhythmische Rückgrat der Aufführung. Hinter ihm läuft während seines ganzen Laufs eine langsame, wie von Amateuren gedrehte Kamerafahrt durch die Straßen von Leningrad. Zweieinhalb Filmstunden ohne Schwenk oder Perspektivenwechsel. Straßen, Plätze, das Winterpalais, eine Nevabrücke, Paläste, Trümmerfelder, Kooperativen-Läden, Kanäle, Passanten, Busse, Baustellen, Vorstädte. Das monotonste Roadmovie der Filmgeschichte, kein einziger Schnitt ist zu erkennen, Filmzeit gleich Echtzeit: das Kontinuum eines langsam fließenden Bilderstroms. Gleichmäßig zieht das Panorama Leningrads am Marathon-Mann vorbei, und jeder Zuschauer setzt die Bilder durch Tempo und Rhythmus seiner Blicke zum eigenen Film zusammen — wobei sich oft eigenwillige Parallelmontagen ergeben. Ganz am Anfang etwa, als der Leningrad-Film am Winterpalais vorbeiführt, marschieren auf der Hauptbühne — hinter einem hüfthoch hängenden Vorhang — 16 Beine in blauen und weißen Hosen zu einem Admirals- und Matrosenballett auf. Nichts als die Farbe der Hosen und der Marschrhythmus der Schritte — und daraus wird der Sturm auf das Winterpalais, und der Kronstädter Matrosenaufstand wird niedergeschlagen. Radix — das ist die Montage als Prinzip aller theatralischen Dinge: Revue und Rockkonzert, Performance und Figurentheater, Filmprojektion und Sportveranstaltung bilden ein Simultanereignis. Radix montiert kühl kalkulierten französischen Ästhetizismus mit slawischer Schwermut und Erdwärme. Radix ist die endgültige Theatermaschine: mal schnurrende Zahnradbahn, mal zusammenhangloses Geknäuel von Stangen und Rädern, mal vorbeirasender Güterzug. Alle Einzelteile heben sich ständig wieder auf, brechen und kommentieren und zitieren sich gegenseitig, haben nichts miteinander zu tun und greifen funktionierend ineinander. Entstanden ist dieses Spektakel aus einer Kooperation der französischen Theatergruppe „La Fabriks“ und dem „Théatre Intérieur d'Etat“, einer dissidentisch gesonnenen freien Gruppe aus Leningrad. Das Konzept stammt aus Frankreich, aber realisiert wurde die Produktion in der Sowjetunion — übrigens das erste Beispiel einer französisch-russischen Koproduktion seit 1914. Der 30jährige Regisseur Jean-Michel Bruyère hat den russischen Konstruktivismus der zwanziger Jahre adaptiert, speziell die Experimente und Theorien der Leningrader Gruppe Feks (was etwa „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ heißen soll). In Radix konfrontieren Bruyère und seine etwa zwanzig französisch- russischen Akteure den Konstruktivismus, in besseren Zeiten die ästhetische Avantgarde der Sowjetmacht, mit einem filmischen Schnittmuster des Alltags in der heutigen Sowjetunion. Und sie spielen den Eisensteinschen Schwarz-Weiß-Montagen aus der schmutzigen Arbeitswelt virtuos die Versatzstücke der bunten Waren- und Werbewelt zu, die uns rund um den Globus zur heiligen Konsumtion ruft — ohne Ansehen von Reichtum und Gesinnung. Aus einer orangefarbenen Plastikmülltonne zieht ein etwas schmieriger Sänger/Conferencier nacheinander ein Bügeleisen, einen Dampfkochtopf und andere nagelneue Konsumgüter heraus und präsentiert diese Banalitäten wie ein Kunstauktionator. Wie mag das im Sportpalast von Leningrad auf die Zuschauer gewirkt haben, als Radix dort vor einigen Wochen zum ersten Mal gezeigt wurde? Und wo ein funktionierendes Bügeleisen vermutlich so selten ist wie die blaue Mauritius? Solche Brisanz entfaltet sich natürlich am ehesten dort, wo der Mangel regiert. Bei der westeuropäischen Erstaufführung in Saarbrücken, wo Radix dem ansonsten müden Festival des jungen französischen Theaters den Glanz des Exotischen verlieh, schienen viele Bilder an der Gleichgültigkeit des Publikums abzuprallen [das „innere Auge“, die „Projektionsflächen des Gehirns“ des Betrachters in die Arbeit miteinbezogen habend, wird man wohl auch seine Gleichgültigkeit akzeptieren müssen, d.S.]. Von Saarbrücken aus macht sich die Konstruktivisten-Revue nun auf den Weg in den Festivalsommer, nach Paris, Hamburg, Berlin, Barcelona. Das sind die richtigen Orte für Radix: Die künstliche Revue-Welt, mit ihrer heroisierten Arbeit, ihrer ästhetisierten Geschwindigkeit, ihrem ironisierten Konsum, trifft auf ihr metropolitanes Vor- und Spiegelbild. Auf den Aufprall darf man gespannt sein. „Das Motorische, Mechanische, das sich automatisch Bewegende ist das filmische Urphänomen... Nie fühlt sich der Film so in seinem Element, als wenn er Bewegung, Geschwindigkeit, Tempo darzustellen hat.“ Arnold Hauser in Sozialgeschichte der Kunst
kai voigtländer
„Radix“ — eine französisch-russische Koproduktion. Westeuropäische Erstaufführung beim Festival „Perspectives“ in Saarbrücken  ■ Von Kai Voigtländer
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„Briefe an die Eltern“ von Jörg Fauser: Rebellentum und Über-Ich - taz.de
„Briefe an die Eltern“ von Jörg Fauser: Rebellentum und Über-Ich Jörg Fauser wollte sich nie an bürgerliche Spielregeln halten. Seine „Briefe an die Eltern“ dokumentieren die Genese eines Underground-Helden. Jörg Fauser mit seinem Vater Foto: Archiv Jörg Fauser Eine heile Kindheitswelt. „Pappi“ ist der Held, dem der naseweise Jörg gefallen will und nach dem Mund redet. Aber bereits mit 14 beginnt die Rebellion im Coca-Cola-Hinterland, die sich nicht zuletzt an der Anzahl der Ausrufungszeichen bemisst. Man kann den Kontext nur erahnen. Offenbar hat der auf Bildungsreise weilende, Karten schreibende Arthur Fauser seinen Sohn ein bisschen geneckt und ihm eine Karriere als Politiker prophezeit. Der jedenfalls antwortet mit einem bissigen Postskriptum: „Ob ich ein guter Politiker werde, wird die Zukunft und werde ich entscheiden!!!!!!!!!!!!!!!!! und niemals Du!!!!!!!!!!!!!“ Hier geht es los. Ein paar Jahre später flüchtet Jörg Fauser nach London, treibt sich in anarchistischen Kreisen herum und schwängert seine Freundin Stella. „Ich bin hier zum ersten Mal in meinem Leben glücklich, auch ohne viel Geld, ohne warmes Essen oder sonstigen Luxus“, schreibt er den Eltern am 13. Juli 1963. „Ich werde auf keinen Fall (dazu könnt ihr mich nicht zwingen!) weiter in die Schule gehen. Ich möchte, so wie hier, viel schreiben können; und, solange ich mich davon nicht ernähren kann (ich habe wirklich nicht viel nötig; das sehe ich, sehr befriedigt, hier), werde ich arbeiten, es gibt genug.“ Ein letztes Mal setzen sich die Eltern durch. Jörg macht sein Abitur und beginnt sogar ein Studium, bricht es aber nach ein paar Semestern wieder ab, um endlich Ernst zu machen mit der Literatur. Sein Vater schäumt. Er hat seine Gründe. Arthur Fauser ist bildender Künstler und gibt als Ernährer der Familie eine eher schlechte Figur ab. Das BuchJörg Fauser: „Man hängt halt so an dem, was man hat“. Briefe an die Eltern. Hg. und mit einem Vorwort von Peter Graf. Nachwort von Ronja von Rönne. Diogenes, Zürich 2023. 621 Seiten, 25 Euro Seine Frau Maria Razum arbeitet recht erfolgreich für Funk und Fernsehen, sie bezahlt die Rechnungen. Das kränkt den Alten, er will dem Sohn die eigenen Minderwertigkeitskomplexe ersparen, versucht ihn von einem Brotjob an der Universität oder im Literaturbetrieb zu überzeugen. Aber der winkt ab. Uni ist Zeitverschwendung „Ich halte mich weder für ein Genie noch sonst irgendwas, aber ich kenne mich gut genug um zu wissen daß ich keinen Akademiker, auch keinen geheuchelten, keinen Lektor etc. abgebe. Ich werde nicht auf die Universität zurückkehren, weil ich mich schlichtweg dort langweile u. weil es Zeitverschwendung ist“, schreibt er am 6. November 1965. Wieder ist er in London bei seiner Freundin Stella. Er brauche kein solches Sicherungsnetz und wolle es auch nicht. „Irgendwie kommen mir alle diese Leute sehr lächerlich vor, die mit Märtyrermiene ihr fettes Lektorengehalt beziehen und dabei unentwegt behaupten, sie tätens nur um nicht zu verhungern. Schließlich gibt es ja immer noch ehrlichere Arten, das bißchen Geld, was man wirklich braucht, zu verdienen.“ Hier zeigt sich schon früh Fausers Idiosynkrasie gegenüber den Literaturbeamten, die sich bereitwillig an die Spielregeln halten, den Schreibtischhelden, die viel gelesen haben, aber nichts erlebt. Seine Abneigung beruht dann auch auf Gegenseitigkeit, wie er bald feststellen muss. Jörg Fauser mit seiner Mutter Foto: Jörg Fauser Archiv Vorerst schlägt er einen anderen Weg ein. Er leistet Zivildienst in einem katholischen Krankenhaus, 1964 eine absolute Ausnahme, und bedient sich regelmäßig am Medikamentenschrank bei den Opiaten. Er wird süchtig und flieht nach Istanbul, wo alles nur schlimmer wird. „Ich konnte nicht schreiben, und hier sitze ich und platze und dreh mich im Kreis und fluche und spucke und krepiere an mir selbst und kriege kein Wort heraus. Ich weiß, daß ich endlich etwas schreiben muß, und schaffe es nicht“, klagt er am 26. Januar 1967. Entzug und Neuanfang Schließlich kommt er zurück, macht einen Entzug und fängt noch einmal neu an. Jetzt hat er einen Stoff, der im gerade sich formierenden literarischen Underground für Interesse sorgt, und er findet in William S. Burroughs’ Cut-up-Arbeiten Anregungen, wie der sich literarisch bewältigen lässt. Dass damit im bürgerlichen Kulturbetrieb nichts zu holen ist, merkt Fauser allzu bald. Sein erster längerer Prosatext, „Tophane“, handelt ihm Absagebriefe ein, die ihn verletzen und sein Ressentiment gegenüber dem bürgerlichen Mainstream noch verschärfen. Jörg Fausers bereits in den frühen Neunzigern erschienene und nun wiederaufgelegte „Briefe an die Eltern“ geben detailliert Aufschluss über seine intellektuellen Häutungen, weil der Gesprächsfaden selbst in den schwierigsten Lebensphasen nicht ganz abreißt, nicht mal während seines Absturzes in die Drogensucht. Die beiden bleiben trotz aller Kontroversen Fausers Vertraute. Leider fehlen – erneut – die Eltern-Briefe, und man hätte schon gern einen editorischen Hinweis über ihren Verbleib gehabt. Andererseits lassen die Echos in Fausers Antworten schon erahnen, was in ihnen gestanden haben mag. Bloß nicht normal sein Wiederholt sieht sich Fauser denn auch zu ausführlichen programmatischen Rechtfertigungsschreiben genötigt. „Mir ist vollkommen klar, daß ich weder für normale Mittelklasse-Horizonte noch für etwelche literarischen Kliquen noch überhaupt für irgendwelche Gruppen, Vereine, Normal- oder auch Nicht-Normal-Verbraucher akzeptabel bin, sondern ein Parasit, Asozialer, Deserteur, Rauschgifthändler und Zuhälter, Faschist oder Bolschewist, kurz immer das sein werde, was den Leuten nicht paßt“, schreibt er am 4. Februar 1970. „Ein paar Leute, auf deren Meinung ich mehr gebe als auf die irgendwelcher,gemachter' Literaten, erkennen in dem, was ich schreibe, sich oder ihre Welt oder ihre Halb-Welt oder was immer, wieder, ermutigen mich, so weiterzumachen; das genügt mir.“ Er meint natürlich die Cut-up-Szene, also Autoren wie Jürgen Ploog, Udo Breger, Carl Weissner und Burroughs selbst, und weiß, „irgendwann werde ich gedruckt und gelesen. Wie ich durchkomme, ist meine Sache, solange ich anderen nicht allzu sehr auf den Wecker falle oder auf der Tasche liege.“ Darum geht es immer wieder in seinen Briefen. Wie lässt sich die Subsistenz erwirtschaften, ohne zur rückgratlosen Betriebsnudel zu werden. Fausers Ausweg ist schließlich der Journalismus. Hier findet er bald regelmäßig Abnehmer für seine Texte. Mit Reportagen vom kulturellen Rand, angefangen bei seiner ersten großen Story für das Szenemagazin Twen über „Junk – die harten Drogen“ und engagierten Plädoyers für eine andere Weltliteratur, nämlich die von Chandler, Kerouac, Bukowski und Fallada, stößt er offenbar in eine Lücke. Erfahrungen aus zweiter Hand Er schätzt seine Chancen von Anfang an ziemlich gut ein. Er werde irgendwann reüssieren, und zwar „nicht, weil einem das gefällt, was und wie ich was schreibe, sondern weil ein gewisses Publikum Leute braucht, die Erfahrungen machen und sie hinterher denen, die nach Erfahrungen aus zweiter Hand dürsten, weil sie kraft eigener Leere nicht dazu fähig sind, verkaufen“. Und als er unter dem Einfluss von Bukowski, den amerikanischen Hard-boiled-Autoren und der eigenen journalistischen Arbeit umschwenkt auf einen knochentrockenen Milieurealismus, findet seine Literatur tatsächlich auch außerhalb der Gegenkultur Beachtung. Fauser hat seine beiden Professionen einander angenähert, die Literatur journalistischer und den Journalismus literarischer gemacht. Irgendwann war es ihm fast egal, was er unter der Feder hatte. „Manchmal gelingt es mir, etwas Brauchbares zu schreiben, manchmal nicht. Ich sehe allerdings prinzipiell keinen Unterschied zwischen einem guten Gedicht und einem guten Artikel – obschon ich weiß, daß das Gedicht in irgendeiner Endabrechnung mehr zählt. Aber warum? Es gibt bestimmt mehr gute Artikel gleich welchen Inhalts in der Welt als gute Gedichte“, schreibt er am 23. November 1977. „Natürlich ist diese Art Kulturvermittlung etwas strapaziös und mir fallen auch schon büschelweis die Haare aus (im Ernst): aber einmal halte ich sie letzten Endes für relativ wichtig, und 2. kommt erst das Fressen und dann der Lorbeerkranz, wenn überhaupt.“ Hochachtung für den Vater Am Ende hatte Arthur Fauser als väterliches Über-Ich dann eben doch enormen Einfluss auf seinen Sohn, und der hätte das auch nie in Abrede gestellt. Dankbarkeit, Wertschätzung und Liebe stehen hier nicht nur zwischen den Zeilen. Das ist anrührend zu lesen, wie der junge Autor allen Widerständen und Meinungsverschiedenheiten zum Trotz immer wieder seine Zuneigung gegenüber den Eltern zum Ausdruck bringt. Dazu gehört auch seine Hochachtung für das Werk des Vaters, dessen Arbeitsethos und Haltung. Weiter entfernt hatte sich Fauser nie wieder von ihm als Mitte der sechziger Jahre, und dennoch gelingt es ihm, von seinem Ärger abzusehen. „Gerade weil ich kein Maler geworden bin, wird mir jedes Wort, das ich schreibe, gewichtiger; und das Maß, mit dem Du gemessen hast, und die Beharrlichkeit, mit der Du an Deiner Kunst festgehalten und sie entwickelt hast, werden mir Vorbild sein und sind es schon bei meiner Arbeit … auch wenn Du es jetzt noch in dem, was ich schreibe, nicht erkennst.“ Auch das zeigt Fausers Größe.
Frank Schäfer
Jörg Fauser wollte sich nie an bürgerliche Spielregeln halten. Seine „Briefe an die Eltern“ dokumentieren die Genese eines Underground-Helden.
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NSU-Prozess in München: Zschäpe stellt Befangenheitsantrag - taz.de
NSU-Prozess in München: Zschäpe stellt Befangenheitsantrag Im NSU-Prozess hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe einen Befangenheitsantrag gegen die Richter gestellt. Der Prozess soll trotzdem wie geplant weitergehen. Prozess: Das Gericht soll Zeugen einseitig befragt haben, meinen Zschäpes Anwälte. Bild: dpa MÜNCHEN dpa | Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat im NSU-Prozess einen Befangenheitsantrag gestellt, der sich gegen sämtliche Richter des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts (OLG) München richtet. Ihr Verteidiger Wolfgang Stahl begründete den Antrag am Dienstag damit, dass das Gericht einen Zeugen einseitig befragt und entlastende Umstände ignoriert habe. Der wegen Unterstützung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ mitangeklagte Ralf Wohlleben schloss sich dem Antrag an. Die Bundesanwaltschaft und ein Anwalt der NSU-Mordopfer erklärten Zschäpes Antrag dagegen für absurd und deuteten an, er diene möglicherweise nur zur Prozessverschleppung. Das Gericht setzte die Verhandlung nach kurzer Unterbrechung fort. Auch die kommenden Prozesstermine sollen wie geplant stattfinden. Voraussichtlich bis zum Donnerstag soll ein anderer Richter des OLG über den Antrag entscheiden. Zschäpe hat in dem seit über einem Jahr laufenden Prozess bereits mehrere Befangenheitsanträge gestellt. Zuvor hatte ein mutmaßlicher Helfer der NSU-Terrorzelle bei seiner Zeugenvernehmung am Dienstag immer wieder Erinnerungslücken oder fehlende Kenntnisse geltend gemacht. Der Mann hatte im Münchner NSU-Prozess schon zuvor eingeräumt, dass er dem untergetauchten Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Unterschlupf in seiner Wohnung gewährt und Konzerte des inzwischen verbotenen Netzwerks „Blood & Honour“ mitorganisiert hatte. Er habe dabei aber nur eine untergeordnete Rolle gespielt und beispielsweise Bands abgeholt oder Bier ausgeschenkt. Er wisse auch nicht, wer in der Szene etwas zu sagen hatte, „das hat mich nicht interessiert“. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) soll zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge begangen haben. Motive sollen Fremdenhass und Hass auf den Staat gewesen sein.
taz. die tageszeitung
Im NSU-Prozess hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe einen Befangenheitsantrag gegen die Richter gestellt. Der Prozess soll trotzdem wie geplant weitergehen.
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Amtszeit zu Ende, nichts passiert - taz.de
Amtszeit zu Ende, nichts passiert Neue politische Absonderlichkeiten aus Usbekistan: Die Wahlperiode von Präsident Islam Karimow ist abgelaufen. Doch von Neuwahlen ist bislang nicht die Rede ALMATY taz ■ Der Basarhändler Dschachongir Schosalimow hat viel vor. Er will usbekischer Präsident werden. Wochentags verkauft der 53-Jährige auf dem Tschorsu-Basar in Taschkent Schnürsenkel, Sicherheitsklammern und Knöpfe. „Die Amtszeit des usbekischen Präsidenten Islam Karimow ist am 22. Januar 2007 abgelaufen“, sagte der Händler, „daher will ich kandidieren.“ Drei weitere Menschenrechtler des zentralasiatischen Staates haben den Hut ebenfalls in den Ring geworfen. Deren Kandidatur bleibt jedoch ein ohnmächtiger Protest, denn die Macht in Usbekistan will von Wahlen nichts wissen. Karimows Amtszeit ist seit knapp einem halben Jahr abgelaufen, doch in dem bevölkerungsreichsten Land zwischen dem Kaspischen Meer und der chinesischen Grenze sind keinerlei Wahlvorbereitungen zu beobachten. Nach der Verfassung dürfte der Potentat nicht ein drittes Mal kandidieren. Im Mai hat der kasachische Kollege Nursultan Nasarbajew vorgemacht, wie man diesen Vorbehalt innerhalb einer halben Stunde mit Hilfe eines hörigen Parlaments beseitigen und sich eine lebenslange Amtszeit sichern kann. Die Parlamentssitzung in der usbekischen Hauptstadt Taschkent am 30. Juni ließ Karimow jedoch verstreichen. Ende Dezember muss nach der usbekischen Verfassung gewählt werden, fast ein Jahr nach Ende der Amtszeit. Die Medien und die Regierungsstellen ignorieren das Thema vollständig. Nach Meinung des Hamburger Verfassungsrechtlers Ulrich Karpen ist Karimow „nur noch geschäftsführend im Amt“. Am 22. Januar 2000 hat Karimow vor dem Parlament den Eid abgelegt, damit begann die siebenjährige Amtszeit. Es sei einmalig, dass eine Verfassung die Wahlen nicht vor, sondern erst nach Ablauf der Amtszeit ansetze. Die EU hatte im Oktober 2005 gegen das Land Sanktionen beschlossen und diese im Mai 2007 verlängert. Die Strafmaßnahmen, die ein Einreiseverbot für hohe Regierungsmitglieder und ein Waffenembargo vorsehen, wurden in Brüssel nach dem Massaker von Andischan verhängt. Im Mai 2005 hatte Karimow einen Volksaufstand in der usbekischen Provinzstadt blutig zusammenschießen lassen. Das Präsidentenamt und Außenministerium verweigern auf Anfrage der taz jeglichen Kommentar. Im Wahlkalender der OSZE ist der 23. Dezember 2007 als Termin bereits eingetragen. Dafür gibt es jedoch noch keine offizielle Bestätigung. In Zentralasien und besonders in Usbekistan haben sich die Mächtigen nie um demokratische Wahlen bemüht. Mit offensichtlichen Wahlfälschungen hat sich Karimow 1991 gegen den damaligen Herausforderer Mohammad Solich den ersten Wahlsieg gesichert. 1995 hat ein Referendum die nächste Präsidentschaftswahl auf das Jahr 2000 verlegt. Diese gewann Karimow mit über 90 Prozent gegen einen Sparringspartner, der am Wahltag erklärte, ebenfalls für Karimow gestimmt zu haben. Im Jahr 2002 verlängerte ein erneutes Referendum die fünfjährige Regierungsvollmacht des usbekischen Präsidenten um weitere zwei Jahre. Diese Zeit ist nun abgelaufen. MARCUS BENSMANN
MARCUS BENSMANN
Neue politische Absonderlichkeiten aus Usbekistan: Die Wahlperiode von Präsident Islam Karimow ist abgelaufen. Doch von Neuwahlen ist bislang nicht die Rede
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■ Vorschlag: Vergessener Libanon: Ilyas Khoury liest im Haus der Kulturen der Welt - taz.de
■ Vorschlag: Vergessener Libanon: Ilyas Khoury liest im Haus der Kulturen der Welt Nachkriegsgesellschaften sind ein schlechtes Pflaster für Vergangenheitsbewältigung. Der Libanon, nach einem mehr als fünfzehnjährigen Bürgerkrieg als Staat eigentlich schon abgeschrieben, macht da keine Ausnahme. Eigentlich, so ist immer mal wieder aus Politikerkreisen zu hören, habe es ja gar keinen Bürgerkrieg gegeben, „nur einen Krieg anderer auf unserem Territorium“. Civil War? What Civil War? Mit Ilyas Khoury kommt nun ein libanesischer Schriftsteller nach Berlin, der sich konsequent gegen eine solche Kultur des Vergessens und Verdrängens wendet. Mit seinen Romanen, Theaterstücken und Drehbüchern hat er sich bemüht, die Erinnerung an die Schrecken und die – größtenteils nach wie vor unaufgeklärten – Verbrechen des Krieges wachzuhalten. Als Publizist und Mitbegründer des einzigen unabhängigen Theaters in Beirut ist er wesentlich am Aufbau einer Gegenöffentlichkeit beteiligt, die der staatlichen Wiederaufbaueuphorie ein Minimum an demokratischer Mitbestimmung abzuringen sucht. Für die libanesische Literatur, über die Ilyas Khoury sprechen wird, war die Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg eine ästhetische Herausforderung. Autoren und in stetig zunehmender Zahl auch Autorinnen, die darüber schrieben, sahen sich mit einem brutalen Aberwitz konfrontiert, den eine konventionelle realistische Schreibweise nicht mehr einfangen konnte. Romane wie Khourys „The White Faces“ oder Sahras Geschichte von Hanan al-Scheich erzählen in schnörkellos und eng an der gesprochenen Sprache orientiert Geschichten eines Kriegsalltags, in denen die Grenze zwischen Alptraum und Wirklichkeit nie klar zu ziehen ist. Ob das schöne neue Beirut, das auf den Entwürfen der Stadtplaner eher einem mediterranen Singapur gleicht, noch Platz für Menschen mit einer solchen Geschichte haben wird, bleibt abzuwarten. Ilyas Khoury jedenfalls läßt sich seinen Optimismus nicht nehmen: „Die neue herrschende Klasse will aus dem Libanon ein Hongkong des Petrodollar-Systems machen. Aber wenn die Emire kommen, kommen auch die, die von den Emiren gefoltert werden.“ Heiko Wimmen Heute, 20 Uhr, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee, Tiergarten
Heiko Wimmen
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Kolumne Macht: Glaubwürdig bleiben - taz.de
Kolumne Macht: Glaubwürdig bleiben Freuen wir uns erstmal über den Ausgang der Wahl in den Niederlanden. Und schauen dann nochmal wegen Geert Wilders genauer hin. Mark Rutte (Mitte) hat die Wahl gewonnen. Aber hat Geert Wilders (rechts) sie wirklich verloren? Foto: dpa Der Wahlsieg als Wille und Vorstellung. Oder, weniger hochtrabend: „Ich mach mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt.“ Ja, auch ich freue mich über das Ergebnis der Parlamentswahlen in den Niederlanden. Es ist eine große Erleichterung, dass der Rechtspopulist Geert Wilders es nicht geschafft hat, seine Partei zur stärksten politischen Kraft zu machen. Aber ihm eine Niederlage, eine „krachende“ gar, zu bescheinigen, zeugt von einer erstaunlichen Bereitschaft, „alternative Fakten“ für die Rea­lität halten zu wollen. In der Realität hat die PVV von Geert Wilders zwar geringere Zuwächse erzielt als kurz zuvor vorhergesagt worden war – aber doch fünf Sitze im Parlament hinzugewonnen. Die Partei von Ministerpräsident Mark Rutte, dem „strahlenden Sieger“ (Frankfurter Neue Presse), hat hingegen acht Sitze verloren. Die Sozialdemokraten sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. „Von den Niederländern lernen, heißt Freude lernen“, meint ein Kollege bissig. Recht hat er. Ich will da noch üben. Denn es hat sich ja als sinnvoll erwiesen, Wahlergebnisse oder Umfragen so zu interpretieren, dass das jeweils eigene Lager sich gestärkt fühlen kann. Das hat übrigens mit „Fake News“ oder „Lügenpresse“ nichts zu tun, solange alle Beteiligten ihre Sicht der Dinge darstellen können. Und solange die nüchternen Zahlen stimmen. Sehr viele Leute wollen gern zu den Gewinnern zählen, egal, worum es geht. Deshalb gebiert Erfolg weiteren Erfolg, und deshalb sind sogar kleine Niederlagen oder Missgeschicke nicht gut fürs Image. Das gilt nicht nur für die Politik. Selbstbetrug nicht übertreiben Die Stimmung ist gut, weil die Stimmung gut ist: Es gibt wohl niemanden, der oder die diesen Mechanismus nicht kennt. Wenn alle wild entschlossen sind, einen schönen Abend zu verbringen, dann ist schwarzes Grillfleisch nicht verbrannt, sondern eine neue, interessante Delikatesse. Ein Spielverderber, wer da nicht zustimmt. Einen oder zwei Tage nachdem Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt worden war, wurde ich von einem ausländischen Sender angerufen, der die Stimmung unter Journalistinnen und Journalisten in Berlin erkunden wollte. „Was muss geschehen, damit Schulz Kanzler wird?“ Die Frage machte mich – im wörtlichen Sinne – sprachlos. Nach langem Schweigen gab ich zu: „Tut mir leid, das überfordert meine Fantasie.“ Und heute, nicht einmal zwei Monate später? Finde ich es gar nicht überraschend, sondern eine geradezu zwangsläufige Entwicklung, dass die SPD in Umfragen durch die Decke geht, und halte für möglich, vielleicht sogar für wahrscheinlich, dass Martin Schulz der nächste Bundeskanzler wird. taz.am wochenendeEs ist das Wochenende des Martin Schulz: Am Sonntag wird er zum Kanzlerkandidaten und Vorsitzenden der Partei gekürt, die so gut dasteht wie lange nicht mehr. Welche Substanz dieser Höhenrausch hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 18./19. März. Außerdem: Im sächsischen Freital wird der rechten Terrorgruppe der Prozess gemacht. Eine Gerichtsreportage. Und: Warum fängt Gleichberechtigung in der Hose an? Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Es ist klug, angesichts übermächtig erscheinender Gegner nicht sofort zu verzagen. Noch klüger ist es, sich nicht von Rechtspopulisten erschrecken zu lassen. 85 Prozent der Bevölkerung, die mit denen nichts am Hut haben, dürfen nicht wie eine Schar von Kaninchen vor einer einzigen Schlange hocken und Demutsgesten machen. Sich aufzublähen, sich auf die Brust zu trommeln, den Eindruck zu erwecken, vor Kraft nicht laufen zu können: Das ist eine sinnvolle Strategie im Umgang mit politischen Wettbewerbern. Demokratischen und undemokratischen. Aber es gibt eine Grenze, jenseits derer die Selbstachtung leidet, will man noch ernst genommen werden. Und deswegen muss ich sagen: Nein, Geert Wilders hat die Wahl nicht verloren, sondern gewonnen. So schön es ist, dass er sein Ziel verfehlt hat und seine Partei nicht stärkste Kraft geworden ist. Man sollte den Selbstbetrug auch nicht übertreiben. Ich bin überzeugt: Man kann die AfD auch kleinhalten, wenn man glaubwürdig bleibt. Gerade dann.
Bettina Gaus
Freuen wir uns erstmal über den Ausgang der Wahl in den Niederlanden. Und schauen dann nochmal wegen Geert Wilders genauer hin.
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Sexarbeit in Zeiten von Corona: Auf der Strecke geblieben - taz.de
Sexarbeit in Zeiten von Corona: Auf der Strecke geblieben Während fast überall Corona-Maßnahmen gelockert werden, bleiben Bordelle geschlossen. Prostituierte fordern, das zu ändern. Sex mit Maske? In Berlin protestieren Menschen für die Öffnung von Bordellen Foto: Christoph Soeder/dpa BERLIN taz | Es ist die letzte Sitzung des Bundesrats vor der Sommerpause. Mehrere Dutzend Prostituierte haben sich am Freitagmorgen vor dem Gebäude, in dem bald die 16 Ministerpräsident*innen eintreffen sollen, zusammengefunden. Sie demonstrieren für die Wiedereröffnung von Bordellen in Deutschland. Damit Prostituierte nicht weiter in die Illegalität getrieben werden, müssen die Länder jetzt handeln, fordern die Demonstrierenden. Seit Beginn der Corona-Pandemie verbieten die Bundesländer das „Betreiben eines Prostitutionsgewerbes“. Auch die Vermittlung von Prostitution ist tabu. In 10 von 16 Bundesländern ist zudem das Erbringen von sexuellen Dienstleistungen an sich ausdrücklich untersagt. Bordelle bleiben geschlossen, Tabledance-Bars und Klubs ebenso. Als einziges Bundesland hatte Rheinland-Pfalz angekündigt, Bordelle ab Mitte Juni wieder zu öffnen – um dann einen Rückzieher zu machen. Die finanzielle Situation der Sexarbeiter*innen wird indes immer schwieriger. Staatliche Hilfen, die beispielsweise an Soloselbstständige ausgeschüttet wurden, erreichen die Prostituierten häufig nicht, weil nur Betriebskosten übernommen werden. Für die meisten Sexarbeiter*innen entstehen die jedoch nur, wenn sie tatsächlich arbeiten. Wer keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltstitel hat, fällt ohnehin durch die sozialen Sicherungssysteme. Lebenshaltungskosten bleiben jedoch unverändert bestehen. Um die abzufangen, hatten der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V., die Beratungsstelle Hydra und die Diakonie Baden-Württemberg zu Beginn der Corona-Krise Nothilfefonds aufgelegt. „Inzwischen sind die Töpfe leer“ erklärt Stephanie Klee, die als Sexualassistentin in Alten- und Behinderteneinrichtungen arbeitet. Gefährliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Stattdessen werden die Sexarbeiter*innen ans Jobcenter, Tafeln und die Obdachlosenhilfe verwiesen. „Das verletzt unseren Stolz“, erklärt Klee, „wir wollen autonom sein, wir wollen keine staatlichen Hilfen.“ Hinzu komme für viele die Sorge, von Behörden für ihren Beruf diskriminiert zu werden. Die Hürde, zum Jobcenter zu gehen, ist hoch. Das gegenwärtige Arbeitsverbot in 10 der 16 Bundesländer bedeutet für viele Sexarbeiter*innen neben der existenziellen Not vor allem eines: eine gefährliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. „Wenn wir durchs staatliche Raster fallen, haben wir keine Wahl und müssen trotzdem anschaffen gehen“, erklärt Klee. In sechs Bundesländern sind Haus- und Hotelbesuche erlaubt. Die Sicherheit eines Bordells fällt für die Prostituierten jedoch weg. „Viele Kolleg*innen wissen nicht, was sie bei einem Hotelbesuch beachten müssen, um sich zu schützen“, warnt sie. Dass Kontaktsportarten wie Boxen und Ringen wieder erlaubt sind, Massage- und Tatoostudios wieder öffnen dürfen, während Bordelle geschlossen bleiben sollen, „entbehrt jeder Logik“, schreibt der Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen in seiner Pressemeldung. „Dass auf unseren Berufsstand herab geschaut wird, zeigt sich auch daran, dass sich lange niemand von sich aus an einen Tisch gesetzt hat“, erklärt auch Klee, „Wir werden totgeschwiegen“. In der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Österreich und Tschechien ist Sexarbeit inzwischen wieder erlaubt. Der Bundesverband fordert, Bordelle auch hierzulande wieder zu öffnen – mit den entsprechenden Hygienekonzepten: So sollen beispielsweise Besuche von Kund*innen dokumentiert, ein Mund-Nasenschutz getragen und die Räume regelmäßig desinfiziert und gelüftet werden. In Tabledance-Bars, Kinos und Klubs soll ein Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden. Zumindest mit Sachsen, Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ist der Berufsverband nun im Gespräch.
Franziska Schindler
Während fast überall Corona-Maßnahmen gelockert werden, bleiben Bordelle geschlossen. Prostituierte fordern, das zu ändern.
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Krieg in der Ukraine: Geländegewinne und Nebelkerzen - taz.de
Krieg in der Ukraine: Geländegewinne und Nebelkerzen Russland räumt mehrere wichtige Verteidigungsstellungen im Süden der Ukraine. Gleichzeitig greifen Moskaus Truppen im Osten des Landes an. Feuer frei: Ukrainische Soldaten feuern am 12. August unweit von Bachmut auf russische Stellungen Foto: Libkos/ap BERLIN taz | Die Fronten in der Ukraine geraten immer stärker in Bewegung – aber ein einheitliches Bild zeichnet sich noch nicht ab. Im nördlichsten Bereich der 1.500 Kilometer langen Frontlinie versucht Russland offenbar, in Richtung der Stadt Kupjansk vorzustoßen, rund zehn Kilometer von der Front entfernt. Von bis zu 100.000 russischen Soldaten dort ist die Rede und die Ukraine erließ vergangene Woche eine Evakuierungsanordnung für Dutzende Siedlungen. Russische Geländegewinne, die über ein bis zwei Kilometer hinausgehen, sind jedoch nicht belegt. Manche Kommentatoren meinen, dass die Ukraine die Lage bei Kupjansk bewusst überdramatisiere, damit Russland in der Hoffnung auf einen großen Erfolg Truppen aus anderen Frontbereichen dorthin verlegt. Dies würde der Ukraine dort helfen, wo sie ihre eigenen Offensivbemühungen konzentriert: an der Südfront in den Gebieten Saporischschja und Donezk. Dass die Ukraine „16 bis 20 Kilometer vorgerückt“ sei, wie die unabhängige Webseite Kyiv Independent in der Nacht zu Sonntag meldete, erscheint übertrieben. Am Wochenende waren ukrainische Einheiten an der Südfront allerdings dabei, zwei Orte rund zehn Kilometer hinter der ursprünglichen Front einzunehmen, die Russland seit Wochen besonders hartnäckig verteidigt hatte, um eine größere Entfaltung der ukrainischen Gegenoffensive abzublocken. „Die halbe Brigade betrinkt sich hinter der Front“ Sowohl aus Urozhaine sowie aus Robotyne weiter westlich wurden am Samstag und Sonntag Aufnahmen einrückender ukrainischer Soldaten und schwerer Kämpfe verbreitet. Urozhaine liegt direkt neben Staromajorske, dessen Einnahme Ende Juli den ukrainischen Einheiten den Weg in Richtung der russischen Hauptverteidigungslinie gen Mariupol freigemacht hatte; solange Urozhaine noch russisch besetzt war, waren weitere Vorstöße in dieser Richtung aber nicht möglich. Am Sonntag verbreitete das ukrainische Verteidigungsministerium Satellitenaufnahmen, die zeigen sollen, wie russische Soldaten zu Fuß aus Urozhaine fliehen und dann von ukrainischer Streumunition eingeholt werden. Ein russischer Militärblogger bestätigte auf Telegram: „Heute wurde das Dorf Urozhaine aufgegeben.“ Er beschuldigte eine Panzereinheit der 37. russischen Brigade in der Nachbarschaft, der eigenen Infanterie die Unterstützung verweigert zu haben: „Sie behaupteten, dass sie kein Personal zum Kämpfen übrig haben. In Wirklichkeit ist die halbe Brigade damit beschäftigt, sich hinter der Front zu betrinken, und ihre Offiziere können sie nicht zur Vernunft bringen. Aber aus irgendeinem Grund wird immer noch die 37. Brigade an die wichtigsten Frontabschnitte geworfen und überlässt diese erfolgreich dem Feind.“ Wachsende Aufmerksamkeit erzeugen auch die zunehmenden Überquerungen des Dnipro, der seit November 2022 bei Cherson die Frontlinie bildet. Immer öfter halten ukrainische Einheiten Brückenköpfe auf dem russisch besetzten Südufer des Flusses. Russland wiederum setzt seine Angriffe auf zivile Ziele fort. Bei einem Artillerieangriff auf Schyroka Balka an der Mündung des Dnipro-Flusses nahe Cherson wurden nach ukrainischen Angaben mindestens sieben Menschen getötet, darunter Kinder. Zudem feuerte Moskau nach eigenen Angaben am Sonntag erstmals Warnschüsse auf ein Frachtschiff im Schwarzen Meer ab, das den Hafen von Ismajil ansteuerte.
Dominic Johnson
Russland räumt mehrere wichtige Verteidigungsstellungen im Süden der Ukraine. Gleichzeitig greifen Moskaus Truppen im Osten des Landes an.
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Kommunales Wahlrecht: Unmündiger als Teenies - taz.de
Kommunales Wahlrecht: Unmündiger als Teenies Die Ampelkoalition will das Wahlalter auf 16 senken, doch Dritt­staa­te­r*in­nen dürfen nicht mal kommunal wählen. Protest der Initiative „Wahlrecht für alle“ Foto: Christian Mang Olaf Scholz wurde zum 9. Bundeskanzler der BRD gewählt. Wir wünschen ihm viel Erfolg und eine glückliche Hand. In einem Punkt aber wird er diese glückliche Hand mit aller Wahrscheinlichkeit nicht haben: mehr Demokratie. Aber haben die Ampelparteien das Wahlalter nicht sogar auf 16 Jahre auf Bundesebene senken wollen, für mehr Beteiligung? Genau hier liegt das Problem: Während Teenager auf Bundesebene künftig wählen können sollen, dürfen erwachsene Menschen aus Drittstaaten nicht einmal auf kommunaler Ebene wählen. Die Ampelparteien halten Mi­gran­t*in­nen ohne deutschen oder EU-Pass also offenbar für unmündiger als 16-jährige Teenager. Dabei wollten die Ampelparteien doch „mehr Fortschritt wagen“. Viele positive Maßnahmen wurden im Koalitionsvertrag vorgesehen, insbesondere in den Bereichen Vielfalt und Teilhabe. Darunter auch die fällige Erleichterung bei der Einbürgerung, etwa durch die Hinnahme der Mehrstaatigkeit oder für die Gast­ar­bei­te­r*in­nen-Generation, die viel für den Wohlstand unseres Landes geleistet hat. Lobenswert ist auch die Übernahme unserer Forderungen, ein Partizipationsgesetz zu verabschieden und einen Partizipationsrat einzuführen. Das Wahlalter auf Bundesebene auf 16 zu senken, gehört auch zu diesen positiven Maßnahmen. Gleichzeitig aber findet die Einführung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige keine Erwähnung. Die Dreierkoalition signalisiert damit, dass sie Mi­gran­t*in­nen auf kommunaler Ebene für politisch nicht mündig genug hält, um mitbestimmen zu können. Wer hier lebt, aber keinen deutschen Pass oder die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitglieds hat, bleibt damit Zaungast in der Kommunalpolitik – im Herzen der Beteiligung – und wird von wichtigen Entscheidungen vor der Haustür ausgeschlossen. Das wiederum ist Gift für das Vertrauen in demokratische Kultur. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir fordern die neue Bundesregierung dazu auf, zügig die Erweiterung des kommunalen Wahlrecht auf Drittstaater in die Hand zu nehmen.
Memet Kilic
Die Ampelkoalition will das Wahlalter auf 16 senken, doch Dritt­staa­te­r*in­nen dürfen nicht mal kommunal wählen.
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Stromausfall in Fukushima: Kühlsysteme lahmgelegt - taz.de
Stromausfall in Fukushima: Kühlsysteme lahmgelegt Ein Defekt in der Stromversorgung legte mehrere Kühlsysteme für die Abklingbecken in der Atomanlage lahm. Die Kühlung für Reaktoren soll nicht betroffen sein. Bei mehreren Abklingbecken ist die Kühlung ausgefallen. Bild: dpa TOKIO dpa | Nach einem Stromausfall im havarierten Atomkraftwerk Fukushima haben Reparaturtrupps am Dienstag mit Hochdruck am Wiederanfahren der Kühlsysteme gearbeitet. Betroffen sind die Abklingbecken der Reaktoren 1,3 und 4 sowie ein weiteres Abklingbecken. Teilweise konnten die Kühlsysteme auch schon wieder zum Laufen gebraucht werden, berichtet der Betreiberkonzern Tepco. Am Vorabend war es vermutlich wegen einer defekten Behelfs-Schaltanlage zum Stromausfall gekommen. Bis Mittwochmorgen (Ortszeit) werde die Kühlung aller vier betroffenen Abklingbecken wieder funktionieren, hofft Tepco. Die Kühlung des Abklingbeckens am Reaktor 1 sei bereits am frühen Dienstagnachmittag wieder in Gang gesetzt worden. Die Kühlsysteme der Becken der Reaktoren 3 und 4 will Tepco möglichst gegen 20.00 Uhr Ortszeit wieder zum Laufen bringen. Ein weiteres Becken werde jedoch noch bis zum kommenden Morgen benötigen, hieß es. Wie japanische Medien unter Berufung auf den Betreiber Tepco weiter meldeten, soll die Zufuhr von Wasser zur Kühlung der beschädigten Reaktoren Nummer 1 bis 3 nicht beeinträchtigt. In diesen Reaktoren war es in Folge des Erdbebens und Tsunamis vom 11. März 2011 zu Kernschmelzen gekommen.
taz. die tageszeitung
Ein Defekt in der Stromversorgung legte mehrere Kühlsysteme für die Abklingbecken in der Atomanlage lahm. Die Kühlung für Reaktoren soll nicht betroffen sein.
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Jenseits ritualisierten Gedenkens - taz.de
Jenseits ritualisierten Gedenkens Unprätentiöser und nachhaltiger zur Erinnerung anregen als Mahnmale: Eine Ausstellung und eine Installation von Karin Guth dokumentieren den nationalsozialistischen Völkermord an den Hamburger Sinti und Roma Der Zeitpunkt ist Zufall. Kurz nach der Ausstellung ihres Erinnerungsprojekts „Bornstraße 22“ vor zwei Jahren hat Karin Guth begonnen, zu den Folgen zu recherchieren, die der nationalsozialistische Rassismus für die in Hamburg lebenden Sinti und Roma gehabt hat. Damals konnte sie nicht ahnen, dass pünktlich zur Präsentation der Ergebnisse ein Spiegel-Dossier einmal mehr einen Streit zwischen den verschiedenen Opfergruppen des NS herbeireden würde, ohne jeden äußeren Anlass. Deshalb passt der Termin jetzt ganz gut. Denn mit einem Projekt wie diesem lässt sich ganz unprätentiös zur Erinnerung anregen. Und statt einen Wettstreit der unterschiedlichen verfolgten Gruppen im NS zu beschwören, wird einfach am Beispiel einer dieser Gruppen ein Stück Geschichte rekonstruierbar gemacht. Karin Guth, Initiatorin und alleinige Organisatorin des Projekts, setzt mit der Installation „Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Sinti und Roma“ das künstlerisch-dokumentarische Verfahren fort, mit dem sie bereits an diejenigen Hamburger Juden erinnert hat, die zwangsweise in dem von den Nazis Judenhaus genannten Gebäude in der Bornstraße untergebracht waren, bevor sie in die Lager des Ostens deportiert wurden. Ähnlich wie damals hat Guth aus intensiven Interviews mit Überlebenden ein Stück Hamburger Geschichte destilliert. Die Installation ist ausdrücklich zum Betreten und zum Anfassen gedacht. Eine hohe Wand trennt die zweigliedrige Einrichtung. Auf ihrer einen Seite hat Guth vor Blümchentapete zwei grüne Sitzmöbel um einen Tisch gruppiert, auf ihm ein paar Fotoalben. In ihnen sind die biografischen Geschichten einzelner Hamburger Sinti – damals lebten kaum Roma in Hamburg – zu betrachten. Den Text hat sie zwischen erstaunlich vielen privaten Fotos aus mehreren Jahrzehnten Lebenszeit aufs Transparentpapier der Alben gedruckt. Die anheimelnde Atmosphäre wird nachhaltig gebrochen durch den Tapetenaufdruck: Eintragungen aus den Deportationslisten. Bereits im Mai 1940, lange vor der ersten Deportation jüdischer Hamburger, ging ein Transport mit dem Großteil norddeutscher Sinti und Roma nach Polen. Den Seitenaufdrucken der Wand lassen sich die groben Fakten der Verfolgung und Vernichtung entnehmen, aber auch Fälle einer fortgesetzten Diskriminierung und Gängelung derjenigen, die aus den Lagern heimkehren konnten, durch Hamburger Beamte und britische Besatzungsorgane. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wand hat Guth einen „Täterraum“ reinszeniert. An einem Schreibtisch lassen sich in dicken Ordnern die Erlasse, Behördenschreiben und Namenslisten einsehen, die für die als “Zigeuner“ stigmatisierten Menschen aus Hamburg so folgenschwer gewesen sind. Hier zieren Fotos von Polizeikollegen und Schäferhunden die Wand. Weil sie die zeitgenössischen Dokumente und ihre Sprache nicht unkommentiert lassen wollte, hat Guth sie abschnittweise kritisch zusammengefasst. Diesmal hat Guth ihre Erinnerungsinstallation mit einer großen Ausstellung gerahmt. Denn über die Deportationen, den Einsatz als Zwangsarbeiter und die Ermordung von insgesamt 500.000 europäischen Roma und Sinti ist – anders als über diejenige der Juden – bis heute wenig bekannt. Zur Verfügung gestellt hat die Stellwände über den Völkermord das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Roma und Sinti. Zu sehen ist beides seit dem vergangenen Freitag im Leo-Lippmann-Saal der Finanzbehörde am Gänsemarkt. JANA BABENDERERDE Ausstellung: Mo–Fr 10–18 Uhr, Sa + So 12–18 Uhr, Leo-Lippmann-Saal, Finanzbehörde, Gänsemarkt 36, bis 8.2.; Vortrag von Wolfgang Wippermann, „Die Sinti und Roma im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg“: Sa, 17.1., 16 Uhr, Ausstellungsraum; Film „Ein einzelner Mord“ (über die Ermordung von Anton Reinhardt): So, 18.1., 19 Uhr, Metropolis; weitere Filme und Veranstaltungen siehe Flyer
JANA BABENDERERDE
Unprätentiöser und nachhaltiger zur Erinnerung anregen als Mahnmale: Eine Ausstellung und eine Installation von Karin Guth dokumentieren den nationalsozialistischen Völkermord an den Hamburger Sinti und Roma
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Strom aus Holz: Vattenfalls zwielichtige Afrika-Connection - taz.de
Strom aus Holz: Vattenfalls zwielichtige Afrika-Connection Vattenfall lässt aus liberianischen Kautschukbäumen Brennstoff machen – für deutsche Kraftwerke. Damit könnten aber alte Abhängigkeiten gefördert werden. Die Bäume, die Vattenfall in dem ehemaligen Bürgerkriegsland schreddern lässt, haben Kautschuk geliefert. Jetzt sind sie nutzlos. Bild: marc engelhardt BUCHANAN/BERLIN taz | Auf der Suche nach neuen Energiequellen geht der Vattenfall-Konzern in Westafrika fragwürdige Allianzen ein. Der Stromversorger will Holz für geplante deutsche Biomassekraftwerke in Liberia kaufen. Dafür kooperiert Vattenfall über eine Firmenbeteiligung mit Großbetreibern von Kautschukbaum-Plantagen. Dort, kritisieren Menschenrechtler, herrschten Zustände wie zu Zeiten der Sklaverei. Die Baumplantagen hatten nach dem Bürkerkrieg in Liberia lange brachgelegen. Die toten Stämme, die heute kein Kautschuk mehr liefern, werden jetzt von dem Unternehmen Buchanan Renewables zu Holzchips gehäckselt. Die alten Bäume ersetzt Buchanan durch neue. Mit dem Wiederaufbau der Plantagen allerdings, warnt Transparency International Liberia, werde das alte Unrecht aus Sklavenzeiten manifestiert, als Großgrundbesitzer Einheimische dort unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten ließen. „In den Achtzigern und Neunzigern hat das zum Bürgerkrieg geführt; das kann wieder passieren“, sagte Thomas Nah, der Direktor der liberianischen Sektion von Transparency International der sonntaz. Vattenfall ist seit einigen Wochen mit 20 Prozent an Buchanan Renewables beteiligt. Der Energiekonzern will in den kommenden Jahren in Berlin drei neue Biomassekraftwerke bauen, um seinen CO2-Ausstoß deutlich zu senken. In Berlin und im umliegenden Brandenburg findet sich allerdings nicht genug Holz, um die Kraftwerke zu befeuern. Ab 2020 rechnet Vattenfall mit einem Bedarf von einer Million Tonnen jährlich. Um ihn zu decken setzt das Unternehmen auf „internationale Biomasseströme“. Nicht nur in Westafrika werde man Holz einkaufen, denkbar seien auch Lieferungen aus Ländern wie Russland, Kanada oder die USA, sagte Vattenfall-Vorstand Frank May der sonntaz: „Liberia ist nur ein erster Schritt.“ Vattenfall verspricht, sich dafür einzusetzen, dass die Erzeugung und der Transport des Brennholzes ökologisch und sozial gerecht geschieht. „Egal woher das Holz kommt, es muss nachhaltig produziert und transportiert worden sein“, sagt Vattenfall-Vorstand Frank May. Dafür entwickelt das Unternehmen gerade einen Kriterienkatalog. Aufgrund der engen Verflechtung von Politik und Konzernen in Liberia könnte es allerdings schwierig werden, die Einhaltung der Kriterien zu überprüfen. Buchanan Renewables gehört mehrheitlich der Stiftung des kanadischen Millionärs John McCall MacBain. McCall MacBain engagiert sich in Liberia nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Großspender. „Buchanan Renewables hat wegen seiner Spenden sehr gute Verbindungen zu Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf", sagt Thomas Nah. sonntaz-Recherchen zufolge macht Buchanan Renewables liberianischen Farmern Versprechungen zu ihrem Lebensunterhalt, die am Ende schwer einzuhalten sind. Wie es dazu kommt, warum kein Pfeffer wächst und was das mit der Armut in dem ehemaligen Bürgerkriegsland zu tun hat, davon erzählt die Ganze Geschichte der aktuellen sonntaz.
J. Gernert
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Fachsprache beim Golf: Vögelchen, Adler und ein Giftgeier - taz.de
Fachsprache beim Golf: Vögelchen, Adler und ein Giftgeier Selbst Golfer haben zuweilen Probleme mit den Begrifflichkeiten ihres Sports. Wie soll es da erst NichtgolferInnen ergehen? Eine kleine Einführung. Drei Schläge unter Par? Deutschlands Golflegende Bernhard Langer feiert jedenfalls sein Spiel Foto: Steve Feeney/imago Auch langjährige GolferInnen machen ihre Fehler. Auf dem Platz sowieso, da gelingt das immer wieder sehr erfolgreich. Golfer nutzen zudem liebend gern falsche Begriffe. So wird Birdie fälschlich gern Birdy geschrieben. Ein Birdie ist ein besonderer Vogel im Golfsport. Näheres später. Vor allem nennen Schlägermenschen die Driving Range oft Driving Ranch. Eine solche Driving Range ist ein Trainingsterrain, meist überdacht, wo man auf eine weite Wiese Übungsbälle prügelt. Range heißt Bereich, also ist es der Übungsbereich. Aber eben keine Ranch – auch wenn Driving Ranges in der Version Holzhütte manchmal so aussehen. Wie kann man dann erwarten, dass NichtgolferInnen alle Begriffe richtig kennen? Zum Beispiel, was ein Par von einem Birdie von einem Eagle von einem Quadruplebogey unterscheidet. Fangen wir mit dem Par an. Par steht für Professional Average Result und bezeichnet das durchschnittliche Profi-Ergebnis auf einer Spielbahn. Ein kurzes Par 3 (150-220 Meter lang) schafft er/sie also mit drei Schlägen. Wobei es laut Statistik bei Profis längst eine 2,9 ist, bei einem Par 4 eine 3,8 und bei einem Par 5 (ab etwa 450 Meter) fast nur noch 4,6. Bösartiger Kobold Das Par ist historisch jünger als das Bogey. Bogey bedeutet ein Schlag mehr als ein Par. Früher war ein Par für Amateur-Wiesenhacker deutlich seltener als heute, weshalb ein Bogey, im 19. Jahrhundert noch „Ground Score“ genannt, also Durchschnittsergebnis, sozusagen als Amateur-Par galt. Der Begriff Bogey soll vom schottischen „bogle“ abgeleitet sein und bezeichnet einen bösartigen Kobold. Den imaginären Mitspieler Mr. Bogey galt es zu besiegen. Das Doublebogey ist nicht etwa ein doppeltes Bogey (also eine 10 auf einem Par 4), sondern ein Schlag mehr als ein Bogey. Also: Par 4, Bogey 5, Doublebogey 6, Triplebogey 7, Quadruplebogey: …genau. Schlimm wird es beim Archaeopteryx, dem Flugsaurier also: So nennt man das unterirdische Ergebnis von 15 Schlägen auf einer Bahn oder mehr. Womit wir uns der Ornithologie nähern. Das Birdie, so was wie ein golferisches Vögelchen, bezeichnet einen Schlag unter Par. Die Profis von heute nehmen es als normales Wunschergebnis wahr, das ihnen meist kaum mehr als ein Lächeln abverlangt. Hobbyspieler mit nur wenigen Birdies pro Jahr ballen danach die Faust oder veitstanzen kurz mit der Fahne; und sie müssen allen, die es nicht hören wollen, gleich nach der Runde stolzbrüstig davon berichten. Ein Eagle, also ein stolzer Adler, bezeichnet noch einen Schlag weniger als ein Birdie, das ist also ein Supervogel: zwei Schläge unter Par. Die nächste Steigerung ist der Albatros oder amerikanisch Double-Eagle: drei Schläge unter Par, also auf einer Par 5-Bahn mit dem zweiten Schlag drin im winzigen Loch von der Größe eines Bierdeckels. „3 unter“ kommt bei vielen hundert Profiturnieren im Jahr mit je hundert und mehr Akteuren nur wenige Male vor. Dann veitstanzen auch die Profis. Und angeblich erst sechsmal in der Golfgeschichte gab es einen Condor (amerikanisch Doube-Albatros): Das heißt „4 unter“, also ein Hole in One auf einer wahrscheinlich steinharten Par 5-Bahn, zudem bergab, mit reichlich Rückenwind und noch mehr Glück. Erst einmal schaffte jemand „4 unter“ mit zwei Schlägen bei einem seltenen Par 6 von 640 Metern Länge. Amateure lechzten ihr ganzes Golferleben nach dem großen Zufallsschuss, der zumindest zum Eagle ins Loch eintaucht. Oft erfolglos, so wie bislang auch der Autor dieser Zeilen: War er wohl nicht oft genug auf der Driving Ranch respektive Range. Dafür unterlief ihm, was hiermit schamgebeugt offenbart sei, vor Jahren einmal ein Archaeopteryx. Das lag an einem bösen Bogey-Kobold, diesem Giftgeier, der schon am Abschlag gleich vier Bälle mit überirdischen Kräften ins Aus gesaugt hatte.
Bernd Müllender
Selbst Golfer haben zuweilen Probleme mit den Begrifflichkeiten ihres Sports. Wie soll es da erst NichtgolferInnen ergehen? Eine kleine Einführung.
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das wird: „Jüdische Themen authentisch und überzeugend transportieren“ - taz.de
das wird: „Jüdische Themen authentisch und überzeugend transportieren“ Die dritten Jüdischen Filmtage in Hamburg zeigen kommende Woche vier Spielfilme und eine Dokumentation über ein Attentat in Tel Aviv Interview Wilfried Hippen taz: Frau Friedler, was ist ein jüdischer Film? Man könnte ja zum Beispiel jeden Film von Steven Spielberg, der jüdischer Abstammung ist, in diese Kategorie packen. Elisabeth Friedler: Für uns ist ein jüdischer Film immer dann gegeben, wenn er einen Bezug zur jüdischen Lebenswelt hat und aus einer jüdischen Perspektive erzählt wird. Auch im dritten Jahr bleiben die Jüdischen Filmtage mit fünf Filmvorführungen eine eher kleine Veranstaltung. Reizt es Sie nicht, mehr Filme an mehr Tagen zu zeigen? Wir wollten klein anfangen und in den letzten beiden Jahren sind die Filmtage zwar vom Publikum gut aufgenommen worden, aber es gab in den Coronjahren auch schwierige Auflagen. Deshalb haben wir uns gesagt, wir haben lieber fünfmal die Kinos voll als mehr Veranstaltungen, zu denen dann nur zehn oder zwanzig Zuschauer und Zuschauerinnen kommen. Da bleiben wir lieber klein und fein. Nach welchen Kriterien wählen Sie diese fünf Filme aus? Wir zeigen neue Produktionen, die noch nicht in Hamburger Kinos oder im Fernsehen gezeigt wurden. Wir wollen inhaltlich und stilistisch eine möglichst breite Streuung erreichen, aber auch international divers sein, also Filme aus möglichst vielen verschiedenen Ländern und in vielen verschiedenen Sprachen anbieten. In diesem Jahr sind zwei der fünf Filme aus Israel und einer ist eine israelisch-polnisch-kolumbianische Koproduktion. Das hat sich in diesem Jahr so ergeben. Den Eröffnungsfilm „My Neighbor Adolf“ mussten wir einfach nehmen, weil er sehr skurril und schauspielerisch großartig gelungen ist. Die Dokumentation „Closed Circuit“ hat uns durch die Art der filmischen Darstellung überzeugt, denn dort wird nur anhand der Aufnahmen von Überwachungskameras von einem Attentat im Zentrum von Tel Aviv erzählt. Und dann wollten wir mit einem heiteren Film schließen und „Humus Full Trailer“ bietet einen verrückten komödiantischen Abschluss. Elisabeth Friedler ist Kultur­referentin der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Seit 2021 organisiert sie die Jüdischen Filmtage Hamburg. Der Film „March ’ 68“ ist dagegen eine rein polnische Produktion. Diesen Spielfilm haben wir ausgewählt, weil er einen historischen Bezug hat, der vielen Menschen gar nicht bewusst ist, nämlich den staatlichen Antisemitismus im Polen der späten 1960er-Jahre. Erzählt wird dies am Beispiel der Liebesbeziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem nichtjüdischen Mann Muss man also nach Ihrer Definition gar kein Jude und keine Jüdin sein, um einen jüdischen Film zu machen? Ich finde, wenn nichtjüdische Regisseure, Autoren oder Darsteller in ihren Filmen ein jüdisches Thema authentisch und überzeugend transportieren können, dann spielt ihre Herkunft für mich keine Rolle. Es ist keine Bedingung, dass die Filmschaffenden, deren Filme wir zeigen, unserem Glauben angehören müssen. Das entscheidende Kriterium bei der Auswahl bleibt immer die Qualität eines Films. Jüdische Filmtage Hamburg: So, 25. 6., bis Do, 29. 6., in den Kinos Metropolis, Zeise und Passage; Programm und Infos: https://juedischefilmtage.hamburg
Wilfried Hippen
Die dritten Jüdischen Filmtage in Hamburg zeigen kommende Woche vier Spielfilme und eine Dokumentation über ein Attentat in Tel Aviv
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Arbeitskampf bei BIllig-Airline: Eurowings-Pilot:innen streiken - taz.de
Arbeitskampf bei BIllig-Airline: Eurowings-Pilot:innen streiken Wegen des Arbeitskampfs der Pi­lo­t:in­nen am Donnerstag werden wohl rund 250 Flüge streichen. Bis zu 30.000 Pas­sa­gie­r:in­nen könnten betroffen sein. Flughafen Köln: Am Donnerstagmorgen fielen bereits zahlreiche Eurowings-Flüge aus Foto: Benjamin Westhof/dpa BERLIN rtr/afp | Nach der Streikankündigung der Pi­lo­t:in­nen der Fluggesellschaft Eurowings sind am Donnerstag erste Flüge des Unternehmens ausgefallen. So wurde eine Verbindung am frühen Morgen vom Flughafen Köln/Bonn zur griechischen Insel Rhodos annulliert, wie aus der Internetseite des Flughafens hervorging. Der Pilot:innen-Streik bei Eurowings könnte im Lauf des Donnerstags etwa 30.000 Pas­sa­gie­r*in­nen treffen und den Flugbetrieb von Eurowings Deutschland zur Hälfte lahmlegen. Die Billigflugtochter der Lufthansa ging zuletzt davon aus, dass nur rund die Hälfte des normalen Programms von gut 500 Flügen stattfinden könne. Die Piloten-Gewerkschaft Vereinigung Cockpit hatte zum Arbeitskampf von 0 bis 23.59 Uhr aufgerufen. Die Verhandlungen über den Manteltarifvertrag bei Eurowings seien gescheitert, auch zehn Gesprächsrunden hätten zu keiner nennenswerten Annäherung geführt, argumentiert die Vereinigung Cockpit (VC). Zentrale Forderung der VC sei die Entlastung der Beschäftigten etwa durch die Reduzierung der maximalen Flugdienstzeiten sowie die Erhöhung der Ruhezeiten. Eurowings besteht aus zwei Flugbetrieben. Betroffen vom geplanten 24-stündigen Arbeitskampf sind nur Flüge von Eurowings Deutschland, nicht die von Eurowings Europe. Die Airline versucht die Streik-Folgen für Fluggäste so gering wie möglich zu halten. Personalchef Kai Duve hatte die Arbeitsniederlegung als unverhältnismäßig und unverantwortlich bezeichnet. Im September hatten bereits die Pi­lo­t:in­nen der Lufthansa gestreikt. Über 800 Flüge mussten gestrichen werden. Auch das Lufthansa-Bodenpersonal hatte im Sommer gestreikt, bevor sich die Gewerkschaft Verdi im August mit dem Konzern über einen neuen Tarifvertrag einig wurde.
taz. die tageszeitung
Wegen des Arbeitskampfs der Pi­lo­t:in­nen am Donnerstag werden wohl rund 250 Flüge streichen. Bis zu 30.000 Pas­sa­gie­r:in­nen könnten betroffen sein.
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Was alles nicht fehlt - taz.de
Was alles nicht fehlt: Der DFL ein Rechtsstreit mit Bremen: Im Streit zwischen der Stadt Bremen und der Deutschen Fußball Liga hat die DFL nun eine Klagebegründung eingereicht. Nachdem Bremen hohe Gebühren für die großen Polizeieinsätze bei Fußballspielen verlangte, stufte die DFL dies als rechtswidrig ein. In der verfassten Begründung heißt es, Gewalttätigkeiten im Fußball seien ein „allgemeines, gesellschaftliches Problem“. Fußballspiele seien keine hinreichende Begründung für die verlangten Gebühren. Das Verwaltungsgericht Bremen muss die Klagebegründung nun beurteilen. Es geht konkret um Einsatzkosten für zwei sogenannte Risikospiele und drei weitere Spiele der Saison 2015/16. Demba Ba eine Hoffnung auf Genesung: In einem chinesischen Ligaspiel hatte sich Ex-Hoffenheimer Demba Ba eine schwere Verletzung zugezogen. Die Diagnose: Schien- und Wadenbeinbruch. Trainer und Medien vermuteten ein Karriereende, doch der 31-Jährige teilte nun mit, weitermachen zu wollen: „Das wird mich nicht aufhalten. Ich komme wieder, das ist sicher.“
Gustav Suliak
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Raffinesse verleiht Flügel - taz.de
Raffinesse verleiht Flügel Nach allen Regeln der Kunst: Juli Zeh vertraut in ihrem Debütroman „Adler und Engel“ auf eine unverzierte Sprache In einer Welt überfüllter Seminare scheint das Deutsche Literaturinstitut zu Leipzig wie ein gesonderter Raum. Der insulare Charakter des ehemaligen Johannes-R.-Becher-Instituts entsteht aus Lebhaftigkeit in Abgeschiedenheit. Studenten, die Schriftsteller werden wollen, prüfen sich darin gegenseitig. Wie im Vorgriff auf ihre Verhältnisse bei korrekter Berufsausübung hört in ihrer Zone immer mal wieder alles auf, während in der Nachbarschaft Musiker üben. Unter solchen Umständen glückte Juli Zeh ein Debüt, das im Ausstoß der Verlage monolithisch aufragt. „Adler und Engel“ ist ein Roman nach den Regeln der Kunst, wunderbar durcherzählt bei straff gehaltenem Handlungsfaden. Man ahnt an vielen Stellen, dass narrative Überschüsse zurückgestutzt wurden, so wie vermutlich blendende Bilder einfacheren Ausführungen aus Prinzip weichen mussten. Ihren Einfallsreichtum verschwendete die 27-jährige Zeh allein auf die Handlung. Ihr Vertrauen in eine unverzierte, zuerst den Aussagen dienenden Sprache ist kaum zu glauben. So unverspielt wie Juli Zeh trat lange keine mehr an. Diese Annonce eines außerordentlichen Debüts lässt erwarten, das sein Gegenstand in drei Sätzen fassbar wird. Die Anlage des Romans gleicht indes einem verwinkelten Prospekt. Hier passiert das Entscheidende in verstellten Räumen. Hält man sich dabei an die Figur, die „ich“ sagt, geht es mit einem Kokainisten bis auf den harten Boden tödlicher Tatsachen. Der Erzähler hatte einen miesen Start. Seine Jugend war in Fett verpackt, ein Akne-Festival von Armut flankiert. In der Trostlosigkeit steckte aber etwas Erhebendes: eine Saat, die aufging. Der verkorkste Knabe mausert sich zum koksenden, auf das Völkerrecht konzentrierten Prädikatsjuristen, der mit den Attitüden eines Master of the universe die osteuropäischen Krisen und Kriegsflüchtlingsbewegungen für eine internationale Organisation in Wien mit Vertragsentwürfen begleitet. Er gibt den Papiertiger im Sprung auf die Klauseln, anstatt den Verelendeten der europäischen Bürgerkriege als Anwalt zur Seite zu stehen. Pompös ist auch der Auftritt seiner Kollegen. So weit, so ekelhaft. Die Spannung des Romans kommt aber daher, dass ihre Arbeit ferner von krimineller Energie vorangetrieben wird. Die Routen der Flüchtlinge sind zugleich Pfade, auf denen Rauschgift in die Kühlschränke Westeuropas gelangt. Die kühlen, hochrangig akkreditierten Administratoren des Drogengeschäfts stützen sich auf Vollstrecker: auf Männer, die zu Kriegsverbrechern vertrauliche Beziehungen unterhalten, soweit sie sich nicht selbst an Kriegsverbrechen beteiligen. Das hält sie von Kindesliebe nicht ab. Die eher einseitige Liebe des Erzählers zu der Tochter eines Warlords steht im Zentrum des Romans. Jessie erscheint als eine Art heiliger Närrin, ebenso luzide wie verrückt. Der ganze Abgrund ihrer Raffinesse bleibt dem Erzähler lange verborgen. Er entdeckt sie in Spuren am Ausgangspunkt der Handlungsgegenwart, den Jessies gewaltsamer Tod abgibt. Davon schockiert, vertraut sich der Erzähler einer Psychologiestudentin an, die sein Desaster zum Thema ihrer Diplomarbeit macht. Die Geschichte entwickelt sich im Spiegel dieser bizarren Arbeitsbeziehung. Dabei gelingt es Zeh, sämtliche Erwartungen, die den Handlungsfortgang betreffen, zu düpieren. Wann immer man zu wissen glaubt, wie der Hase durch den Roman läuft, schlägt er einen Haken. Juli Zeh ist auch Juristin. So wie ihr Held in „Adler und Engel“ möchte sie einmal für eine internationale Organisation arbeiten. Auf diesem Weg der – in ihrer Isolation beschwerlichen – Existenz einer Berufsschriftstellerin entgehen zu können, ist ein Glück, das Juli Zeh ebenso viele Flügel zu verleihen scheint, wie im Romantitel vorkommen. JAMAL TUSCHICK Juli Zeh: „Adler und Engel“. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2001, 445 Seiten, 46 DM
JAMAL TUSCHICK
Nach allen Regeln der Kunst: Juli Zeh vertraut in ihrem Debütroman „Adler und Engel“ auf eine unverzierte Sprache
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Neun Antworten zur Krise: Griechen, was nun? - taz.de
Neun Antworten zur Krise: Griechen, was nun? Heute debattiert der Bundestag über die Bürgschaft für Griechenland. Die taz erklärt, warum Deutschland am meisten zahlt, wer von der Krise profitiert - und wieso die Gefahr noch nicht gebannt ist. Dunklen Wolken über Athen: Wieso? Weshalb? Warum? Bild: ap 1. Wie kommen EU und IWF auf 110 Milliarden Euro Kredithilfe für Griechenland? So viel Geld, gerechnet über drei Jahre, ist nötig, um Griechenland vor dem Staatsbankrott zu retten. Das haben die Verhandlungen zwischen der EU, dem Internationalen Währungsfonds und der griechischen Regierung ergeben. Das Rettungspaket soll etwa ein Drittel der derzeitigen griechischen Staatsschuld abdecken. Das Land soll seine Zahlungsverpflichtungen der kommenden 18 Monate sowie die Zinsen für seine Anleihen in den kommenden drei Jahren bedienen können. 2. Warum bürgt Deutschland für das meiste Geld? Die 110 Milliarden Euro Kredithilfe teilen sich der IWF und 15 Mitgliedsstaaten der Euro-Zone auf; Letztere übernehmen rund 80 Milliarden. Deutschland übernimmt gemäß seiner Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft den Löwenanteil der staatlichen Hilfen, nämlich 22,4 Milliarden. Diese stellt die staatliche KfW-Bank zur Verfügung, der Bund bürgt dafür. 3. Wer ist schuld an der Krise? Der Fastbankrott Griechenlands hat viele Ursachen: wirtschaftliche Schwäche, Korruption, Bilanztricks, Spekulation. Zunächst: Die griechische Wirtschaft (wichtige Branchen sind Tourismus, Reedereien, Landwirtschaft, Nahrungsgüterproduktion) ist international kaum konkurrenzfähig. Die Folge ist ein enormes Defizit in der Leistungsbilanz. Griechenland produziert weniger, als es verbraucht, und es exportiert weniger, als es importiert. Seit der Einführung des Euro kann Griechenland seine Exportschwäche nicht mehr durch Abwertung der eigenen Währung lindern; zudem verlor Griechenland gegenüber seinem wichtigen Handelspartner Deutschland an Boden, weil hierzulande die Lohnstückkosten vor der Wirtschaftskrise sogar sanken. In Griechenland ist die Korruption weit verbreitet, der Staat zieht Steuern (zum Beispiel Mehrwertsteuer und Einkommenssteuer bei Reichen) nicht konsequent ein. Nachdem die neue Regierung von Giorgos Papandreou im Oktober 2009 das wahre Ausmaß des Defizits offenlegte, wurde Griechenland zu einem gefundenen Fressen für Spekulanten auf den internationalen Finanzmärkten, die auf einen Bankrott des Landes wetteten. 4. Warum ist Griechenland zahlungsunfähig? Ein Staat gilt als insolvent, wenn er Zinsen und Tilgung seiner Schulden nicht mehr bezahlen kann. Wie Griechenland: Am 19. Mai laufen Staatsanleihen ab, für die Griechenland inklusive Zinsen 8,2 Milliarden Euro an die Gläubiger zurückzahlen muss. Normalerweise würde dies mit der Ausgabe neuer Staatstitel erledigt. Dieser Weg ist aber versperrt, weil die Anleger zuletzt keine griechischen Staatsanleihen mehr kaufen wollten - oder so horrende Zinsen forderten, dass an eine spätere Tilgung nicht zu denken wäre. Zwar besitzt das Land noch Volksvermögen, das ändert aber nichts an der mangelnden Liquidität. Es zu verkaufen, würde keinen Bankrott verhindern, sondern eine Auflösung Griechenlands bedeuten. 5. Wer profitiert von der Krise in Griechenland? Die Rettungsaktionen kommen den Gläubigern Griechenlands zugute. Sie können jetzt hoffen, dass ihre Staatsanleihen bedient werden, und müssen sie vorerst nicht abschreiben. Nicht jeder dieser Gläubiger ist ein Spekulant. Viele Versicherungen und auch Banken haben vor Jahren lang laufende griechische Staatsanleihen gekauft und sich dabei auf die exzellenten Bewertungen der Ratingagenturen verlassen. Allerdings gibt es auch kurzfristig agierende Spekulanten, die nun von der Griechenlandhilfe profitieren. Gewinne hat beispielsweise eingefahren, wer griechische Anleihen aufgekauft hat, als die Risikoprämien am höchsten waren. Mit Gewinnen kann auch rechnen, wer Kreditversicherungen auf Griechenlandanleihen verkauft hat. Die Versicherungsprämie ist kassiert, aber der versicherte Ausfall ist bei vielen Anleihen nicht mehr zu befürchten, weil der Internationale Währungsfonds und die Europäische Union einsteigen. 6. Ist die Gefahr, dass Griechenland pleite geht, gebannt? Nein. Zum einen reichen die geplanten Hilfen nur so weit, dass sich Griechenland bis Anfang 2012 refinanzieren kann. Getilgt wären die Staatsschulden damit aber noch nicht, die Zinsbelastung bliebe gigantisch. Und wie viel das Sparpaket zum Schuldenabbau beitragen kann, ist unklar, da die Kürzungen zugleich das Wirtschaftswachstum bremsen. Zum anderen ist es auch möglich, dass Griechenland den Auflagen von IWF und EU gar nicht nachkommen kann und diese die Zahlungen einstellen. Ökonomen fordern deshalb einen Schuldenschnitt. Das entspräche einer Art geordneter Staatsinsolvenz, für die es offiziell kein Verfahren gibt. Eine Versammlung aller Gläubiger, also der Geberländer, der Banken und auch der Finanzmagnaten in Griechenland, müsste beschließen, auf einen Teil der Forderungen zu verzichten. 7. Wie kann die EU dazu beitragen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt? Als Sofortmaßnahme könnte an den Finanzmärkten der Handel mit Produkten und Leerverkäufen verboten werden, mit denen gegen Länder oder Währungen spekuliert werden kann. Ein Insolvenzrecht für Staaten würde dafür sorgen, dass die Lastenverteilung bei Überschuldung vorab geregelt wird. Zudem sollte die Statistikbehörde Eurostat eigenständig Daten erheben dürfen, um Krisensymptome früh zu erkennen. Auch eine europäische Ratingagentur mit transparenten Kriterien könnte hier helfen. Mittel- und langfristig braucht die Europäische Währungsunion eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, wie sie die EU-Kommission vorgeschlagen hat. Sie könnte die Fiskal- und Steuerpolitik der Mitgliedsländer koordinieren und dafür sorgen, dass die das System destabilisierenden Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen ausbalanciert werden. 8. Wird der Euro überleben? Wahrscheinlich ja, obwohl Griechenland nicht das einzige Euro-Land in der Krise ist. Als gefährdet gelten auch Portugal, Spanien, Irland und Italien. Allein die Italiener müssen bis zum Jahresende auf den Finanzmärkten Darlehen von mehr als 200 Milliarden Euro aufnehmen. Bei den Spaniern sind es fast 100 Milliarden. Diese Summen machen die Anleger nervös - obwohl die Ratingagentur Fitch Spanien erst am Dienstag mit der Bestnote AAA versehen hat. Wenn die Märkte auch für Italien oder Spanien enorme Risikoprämien verlangen sollten, werden IWF und EU erneut mit Krediten einspringen müssen. Trotzdem dürfte die Angst vieler Bürger vor einer Inflation unbegründet sein. Stattdessen dürften die Preise voraussichtlich eher sinken, weil die Löhne in vielen Ländern fallen und die Firmen unter immensen Überkapazitäten leiden, wie beispielsweise in der Automobilindustrie. 9. Wer würde denn Deutschland helfen, wenn es in eine Krise gerät? Niemand. Sollte Deutschland jemals eine Staatspleite drohen, könnten andere Länder nicht mehr helfen - sie wären längst vorher bankrott. Die Bundesrepublik gehört weltweit zu den finanziell stärksten Staaten. Sie ist sogar weit gesünder als die USA. Zwar häufen Bund, Länder und Kommunen Defizite auf, doch dafür sind die Bundesbürger - im Gegensatz zu beispielsweise den US-Amerikanern - fast schuldenfrei. Der deutsche Staat kann seinen Kreditbedarf also bei den eigenen Bürgern decken. Zudem ist Deutschland nicht im Ausland verschuldet, sondern häuft dort Guthaben durch die Exportüberschüsse auf. Falls also Deutschland jemals in eine existenzielle Krise geraten sollte, wäre dies das Zeichen, dass das weltweite Finanzsystem am Abgrund steht. Dann bleibt nur noch der totale Crash.
U. Herrmann
Heute debattiert der Bundestag über die Bürgschaft für Griechenland. Die taz erklärt, warum Deutschland am meisten zahlt, wer von der Krise profitiert - und wieso die Gefahr noch nicht gebannt ist.
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Eine Schule fürs Leben? - taz.de
taz🐾thema: kind & kegel die verlagsseiten der taz Eine Schule fürs Leben? Die Wahl der Schulform kommt heute oft schon einer Weichenstellung gleich. Konfessionell, anthroposophisch, international – was alternative Schulmodelle bieten Entscheidend is auf'm Platz: Aber nicht an allen Schulen wird nach denselben Regeln gespielt Foto: Gerhard Hagen/poolima/laif Von Nicolas Flessa Seit 1992 hat sich die Anzahl der Privatschulen in Deutschland verdoppelt; über 730.000 Schülerinnen und Schüler besuchten 2016 bereits private Bildungseinrichtungen. Längst sind private Schulen keine Einrichtungen der gesellschaftlichen Elite mehr. Durch eine Vielzahl pädagogischer Ansätze und Organisationsstrukturen stehen sie auch Kindern aus einkommensschwächeren Familien offen. Was aber veranlasst Eltern, die selbst eine staatliche Schule besucht haben, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken? Wie eine 2017 veröffentlichte Studie der Universität Passau zeigt, geben schlechte Erfahrungen mit Regelschulen nicht selten den Ausschlag, sich für eine Privatschule zu entscheiden. Als weitere Motive werden die Hoffnung auf einen wertschätzenden Umgang mit dem Kind, die Vermeidung von Leistungsdruck, der Erhalt der Lernfreude des Kindes, aber auch die Kompetenz der jeweiligen Einrichtung im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung genannt. Neben diesen positiven Zuschreibungen spielt, der Autorin der Studie Christina Hansen zufolge, auch die Kompensation von Schwächen des eigenen Kindes eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Wahl einer Privatschule. Mag die grundsätzliche Entscheidung für eine nichtstaatliche Schule auch auf diese Motive zurückzuführen sein, so ist am Ende doch meist die persönliche Einstellung der Eltern maßgeblich. Denn das Spektrum an alternativen Schulformen ist breit. Die Waldorfschule ist zweifellos die bekannteste alternative Schulform. Obwohl sie im kommenden Jahr stolze 100 Jahre alt wird, ist sie voll im Trend. Der Bund der Freien Waldorfschulen zählt deutschlandweit 244 Rudolf-Steiner-Schulen – 64 Schulen mehr als noch vor 14 Jahren. Ein Charakteristikum dieser anthroposophisch geprägten Schulen bildet, neben dem Wegfall des Sitzenbleibens und der klassischen Zensuren, ein entwicklungsorientierter Lehrplan und die besondere Betonung des künstlerisch-handwerklichen Unterrichts. Dabei bieten Waldorfschulen anerkannte Schulabschlüsse an – von der Mittleren Reife über die Fachhochschulreife bis hin zum Abitur. Eine andere Möglichkeit, den eigenen Kindern eine wertegebundene Ausbildung zuteil werden zu lassen, ist eine der zahlreichen konfessionsgebundenen Einrichtungen in Deutschland, die mit rund 2.000 von insgesamt 5.800 Schulen in privater Trägerschaft bis heute zahlenmäßig eine klare Führungsrolle einnehmen. Kurioserweise besuchen trotz der größeren Anzahl evangelischer Schulen fast doppelt so viele Schüler die katholische Alternative – unter anderem durch zahlreiche kleine Neugründungen evangelischer Schulen in den neuen Bundesländern. Eine Mitgliedschaft in der jeweiligen Kirche ist in der Regel nicht vorgeschrieben, kann aber bei der Aufnahme des Schülers eine Rolle spielen. Die Lehrinhalte orientieren sich bis auf das Fach Religion fast immer an den staatlichen Lehrplänen, auch im Fall der wenigen jüdischen Einrichtungen. Wer es lieber unabhängig von Staat und Kirche mag, für den könnten Demokratische Schulen, auch Freie Alternativschulen genannt, die richtige Bildungsstätte sein. Ihr Konzept umfasst neben selbstbestimmtem Lernen auch eine demokratische Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler. Dieses im Gedankengut der 1970er Jahre wurzelnde Schulkonzept geht im Kern auf die Forderungen des Pädagogen A. S. Neill und die von ihm gegründeten Summerhill und die davon abgeleiteten Sudbury-Schulen zurück. In Schulversammlungen werden basisdemokratisch Verhaltensregeln verabschiedet, die für alle gelten. An die Stelle von Lehrplänen tritt das Vertrauen in die angeborene Lust der Kinder zu lernen. Lehrer, meist nur Erwachsene genannt, unterstützen sie dabei, anstatt Druck oder Kontrolle auszuüben. Auch Montessori-Schulen, von denen es derzeit an die 400 in Deutschland gibt, verfolgen den Gedanken, den Schüler zu befähigen, ohne ihn zur Bildung zu zwingen. Im Gegensatz zu den Waldorfschulen spielt hier die künstlerische Ausbildung keine zentrale Rolle, wichtiger sind die sogenannten Materialien, die den Schülerinnen und Schülern bei aufkeimendem Interesse von den Pädagogen dargeboten werden, darunter das Sinnesmaterial, Sprachmaterial und Mathematikmaterial. Andere Formen alternativer und privat organisierter Schulen haben weniger die Freiheit und Selbstbestimmung des Kindes im Blickfeld, als den späteren wirtschaftlichen Erfolg. Beispiele sind Internationale Schulen, die als Vorbereitung für Auslandsstudien verstanden werden können. Sie ähneln mit ihrer Ausrichtung an (inter-)nationalen Lehrplänen eher staatlichen Einrichtungen als Waldorf- oder Montessori-Schulen. Auch Internate wie Schloss Salem oder Schloss Torgelow gehören zu dieser Gruppe von Privatschulen, die ein ganz anderes Bild privater Ausbildung in die Öffentlichkeit transportieren: leistungsorientierte Kaderschmieden für die gesellschaftliche Elite von morgen. So oder so gilt: Die Entscheidung, sein Kind keiner staatlichen Schule, sondern einer Privatschule anzuvertrauen, sollte in jedem Fall gründlich geprüft werden, etwa anhand konkreter Schulbesuche und Gespräche mit Schülern und Lehrern. Sie kann sich als wichtigste Weichenstellung in der Frühphase der kindlichen Entwicklung erweisen – und wird zweifellos große Auswirkungen auf sein späteres Weltverständnis haben. Welcher Schultyp für das eigene Kind geeignet ist, sollte daher nicht nur den Überzeugungen der Eltern geschuldet sein, sondern auch das spezifische Wesen des Kindes berücksichtigen. Umso wichtiger ist es, das eigene Kind früh in den Prozess dieser Entscheidung einzubinden; in welchen Umgebungen fühlt es sich wohl? Welche Art des Lernens liegt ihm schon jetzt – und welche Tätigkeiten fallen ihm leicht? Wer das Konzept der alternativen Schulen ernst nimmt, kommt nicht umhin, die Selbstbestimmung des Kindes als einen wesentlichen Motor menschlicher Entwicklung zu betrachten – wo, wenn nicht bei der Wahl der Schule, sollte dieser Respekt vor dem Wesen des Kindes eine nicht zu überhörende Rolle spielen?
Nicolas Flessa
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Viel Wald, kein Herz - taz.de
Viel Wald, kein Herz Dem Blockbuster-Fluch erlegen: Terry Gilliams neuer Film „Brothers Grimm“ macht aus den Grimm’schen Märchen ein Fantasy-Spektakel VON JAN DISTELMEYER Märchen, zumal die der Brüder Grimm, gehören uns allen. Sie sind enteignete Texte, Open Source, als Allgemeingut ohne abgesegnete Autor-Instanz immer schon „instand besetzt“. Hexen, Riesen, Schlösser, Wälder sind uns nach unseren Hör- und Lesarten entstanden ganz so, wie es die Vorrede der Grimms zu „Kinder und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm“ 1819 anheim stellte: „Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen; dabei denken wir an die segnende Kraft, die in ihnen liegt, und wünschen, dass denen, welche diese Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.“ Diese Aneignungspolitik macht die Grimm’schen Märchen zu einem extrem dankbaren und zugleich ganz unmöglichen Filmstoff. Das Traumhafte der Texte schreit geradezu nach seiner filmischen Inbesitznahme. Und genau in diesem Sinne wird Terry Gilliams „Brothers Grimm“ dann auch beworben: Als fantastisches, wundersames Filmabenteuer, von Gilliam mit natürlich unverwechselbarer Handschrift als düsteres Schauermärchen entworfen, das sich die Brüder Grimm nicht schöner hätten ausdenken können. Aber spätestens wenn es um großes Kino mit Stars und Blockbuster-Qualität geht, wird es heikel. Wie könnte ein solcher Film ein Massenpublikum ergreifen, in dem jede und jeder persönliche und nicht selten leidvoll erworbene Bilder dazu mitbringt? Wie sollte man den „wohlwollenden Händen“ ihren Schatz wieder entreißen, um ihnen mit Neuem zu kommen? Die Antwort der „Brothers Grimm“ ist erst mal ein doppelter Exorzismus. Wilhelm und Jakob Grimm gondeln als Ghostbuster Will und Jake durch das französisch besetzte Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und treiben dem abergläubischen Volk jene Übernatürlichkeiten aus, die sie mit allen mechanisch-rostigen Tricks findiger Scharlatane zunächst selbst zum Leben erwecken. Es gibt keine Märchen, sondern nur sie, die Stars des „Teams Grimm“, eine Art heimliches Dorfkino mit der (fast) perfekten Illusion eines vorelektronischen Märchen-Themenparks. Fauchend fliegt das Hexengestell unters Mühlendach. Und nach getaner Arbeit bekennt der eigentlich ganz romantische Jake (Heath Ledger) im Suff, dass man halt „mit Hexen prima Geld verdienen kann“, während der leichtlebige Will (Matt Damon) mit zwei Groupies sein Lieblingsspiel „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ treibt. So viel zu den Brosamen der Poesie für die Armen und Genügsamen. Das Showbusiness läuft gut, bis die beiden als Lügner und Hochstapler von der Besatzungsmacht in Gestalt des betont französisch aufgeblasenen Generals Delatombe (Jonathan Pryce) und seines betont italienisch durchgeknallten Folterknechts Cavaldi (Peter Storemare) hopsgenommen und zum Tode verurteilt werden. Einziger Ausweg: Sie sollen das Geheimnis von zehn verschwundenen Mädchen in einem vermeintlich verwunschenen Wald aufdecken: „Jemand in Marbaden arbeitet wie ihr.“ Den Akte-X-Auftrag für Team Grimm nutzt Terry Gilliams Film, um den postklassischen Exorzismus mitsamt Kino-Analogie flugs in eine Neubelebung der Märchenwelten zu überführen. Soll doch nicht alles eitel Tand und Budenzauber sein, und so geht’s am Ende doch noch um den Bann einer veritablen Hexen-Königin (Monica Bellucci) mit Spiegelzauber und Werwolf-Vasall. Der Wald, der deutsche Wald, auch hier mythisch wie politisch aufgeladen, wird dadurch zum fantastischen Zentrum von „Brothers Grimm“. Er war schon die ganze Zeit der Fluchtpunkt dieses Films. Sind die matschigen Dorfwege und windschiefen Häuschen stets im ostentativen Farbton jener „grauen Vorzeit“ Grimm’ scher Düsternis gehalten, wuchert im Wald das Fantastische, die Poesie des Märchens. Hier und von hier aus soll nun endlich alles möglich sein; hier will das Kino-Märchen zum Kino wie zum Märchen zurückkehren. Jedes Mal, wenn sich im Wald von Marbaden die Bäume verschieben, wenn deren Wurzeln ungläubige Eindringlinge verschlingen, ist es, als solle nun jeder Exorzismus gerächt werden. Weil „Brothers Grimm“ aber zugleich weder die Institution gewordene Ironie noch das Historisieren mit Stereotypen aufgibt, ereilt diesen Film das, was man den Blockbuster-Fluch nennen könnte: Er will allen alles sein und verliert darüber sein Herz. „Brothers Grimm“. Regie: Terry Gilliam. Mit Heath Ledger, Matt Damon u. a., USA 2005, 118 Min.
JAN DISTELMEYER
Dem Blockbuster-Fluch erlegen: Terry Gilliams neuer Film „Brothers Grimm“ macht aus den Grimm’schen Märchen ein Fantasy-Spektakel
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die sportskanone - taz.de
die sportskanone: Brittney Griner Foto: dpa Erzwungene Standorttreue Die US-amerikanische Basketballerin Brittney Griner will nach ihrer zehnmonatigen Haft in Russland nie wieder für ein ausländisches Team außerhalb der USA auflaufen. Mehr als vier Monate nach ihrer Heimkehr sprach die 32-Jährige am Donnerstag vor mehr als 100 Menschen bei der ersten Pressekonferenz seit ihrer Freilassung. „Ich werde nie wieder im Ausland spielen, außer wenn ich mein Land bei Olympia repräsentiere“, sagte Griner, die in der Frauen­liga WNBA für Phoenix Mercury spielt. „Sollte ich es ins Team schaffen, wäre es das einzige Mal, dass ich amerikanischen ­Boden verlasse.“ Griner sprach auch über ihre Widerstandsfähigkeit durch die Erfahrungen als Profisportlerin. „Harte Zeiten sind mir nicht fremd“, sagte sie. „Du wirst im Leben mit Widrigkeiten konfrontiert. Das war eine ziemlich große. Ich habe mich nur auf meine harte Arbeit verlassen, um da durchzukommen.“ Bei der Pressekonferenz waren auch ihre Ehefrau Cherelle und Arizonas Gouverneurin Katie Hobbs anwesend. Griner war Anfang Februar 2022 am Moskauer Flughafen Scheremetjewo festgenommen und später wegen illegalen Drogenbesitzes und versuchten Schmuggels zu neun Jahren Haft verurteilt worden: ­Griner hatte Kartuschen mit Cannabisöl bei sich. Zur damaligen Zeit spielte sie beim russischen Team UMMC Jekaterin­burg im Ural. Anfang Dezember des vergangenen Jahres war sie im Rahmen eines Gefangenen­austauschs gegen den russischen Waffenhändler Wiktor But freigelassen worden.
taz. die tageszeitung
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Kommentar Kopftuch-Urteil: Richter als Integrationshindernis - taz.de
Kommentar Kopftuch-Urteil: Richter als Integrationshindernis Wir haben eine pluralistische Justiz, in der Richter als Menschen erkennbar sind. Ein paar strenggläubige Musliminnen könnten auch dazugehören. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt das Kopftuchverbot auf der Richterbank Foto: dpa Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis das Bundesverfassungsgericht Kopftuchverbote in der Justiz für verfassungswidrig erklärt. Mit einem entsprechenden Eilantrag ist eine muslimische Referendarin aus Hessen jetzt zunächst gescheitert. Dabei ist die Begründung für solche Kopftuchverbote nicht im Ansatz überzeugend. Dass eine Richterin als Muslimin erkennbar ist, schränkt die Neutralität der Justiz nicht ein. Dieses Argument enthält die Unterstellung, dass (als solche erkennbare) Muslime ihre Arbeit möglicherweise nicht mit der notwendigen Unabhängigkeit und Unbefangenheit verrichten. Und es befeuert entsprechende Vorurteile in der Bevölkerung. Wir haben aber eine pluralistische Justiz, in der Richter als Menschen erkennbar sind, als Mann und Frau, als Alte und Junge, und ein paar erkennbar strenggläubige Musliminnen könnten durchaus auch dazu gehören. Politiker und Richter, die Kopftuchverbote in der Justiz propagieren, sind deshalb ein echtes Integrationshindernis. Es ist enttäuschend, dass sich das Bundesverfassungsgericht hier nicht zu schneller Hilfe in der Lage sah. Ein Verfassungsgericht sollte nicht die Ausgrenzungsbedürfnisse der Mehrheit bestärken, sondern die Grundrechte der Minderheit wirksam schützen – auch im Eilverfahren. Die hessische Landesregierung hat recht: Von dieser Eilentscheidung geht ein „Signal“ aus, nur leider das falsche. Bedenklich ist auch, dass der Schutz der Grundrechte in Deutschland davon abhängt, ob man beim Ersten oder beim Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts landet. Die aktuelle Entscheidung fällte eine Kammer des Zweiten Senats, der ursprünglich auch generelle Kopftuchverbote an Schulen gebilligt hatte. Erst zehn Jahre später hat der Erste Senat dies korrigiert. Hoffentlich dauert es bei Kopftuchverboten in der Justiz nicht ähnlich lange, bis das Gericht seine Aufgabe erfüllt.
Christian Rath
Wir haben eine pluralistische Justiz, in der Richter als Menschen erkennbar sind. Ein paar strenggläubige Musliminnen könnten auch dazugehören.
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Im Gleichschritt marsch in die Heide - taz.de
Im Gleichschritt marsch in die Heide ■ Sachsen-Anhalts SPD billigt Militärnutzung gegen Grüne – Koaliton aber hält Magdeburg (taz) – Sieg für die Bundeswehr in Sachsen-Anhalt. Die Colbitz-Letzlinger Heide wird Deutschlands größter Truppenübungsplatz. Sachsen-Anhalts Kabinett billigte den mit dem Verteidigungsministerium ausgehandelten „Kompromiß“ zur militärischen Nutzung der rund 23.000 Hektar großen Altmark-Heide. Gegen den Beschluß des Höppner- Kabinetts stimmte allein die bündnisgrüne Umweltministerin Heidrun Heidecke. Doch die Koalition stellt sie nicht in Frage. Im Kern ermöglicht der Vertrag zwischen Bund und Land eine vollständige militärische Nutzung dieses schon von der Wehrmacht und den Armeen des Warschauer Paktes durchgepflügten Geländes. Die Bundeswehr will dort ein Laser- Gefechtsübungszentrum aufbauen. Zwar ist vorgesehen, den Südteil der Heide ab 2006 zivil zu nutzen, aber eine verbindliche Verpflichtung des Bundes fehlt. Umweltministerin Heidecke kritisiert, daß der Kompromiß „alle rechtlichen Zugriffe des Landes ausschließt, ohne daß der Bund im Gegenzug konkret faßbare Zugeständnisse in zentralen Fragen macht“. Dies betrifft neben der Freigabe des Südteils und der Räumung von Munitionsschrott vor allem die Wasserversorgung: Obwohl die Heide Trinkwasserschutzgebiet ist, sind die Bedürfnisse der Bundeswehr maßgebend. Jährlich 43,3 Millionen Kubikmeter Grundwasser darf sie pumpen. Naturschutz werde den militärische Interessen untergeordnet, erklärt die Umweltministerin des rot-grünen Kabinetts, die nun eine faktische Blockade gegen wirtschaftliche Entwicklungspotentiale der auf sanften Tourismus orientierenden Gemeinden an der Heide befürchtet. 59 Prozent der BürgerInnen haben sich in Umfragen gegen eine militärische Nutzung der Heide ausgesprochen. Alle Investitionen in die touristische Entwicklung der Region seien von „Goodwill und Einzelfallentscheidungen der Bundeswehr abhängig“. Ein knappes Jahr vor der Landtagswahl belastet dieser „Kompromiß“ in einer der zentralen landespolitischen Streitfragen erheblich die Magdeburger rot-grüne Koaltion. Noch im Januar hatte der Landtag für ein ziviles Nutzungskonzept votiert. Auch laut Koalitionsvertrag muß das Militär aus der Heide herausbleiben. Trotzdem begrüßte Ministerin Heidecke die Auffassung des bündnisgrünen Landesdelegiertenrates, trotz einhelliger Ablehnung des Vertrages die Koalition nicht in Frage zu stellen, um „das Ziel einer rot-grünen Reformalternative über das Jahr 98 hinaus nicht zu gefährden“. Sachsen- Anhalts Bündnisgrüne seien mit diesem Votum für den Erhalt der Koalition an die „politische Schmerzgrenze“ gegangen. Detlef Krell
Detlef Krell
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Nach den Kölner Übergriffen: Gabriel für „Haft im Heimatland“ - taz.de
Nach den Kölner Übergriffen: Gabriel für „Haft im Heimatland“ Politiker aller Parteien fordern Härte gegen die Täter von Köln. Da diese nicht-deutscher Herkunft sein sollen, wird der Ruf nach Ausweisungen immer lauter. Der SPD-Vorsitzende weilt derzeit auf Kuba. Foto: dpa BERLIN taz | Angesichts der massiven Übergriffe in der Kölner Silvesternacht überbieten sich Politiker aller Parteien im Ruf nach Konsequenzen. Aus Kuba meldete sich SPD-Chef Sigmar Gabriel zu Wort und forderte, straffällige Flüchtlinge schneller in ihre Heimat zurückzuschicken. „Warum sollen deutsche Steuerzahler ausländischen Kriminellen die Haftzeit bezahlen?“, sagte er der Bild-Zeitung. Er sprach sich für den Grundsatz „Haft im Heimatland“ aus. Auch die CDU-Spitze fordert strengere Gesetze. Bei „erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ sollten verdachtsunabhängige Personenkontrollen eingeführt werden können, die sogenannte Schleierfahndung. Das steht in der „Mainzer Erklärung“, die jetzt bei einer Vorstandsklausur verabschiedet werden soll. Flüchtlinge und Asylbewerber, die zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt werden, sollen ihr Recht auf Asyl verlieren – diese Formulierung geht über den CDU-Parteitagsbeschluss von Dezember hinaus. Die Hürden vor der Ausweisung und Abschiebung straffälliger Ausländer sollten abgesenkt werden, heißt es in dem Entwurf. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) ist nicht grundsätzlich abgeneigt. Er hatte die Übergriffe gegen Frauen an Silvester in Köln als „Zivilisationsbruch“ bezeichnet. „Wenn tausend Menschen sich zu einer enthemmten Horde zusammen finden und das offenbar so geplant war, dann ist das nicht weniger als ein zeitweiliger Zivilisationsbruch“, sagte er den Zeitungen der Essener Funke-Mediengruppe. „Nie wieder dürften Menschen solchen zügellosen Massen schutzlos ausgeliefert sein“, betonte der Minister. Alle wollen mehr Polizei Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) tritt außerdem für mehr Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen ein. Und CDU-Vizechefin Julia Klöckner fordert mehr Personal für die Polizei. Auch die Grünen fordern eine bessere Ausstattung der Polizei. „Dass mehr Personal, auch mit Migrationshintergrund, notwendig ist, drängt sich auf“, sagte Parteichef Cem Özdemir am Donnerstag der Welt. Und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sprach sich für eine Reform des Sexualstrafrechts aus. „Es muss klar sein: Ein Nein ist ein Nein“, sagte sie am Freitag nach einer Klausurtagung der Grünen-Fraktion in Weimar. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits angekündigt, die Täter müssten mit aller Härte des Gesetzes rechnen. Bevor man aber weitere Konsequenzen beschließe, müssten die Vorgänge zunächst vollständig aufgeklärt werden, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter am Freitag in Berlin.
Daniel Bax
Politiker aller Parteien fordern Härte gegen die Täter von Köln. Da diese nicht-deutscher Herkunft sein sollen, wird der Ruf nach Ausweisungen immer lauter.
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„Wer ist schon gerne im Krankenhaus?“ - taz.de
„Wer ist schon gerne im Krankenhaus?“ EHRENAMTLICHE PFLEGE Sie holen die Zeitung, ein Getränk, sind da für ein Gespräch: Grüne Damen und Herren kümmern sich ehrenamtlich um Patienten. Damit unterstützen sie das Pflegepersonal, dem meist die Zeit zum Plaudern fehlt VON AMADEUS ULRICH Hier, im Zimmer 219, hat Waltraud Rehder viele Stunden verbracht. Dort lag einst eine Patientin aus Hanau. Sie war keine 30, todkrank, hatte keinen Dünndarm mehr. Rehder besuchte sie jede Woche, sprach mit ihr. Über Krankheit, Leben, Tod. Die 76-Jährige mit dem hellgrünen Kittel und die Patientin freundeten sich an. Lachten, weinten zusammen. Bis die kranke Frau entlassen wurde. Rehder schrieb ihr weiterhin SMS. Irgendwann kam die Antwort, es gehe ihr wieder schlechter. Es war die erste und letzte Nachricht. Rehder löschte die Nummer, als würde sie damit auch die Erinnerung tilgen. Das ist lange her, aber sie kann es nicht vergessen. Es war einer dieser Fälle, die ihr besonders nahe gehen. „Es ist ein belastendes Ehrenamt“, sagt Waldtraud Rehder. Seit fünf Jahren ist sie eine Grüne Dame im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg. Dort verbringt sie jede Woche etwa drei Stunden. Jeden Dienstag klopft sie an zehn Türen, spricht mit Patienten, besorgt etwas für sie. Heute liegt im Zimmer 219 eine ältere Dame mit geistiger Behinderung. Waltraud Rehder steht vor ihrem Bett, hält ihre Hand, in der eine Kanüle steckt – eine Bluttransfusion, der Beutel ist fast leer. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Rehder fragt, wie es ihr gehe. „Ich habe Heimweh“, sagt die Kranke. Meist führe sie nette Gespräche und schaffe es, die Patienten aufzuheitern, sagt Rehder. „Denn wer ist schon gerne im Krankenhaus?“ Etwa 11.000 grüne Damen und Herren gibt es bundesweit. Sie werden betreut von der Evangelischen Krankenhaushilfe in Bonn, einem 1969 gegründeten Verein, der die Arbeit der Ehrenamtlichen koordiniert, sie vermittelt und schult. „Grüne Engel“ werden sie auch genannt: Diese Menschen, die wie Waltraut Rehder in Krankenhäusern ehrenamtlich mit Patienten sprechen, ihnen etwas zu trinken oder die Zeitung bringen. Sie tragen hellgrüne Kittel, daher der Name. Und für die meisten Kliniken sind die Ehrenamtlichen kaum wegzudenken. Arbeitsverdichtung, Stress, Zeitmangel: Das sind Probleme, mit denen viele Krankenhäuser kämpfen. So fehlt oft die Zeit für die vermeintlich kleinen Dinge, die über die „Wie-geht-es-Ihnen-heute?“-Frage hinausgehen. „Wir sind allerdings keine Fachleute“, sagt Eva Federau. „Wir entlasten nur das Pflegepersonal.“ Die 80-Jährige ist ebenfalls eine Grüne Dame im Israelitischen Krankenhaus. Sie hatte damals Waltraud Rehder die Klinik gezeigt. Federau sagt, man brauche viel Empathie und Geduld, um Grüne Dame zu sein; dann aber sei es erstaunlich, wie viel Vertrauen einem die Patienten entgegenbrächten. Fremde. Waltraud Rehder zum Beispiel hat schon Wertsachen aus Wohnungen geholt oder für Patienten Groß-Einkäufe erledigt. Einmal gab ihr sogar jemand seine Bankkarte inklusive Pin-Nummer. Dass sich die meisten Patienten freuen, mit jemandem reden zu können, sieht man, wenn man Waltraud Rehder auf ihrem Rundgang begleitet. Die Patienten erzählen oft von ihren Ängsten. Und keiner sagt, es gehe ihm gut, jeder hat etwas zu monieren. „Wie geht’s?“ – „Ach, na ja.“ Viele sind kurz vor einer Operation, manche haben sie schon hinter sich und sprechen mit schwacher Stimme. Andere wissen nicht, was ihnen fehlt und stellen unendlich viele Theorien auf: „Was, wenn es doch Bauchspeicheldrüsenkrebs ist?“ Andere klagen über das Krankenhaus-Essen: „Der Spinat, nee, nee!“ Rehder bedient sich dann gern mal einer Phrase: „Ich kann Ihnen nur alles Gute wünschen“, sagt sie. Oder: „Toi, toi, toi.“ Meist aber spricht sie nicht viel, sondern stellt Fragen und hört zu. Sie merke schnell, wenn jemand nicht mit ihr reden wolle, sagt sie. Denn sie ist sehr geradeheraus: Wenn sie hereinkommt, stützt sie sich mit beiden Händen auf das Bett-Geländer und sagt: „Guten Tag, ich bin Ihre Grüne Dame.“ Dass Waltraud Rehder in jedes Zimmer gehen und mit den Patienten persönlich plaudern kann, ist allerdings etwas Besonders. In größeren Krankenhäusern wie dem Hamburger Universitätsklinikum oder dem Albertinen-Krankenhaus wäre das kaum möglich. Wechseln wir also die Perspektive und werfen einen Blick in letzteres. Denn dort arbeiten die Grünen Damen und Herren etwas anders als in der vergleichsweise kleinen Klinik, in der Frau Rehder ihre Rundgänge macht. Hier sieht man die Ehrenamtlichen zum Beispiel sofort, wenn man die Klinik betritt; manche sitzen am Empfangstisch. Lotsendienst, so nennt sich ihre Arbeit hier. Sie nehmen Telefonate entgegen und Patienten können sie „buchen“. Außerdem lotsen sie die Patienten zu Untersuchungen und holen sie wieder ab. Zimmerservice im Krankenhaus. Margot Winter ist die Einsatzleiterin der 42 Grünen Damen und Herren im Albertinen-Krankenhaus. „Wir entlasten das Pflegepersonal“, sagt sie. „Denn Zeit ist heute kostbar – und wir können sie uns nehmen.“ Die Stationsleiterin der chirurgischen Station, Anja Mundt, bestätigt das: „Die Ehrenamtlichen nehmen sich viel Zeit, die das Pflegepersonal durch die zunehmende Arbeitsverdichtung immer weniger hat.“ Das sei in allen Krankenhäusern der Fall. „Deshalb sind die Grünen Damen und Herren für uns von unschätzbarem Wert.“ Zurück zu Waltraud Rehder, die froh ist, an jeder Zimmertür ihrer Station klopfen zu können. Aber warum macht sie das? Sie habe ein Helfersyndrom, sagt sie. Seit etwa 40 Jahren pflege sie ihren Ex-Ehemann. Obwohl er sie vor der Trennung sehr verletzt habe. Er leidet an einer schweren chronischen Lungenerkrankung und muss ständig betreut werden. Nach der Operation hat er rechtsseitig einen Schlaganfall bekommen. Wie erträgt man das Leid eines Anderen, ohne selbst zu leiden? Als Grüne Dame redet man mit Menschen, die krank sind, meist Angst haben, und bürdet sich somit eine Last auf, die manchmal schwer zu schultern ist. Wer nach der Motivation fragt, hört oft von christlicher Nächstenliebe. Waltraud Rehder allerdings findet, dass dieses Ehrenamt nichts mit Religiosität zu tun hat. Dieses Amt, sagt sie, lebe von Menschen, die gerne hülfen. „Das ist mein Naturell“, sagt sie. Deshalb macht sie weiter – trotz der belastenden Erfahrungen, die sie manchmal macht. Denn letztlich, sagt sie, sei es bereichernd, einem kranken Menschen etwas Gutes zu tun. Dann könne eine Kleinigkeit die Welt bedeuten. Und wenn es nur die ans Bett gebrachte Zeitung sei.
AMADEUS ULRICH
EHRENAMTLICHE PFLEGE Sie holen die Zeitung, ein Getränk, sind da für ein Gespräch: Grüne Damen und Herren kümmern sich ehrenamtlich um Patienten. Damit unterstützen sie das Pflegepersonal, dem meist die Zeit zum Plaudern fehlt
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Die Wahrheit: Helmut Kohl und ich - taz.de
Die Wahrheit: Helmut Kohl und ich Ein persönlicher Nachruf: Im Bonn der achtziger Jahre war der ewige Kanzler noch ein Ausflugsziel – mit Apfelsaft und genau einer Frage. Bei Klassenfahrten nach Bonn lud Helmut Kohl gern spontan ins Kanzleramt ein Foto: dpa Am vorigen Freitag ist Helmut Kohl gestorben, und wie immer, wenn jemand stirbt, geht es um Geschichten. Um aufrichtige, wahre, persönliche Geschichten … so wie diese: Ich habe Helmut Kohl tatsächlich einmal persönlich getroffen. Im Mai 1989, er war Kanzler und ich auf Klassenfahrt in Bonn. Wir Schüler standen Eis essend am Kanzleramt, und Helmut Kohl kam des Wegs. Allein und ohne seine Bodyguards. Er hatte sich am Kiosk den aktuellen Spiegel gekauft. Ich war beeindruckt. Und wusste: Nie wieder würde ich der Macht so nahe sein. Wir umringten ihn, und unsere Lehrerin klärte den Kanzler auf, dass es sich bei uns um einen Geschichte-Leistungskurs aus München handele. Helmut Kohl sagte: „Das macht doch nichts.“ Er nahm uns mit ins Kanzleramt. Vor der berühmten Henry-Moore-Skulptur machten wir ein Gruppenfoto. Kohl rief einem vorbeigehenden Mann zu: „Du bist doch aus dem Haushaltsausschuss, fotografieren wirst du ja wohl können.“ Und dann durften wir spontan mit ihm in sein Büro. So was hat Kohl angeblich öfter mit Schulklassen gemacht. Es gab Apfelsaft und wir durften ihm eine Frage stellen. Genau eine. Und es fiel uns nichts ein. Auf Krawall gebürstet Dabei waren wir achtzehn Jahre alt, auf Krawall gebürstet und links. Noch ein Jahr zuvor waren wir nach Rott am Inn zur Beerdigung von Franz Josef Strauß gefahren, nur um zu gucken, ob er wirklich tot ist. Wir wollten die Welt verbessern, wir träumten von der klassenlosen Gesellschaft und nicht zuletzt waren wir schlagfertig … Allen voran Erwin Moser, der, keine drei Wochen her, bei der Musterung so geglänzt hatte. Als uns die Dame auf dem Kreiswehrersatzamt mit der behandschuhten Hand an die Hoden griff und sagte: „Husten Sie mal“, und wir bedröppelt dastanden. Erwin Moser, legendär, wie er, als die Dame ihn an die Klöten packte, sagte: „Ja hoppla, gute Frau, wissen Ihre Nachbarn eigentlich, was Sie tagsüber machen?“ Himmel, sah ich scheiße aus Ende der achtziger Jahre. Umgekrempelte Jeans, weiße Socken Und jetzt fiel uns keine Frage für Kohl ein. Auch Erwin nicht. Harald Meyer sagte schließlich: „Macht es Spaß, Bundeskanzler zu sein?“ Mehr war nicht drin. Kohl aber verzog keine Miene, sah uns sehr ernst an und antwortete: „Wisst ihr, nachts, wenn die Nation schläft, sitze ich hier allein in diesem Büro. Ich schaue die Goldfische in meinem Aquarium an und denke an Deutschland.“ Ich schwöre, er hat das so gesagt, und ich war verdammt noch mal ergriffen. Diese Ergriffenheit sieht man sogar auf dem Foto. Die Macht und der verschüchterte Junge. Himmel, sah ich scheiße aus Ende der achtziger Jahre. Umgekrempelte Jeans, eine braune Wildlederjacke, weiße Socken. Wenn man objektiv bleibt, ist Kohl der einzig halbwegs anständig angezogene Mensch auf dem Bild. Die Scham der Hippie-Eltern Das Foto wurde in unserer Lokalzeitung veröffentlicht, und meine Hippie-Eltern haben sich in Grund und Boden geschämt. Der Nachbar kam herüber, mit der Zeitung in der Hand, und sagte zu meinem Vater: „Mit Kohl auf einem Bild! Auf Ihren Jungen können Sie stolz sein.“ Mein Vater antwortete: „Das ist nicht mein Sohn.“ Meine Mutter weinte. Ich hab Kohl nie gewählt. Aber dieser riesige Mann, der mich auf dem Foto um zwei Köpfe überragt, wie er da stand und das Gewicht der Welt zu tragen schien … Es blieb in mir haften: Seine Fische und ich wissen, wie er wirklich ist. Und dann, viele Jahre später, zu Zeiten der Spendenaffäre und der „jüdischen Vermächtnisse“, stellte sich heraus: Er war auch ein ganz gewöhnlicher Krimineller. Selbst wenn es total albern klingt, irgendetwas ist da in mir kaputtgegangen. Oder auch wieder ins Lot gekommen. Vorigen Freitag ist Helmut Kohl gestorben. Der „Kanzler der Ergriffenheit“ wurde 87 Jahre alt. Die Wahrheit auf taz.de
Jess Jochimsen
Ein persönlicher Nachruf: Im Bonn der achtziger Jahre war der ewige Kanzler noch ein Ausflugsziel – mit Apfelsaft und genau einer Frage.
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Spannungen in Armenien und Aserbaidschan: Georgiens Nachbarn sind besorgt - taz.de
Spannungen in Armenien und Aserbaidschan: Georgiens Nachbarn sind besorgt In Armenien und Aserbaidschan reagiert man verhalten auf die russische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens. Durch die Gründung der "Republik Nagorny Karabach" verlor das ölreiche Aserbaidschan rund 20 Prozent seines Territoriums. Bild: dpa BERLIN taz Erneut sollen aserbaidschanische Stellungen von armenischen Streitkräften unter Beschuss genommen worden sein. Nach offiziellen aserbaidschanischen Angaben schossen armenische Soldaten am Montag auf Stellungen in der Nähe des Dorfes Mosesgech, und am Dienstag sei aus einem Gebiet unter Kontrolle karabach-armenischer Truppen auf aserbaidschanische Posten geschossen worden. In Georgiens Nachbarrepubliken Aserbaidschan und Armenien schaut man mit Nervosität auf die Auswirkungen der russischen Anerkennung Abchasiens und Südossetiens. Im Mittelpunkt steht dabei der Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach, in der bis Ende der 80er-Jahre eine große aserbaidschanische Minderheit lebte. Nach einem fünfjährigen Krieg, der im Mai 1994 mit einem Waffenstillstand und der Gründung der "Republik Nagorny Karabach" endete, verlor Aserbaidschan rund 20 Prozent seines Territoriums. Die Enklave wird heute fast nur noch von Armeniern bewohnt. Immer wieder werden in Aserbaidschan Stimmen laut, die die militärische Rückeroberung von Nagorny Karabach fordern. Fast täglich kommt es an den Waffenstillstandslinien zu Schusswechseln. "Jedes Kind begreift," so der Politologe Wafa Guluzade und langjährige Berater dreier aserbaidschanischer Präsidenten zur Internet-Agentur 1news.az, "dass Moskau mit der Anerkennung von Abchasien und Südossetien denkbar günstige Voraussetzungen für zentrifugale Bestrebungen in Russland schafft". In der Folge würden die Ukraine, Georgien und Aserbaidschan Nato-Mitglieder werden. "Separatistische Bestrebungen in Russland werden zunehmen, die Nato wird an den Grenzen zu Russland ihre Position weiter festigen", so Guluzade. Der oppositionelle Politologen Zarduschd Alizade rechnet "mit den schlimmsten Szenarien". Medwedjew habe "den größten Fehler seines Lebens gemacht. Der Westen wird dies nicht so einfach hinnehmen. Wir stehen vor einer wirklichen Konfrontation, und ich denke nicht, dass Russland aus dieser als Sieger hervorgehen wird." Die Sozialistische Partei Aserbaidschans hingegen unterstützt die russische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens. In Armenien ist man vorsichtig. Der Politologe Ruben Akopjan, der die russische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens begrüßt, warnt vor einer vorschnellen Anerkennung Abchasiens und Südossetiens, aber auch von Nagorny Karabach, durch Armenien. Die Zeit dafür sei noch nicht reif. Der Abgeordnete Stepan Safarjan will die Frage der Unabhängigkeit von Nagorny Karabach vorerst nicht auf die Tagesordnung des armenischen Parlamentes setzen. Die Sicherheit in der Region habe Vorrang, sagt Safarjan. Man wisse ja nicht, ob sich Moskau im Falle eines bewaffneten Konflikts auf die armenische Seite stellen werde. Armen Aschotjan, Abgeordneter der Regierungspartei, fürchtet laut Novosti Armenii eine "neue Konfrontation in der Region". Auch er rät zu einer sehr vorsichtigen Politik. Der weitere Transit armenischer Güter durch Georgien sei gefährdet, wenn Armenien Abchasien und Südossetien anerkennen würde.
Bernhard Clasen
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Säureattentate in Kolumbien: Gezeichnet fürs Leben - taz.de
Säureattentate in Kolumbien: Gezeichnet fürs Leben Säureattentate sind in Kolumbien ein verdrängtes Phänomen. Eine Selbsthilfeorganisation in Bogotá kämpft gegen diese Ignoranz. „Eine Narbe macht dich nicht zu weniger Frau“ – Gina Potes (l.) und Nubia Espitia vor einem Plakat mit Frauen, die den Mut hatten, sich trotz Narben fotografieren zu lassen Foto: Knut Henkel BOGOTÁ taz | Auf der Baustelle gegenüber heult eine Flex auf. Entnervt rollt Gina Potes mit den Augen, steht auf und schließt das Fenster. Dann setzt sie sich wieder an den kleinen Schreibtisch, um den Post für die Facebook-Seite von „Reconstruyendo Rostros“ zu beenden. „Wiederherstellen von Gesichtern“ heißt das sinngemäß, und es ist der Name der Selbsthilfeorganisation, die Gina Potes gegründet hat, um Opfern von Säureattentaten Hilfe anzubieten. „Wir beraten, vermitteln, helfen. Holen Frauen wie Männer aus der Isolation und der Einsamkeit heraus, denn dahin treiben sie die Verletzungen oftmals.“ Die 38-Jährige kennt die Depressionen, die Schmerzen, die Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die Säureangriffen folgen. Die schlanke Frau mit den optimistisch funkelnden braunen Augen und der dichten, halblangen Mähne hat das alles selbst durchgemacht. Am 28. Oktober 1996 gegen 19 Uhr war es. Gina, damals gerade zwanzig Jahre alt, bereitete das Abendessen im der Küche ihres Elternhauses vor, während ihr dreijähriger Sohn Andrés spielte. Es klopfte an der Tür. Als sie ahnungslos öffnete, schleuderte ihr ein Mann mit den Worten „So schön wie du darf niemand sein“ Schwefelsäure ins Gesicht. „Es waren bestialische Schmerzen. Ich hatte das Gefühl, die Säure schneidet mir die Haut aus meinem Gesicht, fühlte, wie meine Gesichtszüge ins Rutschen kamen“, erinnert sie sich und macht eine wegwischende Handbewegung, wie um die Erinnerung zu vertreiben. Doch mit der muss sie leben, und das weiß Gina Potes nur zu gut. Was sie nicht weiß ist, wer ihr das angetan hat, wer dafür verantwortlich ist, dass sie nun mit den Narben wird leben müssen? Den äußeren sichtbaren und jenen, die sie in sich trägt. Gina Potes„Obwohl ich die Tat angezeigt habe, ist die Polizei nie aktiv geworden.“ Mehr als einen entfernten Verdacht hat sie nicht, und an jenem 28. Oktober 1996 wurde erst gar nicht ermittelt. „Obwohl ich die Tat angezeigt und auch immer wieder nachgefragt habe, ist die Polizei nie aktiv geworden“, kritisiert sie und legt unwirsch die Stirn in Falten. Der Fall sei wie viele andere auch zu den Akten gelegt worden, sagt sie und streicht sich zwei Strähnen aus der Stirn. Dabei rutscht ein Ärmel der roten Bluse nach oben und gibt mehrere wulstige Narben am Unterarm frei. Auch am Hals und rund um das Kinn sind Narben und hellere Hautpartien von den Transplantaten zu sehen. Ärzte gaben ihr das Gesicht zurück 25 Operationen in 16 Jahren hat Gina Potes über sich ergehen lassen, und die Chirurgen haben ganze Arbeit geleistet. Sie haben der energischen, lebenslustigen Frau ihr Gesicht zurückgegeben – oder zumindest einen Teil davon. 80 Prozent schätzt sie. Anders als viele ihrer LeidensgenossInnen wird Gina Potes im Bus nicht scheel angesehen oder gar als Monster, wenn sie zum Hospital Simón Bolívar fährt, der einzigen Klinik Kolumbiens für Brand- und Säureopfer. „Anderen Frauen geht es so“, sagt sie mit bitterer Mine. „Frauen, die ein Auge oder ein Ohr verloren haben, die sich nur noch mit einer Maske auf die Straße trauen, weil sie sich die Operationen nicht leisten können“, schildert sie Fälle, die sie allesamt persönlich kennt. Schicksale wie jenes von Viviana Hernández. Deren Exmann hat das Säureattentat, das sie auf dem linken Auge erblinden ließ, in Auftrag gegeben, weil sie sich getrennt hatte. Kein Einzelfall. Das Motto, wenn ich sie nicht haben kann, soll sie auch kein anderer haben, scheint viele Männer anzutreiben. „Wir leben in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft. Hier werden Frauen gern als Trophäen betrachtet, als Objekt. Ich bin aber ein Subjekt, habe Rechte, die ich einfordere“, betont sie. Sie spricht schnell, ist erregt, weiß, dass sie auch für andere spricht. Für Alva zum Beispiel, die aus dem Gefängnis von ihrem Exmann – per Telefon – bedroht wird. Alva führt ein Leben in ständiger Angst davor, dass sich der Säureangriff wiederholen könnte. Viele Frauen machen ähnliches durch Alva, ihre Assistentin Patricia Nubia oder Angie Guevara sind Frauen, die Gina Potes im Laufe der letzten Jahre kennengelernt hat. Erst durch sie ist ihr bewusst geworden, dass es viele Frauen gibt, die Ähnliches durchmachen wie sie. Da war der Punkt erreicht, wo sie sagte: „Genug. Von allein hört das nicht auf. Wir müssen selbst aktiv werden.“ Das war 2012. Damals erschienen die ersten Artikel, weil immer mehr Fälle registriert wurden. Rund 1.000 Fälle von Verätzungen und Verbrennungen mit Chemikalien hat die Gerichtsmedizin zwischen 2004 und dem Frühjahr 2015 registriert. Davon sind Männer fast genauso stark betroffen wie Frauen. Nur einen elementaren Unterschied gibt es. „Während bei Männern Verätzungen fast immer im Kontext von Raubdelikten an Armen und Beine auftreten, ist bei Frauen fast immer das Gesicht betroffen“, erzählt Gina Potes. Das belegen auch die Unterlagen der Station für Brandopfer vom Krankenhaus Simón Bolívar. Dort, im reichen Norden Bogotás, in der 164. Straße, wurde Gina Potes genauso behandelt wie Patricia Nubia Espitia. Die hat bereits 28 Operationen hinter sich und wird noch etliche benötigen, bis die Augenpartie und die Nase rekonstruiert sind. Operationen, die die Krankenkasse eigentlich zahlen müsste, denn dazu ist sie gesetzlich seit 2013 verpflichtet. Doch in der Realität müssen viele Säureopfer die Bezahlung von jeder einzelnen Operation einklagen. Unwürdig ist das in den Augen von Gina Potes, der nicht eine ihrer 25 Operationen bezahlt wurde. Bei ihr ist die Familie eingesprungen und später hat sie Geld als Textildesignerin verdient. Dazu sind die meisten der Opfer, die oft aus dem armen Süden Bogotás stammen, nicht in der Lage. „Da fehlt es manchmal schon am Kleingeld für die Fahrt zum Krankenhaus“, schildert Gina Potes die Situation vieler ihrer rund 45 Mitstreiter, unter ihnen fünf Männer. Mit Narben vor die Kamera treten Sie treffen sich regelmäßig in dem kleinen Büro in der 72. Straße im Süden der kolumbianischen Hauptstadt. Das befindet sich Tür an Tür mit der Wohnung, wo die alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern lebt. Drei Stühle, zwei Computer und zwei Räume, das ist alles, was die kleine Stiftung zur Verfügung hat. In dem einen Raum steht der Computer, von wo aus die Facebook-Seite und die Webseite mit frischen Posts aktualisiert wird; in dem anderen hängen die großen Plakate, mit denen die Stiftung Öffentlichkeitsarbeit macht. Professionelle Fotos von Modefotografen, die ein Shooting mit Gina und dem knappen Dutzend Frauen machten, die den Mut aufbrachten, vor der Kamera zu posieren. So sind Bilder von Frauen entstanden, die für ihr Rechte kämpfen, die ihr Leben von ihren Peinigern zurückerobern wollen und die den kolumbianischen Staat in die Pflicht nehmen. „Eine Narbe macht dich nicht zu weniger Frau“ ist eine der Parolen, die Patricia Nubia Espitia und Gina Potes ersonnen haben. Säure, Klebstoff, Öl1.002 Fälle von Verätzungen und Verbrennungen durch Klebstoff, Gas, Öl, Strom oder Säure wurden in Kolumbien zwischen 2004 und dem März 2015 laut der Gerichtsmedizin registriert. Die Dunkelziffer ist jedoch hoch, und die Gerichtsmediziner verweisen ausdrücklich darauf, dass ihre Statistik nur Fälle enthält, in denen von den Behörden ermittelt wird.Andere Zahlen legt beispielsweise die Stadtverwaltung von Bogotá vor: So habe es 2012 167 Fälle von Säureverletzungen in der Neun-Millionen-Stadt gegeben. Im Folgejahr waren es 67 und 2014 wurden 27 Fälle registriert. Dabei berufen sich die Gesundheitsexperten der Stadt auf ein Meldesystem der Krankenhäuser.Fakt ist, dass die Dunkelziffer bei Säureanschlägen sehr hoch ist. Richtig ist aber auch, das die Anschlagszahlen zurückgehen. So hat es bis Anfang Mai in der Hauptstadt Bogotá erst einen registrierten Säureanschlag gegeben. (hk) Sie drängen die Politik, aktiv zu werden. Zumindest auf dem Papier ist nun die Gesundheitsversorgung der Opfer von Säureanschlägen garantiert. Nächstes Ziel ist es, auch zu härteren Strafen für die Täter zu kommen. In erster Lesung passierte dazu Anfang Mai ein Gesetz das Parlament, welches die Strafen auf bis zu 50 Jahre anhebt – je nach Schwere der Verletzungen. Bis Ende des Jahres sollen auch die beiden noch ausstehenden Lesungen stattfinden, dadurch soll die Zahl der Säureattentate endlich sinken. Respekt, Bildung, Inklusion Doch dafür bedarf es mehr als nur der Strafandrohung. „Wir müssen wieder lernen, den anderen und die andere zu respektieren, müssen mehr Wert auf Bildung, auf Inklusion statt Exklusion legen“, fordert Gina Potes. Ihr ganz persönlicher Antrieb dabei ist ihre elfjährige Tochter. Der will sie ein besseres Leben in einer friedlicheren Gesellschaft ermöglichen und deshalb soll „Reconstruyendo Rostros“ auch wachsen. Aus dem kleinen Büro in der 72. Straße, soll über kurz oder lang eine Anlaufstation mit Rechtsberatung und angeschlossener Herberge werden. Zukunftspläne, für die derzeit noch kein Geld zur Verfügung steht. Aber erst mal geht darum, das Gesetz durch das Parlament zu bringen. Zur nächsten Lesung werden Gina, Patricia Nubia und ihre Mitstreiterinnen wieder ihre Transparente im Plenarsaal entrollen. Dann wird wieder die Parole „Wir sind nicht Teil des Problems, sondern der Lösung“, in dicken Lettern zu lesen sein. Ein Satz, den Gina heute mindestens ein halbes Dutzend mal in den Mund genommen hat – gerade weil der Machismo in Kolumbien so prägnant ist.
Knut Henkel
Säureattentate sind in Kolumbien ein verdrängtes Phänomen. Eine Selbsthilfeorganisation in Bogotá kämpft gegen diese Ignoranz.
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Zoom-Premiere am Residenztheater München: Aufheben, was andere fallen lassen - taz.de
Zoom-Premiere am Residenztheater München: Aufheben, was andere fallen lassen Lot Vekemans Monologe sind Stoff für große Solos. Das Münchner Residenztheater brachte ihr Monolog-Triptychon „Niemand wartet auf Dich“ heraus. Juliane Köhler als ältere Frau in „Niemand wartet auf Dich“ Foto: Adrienne Meister Die holländische Dramatikerin Lot Vekemans ist eine Spezialistin für große Fragen. Gerne legt sie diese Figuren in den Mund, die im Schatten des Mythos stehen. In ihren Monologen „Judas“ oder „Schwester von“ steigen Jesu engster Vertrauter und Ödipus’ unscheinbarste Tochter und Halbschwester Ismene aus dem Sammelgrab für Buhmänner und Sidekicks, um die tieferen Beweggründe ihres Handelns oder Nichthandelns zu offenbaren. Nicht nur die deutschen Thea­ter mochten das auch vor dem coronabedingten Solo-Boom schon sehr, weil Vekemans’ Stücke großen Solisten noch größere Entfaltungsspielräume bieten. Man denke nur an Steven Scharfs luzides Martyrium in „Judas“ an den Münchner Kammerspielen (Regie Johan Simons) oder an Elsie de Brauws innerlich bebende Ismene am NTGent (Regie Allan Zipson). Juliane Köhler, die jetzt vor die Live-Cam tritt, mit der das Münchner Residenztheater die deutsche Erstaufführung von Vekemans’ jüngstem Stück, „Niemand wartet auf Dich“, aufzeichnet, hat ebenfalls das Zeug zur großen Leidenden, Denkenden, Wütenden. Es ist darum schwer zu sagen, ob sie in der von Daniela Kranz in Szene gesetzten ­Zoomperformance nur etwas unterspannt rüberkommt, weil sich meine Lockdown-Lethargie inzwischen auch auf meine Wahrnehmung auswirkt – oder weil Köhler und Kranz bewusst das immense Erregungslevel heruntergedimmt haben, auf dem das 2018 uraufgeführte Monolog-Triple vor sich hin brodelt. Das Resi führt mit diesem einstündigen Livestream eine Programmschiene weiter, die es seit Beginn der Intendanz von Andreas Beck mit Solo-Abenden bestückt. Die Idee dahinter: Die Münchner Zuschauer sollen die neuen Schauspieler kennenlernen. Das wäre bei Juliane Köhler, die seit 1993 konstant in Münchner Ensembles ist, zwar nicht nötig gewesen, aber in diesen Zeiten kommt es ja ohnehin eher aufs Kontakthalten an. Aufmunterung an die Zoom-Gesichter „Gut sehen Sie aus!“, sagt Köhler deshalb irgendwann stückgetreu, aber vielleicht besonders aufmunternd zu den 23 Zoom-Gesichtern, die ihr Publikum sind. Mit diesem warmen Köhler-Lächeln, das an klirrende Gläser und lange Sommerabende erinnert. Ach! Gerade ist die ewig Mädchenhafte allerdings als alte Frau in den Raum geschlurft – mit zaghaften, in ihrem Radius eingeschränkten Bewegungen. Gerda sammelt Müll und hebt auf, was andere fallen lassen, weil man etwas tun muss, wenn man die Welt verändern will, und nur das ändern kann, was in die eigene Reichweite fällt. Das wirkt zupackend und traurig zugleich und ist mit mehr als einem Quäntchen Fortschrittslamento versehen. In Teil zwei ringt sich eine Politikerin ein schmerzhaftes Manifest gegen den selbstgerechten Unfehlbarkeitswahn in der Politik ab, in Teil drei kann eine Schauspielerin nicht mehr schlafen, weil sie sich für alles, was in dieser Welt schiefgeht, verantwortlich fühlt. Alle drei haben ein Buch gelesen, das den Titel dieses kurzen Abends trägt – „Niemand wartet auf Dich“ – und ihn unterschiedlich gedeutet: als Aufforderung zur begrenzten und dafür zufrieden machenden Tat, zum Farbebekennen wider die eigenen Interessen oder zum Verzweifeln angesichts der globalen Verantwortung (wobei schleierhaft bleibt, wie sich das im Einzelnen begründet). Ganz andere Fragen nach Eigenverantwortung Dass man aus diesen bisweilen moralinsäuerlichen Ausführungen unter dem Strich mehr herauslesen kann als das Bonmot „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, davon kann die Inszenierung nicht überzeugen. So bleibt man etwas ratlos zurück und mit dem dumpfen Gefühl, dass die Pandemie ganz andere Fragen an Eigenverantwortung und Politik stellt, als es Vekemans vor drei Jahren ahnen konnte. Es ist nicht Juliane Köhlers Schuld, dass ich es zwischendurch interessanter finde, meinen Mitzuschauern, unter denen auch die sichtlich angetane Autorin ist, beim Zuschauen zuzusehen. Diese puren Instanttheaterformen, die eher erweiterte szenische Lesungen sind, haben es einfach schwer, die vierte Wand des heimischen Bildschirms zu durchstoßen und dauerhaft zu fesseln. Die schönsten Momente für mich lagen zwischen den Kurzmonologen, als sich die alte Dame vor einem Garderobenspiegel in die Politikerin verwandelte – weiße Kurz- gegen schwarze Langhaarperücke, beigen Pulli gegen schwarzes Jackett getauscht, ein kurzes mascara- und pudergestütztes Einruckeln in die neue Figur, und: Tata! Das ist der Zauber der Verwandlung, durchsichtig gemacht.
Sabine Leucht
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Ruhe in der Einheitsfront - taz.de
Ruhe in der Einheitsfront Kaum ein anderer Mythos wird in China so gepflegt wie der von der Einheitsfront zwischen Nationalisten und Kommunisten im chinesisch-japanischen Krieg von 1937–1945. Denn er erlaubt den Glauben, dass Japan den Krieg auch in China verloren hätte und nicht nur gegen die USA. Aus militärhistorische Sicht ist das ziemlicher Unsinn: Noch im Sommer 1944 war die Ichigo-Offensive Japans erfolgreich. Auch die Guerillataktik der Kommunisten hatte bis zum Abzug der Tenno-Armee nach der japanischen Kapitulation nur auf Dörfern Erfolg. Dennoch hatte die Einheitsfront eine entscheidende Bedeutung: Sie verhalf Mao Tsetung, der zuvor als krimineller Rebell vom Lande galt, zu Prestige und Zeitgewinn. Nun erst konnte er in der Ruhe der Berge von Yanan seine maßgeblichen ideologischen Schriften verfassen. GBL, FOTO: REUTERS
GBL
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Pestizide in der Landwirtschaft: 2,5-mal höheres Sterberisiko - taz.de
Pestizide in der Landwirtschaft: 2,5-mal höheres Sterberisiko Hat Argentiniens Landbevölkerung ein höheres Krebsrisiko? Eine Studie in acht Dörfern hat das untersucht – das Ergebnis fällt eindeutig aus. Sojabohnenernte auf den Feldern der argentinischen Provinz Santa Fe Foto: Patricio Murphy/Zuma/imago BUENOS AIRES taz | Besteht für Argentiniens Landbevölkerung durch den Einsatz von Pestiziden ein höheres Krebsrisiko? Eine Studie in acht Dörfern in der argentinischen Provinz Santa Fe bestätigt negative Auswirkungen von Pestiziden auf die Gesundheit, insbesondere Krebs. So haben junge Menschen aus pestizidbelasteten Gebieten ein 2,5-mal höheres Risiko, an Krebs zu sterben, als diejenigen, die weit entfernt von Gebieten leben, in denen Agrochemikalien eingesetzt werden. Die Studie mit dem sperrigen Titel „Krebsinzidenz und Sterblichkeitsraten in argentinischen ländlichen Gebieten, die von mit Pestiziden behandelten landwirtschaftlichen Flächen umgeben sind“, wurde von For­sche­r*in­nen des Instituts für soziale Umweltgesundheit (InSSA) am Medizinfachbereich der Universität von Rosario vorgestellt und im Januar in der US-amerikanischen Fachzeitschrift Clinical Epidemiology and Global Health veröffentlicht. Die For­sche­r*in­nen befragten 27.644 Personen (68 Prozent der Dorfbewohner*innen), die bis zu 400 Meter von den Feldern entfernt leben, auf denen gesprüht wird. Die Region im Süden der Provinz Santa Fe gehört zu den wichtigsten Anbauregionen für Sojabohnen, Sonnenblumen, Weizen und Mais. Einsatz von Chemie stieg mit Anbau von Gen-Soja Ein Vergleich der gewonnenen Daten mit den Daten des Landes zur Krebsinzidenzrate ergab signifikant höhere Werte für die Bevölkerung in Dörfern, die Pestiziden ausgesetzt sind. Dasselbe gilt für den zahlenmäßigen Vergleich der Krebstodesfälle pro 100.000 Einwohner in der Altersgruppe zwischen 15 und 44 Jahren sowie für den Anteil der Krebstodesfälle im Verhältnis zu anderen Todesursachen in derselben Altersgruppe. Die Daten wurden zwischen 2014 und 2018 im Rahmen sogenannter Sanitärcamps erhoben, bei denen Studierende fünf Tage lang medizinische Erhebungen und epidemiologische Untersuchungen in Orten in den Provinzen Santa Fe, Buenos Aires und Entre Ríos mit weniger als 10.000 Ein­woh­ne­r*in­nen durchführten. Sie waren 2010 eingerichtet worden, um direkte Erhebungen unter der ländlichen Bevölkerung durchzuführen und so zuverlässige Daten zu erhalten. Die Camps sind Teil der Abschlussprüfung der Medizinstudierenden an der Universität Rosario und die Ergebnisse werden vom InSSA präsentiert. Seit 1996 erlaubt Argentinien den Anbau von gentechnisch verändertem Sojasaatgut. Das war der Startschuss für eine auf dem Einsatz von Glyphosat und zahlreichen anderen Agrochemikalien basierende Landwirtschaft, die heute fast die gesamte landwirtschaftliche Fläche bedeckt, auf der jährlich Millionen von Litern an Pestiziden durch Sprühfahrzeuge oftmals in unmittelbarer Nähe zu den Wohngebieten ausgebracht werden. Politik leugnet gesundheitliche Folgen von Pestiziden Die gesundheitlichen Folgen für die Landbevölkerung werden vom großen Teil der offiziellen und oppositionellen Politik in trauter Eintracht mit der Agrarlobby heruntergespielt. Das InSSA ist eine der wenigen akademischen Einrichtungen in Argentinien, die sich kritisch mit der agroindustriellen Landwirtschaft und den Einsatz von Agrarchemikalien auseinandersetzen – und ein Dorn im Auge der Agrarlobby. 2019 strich die neue Leitung der Medizinischen Fakultät die Gesundheitscamps, die die Daten zur Studie erhob, aus dem universitären Lehrplan. Das verhindert jedoch nicht, dass die Daten weiterhin ausgewertet und veröffentlicht werden.
Jürgen Vogt
Hat Argentiniens Landbevölkerung ein höheres Krebsrisiko? Eine Studie in acht Dörfern hat das untersucht – das Ergebnis fällt eindeutig aus.
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„Klagemauer“ muß weg - taz.de
„Klagemauer“ muß weg ■ Landgericht gibt Klage der Kirche statt / Initiator: „Wir gehen nicht freiwillig“ Für die einen ist sie eine „Schmuddelecke“, für die anderen eine „Wand des Friedens“: die Klagemauer am Fuße des Kölner Domes. Gleich neben dem Portal schwingen 800 Papptäfelchen, mit Klammern an Wäscheleinen befestigt, im Wind. „Friede ist, wenn einem Kind nichts mehr zum Wort Feind einfällt“, steht auf einer Tafel. Menschen aus aller Welt haben ihre Ängste und Sehnsüchte niedergeschrieben. Begonnen hat es mit dem Ausbruch des Golfkrieges im Januar 1991. Inzwischen haben mehr als 25.000 Menschen hier das Elend, den Krieg, die Folter und den aufkeimenden Neonazismus angeprangert. „Der Dom ohne Klagemauer ist wie eine Kirche ohne Glauben“, schrieb eine Schulklasse. Aber an der Glaubensfestigkeit des Kölner Domkapitels müssen die Pennäler jetzt zweifeln. Denn die Domherren wollen das Mahnmal entfernen. Das Kölner Landgericht gab gestern ihrer Klage statt. „Das Urteil dient allenfalls der Rechtsklarheit, nicht dem Rechtsfrieden“, kommentierte Richter Franz Josef Ploenes sein eigenes Urteil mit unverhohlener Sympathie für die Klagemauer. Aber die Kammer habe nicht anders entscheiden können, da die Kirche Eigentümerin des Geländes sei. Die gerade mal zwei Meter hohe und sechs Meter breite Mauer versperre den Blick auf den 150 Meter hohen Dom, hatten die Kläger behauptet. Und sie verschandele das Erscheinungsbild des Bauwerks. Die Befürworter sind von derartiger Zimperlichkeit überrascht. Seit jeher dulden die Hausherren im Schatten der Kathedrale schäbige Kitsch- und Souvenirbüdchen und die Dombaulotterie. Der Hauptgewinn, ein nagelneues Auto, hat neben der Kirche seinen angestammten Platz. „Wir gehen nicht freiwillig“, kündigt Walter Hermann, Initiator der Klagemauer, an. Der Obdachlose bewacht die Täfelchen aus seiner Hütte an der Westwand des Doms. Er weiß sich einer breiten Unterstützung sicher – selbst innerhalb der katholischen Kirche. Denn längst ist die Klagemauer ein Symbol für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Nächstenliebe weit über die Stadtgrenzen hinaus geworden. Der Japaner Kazuo Sado, Überlebender des Atombombenabwurfs über Nagasaki, initiierte in seiner Heimatstadt eine Wandzeitung nach dem Kölner Vorbild. In Großbritannien, Frankreich und den USA waren Teile des Kölner Mahnmals Bestandteil von Ausstellungen. „Das Goethe-Institut wirbt in seiner Zeitung weltweit mit diesem Symbol für das gute Deutschland“, erzählt Hermanns Rechtsanwalt. Aber auch die deutsche Kehrseite hat die Klagemauer als Angriffsziel entdeckt: Mehrfach wurde sie nachts von rechten Schlägertrupps zerstört, Walter Hermann und Helfer brutal zusammengeschlagen. Klaus Bartels
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Jeden Tag ein neues Türchen - taz.de
Jeden Tag ein neues Türchen Der Adventskalender als Aktionsform gegen die Wohnungsnot – jeden Tag gibt es neue Aktionen und Informationen und, wer weiß, vielleicht auch eine Hausbesetzung? Termine ■ Donnerstag, 12. DezemberInfoveranstaltung mit Lichtprojektionen an der Hausfassade der zwangsgeräumten Wohnung in der Lausitzer Straße 8, 17.30 Uhr■ Donnerstag, 12. Dezember„Es betrifft uns alle“, Diskussion mit Kotti und Co über die Übernahme der GSW durch die Deutsche Wohnen, 19 Uhr, Cafe Südblock, Admiralstraße 1■ Sonntag, 15, Dezember„Wir sind alle Oranienplatz und Wir bleiben Alle!“, Demonstration, 15 Uhr Oranienplatz■ Montag, 16. DezemberLieder aus den Zeiten der Hausbesetzungen, 19 Uhr im Gecekondu am KottbusserTor■ Online-Adventskalenderwww.wirbleibenalle.org Besinnliche Feiertage? Von wegen! In Berlin ruft die Initiative „Recht auf Wohnen“ in der Vorweihnachtszeit zur Besetzung leer stehender Wohnungen auf. Sie protestiert damit gegen die Wohnungsnot in der Stadt. Wie Helena von der Initiative erklärt, sei es nicht länger hinzunehmen, dass immer mehr Menschen keine Wohnung in Berlin finden. Zugleich prangert die Initiative an, dass Eigentümer_innen Wohnungen bewusst leer stehen lassen, um sie später zu höheren Preisen vermieten zu können. „Wir betrachten Besetzungen als ein probates Mittel, sich gegen die Verschärfung der Wohnsituation zur Wehr zu setzen“, sagt Helena. Das die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt angespannt ist, belegen erneut aktuelle Zahlen. In der vergangenen Woche veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie, aus der hervorgeht, dass die Mieten in Berlin seit 2010 jährlich um 8 Prozent gestiegen sind – so viel wie in keiner anderen deutschen Großstadt. Und zugleich gibt es in Deutschland immer mehr Menschen ohne Wohnung. Jüngste Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. haben ergeben, dass sich die Zahl der Wohnungslosen seit 2010 um 15 Prozent auf 284.000 erhöht hat. Als einen der Gründe für die Entwicklung nennt der Verband auf seiner Internetseite das „extreme Anziehen der Mietpreise in den Ballungsgebieten.“ Aber auch das „unzureichende Angebot an preiswertem Wohnraum“ und die „Verarmung der unteren Einkommensgruppen“ seien Ursachen des Problems. Mit einem Online-Adventskalender werben die Aktivist_innen von „Recht auf Wohnen“ für ihre Idee. Unter dem Motto „Jeden Tag ein Türchen – Warum Besetzungen jetzt?“ gibt es seit 1. Dezember Aktionen, Veranstaltungen und Textbeiträge rund um die Themen Wohnungsnot und Besetzung. Auch für die nächsten Tage ist einiges geplant: Heute Abend soll es ab 17.30 Uhr Projektionen an der Hausfassade der im Februar zwangsgeräumten Wohnung in der Lausitzer Straße 8 geben, ab 19 Uhr lädt danach die Mieter_innengemeinschaft „Kotti & Co“ zu einer Informationsveranstaltung in den Südblock. Die Initiative Recht auf Wohnen hat sich anlässlich des europaweiten Aktionstags „Recht auf Wohnen und die Stadt“ gegründet, der am 19. Oktober stattfand. Die Initiative ist ein Zusammenschluss von Mieter_innen und Wohnungslosen. Die Idee, unbewohnte Wohnungen zu besetzen, betrachtet Helena als nicht so revolutionär, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. In anderen Ländern sei das gängige Praxis, sagt die Aktivistin. In ihrem Adventskalender hat die Initiative dafür einige Beispiele aufgeführt: In der katalanischen Stadt Salt halten mehrere Familien seit März 2013 ihren Wohnblock besetzt, der eigentlich geräumt werden sollte; auch in Frankreich besetzen wohnungslose Familien seit den 90ern leer stehende Wohnungen. Diesen Vorbildern folgend, will „Recht auf Wohnen“ Besetzungen auch in Deutschland wieder populär machen. „Wenn es nicht anders geht, müssen eben radikale Mittel eine Lösung sein“, sagt Helena. Einen ersten Erfolg kann die Initiative bereits verzeichnen: Wie Helena berichtet, haben sie der Geschäftsführerin des Berliner Liegenschaftsfonds einen Wunschzettel mit Forderungen überreicht. Mit dabei waren Studierende, wohnungslose Familien aus Rumänien und UnterstützerInnen von bedrohten Alternativprojekten, den Wagenplätzen Schwarzer Kanal und Rummelplatz, sowie von dem Jugendklub Kirche von Unten. Gefordert wurde unter anderem, dass der Rummelplatz nicht umziehen muss, der Schwarze Kanal neue Verträge erhält und Familien aus Rumänien leer stehende Gebäude des Liegenschaftsfonds beziehen können. Möhring erklärte sich daraufhin bereit, mit den Aktivist_innen zumindest in Teilen über ihre Forderungen zu sprechen. Wie die Pressesprecherin Irina Dähne bestätigt, wolle Möhring mit den Aktivist_innen auf jeden Fall über den Rummelplatz und den Schwarzen Kanal sprechen. „Wir freuen uns über das Angebot, damit ist ein erster Schritt getan“, sagt Helena. Wer beim Adventskalender mitmachen möchte, kann eigenen Aktionen anmelden oder Fotos von leer stehenden Wohnungen samt Adresse an die Gruppe schicken. Ob es tatsächlich Besetzungen bis Weihnachten geben wird, bleibt abzuwarten. Die Aktivist_innen wollten sich nicht dazu äußern. LUKAS DUBRO
LUKAS DUBRO
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Von Bärten und Oasen - taz.de
Von Bärten und Oasen Geschichten aus dem Alltag: Der kolumbianische Autor Memo Anjel liest beim Laokoon-Festival auf Kampnagel Gemeinhin wird die kolumbianische Großstadt Medellín in Literatur und Film als Schauplatz des Drogenhandels, von Verbrechen und Gewalt dargestellt. Der jüdisch-kolumbianische Autor Memo Anjel dagegen stimmt in seinem Roman Das meschuggene Jahr andere Töne an. Zwar siedelt er seine Geschichte in den 50er Jahren eben jener zwei Millionen Einwohner-Metropole an, verweigert sich aber dem klischeehaften Bild eines von Drogenkartellen geprägten Kolumbiens. „Es gibt nicht nur Gewalt, Drogen und Bürgerkrieg“, erklärte er in einem Interview, „man kann auch noch ganz andere Aspekte Kolumbiens betrachten.“ So beschreibt sein Buch, aus dem er jetzt auf Kampnagel liest, das turbulente Leben einer zehnköpfigen sephardischen, also ursprünglich aus Spanien und Portugal stammenden Familie, aus der Sicht eines 13-jährigen Jungen. Die Familie träumt schon seit Jahren davon, nach Jerusalem zu reisen – doch fehlt es immer am Geld. Der Vater will die Reise durch die Erfindung einer vollautomatischen Brotbackmaschine finanzieren, woran er jedoch mehrmals scheitert. Eines Tages aber steht plötzlich der reiselustige Onkel Chaim vor der Tür, der fortan bei der Familie verweilt. Im Gegensatz zu den übrigen Familienangehörigen glaubt er fest an den Erfolg der Erfindung. „Viele Geschichten trug er singend vor; er sang von Elefanten, die größer waren als unser Haus, und von Fledermäusen, die es mit einem zweimotorigen Flugzeug aufnehmen konnten, und von Arabern, mit Bärten so lang, dass sie von einer Oase zur anderen reichten“, schreibt Anjel. In kurzweiliger Form vermittelt er so dem Leser die naive, liebenswerte Sicht eines Heranwachsenden auf die täglichen Glücksmomente und Katastrophen des Familienlebens. Am Schluss ist die Familie dem Ziel Jerusalem ein ganzes Stück näher gerückt. „Im Roman gibt es keine Gewalt. Es gibt eher Träume und Ideale – und Verrücktheit“, berichtet Anjel, der glaubt, dass viele kolumbianische Verlage durch ihre Politik nur noch Karikaturen des Themas Gewalt erzeugen. „Die Romane handeln nicht mehr von dem, was tatsächlich geschieht, sondern bedienen Klischees – sie verzerren und vergrößern die Gewaltphänomene.“ Der künstlerische Leiter des diesjährigen Laokoon-Festivals, Álvaro Restrepo, hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Künstler einzuladen, die ihre eigene Lebenswelt reflektieren. In Memo Anjel fand er einen Literaten, der eine kaum beachtete Seite Kolumbiens zeigt – die des alltäglichen Lebens. Christoph Behrends Sa, 20.8., 16.30 Uhr, Kampnagel
Christoph Behrends
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Energiewende in Niedersachsen: Potential noch nicht ausgeschöpft - taz.de
Energiewende in Niedersachsen: Potential noch nicht ausgeschöpft In Niedersachsen hat ein Forschungsprojekt Potentialflächen für Photovoltaik ausgewiesen. Doch es hakt vor allem am Netzanschluss. Müssten teilweise nur noch ans Netz genommen werden: Photovoltaik-Anlagen in Niedersachsen Foto: Matthias Schrader/ap Am Boden wachsen Kräuter, darüber sollen Solarmodule Strom für die Energiewende produzieren: Die Firma Steinicke in Lüchow würde ihre Agrophotovoltaikanlage gerne ans Stromnetz anschließen. Der landwirtschaftliche Betrieb warte aber bereits seit dem Frühjahr auf eine entsprechende Zertifizierung, wie das Unternehmen mitteilt. Die ein Hektar große Anlage im Nordosten Niedersachsens steht dabei sinnbildlich für die Stoßrichtung und die Probleme der Solarindustrie in Deutschland. Als saubere und kosteneffiziente Technologie zur Stromerzeugung sei die Photovoltaik zur Umsetzung der Klimaziele unverzichtbar, sagt Carsten Körnig vom Bundesverband Solarwirtschaft: „Der stärkere Ausbau von Photovoltaikanlagen ist deshalb unerlässlich.“ Um geeignete Freiflächen für PV-Anlagen in Niedersachsen auszuweisen, haben die Universität Hannover und das Institut für Solarenergieforschung in Hameln im Auftrag der Landesregierung zwei Jahre gemeinsam geforscht. Das Projekt „Inside“ analysierte die topografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in allen Teilen Niedersachsens. Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen unterscheiden in ihrem Bericht zwischen vier Kategorien, die das Potenzial für PV-Anlagen einordnen sollen: geringer, mittlerer, hoher und sehr hoher Raum­widerstand. Hindernisse wie Wälder, intensive Landwirtschaften oder Naturschutzgebiete erschweren den Ausbau der Photovoltaik. Dagegen werden Grünlandflächen oder ertragsarme Ackerflächen explizit als Potenzialflächen mit geringem Widerstand ausgewiesen. Diese machten rund 13 Prozent der Landesfläche Niedersachsens aus. Die Ergebnisse sind in Form von Karten für Gemeinden frei zugänglich. Sie sollen die Entscheidung und die Installation von Solar­anlagen vereinfachen. Daneben verweist auch Körnig auf die Kombination aus PV-Anlagen, landwirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz. So könne auch „zwischen den Modulreihen einer PV-Anlage neuer Lebensraum für gefährdete Pflanzen und Tiere“ entstehen. Die Energiewende hakt an den Genehmigungen Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse kommt die Energiewende vielerorts aber nur langsam voran: In Niedersachsen, wie in ganz Deutschland, hakt gerade die Inbetriebnahme von Photovoltaikanlagen. Grund dafür seien in vielen Fällen die ausstehenden Zertifizierungen, die gleichbedeutend mit einer Betriebserlaubnis sind, wie der Landtagsabgeordnete Martin Bäumer von der mitregierenden CDU sagt. „Es kann nicht sein, dass aufgrund formaler und bürokratischer Hürden weiterhin Gas aus den Speichern entnommen wird, während saubere erneuerbare Energien nicht genutzt werden“, sagt Bäumer. Tatsächlich hat sich die Zertifizierung von PV-Anlagen in den vergangenen Jahren erschwert, was unter anderem mit bundesrechtlichen Reformen zusammenhängt. Diese führten 2019 dazu, dass die Schwelle, ab welcher Anlagen eine offizielle Zertifizierung benötigen, von einem Megawatt auf 135 Kilowatt abgesenkt wurde, wie Körnig sagt: „Daher betrifft die Zertifizierung nun eine viel höhere Anzahl an Anlagen.“ Jorid Meya vom niedersächsischen Umweltministerium verweist deshalb auf die Zuständigkeit des Bundes. Laut Meya wurde vom Ministerium bereits eine Anhebung der Schwelle gefordert. Dieser Forderung setzte das Bundeswirtschaftsministerium Ende Juli eine Übergangsregelung entgegen: Zertifizierungsstellen dürfen bis Dezember 2025 Zertifikate mit der Auflage erteilen, „dass noch fehlende Nachweise innerhalb von 18 Monaten nachzureichen sind“, wie Susanne Ungrad vom Wirtschaftsministerium sagt. PV-Anlagen bis 950 Kilowatt dürften dadurch schon jetzt vorläufig ans Netz angeschlossen werden. Wie sich diese Übergangsregelung auf die Inbetriebnahme auswirke, könne der Bundesverband Solarwirtschaft noch nicht abschätzen. So wie der Firma Steinicke erging es aber bislang vielen Betreiber:innen. „Die Wartezeiten dauern teilweise bis zu einem Jahr“, wie Körnig bereits im vergangenen Jahr in den Medien sagte. Das führe bislang dazu, dass viele Be­trei­be­r:in­nen unterhalb der Zertifizierungsschwelle von 135 Kilowatt blieben. Ob die Energiewende durch die Übergangsregelung des Wirtschaftsministeriums beschleunigt werden kann, bleibt fraglich. Denn der Zertifizierungsstau ist damit nicht vom Tisch – er ist nur aufgeschoben.
David Wasiliu
In Niedersachsen hat ein Forschungsprojekt Potentialflächen für Photovoltaik ausgewiesen. Doch es hakt vor allem am Netzanschluss.
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Stall als Nabel der Welt: Der Hahn im Netz - taz.de
Stall als Nabel der Welt: Der Hahn im Netz Urlaub auf dem Bauernhof ist ein touristisches Erfolgsmodell. Die Südtiroler Bergbauern, einst als Hinterwäldler belächelt, liegen heute mitten im globalen Dorf. Eine Hofberichterstattung Bauernhof von St. Christina in Gröden vor Langkofelgruppe Bild: Südtirol Marketing/Tappeiner Schlag zwölf legt sich ein gewaltiger Schatten über den Pristingerhof, kalt und plötzlich wie ein Fluch. Eine Wolke? Doch der Südtiroler Himmel erstrahlt in blankem Blau. Eine Sonnenfinsternis? Davon ist nichts bekannt. Es schien doch den ganzen Vormittag lang die Sonne über dem Hof, der in bester Südlage unterhalb der Seiser Alm aufragt. Nach zwanzig Minuten kehrt das Licht dann wieder. Der Sandner wars. Die äußerste Spitze des Schlernmassivs, ein sagenumwobener Zacken, der wie der Fangzahn eines Sauriers aus dem Felsstock ragt. Während der kürzesten Tage des Jahres signalisiert er wie der Zeiger einer Sonnenuhr, dass hoher Mittag ist und tiefer Winter. Zu dieser Zeit finden sich zahlreiche Gäste bei Familie Planer ein. Sie machen Winterurlaub auf dem Bauernhof. Genauer: auf dem Biobauernhof. Selbst für Südtiroler Verhältnisse ist Rudolf Planers Hof ein kleiner Hof, es steht nicht viel mehr Vieh in seinem Stall als in dem von Bethlehem. Bauer Rudolf sichert als Altenpfleger das Grundeinkommen, Bäuerin Josefine betreut zusätzlich die Urlaubsgäste. Die Planers sind einfache Leute, etwas scheu. In ihrer Lebensgestaltung von einer Behutsamkeit, die zwischen Sorgfalt und Besorgnis liegt und die sie mit ihrer Klientel verbindet. Denn wer ausdrücklich auf einem Biohof Urlaub machen will, hat ein skeptisches Verhältnis zur Umwelt. Im Pristingerhof bewahrt ein Netzfreischalter die Bewohner des Nachts vor elektromagnetischen Strahlen. Massivholzmöbel und unlackierte Dielenböden stellen sicher, dass keine Schadstoffe entweichen, selbst dann nicht, wenn sie eines fernen Tages entsorgt werden sollten, als Brennmaterial für die Warmwasserheizung nämlich. Der Müll wird gewissenhaft getrennt. Und natürlich stammen alle hofeigenen Erzeugnisse, ob Marmeladen, Eier oder Frischkäse, aus biologischer Produktion. Für die Gäste, für die Kinder vor allem, bildet der Stall den Nabel der Welt. Die Eltern müssen sie manchmal regelrecht loseisen, um den Winterfreuden frönen zu können. Meist auf der nahen Seiser Alm, der größten Spielwiese Südtirols. Der am 23. Januar anstehende "Moonlight Marathon", ein zünftiges Langlaufrennen über die legendären 42,195 Kilometer, gibt eine Vorstellung von den Ausmaßen dieser Megaalm. Die Loipe kreuzt Skipisten, Rodelbahnen, Schneeschuh- und Pferdeschlittenrouten. Wenn trotz aller Angebote Langeweile aufzukommen droht, lädt die Bäuerin zum Bastelnachmittag. Mit organischen Materialien vom Hof, versteht sich. Da sitzen dann Alte und Junge beisammen und fertigen Filzfiguren oder dralle Strohtiere. Wie etwa den kapitalen Gockel an der Hofeinfahrt, das unübersehbare Symbol des "Roten Hahns". Unter diesem Zeichen hat sich die Mehrzahl der über 2.000 landwirtschaftlichen Betriebe Südtirols zusammengeschlossen, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten. Eine "Dachmarke" heißt das im Marketingdeutsch, eine Organisationsstruktur, die Reichweite, Orientierung und Identität verheißt. In diesem Fall mit bemerkenswertem Erfolg. Seit die Vereinigung vor acht Jahren ins Leben gerufen wurde, hat sich die Zahl der Nächtigungen verdoppelt. Dabei ist ihr Herzstück eine rein virtuelle Angelegenheit - die gemeinsame Website. Josefine Planer: "Neun von zehn Gästen finden über das Internet zu uns. Entweder kommen sie über die Homepage des Roten Hahns, oder sie geben in die Suchmaschinen ,Biobauer' und ,Südtirol' ein und landen ziemlich schnell bei uns." Selbst die entlegensten Höfe, die noch vor dreißig Jahren nur zu Fuß erreichbar waren und lediglich über kaltes Wasser im Brunnentrog verfügten, haben heute ganz selbstverständlich Mobiltelefon und Internetanschluss, oft auch eine eigene Homepage in drei oder vier Sprachen. Die Südtiroler Bergbauern, vielfach als heroische Hinterwäldler angesehen, sind zu Vorreitern virtueller Präsenz geworden. Ihre Höfe liegen mitten im globalen Dorf. Damit sie sich selbst nicht zu sehr Konkurrenz machen, haben viele sich spezialisiert. Es gibt Wander-, Wellness- und Reiterhöfe, explizit familienfreundliche Betriebe und historische Bauernhöfe. Einige Gehöfte in flachen Talgründen haben sich auf behinderte Gäste eingestellt, ihre Pendants in den höchsten Lagen auf Allergiker, da dort kaum Pollenflug auftritt. "Tirtl", ein Stück Südtiroler Küche Bild: Südtirol Marketing/Helmuth Rier Die Aufnahmebedingungen sind erstaunlich streng. So müssen alle Mitglieder des Roten Hahns umfangreiche Hofmappen anlegen, die den Besuchern erzählen, wo und bei wem sie zu Gast sind. Sie müssen über eine gut sortierte Bibliothek verfügen und überwiegend hofeigene Produkte anbieten. Die Unterkünfte werden jährlich kontrolliert. Besonders streng sind die Auflagen für Hof- und Buschenschankbetriebe, die der Tafelrunde der "bäuerlichen Feinschmecker" angehören wollen. Die Durchfallquote liegt bei siebzig Prozent. Edith Marsoner aber vom Schiffereggerhof in Sankt Sigmund hat diese Hürde mit Leichtigkeit genommen. Wenn sie nicht hoch über dem Pustertal Haus und Hof hätte, dazu Mann und Kinder und pflegebedürftige Schwiegereltern, sie wäre wohl längst eine gefeierte Spitzenköchin geworden. Alles, was die leutselige Bäuerin in die Hand nimmt - und das sind vorwiegend eigene Erzeugnisse, vom Kitzfleisch bis zum Himbeersaft -, gerät zu einer gastronomischen Offenbarung. Der intimen Philosophie des Roten Hahns folgend, tischt sie Südtiroler Küche für Eingeweihte auf, "Tirtln" etwa, "Erdäpfelblattlen" und "schwarzplentene Riebl". Besonders für Urlauber aus der Stadt bildet so ein Bauernhof ein schier therapeutisches Kontrastprogramm. Zu Familie Jocher vom Frötscherhof etwa kommen Stammgäste vom Niederrhein schon seit über zwanzig Jahren. Der Herr Ingenieur kennt kaum ein größeres Vergnügen, als allabendlich den Kuhstall auszumisten. Je älter die Höfe, desto spektakulärer die Lage. Die mittelalterlichen Pioniere besiedelten die besten, sonnigsten Hänge zuerst. Der Frötscherhof, ein wuchtiger Ansitz mit Schießscharten im dicken Mauerwerk, stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde kürzlich fürs 21. fit gemacht. Mit Hackschnitzelheizung und Solarzellen, baubiologischer Einrichtung und sechs verschiedenen Mülltonnen. Und wenn die Gäste dann zu Hause den mitgebrachten Speck oder den Graukäse anschneiden oder den Maulbeersaft ausschenken oder den Blauburgunder verkosten - dann huldigen sie den wahren Werten Südtirols.
Stefan Schomann
Urlaub auf dem Bauernhof ist ein touristisches Erfolgsmodell. Die Südtiroler Bergbauern, einst als Hinterwäldler belächelt, liegen heute mitten im globalen Dorf. Eine Hofberichterstattung
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Hannover gegen Leverkusen: Keine drei Punkte verdient - taz.de
Hannover gegen Leverkusen: Keine drei Punkte verdient Nur Unentschieden trennen sich Hannover und Leverkusen, weil Helmes 60 Sekunden vor Schluss der Ausgleich gelingt. Dennoch gewinnt Hannover an Selbstbewusstsein. Da war noch alles gut: Didier Ya Konan klatscht Trainer Mirko Slomka nach dem 1:0 ab. Bild: dpa Karim Haggui war schon auf dem Weg in die Kabine, als er sich noch einmal umdrehte und versuchte, den Augenblick des späten Gegentores in Worte zu fassen. "Die Enttäuschung ist sehr groß", sagte der tunesische Abwehrspieler von Hannover 96. Aus dem Bemühen, sich den Frust von der Seele zu reden, wurde aber nichts. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, den leeren Blick und den traurigen Gesichtsausdruck loszuwerden, nachdem 60 Sekunden vor dem Ende der äußerst unglückliche Ausgleich beim 2:2 gegen Bayer Leverkusen gefallen war. "Wenn man kurz vor Schluss den Sieg aus der Hand gibt", sagte Haggui und schaute ungläubig auf den Boden, "dann tut das sehr weh". Aussagen wie diese klingen fußballhistorisch im ersten Moment ein wenig überraschend. Denn es ist lange her, dass man im unscheinbaren Hannover, wo sportliche Schwindelanfälle in der Vergangenheit deutlich häufiger waren als spielerischer Glanz, einem Unentschieden gegen die ansonsten aufregende Mannschaft von Bayer Leverkusen nicht mit der klassischen Demut begegnete. "Die drei Punkte wären mehr als verdient gewesen", versuchte sich Sergio Pinto, Hannovers defensiver Mittelfeldspieler, erst gar nicht in Zurückhaltung. Das ist alles andere als selbstverständlich - und nicht allein durch die wunderbar vielversprechende Darbietung vor 40.852 Zuschauern im alten Niedersachsenstadion zu erklären. Es ist vielmehr das ganz neue Selbstbewusstsein einer Mannschaft, die nach einer miserablen Vorbereitung und der absurden Pokalniederlage in Elversberg für viele bereits als sicherer Absteiger festgestanden hatte - und nun nach drei Spielen nicht vorhersehbare sieben Punkte auf dem Konto hat. Die unfassbare Frage, dank des guten Auftakts sei in dieser Spielzeit doch sicherlich mehr möglich als nur der Versuch, Platz 15 zu erreichen, war nach nur drei Spieltagen dagegen genauso erschreckend wie vorhersehbar. In Hannover verlaufen die Grenzen zwischen Euphorie und Enttäuschung fließend, eine ausgesprochene Grundnervosität gehört zu den ganz normalen Begleiterscheinungen einer Saison. "Nichts ist möglich", ließ sich Sergio Pinto aber nicht darauf ein. Den Hoffnungen und Wünschen begegnen sie dieser Tage erstaunlich besonnen und bodenständig. Es sieht beinahe so aus, als hätten sie aus den abwechslungsreichen vergangenen Wochen gelernt und sich nach außen, gewissermaßen als Selbstschutz, eine sympathische Bescheidenheit verschrieben. "Für uns geht es nach wie vor ganz allein um den Klassenerhalt." Dabei waren sie an diesem sonnigen Samstagnachmittag durchaus verdächtig, in dieser Saison damit wohl nichts zu tun zu haben. Hannover spielte frech nach vorne und ließ sich auch von der einen oder anderen fußballerischen Unvollkommenheit nicht von ihrem Spiel abbringen. Es war bezeichnend für die überraschend harmlosen Gäste, dass Michael Ballack nach einer Fraktur des Schienbeinköpfchens bei seiner Auswechslung die auffälligste Szene hatte. Didier Ya Konan brachte die Gastgeber, nach einem aberwitzigen Aussetzer von Sami Hyypiä, traumwandlerisch sicher in Führung (20.). Nach dem überflüssigen Platzverweis des österreichischen Innenverteidigers Emanuel Pogatetz erhöhte Mohammed Abdellaoue kurz nach der Pause nicht unverdient (49.), ehe Leverkusen durch Eren Derdyok (62.) und Patrick Helmes (89.) aus zwei Möglichkeiten noch der glückliche Ausgleich gelang. Mirko Slomka, der Trainer von Hannover 96, erlebte die spannende Schlussphase nach einem theatralischen Kniefall von der Tribüne aus. Das wohlwollende Lob der Gäste konnte ihn über den schmerzlichen Gegentreffer kurz vor Schluss aber nicht hinwegtrösten, ebenso wenig wie der eine Zähler gegen die großen Leverkusener. "Drei Punkte wären wunderbar gewesen", sagte Slomka. Und alles andere als unverdient.
Christoph Zimmer
Nur Unentschieden trennen sich Hannover und Leverkusen, weil Helmes 60 Sekunden vor Schluss der Ausgleich gelingt. Dennoch gewinnt Hannover an Selbstbewusstsein.
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Geschichte erleben - taz.de
Geschichte erleben Viele der Freilichtmuseen in NRW bieten im Sommer Attraktionen und Ferienprogramme für Kinder an Sommerzeit ist „Freilichtmuseumszeit“ – das hofft man zumindest im Freilichtmuseum Hagen. Im „Landesmuseum für Handwerk und Technik“, in dem schwerpunktmäßig Handwerke und kleine Gewerbebetriebe vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu sehen sind, werden in diesem Jahr bis zu 180.000 Besucher erwartet. Neben der Dauerausstellung zu traditionellen Handwerkstechniken, Herstellungsverfahren und Lebensweisen ist ein umfangreiches Sommerprogramm geplant, dass dazu beitragen soll, diese Marke auch zu erreichen: Historische Spiele für Kinder, Bastel- und Handwerksworkshops, thematische Führungen, Sonderausstellungen und Mitmachprogramme sollen die Besucher – und vor allem Kinder – anlocken. Den Höhepunkt bildet eine Open-Air-Aufführung von Verdis Oper „Nabucco“ am 21. August, die vom Ensemble der Staatsoper Stettin inszeniert wird. Doch die „Konkurrenz“ schläft nicht. Auch die anderen nordrhein-westfälischen Freilichtmuseen wollen die Ferienzeit nutzen, um all diejenigen anzulocken, die ihren Urlaub zu Hause verbringen. In der Papiermühle Alte Dombach, die zum Rheinischen Industriemuseum gehört, dreht sich, wie es der Name schon nahe legt, alles um die historische Herstellungs- und Verarbeitungsweise von Papier. Anders als in Hagen, wo die Museumsgebäude größtenteils rekonstruiert oder wiederaufgebaut sind, ist das Ambiente in Bergisch Gladbach historisch authentisch. Der Museumsstandort in Bergisch Gladbach nutzt eine um 1614 gegründete Papiermühle und eine Papierfabrik. Die lange Bau- und Nutzungsgeschichte der Alten Dombach lässt sich noch heute an den Gebäuden ablesen. Sie wurden für die Museumsnutzung unter Berücksichtigung denkmalpflegerischer Wünsche umgebaut. Die historischen Nutzungsstrukturen konnten auf diese Weise erhalten werden. Im Bergischen Freilichtmuseum in Lindlar, dem „ersten ökologischen Freilichtmuseum Deutschlands“, steht die Landbevölkerung des 19. und 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Auf einer 25 Hektar großen Fläche im Lingenbachtal soll die Kulturlandschaft gezeigt werden, wie sie vor hundert Jahren aussah. Stück für Stück soll die Ausstellungsfläche wieder in den Zustand versetzt werden, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor dem Einsetzen der Industrialisierung, vorherrschte. Ganz nach historischem Vorbild wird sie bewirtschaftet und genutzt. „So nah am Original wie möglich“, ist das Motto der Museumsmacher. Während der Sommerferien gibt es ein eigenes Ferienprogramm für Kinder zwischen sechs und 14 Jahren. JAS
JAS
Viele der Freilichtmuseen in NRW bieten im Sommer Attraktionen und Ferienprogramme für Kinder an
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Kommentar IGH-Urteil zu Mazedonien: Eine Chance für Griechenland - taz.de
Kommentar IGH-Urteil zu Mazedonien: Eine Chance für Griechenland Die Entscheidung des IGH setzt dem absurden Treiben kein Ende - könnte aber die streitenden Länder zur Besinnung bringen. Gerade Griechenland hat allen Grund dazu. Das hat uns gerade noch gefehlt: eine Zuspitzung des seit 20 Jahre schwelenden Namensstreits zwischen Griechenland und seinem Nachbarstaat Mazedonien, der sich auf Betreiben Athens - und Beschluss der UN - auf internationaler Ebene "Frühere jugoslawische Republik Mazedonien" (oder auf Englisch kurz "Fyrom") nennen muss. Ob es dazu kommt, liegt allein an der Reaktion der beteiligten Parteien. Denn die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) am Montag setzt dem absurden Treiben zwar kein Ende - könnte aber die streitenden Länder zur Besinnung bringen. Besonders Griechenland hat allen Grund, diese Chance zu ergreifen. Man sollte meinen, dass ein Land, das am ökonomischen Abgrund steht, andere Sorgen hätte. Die erste Reaktion des Athener Außenministeriums klingt denn auch moderat. Fragt sich nur, ob in Athen die Logik die Oberhand behält. Der Zweifel hat einen Namen: Antonis Samaras. Der Parteiführer der Nea Dimokratia, die seit drei Wochen halbherzig an der "Regierung der nationalen Rettung" unter Lukas Papadimos beteiligt ist, brachte vor 20 Jahren einen vernünftigen Namenskompromiss zu Fall. Der AutorNIELS KADRITZKE schreibt für die taz. Damals hat Samaras mit seinem patriotischen Furor sogar die ND-Regierung Mitsotakis gesprengt. Dass er damit seinem Land einen Bärendienst leistete, ist den meisten Griechen heute bewusst. Aber Samaras selbst hat nie ein Wort der Selbstkritik geäußert. Athen sollte auf der nächsten Nato-Ratstagung nicht ein zweites Mal versuchen, den Beitritt des Nachbarstaats zu verhindern, auch wenn der Namensstreit bis dahin nicht beigelegt wird. Denn das würde erneut gegen das Interimsabkommen verstoßen, das Skopje und Athen 1994 abschlossen. Jetzt kann Samaras zeigen, ob er dazugelernt hat - oder ein Mann von gestern geblieben ist.
Niels Kadritzke
Die Entscheidung des IGH setzt dem absurden Treiben kein Ende - könnte aber die streitenden Länder zur Besinnung bringen. Gerade Griechenland hat allen Grund dazu.
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Vorwahlen in Argentinien: Veränderung nach zwei Jahrzehnten - taz.de
Vorwahlen in Argentinien: Veränderung nach zwei Jahrzehnten Die Vorwahlen am Sonntag in Argentinien sind mehr als nur ein Stimmungsbild für die Wahlen im Herbst. Ein Generationswechsel ist im Gange. Für eine Überraschung gut: Der anarcho-neoliberale Ökonom Javier Milei mit seiner neuen Partei Foto: Agustin Marcarian/reuters BUENOS AIRES taz | Am Sonntag finden in Argentinien Vorwahlen statt. Rund 35 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, die Kan­di­da­t*in­nen für die anstehenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen im Oktober zu bestimmen. Da die Stimmabgabe obligatorisch ist, geht es bei der Wahl auch um das Kräfteverhältnis zwischen der linksprogressiven Regierungsallianz Unión por la Patria (Union für das Vaterland) und der rechtsliberalen Oppositionsallianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel). Doch diesmal geht es um mehr. „Argentinien befindet sich in einer Übergangsphase“, sagt Artemio López, Direktor des Sozialforschungsinstituts Equis. Die Tatsache, dass erstmals weder die amtierende Vizepräsidentin und ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner (2007–2015) noch der ehemalige Präsident Mauricio Macri (2015–2019) kandidieren, zeige, dass sich ein zwei Jahrzehnte dauernder Zyklus dem Ende zuneige, so López. Zusammen mit dem verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner (2003–2007) beherrschten sie zwei Jahrzehnte lang die politische Szene des Landes. Alle sind Söhne und Tochter der tiefen Krise von 2001, aus der ihre linksprogressiven und liberalkonservativen Allianzen hervorgegangen sind, so López. „2003 setzte Néstor Kirchner dem Neoliberalismus der Vorgängerregierungen ein Modell entgegen, das auf den sozialen Einschluss der Menschen gerichtet ist.“ Dies hat zu einer Polarisierung geführt, in der sich die politische Mitte nahezu aufgelöst hat. Generationswechsel bei Kandidaten und Wählern Da der amtierende Präsident Alberto Fernández (2019–2023) ebenfalls auf eine erneute Kandidatur verzichtet, ist der Kampf um die Führung in beiden Allianzen in vollem Gange. Doch nicht nur an den politischen Schaltstellen der Macht steht der Generations- und Führungswechsel bevor, auch wenn Kirchner und Macri weiterhin im Hintergrund die Fäden ziehen. Unter den Wahlberechtigten ist der Generationswechsel ebenfalls im Gange. 30 Prozent der Wahlberechtigten kennen die Regierungszeit von Néstor Kirchner nur aus den Geschichtsbüchern, und die, die heute zum ersten Mal wählen dürfen, sind um das Jahr 2007 geboren – als Cristina Präsidentin war, waren sie noch Säuglinge oder kleine Kinder. Selbst den Ar­gen­ti­nie­rn wird schwindelig: Die Inflation könnte auf 120 Prozent steigen Die aussichtsreichsten An­wär­te­r*in­nen für eine Präsidentschaftskandidatur sind auf Regierungsseite Wirtschaftsminister Sergio Massa und bei der Opposition Horacio Rodríguez Larreta, Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, sowie die Vorsitzende der Macri-Partei PRO, Patricia Bullrich. Für eine Überraschung könnte der anarcho-neoliberale Ökonom Javier Milei sorgen, der mit seiner neuen Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) bei den letzten Wahlen 2021 einen Achtungserfolg eingefahren hat. „Noch hat keiner die politische Stärke von Cristina oder Macri“, sagt López. Sie seien „Führungspolitiker*innen des Übergangs“. Die möglichen politischen Allianzen seien komplett offen, so der Equis-Direktor. Die politische Polarisierung werde sich jedoch fortsetzen, zumal mit dem libertären Milei, rechts der rechtsliberalen Oppositionsallianz, ein ernstzunehmender Akteur aufgetaucht ist. Umfragen sehen Opposition bei den Wahlen im Herbst vorne Die Mehrzahl der Umfrageinstitute sagt einen Triumph der Opposition in den Wahlen im Herbst voraus. Keine Überraschung. Die soziale Bestandsaufnahme der Regierungspolitik fällt verheerend aus. Das alles beherrschende Thema ist die Inflation. Nach dem am Montag vorgestellten Verbraucherpreisindex der Stadt Buenos Aires stiegen die Preise im Juli abermals um 7,3 Prozent im Vergleich zum Vormonat Juni. Damit klettert der Preisanstieg in den ersten sieben Monaten des Jahres auf 63 Prozent. Private Wirtschaftsforschungsinstitute sagen inzwischen eine jährliche Inflation von über 120 Prozent voraus. Dabei gehört die Inflation in Argentinien quasi zum Alltagsleben. Die im Jahr 2000 Geborenen wuchsen mit einer jährlichen Inflationsrate auf, die in ihren ersten 19 Lebensjahren zwischen 10 und 35 Prozent schwankte. Ab 2019 lag sie dann zum ersten Mal über 50 Prozent. Seit sich 2022 der Preisanstieg beschleunigt hat, wird selbst den inflationserfahrenen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen schwindelig. „Der Schlüssel zum Wahlerfolg ist zu zeigen, wie die Einkommenskrise gelöst werden kann“, so López. Mit Wirtschaftsminister Massa hat die Regierungsallianz allerdings einen der Hauptverantwortlichen für die miserable Lage als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl vorgeschlagen. Das Marktforschungsinstitut Focus Market hat den Verlust des Preisgefühls kürzlich unterstrichen, indem es einen Supermarktverkaufsflyer aus dem Jahr 2007 mit einem aktuellen verglichen hat: ein Kilo Rindersteaks für 7,99 Pesos gegenüber den aktuellen 1.820 Pesos. Der Kaufkraftverlust der Einkommen ist dramatisch. Nach Angaben des Produktionsministeriums liegt der Nettodurchschnittslohn im formalen öffentlichen und privaten Sektor bei 207.000 Pesos. Der Wert des Basiswarenkorbes für eine vierköpfige Familie, der die Armutsgrenze in Argentinien markiert, beträgt 215.000 Pesos. Noch prekärer ist die Lage im informellen Sektor, der nahezu die Hälfte der argentinischen Wirtschaft ausmacht. Gegenwärtig leben 40 Prozent der 46 Millionen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen in Armut.
Jürgen Vogt
Die Vorwahlen am Sonntag in Argentinien sind mehr als nur ein Stimmungsbild für die Wahlen im Herbst. Ein Generationswechsel ist im Gange.
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Berliner, verschwendet Wasser! - taz.de
Berliner, verschwendet Wasser! Bodo Weigert, Bio-Ingenieur und Geschäftsführer von Wasserforschung e. V., über die Gründe, warum sich in Berlin der Wasserverbrauch verringert hat, das Grundwasser steigt und wir trotzdem immer höhere Gebühren zahlen müssen taz: Wie sieht es hier in Berlin mit dem Trinkwasser aus? Bodo Weigert: Die Besonderheit Berlins als Weltmetropole ist, dass Berlin sein Wasser nur auf innerstädtischem Gebiet gewinnt. Das Uferfiltrat, also versickerndes Wasser aus den Gewässern Spree und Havel, und natürliches Grundwasser ergibt in der Summe das Trinkwasser. Ungefähr 70 Prozent Uferfiltrat und 30 Prozent Grundwasser. Also 3,4 Millionen nutzen täglich Berliner Wasser, das als Abwasser wieder in die Gewässer zurückgeht. Trinken wir unser Wasser nicht mehrmals? Ja, theoretisch ist das so. Manche sagen, wir sitzen in unserer Badewanne und trinken immer wieder unser Badewasser. Aber da wir eine hervorragende Aufbereitung haben, können Sie sicher sein, dass das Wasser wieder Grundwasserqualität hat. Wie hat sich der Wasserverbrauch in Berlin in den letzten Jahren verändert? Seit der Wende 1989 ist der Wasserverbrauch in Berlin von 140 Litern pro Tag und Kopf auf 125 Liter zurückgegangen. Da auch der Industriewasserverbrauch stark abgenommen hat, ist in Berlin der Wasserbrauch insgesamt um 40 Prozent zurückgegangen. Eine positive Entwicklung. Im Prinzip ja. Aber ein Problem ist, dass wir in Berlin dadurch auch einen Anstieg des Grundwasserspiegels haben. Und damit wird nun auch Bausubstanz geschädigt. Dieses Problem der feuchten Keller ergibt volkswirtschaftliche Kosten, die dagegengerechnet werden müssen. Also: Sparen ist sinnlos, besser Wasser verschwenden? Nein, denn insgesamt macht Wassersparen natürlich immer Sinn. Hier in Berlin ist man aber meines Erachtens an einer Grenze angelangt, wo tatsächlich diskutiert werden muss, ob es sinnvoll ist, Wassersparmaßnahmen noch weiter auszudehnen. Sonst wird der Grundwasserspiegel weiter ansteigen. Es ist kein Problem, das Grundwasser abzupumpen, das kostet aber Energie und ist ökologisch nicht sinnvoll. In Berlin ist also Wasser im Überfluss da, trotzdem wird es immer teurer. Wie kommt das? Was wir bezahlen, ist ja nicht das Wasser. Wir bezahlen die Dienstleistung, Wasser aus dem Hahn im Haus zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben. Doch abgerechnet wird nach Kubikmetern. Nun liegen die Wasserleitungen weiterhin in der Erde und müssen gewartet werden. Dazu braucht es Investitionen. Nun wird aber weniger Volumen durchgeleitet. Das heißt, Geld muss reinkommen und der Wasserpreis steigt. Außerdem belastet der Senat mit dem Plan, eine Konzessionsabgabe zu erheben, den Wasserpreis. Bedeutet das für mich als Verbraucher aber nicht, dass ich bei den hohen Preisen nun erst recht Wasser sparen möchte? Ja, das ist wirklich ein Problem. Vielleicht muss man sich Gedanken machen, ob das nicht anders geregelt werden muss. Das ist ja eine Art Solidarpakt, den man als Verbraucher schließt: Wir alle nutzen das Leitungssystem, das in der Erde liegt, Trinkwasser und Abwasser. Wenn ich nun sage, ich nutze nur noch Regenwasser, weil mir das andere zu teuer ist, dann müssen die Leute, die übrig bleiben, diese Kosten übernehmen. Auch das wäre nicht sozial. INTERVIEW: ANNE RUPRECHT
ANNE RUPRECHT
Bodo Weigert, Bio-Ingenieur und Geschäftsführer von Wasserforschung e. V., über die Gründe, warum sich in Berlin der Wasserverbrauch verringert hat, das Grundwasser steigt und wir trotzdem immer höhere Gebühren zahlen müssen
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Dreh in Himmelreich - taz.de
Dreh in Himmelreich ■ Mirjam Kubescha schaffte es, mit ihrem ersten Übungsfilm gleich zum internationalen Filmfestival nach Cannes eingeladen zu werden Allzu angestrengtes Kunstwollen verhindert oft Kunst. Das gilt auch fürs Leben: Wer etwas erreichen will, darf es nicht erreichen wollen. Der derzeit beste Beweis für diese These lebt in München und heißt Mirjam Kubescha. In einem Dorf bei Dachau mit dem schönen Namen Himmelreich hat die 26jährige im vergangenen Jahr einen Film gedreht. Das nötige Geld pumpte sie sich von ihrer Familie, von „Oma, Opa, der anderen Oma, meiner Tante, Mutter und Schwester – nein, halt, meine Schwester hat mir nichts gegeben.“ In Kürze ist der Film beim internationalen Filmfestival in Cannes zu sehen. Ein unglaublicher Erfolg, wenn man bedenkt, daß „Inside the Boxes“ ihr erster Film ist und daß sie sich nie für Cannes, geschweige denn für irgendein anderes Festival beworben hat. Strenggenommen hat sie nur ihre Hausaufgaben gemacht. Drehen Sie einen Kurzfilm in Schwarzweiß ohne Dialoge, lautete die Aufgabenstellung für ihre Filmhochschulklasse am Ende des ersten Semesters. Mit der Leistung mußte man es nicht so genau nehmen: Die Fingerübung wurde nicht benotet. Doch Kubescha sah die Zeit gekommen, endlich ihr „Herzblut-Ding“ durchzuziehen, den Film, den sie bereits zwei Jahre vorher geschrieben hatte, der aber mangels Geld, Equipment und Gelegenheit immer nur vor ihrem geistigen Auge ablief. Mit den Aufnahmen fing sie erst an, als alle anderen aus ihrer Klasse schon fertig waren. „Ich wollte den Film bis ins Detail vorbereiten und mir die Schauspieler gründlich aussuchen. Für eine Rolle habe ich mir 50 Leute angeschaut. Ich bin halt doch eine Perfektionistin.“ Nachdem soweit alles im Kasten war, hat sie das Material viermal umgeschnitten. Dann stand plötzlich Heinz Badewitz im Hörsaal. Der urig-skurrile Franke, Herr über ein in der finstersten Provinz beheimatetes Society-Ereignis namens Hofer Filmtage, stattete den Münchnern wieder einen seiner neugierigen Besuche ab. Er war recht angetan und holte „Inside the Boxes“ im Herbst nach Hof. Daß Badewitz auf die sehr poetische und gleichzeitig fesselnde Geschichte ansprang, hat wohl mit seiner Vorliebe fürs schnickschnacklose Erzählkino zu tun. In Wirklichkeit sei ihr Kurzfilm ein Miniatur-Langfilm, sagt Mirjam Kubescha, ein „komprimiertes Epos“. In einer regennassen Nacht in irgendeinem Kriegsgebiet (die Regisseurin läßt offen, wo, legt aber Bosnien nahe) verliert eine Familie ihr Zuhause: Erst wird der Vater, der eben noch am Küchentisch mit einem Füller Zaubertricks für seine Tochter vorführte, von Milizionären abgeholt. Kurze Zeit später sitzen Kind und Mutter in einem Auto und fahren Richtung Grenze. „Abschied von der Kindheit“ nennt Kubescha das Thema ihres Films – erstaunlich, denn politische Allegorien liegen beim ersten Hingucken eher auf der Hand. Spätestens wenn der Wagen über die Demarkationslinie rollt, wird aber klar, daß das Mädchen außer der staatlichen Grenze noch eine andere überschreitet. Die Frage für sie ist, was kann sie mitnehmen? Soll sie ihren Paß dalassen oder den Zauberfüller? Beides zusammen paßt nicht in die Schachtel im Rucksack. Die Situation ist zu gleichen Anteilen magisch und realistisch. So braucht man nie Angst zu haben, daß im nächsten Moment paradiesische Vorstellungen von Kindheit herbeischwadroniert werden. Kubescha, die bis zum Abitur im Großraum Gießen lebte, spürte lange Zeit eine Schwellenangst, „zum Film zu gehen, wo ich doch aus einer Kleinstadt komme“. Nach der Schule ging sie erst, der Kunstgeschichte wegen, nach Perugia in Italien, wieder eine Kleinstadt, aber eben Italien. Dann ließ sie sich für fünf Jahre in Paris nieder, „lernte zu leben“ und studierte an der Sorbonne Filmtheorie. Abschlußarbeit über Wim Wenders' „Paris Texas“. Im großen und ganzen hat ihr die Provinz Glück gebracht. Hof krempelte ihr Leben um, und zurück in München, wo sie als einziger Wim- Wenders-Fan in ihrer Klasse nicht immer den leichtesten Stand hat, kam es dann noch besser. Beim internationalen Festival der Filmhochschulen war „Inside the Boxes“ zwar nicht eingeplant, aber ein anderer Film fiel aus. Und so setzte sich Mirjam Kubescha, die an jenem Tag am Info-Tisch des Festivals arbeitete, ins Taxi und nahm ihre Produktion kurzerhand selbst ins Programm. Im Publikum saß zufällig Laurent Jacob, Talentscout und Sohn des Cannes-Festivalchefs Gilles Jacob. In welchem Wettbewerb ihr Film genau läuft und ob es da Goldene Palmen gibt, weiß sie nicht. In zwei Wochen wird man's sehen. Oliver Fuchs
Oliver Fuchs
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Europäische Nationenliga: Solidarität statt Sinn - taz.de
Europäische Nationenliga: Solidarität statt Sinn Gegen die Bedenken aus Deutschland hat die UEFA einen weiteren Wettbewerb für Nationalteams beschlossen. Der erste Titelträger soll 2019 ermittelt werden. Bedenken: Niersbach kritisiert Platinis Nationenliga. Bild: dpa ASTANA dpa | Die UEFA wird künftig neben der EM einen zweiten großen Europa-Titel für Nationalteams vergeben und Freundschafts-Länderspiele weitgehend abschaffen. Der Kongress der Europäischen Fußball-Union verabschiedete am Donnerstag in Astana einstimmig einen entsprechenden Vorschlag des Exekutivkomitees. Der Sieger des neuen Wettbewerbs soll erstmals im Jahr 2019 und dann alle zwei Jahre in Spielzeiten ohne großes Turnier gekürt werden. Das endgültige Format des neuen Wettbewerbs muss noch mit den 54 Mitgliedsverbänden der UEFA verhandelt werden. Verantwortlich dafür ist das Komitee für Nationalmannschaftswettbewerbe unter Vorsitz von DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Der Chef des Deutschen Fußball-Bundes ließ am Donnerstag durchaus Bedenken an der Sinnhaftigkeit der Nationenliga erkennen. „Trotzdem folgen wir aus Gründen der Solidarität dieser Entwicklung, die einen großen Schritt für die Wertigkeit der Nationalmannschaftswettbewerbe in Europa darstellt“, sagte Niersbach. Klar ist bereits, dass die Teilnehmer-Länder zunächst je nach ihrer sportlichen Stärke in vier Divisionen aufgeteilt werden. Die deutsche Mannschaft dürfte in der Top-Division mit Ländern wie Spanien, Italien und England gesetzt sein. Innerhalb dieser Divisionen werden Untergruppen mit je drei oder vier Teams gebildet, die zwischen September und November 2018 um Auf- und Abstieg zwischen den Divisionen und das Erreichen der EM-Playoffs spielen. Die Gruppensieger der Top-Division ermitteln dann 2019 in einem Finalturnier auf neutralem Platz den ersten Titelträger. Es sei eine „sehr demokratische Entscheidung“ gewesen, sagte UEFA-Präsident Michel Platini. Eine Reihe von Nationen hatte auf den neuen Wettbewerb gedrängt, weil das Interesse an Freundschaftsspielen und deren Vermarktungschancen in den vergangenen Jahren zunehmend geringer geworden waren. Die Zahl der Spiele für die Nationalteams solle nicht steigen, betonte die UEFA.
taz. die tageszeitung
Gegen die Bedenken aus Deutschland hat die UEFA einen weiteren Wettbewerb für Nationalteams beschlossen. Der erste Titelträger soll 2019 ermittelt werden.
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Das vergessene Rezept: Affenfett macht mürbe - taz.de
Das vergessene Rezept: Affenfett macht mürbe Unmut entsteht zuerst am Mittagstisch. Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war. Mit einer Ausnahme: Würzfleisch mit Königin-Pastete. Schmeckt noch besser mit „Wuschtersoße“: Würzfleisch. Bild: imago/Sabine Gudath Kulinarisch betrachtet war der Untergang der DDR eine zwangsläufige Entwicklung. 40 Jahre lang hatten Millionen von Menschen schlecht gegessen. Sie gingen auf die Straße und weil man mit Parolen wie „Mehr Gewürze!“ oder „Wir wollen Auberginen!“ keine Revolution gewinnt, riefen sie eben „Wir sind das Volk!“ oder „Keine Gewalt!“ und hatten am Ende damit Erfolg. Aber eigentlich ging es ums Essen. Wer sich über Jahrzehnte von „Affenfett“, „Beamtenstippe“ oder „Hackus und Knieste“ ernähren muss, der wird mürbe mit der Zeit und will einen anderen Staat. Wenn es zu Hause gut schmeckt, ist auch eine schlechte Regierung erträglich. Silvio Berlusconi konnte sich nur deshalb so viele Jahre an der Macht halten, weil sich die Italiener mehr für ihre Nudelsaucen interessieren als für politische Debatten. Unzufriedenheit entsteht zuerst am Mittagstisch. Doch solange das Olivenöl duftet und das Basilikum frisch aus dem Garten kommt, können einen die Politiker am Culo lecken. taz.am WochenendeVor 25 Jahren fiel die Mauer, alsbald verschwand auch die DDR. Spurlos? taz-Reporter erkunden, was geblieben ist – in den Biografien der Menschen, in Tagebüchern von damals und in Potsdam, einer bis heute geteilten Stadt. taz.am wochenende vom 8./9. November 2014. Außerdem: Hedy Lamarr war der Protoyp der unterkühlten Hollywoodschauspielerin. Dass wir ohne sie nicht mobil telefonieren könnten, weiß kaum jemand. Und: Pulitzer-Preisträger David Maraniss über Barack Obama. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. „Cucina povera“, die „Küche der armen Leute“, nennen sie südlich der Alpen mit einem gewissen Stolz jene Art von einfachen Gerichten, die keine große Kochkunst benötigen, sondern lediglich die besten Zutaten. Hätten mehr Italiener in der DDR gelebt, der Zusammenbruch wäre um Jahre beschleunigt worden. Wer wie ich keine Verwandten östlich der Elbe besaß, wusste ja nichts vom dortigen Elend auf den Tellern. Ich war 23 Jahre alt, als ich das erste Mal mit dem VW-Käfer meiner Mutter in das andere Deutschland fuhr und eine Fleischtheke in Leipzig sah. Da lagen ein paar Bollen fettiges Schweinefleisch neben drei Sorten von Würsten, und allein der Gedanke an einen luftgetrockneten Schinken war strengstens verboten. Missmutig schob sich die Schlange der Kunden an der Theke vorbei, hinter der eine lustlose Verkäuferin die Fleischbollen in Papier einwickelte. Alle Saucen waren Mehlpampen Mir war bis dahin der Sozialismus als Idee durchaus sympathisch gewesen. Nach ein paar Tagen DDR war ich einigermaßen ernüchtert. Ich hatte gelernt, was Sättigungsbeilagen sind, und konnte einen Stängel Petersilie mit einer geviertelten Tomate am Tellerrand nun als „Vitamingarnitur“ identifizieren. Ich hatte in meinem Leben noch nie so schlecht gegessen wie während jener einwöchigen Rundreise durch das heutige Sachsen und Sachsen-Anhalt. Alle Saucen waren Mehlpampen, jedes Gemüse totgekocht. Als Gewürz war mir außer Salz, Pfeffer und hin und wieder Muskat nichts begegnet. Nur ein einziges Mal schmeckte es mir in einem Restaurant, und das lag an der Stasi. Kapitalistisches WürzfleischDie Zutaten: 400 g Kalbsschnitzel, fein gewürfelt; eine Zwiebel, fein gewürfelt; zwei EL Mehl; acht Kapern, gehackt; 0,1 l Weißwein; 0,1 l Sahne; 0,2 l Brühe; vier fertige Blätterteig-Pasteten; 100 g Schnittkäse; Salz; Pfeffer; Muskat; Worcestersauce; vier SchlapphüteDas Rezept: Zwiebel und Fleisch anbraten, mit Mehl bestäuben und mit Weißwein und Brühe aufgießen. Würzen, einkochen, Sahne zugeben, noch mal einkochen lassen. Masse in Pasteten füllen, mit Käse belegen und im Ofen bei 180 Grad 15 Minuten überbacken. Mit Worcestersauce servieren, dazu einen Schlapphut tragen. Die zwei jungen Männer in ihren schwarzen Kunstlederjacken, die mich in einer Leipziger Wohnung unaufgefordert besuchten und mich zum Essen einluden, mussten nicht sagen, woher sie kamen. Ich konnte es riechen. Studenten seien sie, die mit Westdeutschen gerne Kontakt aufnehmen wollten. Während sie ihren Quatsch erzählten, las ich die Speisekarte in einem Restaurant der Leipziger Innenstadt und entschied mich für „Würzfleisch mit Königin-Pastete“. Während die beiden jungen Herren also vor sich hinbrummelten, wie wichtig der Austausch zwischen Ost und West sei und dass ich doch in Zukunft häufiger zum Gedankenaustausch in die DDR kommen solle, brachte der Kellner die mit Käse überbackenen Blätterteigtaschen und einer hellen, fast weißen Füllung. Sie bestand aus einer dicken Sauce, in der ich sehr fein gewürfeltes, mageres Schweinefleisch entdeckte, auch Zwiebeln und sogar eine Kaper. Das Würzfleisch war gut abgeschmeckt, vielleicht sogar mit ein wenig Weißwein, dazu gab es Worcestersauce („Wuschtersoße“) aus der Flasche, und ich nickte dem Kellner anerkennend zu, was meine Tischherren als Zustimmung zu ihren Ausführungen missverstanden. Nach dem Mittagessen verabschiedeten wir uns und ich versprach, bald wiederzukommen. Fuhr aber in den darauffolgenden Jahren dann doch lieber in die Toskana.
Philipp Mausshardt
Unmut entsteht zuerst am Mittagstisch. Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war. Mit einer Ausnahme: Würzfleisch mit Königin-Pastete.
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Demokratisierung in der Praxis - taz.de
Demokratisierung in der Praxis Die Bürger Myanmars (Birmas) haben es geschafft, die Opposition an die Regierung zu wählen – zumindest teilweise. Die Bürger Kambodschas dürfen zwar seit geraumer Zeit auch abstimmen, aber der autokratische Ministerpräsident lässt nicht von der Macht. Beide Länder haben sich von den Jahren brutaler Diktatur noch nicht erholt. Immerhin dürfen die Menschen auf ihrem Weg zu mehr Demokratie nun regelmäßig wählen. In Myanmar bestimmten sie am 1. April bei Nachwahlen Abgeordnete des Parlaments, in Kambodscha am 4. Juni ihre Kommunalvertreter. Doch Wahlen allein machen noch keine funktionierende Demokratie. Die Hoffnungen, die mit Myanmars Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi verbunden waren, sind Ernüchterung gewichen. In Kambodscha wuchert nach wie vor die Korruption. Wir haben die zehn TeilnehmerInnen des jüngsten Workshops der taz Panter Stiftung für Journalisten aus Myanmar und Kambodscha gebeten, Aspekte des politischen Alltags in ihren Ländern zu beschreiben. Wo stehen dort Politik und Gesellschaft heute? Wie demokratisch sind Parteien wirklich? Welche Freiheiten und Grenzen haben die Journalisten? Wie stark sind lokale Interessensgruppen? Die Antworten zeigen: Auch in Südostasien ist Politik das Bohren dicker Bretter. Sven Hansen und Andreas Lorenz
Sven Hansen
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Klimakonferenz in Warschau: Der Gipfel des Lobbyismus - taz.de
Klimakonferenz in Warschau: Der Gipfel des Lobbyismus Kohle- und Ölkonzerne sponsern die Klimakonferenz in Warschau. Unter Protest haben mehr als 70 Umweltgruppen den Gipfel verlassen. Wes Brot ich es, des Lied ich sing? Von der Airline Emirates gibt es 10 Prozent Rabatt für alle Konferenzteilnehmer. Bild: dpa WARSCHAU taz | Die Frage war UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sichtlich unangenehm: „Die Weltgesundheitsorganisation WHO verbietet Werbung der Tabakindustrie. Warum macht das die Klimakonferenz nicht auch mit fossilen Industrien?“ Moons Antwort in der Pressekonferenz am Beginn der Woche: Aussperrung mache keinen Sinn: „Für eine Lösung des Klimaproblems brauchen wir die Energiekonzerne.“ Die globalen Umweltorganisationen sind anderer Meinung. Gestern verließen 70 Organisationen wie Greenpeace, WWF, Friends of the Earth und Oxfam unter Protest die Konferenz, gaben ihre Akkreditierungen ab und wollen nicht mehr wiederkommen. Der „Walk-out“ einen Tag vor den entscheidenden Sitzungen am Freitag solle den „in dieser Form noch nie dagewesenen Einfluss der Wirtschaftsverbände auf den Klimaschutzprozess“ zeigen, sagte der deutsche BUND-Chef Hubert Weiger. „Die fossile Industrie hat die Klimakonferenz in Warschau okkupiert und macht es damit unmöglich, im Klimaschutz voranzukommen“. Tatsächlich ist der Einfluss der fossilen Lobbies auf die Klimaverhandlungen noch nie so deutlich geworden wie in Warschau. Die modische Filztasche für alle Teilnehmer mit Schreibblock, Handschuhen und Mütze und dem Logo der staatlichen polnischen Ölfirma „Lotos“ ist nur die sichtbare Spitze. Etwa ein Dutzend Firmen hat die polnische Regierung als Sponsoren für die 25-Millionen-Dollar teure Veranstaltung an Bord geholt. Die Firmen stellen Autos und Fahrdienste, bauen Konferenzräume auf oder stellen Trinkwasser und Papier für die insgesamt 11.000 Teilnehmer bereit. Auch bisher präsentierten sich auf den Konferenzen Lobbygruppen aus Energie, Landwirtschaft und Industrie genauso wie Kirchen, Umwelt- und Entwicklungsgruppen. Doch in Warschau gibt es zum ersten Mal offizielle Sponsoren. Die industriekritische Organisation „Corporate Europe Observatory“ (CEO) aus Brüssel hat eine umfassende Broschüre über diese „Auswahl der größten Klimaschurken der Geschichte“ erstellt. Zu ihnen gehören der größtenteils staatliche polnische Kohlekonzern PGE, der zwei riesige Braunkohleminen und mit Belchatow das Kohlekraftwerk mit dem höchsten CO2-Ausstoß in ganz Europa betreibt und ein neues Atomkraftwerk bauen will. Zehn Prozent Rabatte bei „Emirates“ PGE-Chef Krzysztof Kilian gilt als enger Vertrauter von Ministerpräsident Tusk. Auf der Liste der Sponsoren steht außerdem der französische Konzern Alstom, der die Kohlekraftwerke des Landes mit Anlagen ausrüstet und an einem neuen 900-Megawatt-Kohleriesen mitarbeitet; dann der Stahlkonzern ArcelorMittal mit CO2-Emissionen wie ganz Tschechien und Lobbyarbeit gegen die Klimaziele in der EU und die Autohersteller BMW und General Motors. Die Fluggesellschaft „Emirates“ aus Dubai bietet zehnprozentige Rabatte für alle Gipfelteilnehmer und wehrt sich international gegen den Emissionshandel für Airlines. Dem Sponsor „International Paper“ wirft CEO Nähe zu den Klimaskeptikern vor. Schließlich ist auch der Ölkonzern „Lotos“ dabei, der in der Ostsee nach Öl bohrt. „Diese Verschmutzer gefährden den UNFCCC-Prozess und unsere Zukunft“, schreibt CEO, „sperrt die dreckigen Unternehmen aus den Verhandlungszimmern aus!“ Wie direkt der Einfluss der fossilen Industrien auf den Klimaschutz ist, zeigt eine aktuelle Studie des „Climate Accountability Institute“ in den USA. Demnach haben nur 90 weltweite Firmen fast zwei Drittel des bisherigen Klimawandels zu verantworten. Die Studie, die demnächst veröffentlicht wird und dem britischen Guardian vorliegt, hat für Aktiengesellschaften, staatliche Betriebe und direkte staatliche Industrie ihre Emissionen seit 1750 zusammengestellt. Auf jeden dieser Sektoren entfallen etwa ein Drittel der historischen Emissionen. Die Hälfte des gesamten Kohlendioxids aus über 260 Jahren wurde demnach erst in den letzten 25 Jahren produziert. An der Spitze der Klimasünder steht nach dieser Studie der Kohlebergbau in Russland und der Ex-UdSSR mit fast neun Prozent aller Emissionen, knapp gefolgt von der Kohleindustrie Chinas. Unter den Energiekonzernen in staatlicher Hand steht Saudi Aramco ganz oben, gefolgt vom russischen Energieriesen Gazprom. Auf das Kohlenstoff-Konto der privaten Konzerne stehen drei Prozent der weltweiten Emissionen für den US-Ölkonzern Chevron/Texaco, knapp gefolgt von ExxonMobil. Deutsche Unternehmen gibt es unter den Top-90 der Klimakiller zwei: RWE mit einem Anteil von 0,5 und die RAG Ruhrkohle mit 0,08 Prozent.
Bernhard Pötter
Kohle- und Ölkonzerne sponsern die Klimakonferenz in Warschau. Unter Protest haben mehr als 70 Umweltgruppen den Gipfel verlassen.
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Daily Dope: "Nimm Salz und trinke viel" - taz.de
Daily Dope: "Nimm Salz und trinke viel" Kurz glaubten Radsportfans, eine neue Form der unerlaubten Leistungssteigerung entdeckt zu haben: Techno-Doping. Doch es dominiert die umfassende Pharma-Kompetenz. Viele Kilometer Dopinglust: Die Strecke Paris-Roubaix. Bild: dpa BERLIN taz | Der Sieger des vergangenen Jahres gehört auch am Sonntag zu den Favoriten. Der Alleinfahrspezialist Fabian Cancellara wird nur schwer zu schlagen sein. Im vergangenen Jahr staunten die Beobachter nicht schlecht über seinen Alleingang auf den letzten Kilometern nach Roubaix. Ein paar von ihnen schauten sich das Rad des Schweizers ganz genau an und glaubten bald, erklären zu können, warum keiner aus dem Feld Cancellara folgen konnte. Er soll einen kleinen Elektromotor in seinen Rahmen eingebaut haben. Schnell war von Techno-Doping die Rede. Kein Wunder: Radsportlern traut man alles zu. Der Weltverband UCI leitete eine Untersuchung ein und heute weiß man: Cancellara fährt ohne Elektromotor. Ein spezielles Graphit-Kugellager und ein eigens dafür optimiertes Öl macht sein Rad schneller als die der Konkurrenten. Entwickelt hat es der Ingenieur Giovanni Cecchini. Cecchini? Da war doch was? Der Name ist wohl bekannt im Peloton. Luigi Cecchini, weder verwandt noch verschwägert mit Giovanni, hat über Jahre etlichen Profis Trainings- und Medikationspläne geschrieben. Der Arzt war ein Schüler des legendären Universitätsprofessors Francesco Conconi, der das Blutdopingmittel Epo für den Radsport entdeckt hat. Fabian Cancellara, der dauernde Weltmeister im Einzelzeitfahren war lange Luigi Cecchinis Kunde. Eher widerwillig beendete er die Zusammenarbeit mit dem Doktor, nachdem diese 2006 bekannt geworden war. Natürlich sagt Cancellara, dass er nie etwas mit Doping zu tun hatte. Und natürlich weiß er, dass nicht wenige, die bei Paris-Roubaix zu Legenden geworden sind, nicht ohne pharmazeutische Hilfsmittel ausgekommen sind in ihrer Karriere. Seinem Ansehen haben die Epo-Experimente nicht geschadet Einer von ihnen ist Francesco Moser. Der Italiener hat das Rennen von 1978 bis 1980 drei Mal hintereinander gewonnen. Insgesamt stand er sieben Mal auf dem Podium und gilt als einer der Heroen des Rennens. Dass er einer derjenigen war, an denen der Epo-Professor Conconi seine sportwissenschaftlichen Experimente am lebenden Sportler vollführte, hat Moser erst Jahre nach seiner Karriere zugegeben. Seinem Ansehen hat das kaum geschadet. Als erster Präsident der Fahrergewerkschaft CPA, die sich 1999 nach dem Drogentod des italienischen Kletterspezialisten Marco Pantani gegründet hat, inszenierte er sich als Kämpfer wider das Doping. Als gefallenen Helden würde ihn wohl keiner bezeichnen. Beim Belgier Johan Museeuw, ebenfalls dreifacher Sieger in Roubaix, ist das durchaus anders. Sein Triumph 2000 rührte manch hartgesottenen Radsportfan zu Tränen. Zwei Jahre zuvor war er auf einer Kopfsteinpflasterpassage des Rennens schwer gestürzt. Die Kniescheibe war zertrümmert und das Bein so angeschlagen, dass die Ärzte über eine Amputation nachdachten. Als er 2000 über die Ziellinie fuhr nahm er seinen linken Fuß vom Pedal, und zeigte auf das Bein, das er beinahe verloren hätte. Seinen Heldenstatus verlor Museeuw spätestens 2008 Seinen Heldenstatus verlor Museeuw spätestens 2008, als ihn ein belgisches Gericht zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt hat. Von einem Tierarzt hatte er sich Epo und das ähnliche wirkende Aranesp besorgt. Der Veterinär beriet den Pedaleur bei der Medikation via SMS. Als Museeuw einmal mitteilte, sein Hämatokritwert liege über dem Grenzwert, schrieb der ebenfalls verurteilte Arzt zurück: "Nimm Salz und trinke viel." Mit derartigen Tipps kennt sich ein anderer Betreuer gewiss gut aus. Der Däne Bjarne Riis, der sein Blut in der Blütezeit des Epo-Dopings bis weit über heute geltende Grenzwerte hinaus manipuliert hat, wird ganz nah dran sein, wenn die Fahrer über das Kopfsteinpflaster brettern. Der Tour-de France-Sieger von 1996, ist heute Teamchef beim Rennstall Saxo-Bank. Auch er hat sich einst von Luigi Cecchini betreuen lassen - so wie Cancellara bis 2006. Im vergangenen Jahr fuhr der Schweizer noch für Riis Team. Jetzt ist er eines der Zugpferde im neuen Luxemburger Rennstall Leopard. Dessen sportlicher Leiter ist so etwas wie ein Doping-Rekordhalter. Kim Anderson, 1984 Sieger des Frühjahrsklassikers Flèche Wallone, ist als erster lebenslang gesperrter Profi in die Geschichte seines Sports eingegangen.
Andreas Rüttenauer
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Die Wahrheit: Der Unfall und der freie Markt - taz.de
Die Wahrheit: Der Unfall und der freie Markt Werbung für das das Rettungswesen: ein europaweiter Wettbewerb um ein Unfallopfer mit grotesken Folgen. Sein ganzes Leben war es Christian Schmidt gelungen, seine heimliche Leidenschaft, seine wahres Ich, seine wirkliche Orientierung vor der gierig nach Enthüllungen schmatzenden Medienöffentlichkeit zu verbergen. 1957 unauffällig im fränkischen Obernzenn zur Welt gekommen, hatte er, vordergründig gut angepasst, das Abitur erworben und anschließend seinen Wehrdienst abgebrummt, ohne dass den Kameraden etwas aufgefallen wäre. Er studierte wie viele sonst ganz normale Männer Jura und kam 1985 im deutschen Gerichtswesen als Rechtsanwalt mit den Schwerpunkten Arbeits- und Wettbewerbsrecht unter, ohne den Kollegen und Klienten seine eigentliche Neigung jemals zu erkennen zu geben. Dass er schon während der Pubertät zur CSU gefunden hatte, fand in Bayern sowieso niemand verdächtig, und so saß Christian Schmidt seine Zeit ruhig im Gemeinderat Obernzenn ab, bis er 1990 einen Stuhl ganz hinten im Bundestag bezog. Selbst hier, im geschützten Dunkel am Ende des Saales, entfloh kein verräterisches Wort dem Gehege seiner Zähne. Im Gegenteil, er perfektionierte in der Öffentlichkeit seine Tarnung: wurde 1993 im Präsidium des völlig arglosen Auto- und Reiseclubs Deutschland ARCD ansässig, 2006 von den nichts ahnenden Mitgliedern der Deutschen Atlantischen Gesellschaft zum Präsidenten ernannt, 2010 vom hinter dem Mond lebenden Evangelischen Arbeitskreis der CSU zum Landesvorsitzenden befördert und 2011 von Horst Seehofer zum stellvertretenden Parteivorsitzenden erhoben - ob Seehofer wirklich uninformiert war oder längst hinter der hohlen Hand Bescheid wusste, steht dahin, denn … doch Geduld! Offiziell wusste im Bundestag niemand, wie es um Christian Schmidt wirklich stand. Als außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischer Sprecher der CSU sowie als Mitglied im Verteidigungs- und im Auswärtigen Ausschuss kam er durch, ohne jemals sein wahres Gesicht zu zeigen. Auch als parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und danach im Entwicklungshilfeministerium, der überdies im Nebenberuf Aufsichtsrat im Zentrum für Internationale Friedenseinsätze war, verstand er es geschickt, seine eigentlichen Begierden nicht aus dem Topf springen zu lassen. Erfolgreich nahm Christian Schmidt ein Jahr nach dem anderen vom Kalender und wähnte schon, sein Leben unerfüllt und ehrbar bis zu Ende abwickeln zu müssen - wie so viele. Niemand wäre ihm auf die Schliche gekommen, und die tapferen Leser dieses Textes wären noch mit seinen Lebenslügen traktiert worden, bis ihnen die Augen müde in den Kopf gesunken wären. Doch dann kam Angela Merkel und redete ihm das nötige Gläschen Mut zu. Nachdem auch Horst Seehofer sein Ja geräuspert hatte, war es am 17. 2. 2014 so weit: Christian Schmidt, scheinbar Fachmann für Arbeits- und Wettbewerbsrecht, vorgeblich Experte für Auto und Reise, vermeintlicher Spezialist für Protestantismus, angeblicher Profi in Entwicklungshilfe und internationalen Friedenseinsätzen und nach außen hin der Liebling der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, outete sich und wurde Minister für Ernährung und Landwirtschaft. Christian Schmidt überrumpelte damit nicht nur seine engsten Angehörigen. Auch Freunde, Nachbarn, Kollegen und selbst die härtesten Schnüffelnasen unter den Hardcore-Journalisten der Hauptstadt waren bis tief unters Hemd überrascht. Schmidt, der scheinbar nie genug internationale Atmosphäre atmen konnte und sogar in deutsch-britischen, deutsch-israelischen und deutsch-tschechischen Parlamentariergruppen und Gesprächsforen durch körperdicke Anwesenheit glänzte - dass ihn der große Duft der weiten Welt nicht einen Krümel interessierte und er in Wahrheit Bauernhof und Rübenacker, Schlachtvieh und fette Landluft in möglichst großen Portionen liebt, ahnte kein Mensch, auch kein Politiker. Und siehe da - der Öffentlichkeit wars schnurz: Gelebte Toleranz beweist sie für einen, dessen Ego sich an langen Salatgurken hochschraubt. Christian Schmidt, dessen Unsicherheit und sprachliche Unbeholfenheit einst dem Spiegel auffiel, ohne dass sich das oberflächlich dahinsegelnde Magazin in die geheimen Ursachen dieser Störung hineingewühlt hätte, Christian Schmidt ist denn auch selbstbewusst geworden, ist wie entfesselt, seit er sich ohne schlechtes Gewissen mit Festmist beschäftigen, seit er genetisch verändertes Saatgut in Hochglanzmagazinen betrachten darf, ohne bis zum späten Feierabend damit warten zu müssen. Dass er den von ihm besiedelten Bereich der Chefetage im Ministerium durch eine Glaswand, die zusätzlich mit Milchglasfolie bepflanzt ist, vor dem Rest des Flurs gesichert hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Schließlich hat Christian Schmidt schon noch Dinge zu erledigen, die vor der Allgemeinheit versteckt bleiben müssen. TTIP heißt das Stichwort, und wenn deutscher Schinken demnächst aus Texas kommt, wo er mit dem Hodenextrakt hingerichteter Mörder aromatisiert wird, geht das niemanden etwas an! Die Wahrheit auf taz.de
Udo Tiffert
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Kommentar Hochzeitsmassaker: Fatale ABM-Maßnahme - taz.de
Kommentar Hochzeitsmassaker: Fatale ABM-Maßnahme Aus der Gewaltspirale kommt die Türkei nur mit einer radikal veränderten Kurdenpolitik heraus. Das Massaker in dem kleinen kurdischen Dorf Bilge ist ein Schock. Niemand in der Türkei hat mit einem solchen Gewaltausbruch gerechnet. Trotzdem ist er die fast schon zwangsläufige Konsequenz aus einer unheilvollen gesellschaftlichen Konstellation: einer archaischen Clangesellschaft und einem seit 25 Jahren andauernden Bürgerkrieg. Blutfehden zwischen einzelnen Familien gehören bis heute in vielen kurdischen Dörfern zum Alltag. Ein Mord wird gerächt, indem die betroffene Familie ein Mitglied aus der Familie des Mörders tötet. Der Bürgerkrieg im kurdischen Südosten der Türkei fügt dem archaischen Ritual nun eine moderne Komponente bei. Früher wäre ein abgewiesener Bräutigam aus einer beleidigten Familie vielleicht mit einem Jagdgewehr während der Hochzeit aufgetaucht und hätte vielleicht auf den Bräutigam geschossen. Heute taucht ein militärisch organisiertes Killerkommando auf, bewaffnet mit Maschinenpistolen und Handgranaten und richtet in wenigen Minuten 44 Menschen hin. Diese Killer haben vermutlich ihren Job in Trainingslagern der Armee gelernt, die sich seit Jahren der Angehörigen kurdischer Großclans bedient, um sie als Hilfstruppen im Kampf gegen die PKK-Guerilla einzusetzen. Schon lange fordern Vertreter türkischer Menschenrechtsorganisationen die Entwaffnung dieser sogenannten Dorfschützer. Denn die haben ihre Waffen am Montagabend nicht zum ersten Mal zweckentfremdet verwendet, nur waren ihre Schießereien bislang nicht so spektakulär. Doch zum einen hat die Regierung Angst, die rund 70.000 Männer in die Arbeitslosigkeit fallenzulassen. Zum anderen flammt der Krieg mit der PKK immer wieder auf und legitimiert scheinbar das Dorfwächtersystem. Aus dieser Gewaltspirale kommt die Türkei nur mit einer radikal veränderten Kurdenpolitik heraus. Bislang ist jeder halbherzige Versuch aus Ankara gescheitert. Seit die Regierung ihre Wahlschlappe im März gegen die kurdischen Nationalisten damit beantwortet, dass sie massenhaft Funktionäre der kurdischen Regionalpartei verhaften lässt, dreht sich die Gewaltspirale noch schneller und noch unheilvoller. Diese Beschleunigung ist zwar nicht der direkte Auslöser für das Attentat in Bilge, aber sie bildet den Hintergrund ebenso wie den Nährboden für diese Tragödie.
Jürgen Gottschlich
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Überzogene Eigenbedarfskündigung: Erst der Wohnraum, dann die Moral - taz.de
Überzogene Eigenbedarfskündigung: Erst der Wohnraum, dann die Moral Ex-Moralkolumnist Rainer Erlinger hat wegen Eigenbedarfs ein ganzes Haus in Berlin-Mitte entmietet. Es ist Zeit, über Enteignungen zu diskutieren. Eng ist es in Berlin. Ob es da gerechtfertigt ist, in Mitte auf 240 Quadratmetern zu leben? Foto: dpa Für die Süddeutsche Zeitung hat er 16 Jahre lang in seiner Kolumne „Die Gewissensfrage“ moralische Fragen seiner Le­se­r:in­nen beantwortet: Rainer Erlinger, Deutschlands wohl bekanntester Autor in Sachen Moral. Der doppelt promovierte Jurist und Mediziner schrieb mehrere Bücher zum Thema, trat im Deutschen Theater mit einer „Moral-Show“ auf und hielt als Gastprofessor Vorlesungen über Moral. Eine Antwort auf seine persönliche Gewissensfrage ist Erlinger allerdings schuldig geblieben. Die nämlich lautet: „Darf ich allen Mie­te­r:in­nen aus meinem Mehrfamilienhaus in Berlin-Mitte wegen Eigenbedarfs kündigen, weil ich alleine in vier Wohnungen auf 240 Quadratmetern leben will?“ Für sich selbst hat Erlinger diese Frage trotz des angespannten Berliner Wohnungsmarktes mit einem simplen Ja beantwortet. In einem Kündigungs­schreiben an einen seiner Mieter lässt Erlinger 2017 seine Anwältin schildern, dass er die Kündigung zwar bedauere, sie aber leider unumgänglich sei: Er lebe sehr beengt in seiner derzeitigen Vier-Zimmer-140-Quadratmeter-Wohnung in Prenzlauer Berg. Besuch müsse auf einer aufblasbaren Luftmatratze im Arbeitszimmer schlafen („ein für alle Beteiligten unschöner Zustand“), außerdem verfüge Erlinger zudem „über eine beachtliche Anzahl Bücher, für die in den Regalen schlicht kein Platz mehr ist“. Platz für neue Regale sei aber auch keiner da: „Der Eigenbedarf meines Mandanten verdringlicht sich von Tag zu Tag“, heißt es im Anwaltsschreiben. Deswegen wolle Erlinger künftig allein in den vier Wohnungen auf 240 Quadratmetern leben, wie es in dem Schreiben heißt – mit eigener Bibliothek und Ankleidezimmer, einer Einliegerwohnung für Gäste, einem Fitnessraum und vielleicht einer kleinen Sauna. Erlinger schrieb auf Anfrage, das Haus sei seine Privatsache Seine letzte Räumungsklage endete nun Mitte Januar mit einem Vergleich. 112.000 Euro soll Erlinger seiner letzten Mieterin zahlen, wenn diese die Wohnung verlässt. Weitere Be­woh­ne­r:in­nen sind offenbar nach Räumungsklagen und gerichtlichen Vergleichen bereits draußen. Erlinger schrieb auf Anfrage, das Haus sei seine Privatsache. Der Prozessvertreter der Mieterin hat zusammen mit dem Mietshäuser Syndikat im vergangenen Dezember einen Antrag auf Enteignung nach Artikel 14 des Grundgesetzes gestellt, nach dem Eigentum verpflichtet und dem Wohle der Allgemeinheit dienen muss. Die Behörde verweist auf ein fehlendes Enteignungsgesetz. Nun, das könnte es in Berlin bald ­geben: Das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. enteignen strebt einen Volksentscheid zur Schaffung eines solchen Gesetzes an. Allerdings soll dies nur für Immobilienfirmen mit über 3.000 Wohnungen in Berlin gelten. Fälle wie der von Erlinger werfen zumindest die Frage auf, inwiefern auch über diese Untergrenze gerne noch diskutiert werden darf.
Gareth Joswig
Ex-Moralkolumnist Rainer Erlinger hat wegen Eigenbedarfs ein ganzes Haus in Berlin-Mitte entmietet. Es ist Zeit, über Enteignungen zu diskutieren.
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Referenden in US-Staaten: Kiffen und Sex ohne Gummi - taz.de
Referenden in US-Staaten: Kiffen und Sex ohne Gummi Die Bürger in Kalifornien haben sich entschieden: Sie wollen bei Pornodrehs keine Kondompflicht und Cannabis für den Privatgebrauch legalisieren. Nein, das sind Kondome und keine Gummibärchen Foto: dpa LOS ANGELES/SAN FRANCISCO dpa | Die Pornofilm-Industrie hat bei den Wahlen in Kalifornien einen Sieg davongetragen. Ein Referendum, das Porno-Darstellern vorgeschrieben hätte, bei den Dreharbeiten Kondome zu tragen, ist nach Auszählung der Stimmen am Mittwoch abgelehnt worden. Die Befürworter wollten mit den strikteren Auflagen einen besseren Gesundheitsschutz erwirken. Die Filmstudios wehrten sich gegen die Kondom-Pflicht. Die Produzenten würden Drehs ohne Kondome vorziehen, weil das von den Kunden so gewünscht werde, heißt es in der Branche. Firmen hatten damit gedroht, ihr Produktion in Nachbarstaaten zu verlegen. Die meisten amerikanischen Sexfilme werden im Großraum Los Angeles gedreht. Bislang überwacht die Pornoindustrie die Gesundheit ihrer Mitarbeiter selbst und lässt die Akteure auf HIV und andere Erreger untersuchen. Cannabis legalisiert In einem zweiten Referendum haben sich die Wähler in Kalifornien für die Freigabe von Marihuana für den Privatgebrauch ausgesprochen. Der Volksentscheid „Prop 64“ sieht vor, dass Bürger ab 21 Jahren das Rauschmittel in kleinen Mengen besitzen und bei sich zu Hause sechs Cannabis-Pflanzen anbauen dürfen. Der Staat will Verkaufs- und Anbausteuern erheben und damit von der Legalisierung der Droge zum Genussmittel finanziell profitieren. Medizinisches Marihuana war in Kalifornien bereits 1996 legalisiert worden. Auch in Massachusetts und Nevada stimmten die Wähler dem Freizeitgebrauch zu, in Arizona scheiterte dagegen ein entsprechendes Volksbegehren. In den vergangenen Jahren hatten bereits Staaten wie Colorado, Washington, Alaska und Oregon für die Freigabe der Droge gestimmt. Auch in der Hauptstadt Washington D.C. ist das Kiffen legal. Nach Bundesgesetzen ist Marihuana aber weiter eine illegale Droge. In mehreren Staaten wurde auch die Anwendung von Marihuana für medizinische Zwecke zugelassen. Den Hochrechnungen zufolge gaben Florida und North Dakota grünes Licht, während die Wähler in Montana für eine Lockerung strikter Vorschriften stimmten. Mehr als die Hälfte der US-Staaten lassen nun Kiffen zur Behandlung von Kranken zu.
taz. die tageszeitung
Die Bürger in Kalifornien haben sich entschieden: Sie wollen bei Pornodrehs keine Kondompflicht und Cannabis für den Privatgebrauch legalisieren.
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Neonazi ins Gefängnis - taz.de
Neonazi ins Gefängnis ■ Umschüler zu zwei Jahren verurteilt Ein einschlägig vorbestrafter Neonazi ist gestern vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen Volksverhetzung und Verwendens von Nazisymbolen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt worden. Nach Ansicht des Gerichts hatte der 23jährige Umschüler am 19.Dezember 1992 in einem Lokal gesagt, Juden und Ausländer müßten vergast werden. Gleich bei Betreten der Reinickendorfer Kneipe habe der angetrunkene Mann den Hitler-Gruß entboten und „Sieg Heil“ gerufen. Der Angeklagte, der nur zwei Monate zuvor in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms von der Polizei beim „Sieg Heil“-Gegröle erwischt wurde, bestritt die Vorwürfe im wesentlichen. Das Gericht hatte aber keinen Zweifel an den Belastungsaussagen des Lokalwirts, seiner Freundin und eines Gastes. Danach hatte der Umschüler in jener Nacht außerdem einen Ring mit Hakenkreuz und eine Krawattennadel mit Nazisymbolen getragen. Als der Angeklagte von einem Gast zur Rede gestellt wurde, habe er seine rassistischen Parolen wiederholt und hinzugefügt: „Dich machen wir auch gleich platt.“ Außerdem soll der in Begleitung eines Skinheads erschienene Neonazi sinngemäß geäußert haben: Wenn wir an die Macht kommen, werden wir dafür sorgen, daß alle Ausländer verschwinden. Den Angaben des Bewährungshelfers, daß der Angeklagte inzwischen einen politischen Sinneswandel durchgemacht habe, glaubte das Gericht grundsätzlich nicht. Vielmehr liege eine kontinuierliche Weiterentwicklung vor, sagte die Richterin. Es bleibe daher keine andere Möglichkeit „als eine energische Strafe“. dpa
taz. die tageszeitung
■ Umschüler zu zwei Jahren verurteilt
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Halbzeit - taz.de
Halbzeit UND, WIE WAR‘S? Das WM-Team der taz zieht eine erste Bilanz – über die Spiele, die Südafrikaner und alles drum Herum Tuten und Schreien: Man geht nicht der Ruhe wegen ins Stadion. Tuten und Schreien. Es ist ein akustisches Chaos. Und all diese Spinner mit komischen Hüten und angeschmierten Gesichtern! Hat sich Gott den Menschen so vorgestellt? ANDREAS RÜTTENAUER Schwarz & Weiß: Schwarze und Weiße sind stolz auf das Gleiche: Die Welt ist zu Besuch bei ihnen in Südafrika. Wolkenkratzer in Downtown wechseln Leuchtreklame je nach dem Erfolg der Torjäger, Weiße feiern Fußballpartys in Soweto, und Schwarze grölen im Fanpark im weißen Sandton. MARTINA SCHWIKOWSKI Der Ball-Torwart-Komplex: Die Kurven des Balles, der harte Rasen und die dünne Luft sind nur ein Teil der Wahrheit über die grotesken Torwartfehler. Es spielen zu viele Teams mit, die schwach besetzt sind auf dieser Position. Die Lehre dieser WM: „Defense wins games, goalies win championships.“ DANIEL THEWELEIT Schöne Bilder: Schöne Kicks waren es auch. Die Höhepunkte aber waren die Bilder aus Südafrika selbst. Die südafrikanische Normalität gesehen zu haben ließ es gar verschmerzlich scheinen, dass uns einige Zebras untergeschummelt wurden, so von wegen: Gehen Sie doch mal auf Safari. Nix da! Wir fahren da hin, ans Kap, direkt zu den Pinguinen nach Boulder’s Beach. Südafrika törnt an! JAN FEDDERSEN Afrika, Afrika: Plötzlich ist Afrika so bunt, dass einem schwindlig wird. Plötzlich tun sogar Afrikaner so, als sei Afrika ein einziges großes Land. Plötzlich denkt die Welt, eine WM in Afrika sei für alle Afrikaner ein Heimspiel. Wenn sie auch gut spielen würden statt nur gut tröten, dann hätte die Welt die Afrikaner plötzlich lieb. DOMINIC JOHNSON Jetzt geht’s los! Die WM-Vorrunde ist vorbei, und jetzt lohnt es sich wirklich, zuzugucken. In jedem Spiel geht es um etwas. Und endlich gibt es eine Torgarantie: Beim Elfmeterschießen! LALON SANDER Neoliberal: Wie ungerecht: Alle 32 Teams haben sich darauf gefreut, und schon nach drei Spielen muss die Hälfte wieder abreisen, bis nur eine Mannschaft übrig ist – typische neoliberale Auslese. Allen den Pokal zu geben wäre ein Ausdruck von Völkerfreundschaft. DENIZ YÜCEL Sommermärchen 2011: Was, schon fast wieder vorbei der ganze Rummel? Gut, dass wir nicht lang warten müssen auf ein neues Sommermärchen: 2011 ist Frauenfußball-WM in Deutschland. Wer will das schon sehen? Ich! Und die taz ist ganz bestimmt wieder mit Sonderseiten an erster Reporterinnenfront. LENA KAMPF Revolution: Dass Engländer keine Revolutionen können – geschenkt. Aber Frankreich? Liebe Franzosen, im Namen von Robespierre und Rousseau, da haben wir mehr erwartet. CONSTANTIN WISSMANN Post-Mandela: Die WM hat weißen Südafrikanern die Gelegenheit gegeben, sich etwas anzueigenen, was bisher als „typisch schwarz“ galt. Post-Mandela gibt es wenig „Schwarzsüdafrikanisches“, was von weißen Südafrikanern gelobt würde. Die gute Leistung von Bafana war wichtig für den Heilungsprozess dieses Landes. In einem Restaurant in Kapstadt mit fast nur weißem Publikum sangen die Gäste nach dem Bafana-Spiel gegen Frankreich: „Bafana – we could not be prouder.“ ELENA BEIS Zwei Stunden: Da kommt es sogar vor, dass ich die taz mal für zwei Stunden ganz vergesse. INES POHL Von wegen ’tschland: Wo sind sie die begeisterten Massen? Wo bleibt das Sommermärchen, Teil II? Das WM-Fieber ist bisher gerade mal bei leicht erhöhter Temperatur angekommen. Deutschland scheint verstört: ohne Sommer, ohne Geld, ohne Präsident. Und ein Jogi ist eben kein Klinsi – der hätte den fehlenden Präsidenten locker wettgemacht. FRAUKE BÖGER Gastgeberpleite: Da ist etwas schiefgelaufen bei der Fifa. Denn der Gastgeber oder mindestens ein afrikanisches Land sollte im Halbfinale, besser noch im Finale landen. 2002 hat das im Falle Südkoreas mit teilweise haarsträubenden Schiri-Entscheidungen prima geklappt. Diese WM aber ist nicht afrikanisch und nicht panafrikanisch, sie ist eine Leistungsschau der Südamerikaner (Fußball) und der Europäer (Stadien). MARKUS VÖLKER Fifa: Fifa? Ich dachte, die heißt Nena. RICHARD NÖBEL Beton reicht nicht: Es ist tröstend, dass Verteidigen allein nicht reicht, die Nur-Betonierer langsam nach Hause fahren müssen und immer mehr Fußball gespielt werden wird. CHRISTOPH BIERMANN Mützen-WM: Die Bilder aus Südafrika unterscheiden sich bisher kaum von denen anderer Weltmeisterschaften: Männer in kurzen Hosen auf dem Platz, verkleidete Fans auf den Rängen. Neu sind Wollmützen beim Training und Daunenmäntel im Stadion. ISABEL LOTT Sorgen, Sorgen: Nichts von all dem im Vorfeld der WM beschworenen Schrecklichen ist bislang eingetreten. Also fand sich eine neue Sorge: Wenn alle afrikanischen Mannschaften rausfliegen, werden die Nichtweißen dann doch noch durchdrehen? Und was machen diese nach der Niederlageserie? Sie tanzen, ausgelassen und souverän. Toll. INES KAPPERT 2006/2010: Die WM ist gut, aber die letzte war noch besser. NILS NADOLNY Fußball ohne Ball: Es ist nicht neu, dass Räume eng gemacht und Passwege zugestellt werden. Neu ist aber, dass auch im Spiel nach vorne das Öffnen und Besetzen von Räumen so wichtig wird. So hat sich ein Prozess vollzogen: Beim Fußball geht’s nun zunächst um Raumbesitz, erst dann um Ballbesitz. DOMINIK WEHGARTNER Supergeschäft: Die WM läuft für die taz besser als erwartet! ANDREAS BULL ReichsparteitagIn: WM im deutschen Fernsehen: zweiundzwanzig Kicker auf dem Platz, lauter Männer drum herum und eine Moderatorin, die einen Reichsparteitag braucht, um sich bemerkbar zu machen. CAROLIN KÜTER Parauruguay: Paraguay und Uruguay – bis vor Kurzem konnte man sie kaum auseinanderhalten, beide Teams galten als Treter. Bei der WM sind sie – wie alle südamerikanischen Mannschaften – mit ihrem Kurz- und Steilpassspiel zu Trendsettern geworden. Und sind wieder einmal einander zum Verwechseln ähnlich. JOHANNES KOPP Wow: Wenn nur alles so laufen würde wie bei Spanien der Ball. PETER UNFRIED Schiris: Wen kümmern grottige Schiris, wenn schon die Spiele grottig sind? SEBASTIAN KEMPKENS Expertinnen: Für RTL auf Safari: Nazan Eckes, für die ARD: Franzi von Almsick. Beide fahren im Sonnenaufgang mit Jeeps durch die Wildnis, Franzi besucht sogar einen Gottesdienst in einer Township und gleich danach eine sündhaft teure Shoppingmeile – großer Spaß! CARL ZIEGNER Good Job: Diego Armando Maradona macht die Menschen glücklich, wir machen nur unseren Job. THILO KNOTT
ANDREAS RÜTTENAUER / MARTINA SCHWIKOWSKI / DANIEL THEWELEIT / JAN FEDDERSEN / DOMINIC JOHNSON / LALON SANDER / DENIZ YÜCEL / LENA KAMPF / CONSTANTIN WISSMANN / ELENA BEIS / INES POHL / FRAUKE BÖGER / MARKUS VÖLKER / RICHARD NÖBEL / CHRISTOPH BIERMANN / IS
UND, WIE WAR‘S? Das WM-Team der taz zieht eine erste Bilanz – über die Spiele, die Südafrikaner und alles drum Herum
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Was kostet der Hertha-Vorstand? - taz.de
Was kostet der Hertha-Vorstand? ■ Sportlich gerade auf Höhenflug, heizt eine Offerte der Baumafia einen neuen Streit beim Fußball-Zweitligisten Hertha BSC an / 13,5 Millionen Mark bei Vorstandsrücktritt Gerade einmal zwei Monate ist es her, daß der neugewählte Präsident von Hertha BSC Berlin, Manfred Zemaitat, in seiner Antrittsrede den Wunsch äußerte, in dem Skandalverein möge nun endlich Ruhe einkehren. In der Folge führte der Vorstand den Klub mit ruhiger und sachlicher Arbeit bis auf den dritten Platz der zweiten Bundesliga. Doch nun ist es mit der Ruhe vorbei. Am vergangenen Mittwoch brachte eine einzige Meldung die Vereinsbosse ins Rotieren. Ein Konsortium von mehr als dreißig Firmen will der finanziell angeschlagenen Hertha mit 13,5 Millionen Mark unter die Arme greifen. Vorbedingung für das Engagement: Der gesamte Vorstand müsse seinen Rücktritt erklären. Die Firmen, die hinter dieser Offerte stehen, wollen sich vorerst nicht zu erkennen geben. Offenkundig ist aber, daß einige Größen der Berliner Baubranche federführend beteiligt sind. Der einzige, der bisher aus der Anonymität trat und als Sprecher der Gruppe fungiert, ist Detlef Heitzmann. Heitzmann ist geschäftsführender Gesellschafter der Otremba Baubetreuungs GmbH, berüchtigt im Bereich des frei finanzierten Wohnungsbaus. Hinter der Otremba steht auch der Einfluß der Philipp Holzmann AG, einer der umsatzstärksten Baukonzerne Deutschlands. Neben einigen weiteren Bauunternehmen sollen sich auch Banken und einige Großkonzerne in der Unterstützergruppe befinden. Vermittelt wurde der mögliche Millionendeal durch Heinz Roloff, Vorgänger Zemaitats auf dem Präsidentenstuhl und mit seiner Firma Denker & Roloff ebenfalls Mitglied der „Berliner Baumafia“. Roloff (81) war nach neun Jahren Amtszeit von Zemaitat aus dem Amt gedrängt worden und mit wenig Dank verabschiedet worden. Er gilt seither als erbitterter Gegner des jetzigen Vorstandes. Gut vorstellbar, daß die Forderung nach Rücktritt des amtierenden Vorstands seinem Einfluß zu verdanken ist. Auf einer Vorstandssitzung am Donnerstag signalisierten Zemaitat und Co. zwar Verhandlungsbereitschaft: „Es wäre unverantwortlich, ein solches Angebot zurückzuweisen“ (Präsidiumsmitglied Jörg Thomas). Einen sofortigen Rücktritt lehnten sie aber ab. Schatzmeister Hans-Jürgen Maurer aber trat noch während der Sitzung zurück – wegen unterschiedlicher Auffassungen, wie es in einer Erklärung des Vorstandes hieß. Maurer sah das Finanzierungsangebot wohl wesentlich positiver als seine Kollegen, über ihn hatte das Konsortium das Angebot auch in den Verein getragen. Tatsächlich klingt die Finanzierungsofferte besser, als sie ist. So sollen die 13,5 Millionen Mark nicht als Zuschuß, sondern lediglich als Darlehen fließen. In der ersten Euphorie hatten dies anfangs einige übersehen. Nur, Schulden hat der Verein bereits genug; weitere Kredite aufzunehmen würde wenig Sinn machen. Wenn Konsortiumssprecher Detlef Heitzmann außerdem davon spricht, daß „der Einsatz sich schließlich verzinsen muß“, drängt sich die Vermutung auf, nicht die große Rettung Herthas stehe an, sondern lediglich ein neuer Machtkampf. Dennoch will sich das Präsidium in den nächsten Tagen mit Heitzmann treffen, um weitere Einzelheiten der Offerte zu erfahren. „Sollte das Angebot dem Verein weiterhelfen können, wäre ich bereit zurückzutreten“, so Jörg Thomas. Dem Vorstand bliebe auch kaum eine andere Wahl, schließlich will, wer Geld in einen Verein pumpt, auch das Sagen haben – egal, ob es dem Verein auch tatsächlich nützt. Andreas Pfahlsberger
Andreas Pfahlsberger
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Streik im öffentlichen Dienst: Auftritt der Trillerpfeifen - taz.de
Streik im öffentlichen Dienst: Auftritt der Trillerpfeifen 500 Uni-Mitarbeiter und 250 Mitarbeiter der Polizei streiken für mehr Lohn. Der Polizeipräsident versucht dies per Gerichtsbeschluss zu verhindern, scheitert aber. Kann nicht zum Notdienst verdonnert werden: Angestellter Polizist im Warnstreik Bild: DPA Norbert Konkols Geduld ist am Ende. "Die Uni-Leitung hat die verdammte Pflicht, mit uns zu verhandeln", schimpft der Ver.di-Fachbereichsleiter für Wissenschaft. Etwa 500 Beschäftigte der Technischen Universität (TU) legten an diesem Morgen ihre Arbeit nieder und demonstrieren lautstark vor der Unibibliothek für mehr Geld. Kunkol ist einer von ihnen. Damit hat die bundesweite Welle von Warnstreiks nun auch Berlin - und die TU erreicht. Ver.di und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordern für die Universitätsangestellten eine Einmalzahlung von insgesamt 900 Euro. Darüber hinaus wollen sie 2,9 Prozent mehr Lohn. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, hielten die Gewerkschaftler am Dienstag die Eingänge zur Universitätsbibliothek bis in die Mittagsstunden besetzt. Nur wer mit Nachdruck auf seinem Wunsch zu lernen beharrte, kam durch. "Mit dieser Blockade wollen wir Mitarbeiter der Uni und die Studenten auf unsere Forderungen aufmerksam machen", sagt Norbert Konkol. Der Senat als Arbeitgeber der Uniangestellten lehnt die Forderungen wegen der angespannten Haushaltslage ab. Verhandelt wird allerdings mit den Unis direkt. Hintergrund des Warnstreiks sei die Verzögerungstaktik des des TU-Präsidenten Kurt Kutzler, so Konkol. Seit 2006 habe Ver.di die TU-Leitung immer wieder zu neuen Tarifverhandlungen aufgefordert - allerdings ohne Resonanz. Während die Proteste an der TU ruhig bleiben, entlädt sich im DGB-Haus bei einer Pressekonferenz der Gewerkschaft der Polizei (GdP) der Unmut von Angestellten der Berliner Polizei. Seit dem frühen Morgen wollten 250 Angestellte des Objektschutzes und der Gefangenensammelstellen in einen 24-stündigen Warnstreik treten - für 2,9 Prozent mehr Lohn und 900 Euro Einmalzahlung. Aber nur 66 Polizeimitarbeiter durften. Ihr Ärger richtet sich gegen Polizeipräsident Dieter Glietsch. Er hatte streikwillige Angestellten zu Notdiensten verpflichtet. "Mit dieser Maßnahme wollte das Polizeipräsidium Polizeiangestellte in ihrem Streikrecht beschneiden", sagt der Vorsitzende der GdP, Eberhard Schönberg. Dagegen ging die Gewerkschaft vor Gericht, um eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Das Arbeitsgericht lehnte zunächst ab, das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hob diese Entscheidung später weitgehend auf. Schönberg sprach zufrieden von einem "90-prozentigen Erfolg". Am späten Nachmittag haben Polizeipräsidium und GdP daher Verhandlungen aufgenommen, wie viele Polizeiangestellte in den kommenden Tagen zum Notdienst verpflichtet werden dürfen. Seit der Nachtschicht wollten allerdings erneut 250 Polizeiangestellte streiken. Morgen werden die Arbeitnehmerproteste fortgesetzt: Zum größten Warnstreik dieser Woche erwartet Ver.di mehrere tausend Teilnehmer. Unter anderem sollen viele Kitas und Schulhorte geschlossen bleiben.
Norman Seibert
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Fußball-WM 2023: Spektakel mit wenig Aufwand - taz.de
Fußball-WM 2023: Spektakel mit wenig Aufwand Japan zeigt beim Kantersieg gegen Spanien Effizienz, Australien dominiert gegen Kanada und Deutschland hofft auf Rückkehrerinnen. Japanische Freude neben spanischer Enttäuschung Foto: Amanda Perobelli/reuters Australischer Torreigen Mit einer überzeugenden Vorstellung ist Gastgeber Australien bei der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen. 4:0 (2:0) gewannen die sogenannten Matildas am Montag gegen Kanada, das als Gruppendritter die Heimreise antreten muss. Vor 27.706 Fans in Melbourne erzielten Doppeltorschützin Hayley Raso (9./39. Minute), Mary Fowler (58.) und Steph Catley (90.+4/Foulelfmeter) die Tore für das Team von Trainer Tony Gustavsson. Nigeria reichte im Parallelspiel der Gruppe B vor 24.884 Zuschauern in Brisbane ein 0:0 gegen Irland, um als Gruppenzweiter ebenfalls weiterzukommen. Die Westafrikanerinnen treffen am kommenden Montag im Achtelfinale auf England, China oder Dänemark (09.30 MESZ), Australien kann es in der Runde der letzten 16 Teams neben den drei Genannten theoretisch sogar auch mit Haiti zu tun bekommen (Montag, 12.30 MESZ). Japanische Effizienz Mit einem überraschend deutlichen 4:0 (3:0) über Spanien haben die japanischen Fußballerinnen bei der WM in Australien und Neuseeland ein starkes Signal an die Konkurrenz gesendet und sich Platz eins in Gruppe C gesichert. Vor 20.957 Zuschauern in Wellington erzielten am Montag Hinata Miyazawa (12./40. Minute) mit ihren Turniertoren drei und vier, Riko Ueki (29.) und Mina Tanaka (82.) die Tore für die Elf von Trainer Futoshi Ikeda. „Während die andere Seite den Ball hatte, haben wir in den Zweikämpfen und nach der Balleroberung versucht, maximales Tempo zu gehen. Ich denke, das ist uns ganz gut gelungen“, sagte Ikeda, dessen Team mit einem minimalen Ballbesitzanteil (23 Prozent) viel anzufangen wusste. In der ersten Hälfte war fast jeder Schuss ein Treffer. Die Strategie war ganz auf Konterfußball ausgerichtet, dabei sprang während der gesamten Spielzeit nicht einmal ein Eckball heraus. Und auch bei der Quote der gespielten Pässe (267: 898) hätten die Japanerinnen kaum unterlegener sein können. Spaniens Trainer Jorge Vilda räumte zerknirscht defensive wie offensive Schwächen ein. „Wir haben noch nicht das Beste von Spanien gesehen“, sagte er. Ein wenig klang das schon nach Durchhalteparolen. Im Achtelfinale am kommenden Samstag trifft Japan, das die Gruppenphase mit 11:0 Toren abschloss, auf Norwegen (10.00 Uhr MESZ). Der Gruppenzweite Spanien bekommt es am selben Tag mit der Schweiz zu tun (7.00 Uhr MESZ), die von der ehemaligen deutschen Nationalspielerin Inka Grings trainiert wird. Japan kann man nach dem Auftritt vom Montag nun getrost zu den ganz großen Favoriten auf den WM-Sieg zählen. Ein mächtiger Quotenbumms Rekordquote beim zweiten WM-Vorrundenspiel der deutschen Fußballerinnen bei der WM Die 1:2-Niederlage der DFB-Frauen gegen Kolumbien am Sonntag verfolgten in der ARD-Liveübertragung ab 11.30 Uhr 10,36 Millionen Fans. Der Marktanteil betrug 61,6 Prozent. Das ist die mit Abstand höchste Reichweite bei der Endrunde Down Under. 5,61 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer hatten am Montag vergangener Woche den 6:0-Kantersieg der DFB-Auswahl in ihrem WM-Auftaktspiel gegen Marokko in der Liveübertragung im ZDF gesehen. Der Marktanteil betrug dabei 60,4 Prozent. Auch die anderen Quoten im Ersten am Sonntag waren erstklassig. Schon um 6.30 Uhr schauten bei Südkorea–Marokko (0:1) 2,97 Millionen zu (MA: 32,6 Prozent). Das Duell zwischen der Schweiz mit Trainerin Inka Grings und Co-Gastgeber Neuseeland (0:0) verfolgten in der ARD ab 9 Uhr 2,33 Millionen (MA: 28,3 Prozent). Zwei Rückkehrerinnen Fußball-Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg kann im WM-Gruppenfinale gegen Südkorea auf Abwehrchefin Marina Hegering sowie Sydney Lohmann zurückgreifen. Das Duo sei komplett einsatzfähig und am Montagmorgen im Spielersatztraining gewesen, berichtete Co-Trainerin Britta Carlson am Tag nach dem 1:2 gegen Kolumbien. Sara Doorsoun fällt indes mit einer Muskelblessur im Oberschenkel aus. „Für das nächste Spiel wird sie auf jeden Fall nicht zur Verfügung stehen“, sagte Carlson bei einer Pressekonferenz über die 31-jährige Frankfurterin. Doorsoun war bei der 1:2-Niederlage gegen Kolumbien am Sonntag in Sydney zur Pause ausgewechselt worden. Sie vertrat die Wolfsburgerin Hegering, die nach einer Fersenprellung noch kein Spiel bei dieser Weltmeisterschaft bestritten hat. Eine MRT-Untersuchung am Dienstag soll genauere Aufschlüsse über die Verletzung Doorsouns bringen. (taz)
taz. die tageszeitung
Japan zeigt beim Kantersieg gegen Spanien Effizienz, Australien dominiert gegen Kanada und Deutschland hofft auf Rückkehrerinnen.
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Ein Engländer aus Kairo - taz.de
Ein Engländer aus Kairo In seinem Buch „Orientalismus“ hat er die Sicht des Westens auf die arabische Welt als eine Wunschprojektion entlarvt. Sein politisches Engagement im Nahostkonflikt war von der palästinensischen Wurzellosigkeit geprägt: Zum Tod von Edward Said von DANIEL BAX Es gibt dieses Bild von Edward Said, auf dem der 65-Jährige bei einem Besuch im Südlibanon einen Stein gegen einen israelischen Grenzposten schleudert. Es ist unklar, unter welchen Umständen diese Aufnahme entstanden ist, auf der er mit Schiebermütze und hochgekrempelten Jackettärmeln ein wenig einem angegrauten Fußball-Hooligan gleicht. Aber sie passt in das Bild, das von Edward Said im Westen, insbesondere in den USA, vorherrschte: das eines leidenschaftlichen Anwalts der Palästinenser, dem im Überschwang des Engagements schon mal die Pferde durchgehen. Edward Said hat die altmodische Rolle des engagierten Intellektuellen gespielt, wie sie im Buche steht. Er fühlte sich einer Wahrheit verpflichtet, die er über die meist deprimierende Tagespolitik des Nahen Ostens stellte, das hat er als seine Berufung verstanden und in seinem Buch über den „Ort des Intellektuellen“ hinreichend dargelegt. Bis zur Erschöpfung konnte er in seinen Leitartikeln und Essays, die in vielen internationalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden, über die Ungerechtigkeiten der Welt polemisieren, speziell über die Ungerechtigkeiten gegen die arabische Welt, und dabei zeigte er sich oft parteiisch, manchmal selbstgerecht und nicht immer frei von Ressentiments gegen andere, von denen er annahm, dass sie ihm den Rang streitig machen könnten als Deuter der Regungen der arabischen Seele. Dabei sah er sich selbst nie als Experte für die islamische Welt an; vielmehr war ihm solches Expertentum per se suspekt. Es gibt nur wenige Autoren, deren Lebenswerk so sehr mit einem Buchtitel verbunden wird. „Orientalismus“ von Edward Said erschien 1977 und bündelte alles, was ihn zu dieser Zeit beschäftigte: sein Interesse an der europäischen Literatur und am westlichen Imperialismus. Gegründet auf Foucaults Diskurs- und Machttheorien, suchte er in der Orientliteratur insbesondere des 19. Jahrhunderts nach Spuren, die vom kolonialen Dominanzstreben jener Zeit zeugten. Seine Kritik an diesem europäischen Orientdiskurs, den er als Teil einer Strategie begriff, sich die arabische Welt untertan zu machen, weitete er später auf die moderne Medienberichterstattung über die heutigen Konflikte in der Region aus. Die westliche Animosität glaubte er in einem tief empfundenen Konkurrenzgefühl begründet, aufgrund dessen der Okzident den Orient als Gegenspieler betrachte und als Alter Ego imaginiere. So avancierte „Orientalismus“ zum Schlagwort, mit dem jede als verzerrt empfundene Vorstellung vom Orient als Konstrukt gebrandmarkt werden konnte, als Produkt westlicher Projektionen. 25 Jahre nach dem Erscheinen des Buches ist das Schlagwort noch immer aktuell. Das ließ allerdings manche Widersprüche in Edward Saids Argumentation in den Hintergrund treten. Dabei drehte sich Saids Auseinandersetzung mit Koryphäen der Islamwissenschaft wie Bernard Lewis, der Zeit seines Lebens so etwas wie sein Intimfeind war, im Kern um die Frage, ob der Grund für die Krise der islamischen Welt vor allem im eigenen Versagen begründet liegt oder aber äußerer Einwirkung geschuldet ist, sprich: dem Kolonialismus und der andauernden Einflussnahme des Westens. Lewis suchte auch nach inneren Faktoren, welche zur Krise führten. Said betrachtete das als Ablenkungsmanöver von den wahren Problemen. Saids offenkundige Abneigung gegen die moderne, sozialwissenschaftlich inspirierte Nahostforschung, deren Vorliebe für Empirie und Mangel an Empathie er schon in „Orientalismus“ beklagte, spricht aus all seinen Büchern. Gleichzeitig blieb er jedoch die Frage schuldig, was denn die Alternative sein könnte. Allein die Literatur? Mag sein, dass ihm die angeblich zweckfreie Philologie der traditionellen deutschen Islamkunde sympathischer war. Aber die Sehnsucht nach einem warmen, entrückten westöstlichen Diwan jenseits kalter Machtinteressen hatte auch so ihre Tücken, wie die seltsame Weltentrücktheit der deutschen Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel aufzeigte. Den Irakkrieg resümierend, hatte Edward Said jüngst in einem Essay (in Le Monde diplomatique vom September) seine Thesen aus „Orientalismus“ bekräftigt und eine „Kultur der Einfühlung“ gefordert. Das klang doch sehr nach einem Plädoyer für einen naiven Multikulturalismus, der grundsätzliche Konflikte unter dem Mäntelchen des Miteinander-Redens beilegt. Und auch der kann ja reines Machtkalkül sein: Samuel Huntington etwa, der vielfach missverstandene Warner vor einem „Kampf der Kulturen“, wollte sein Traktat ja gerade als Mahnung verstanden wissen, es nicht auf einen solchen Konflikt ankommen zu lassen und deshalb die vermeintlich kulturellen Differenzen besser auf sich beruhen zu lassen. Lieber gar nicht erst über Menschenrechte reden, als anderen Kulturen unsere Wertmaßstäbe zu oktroyieren, so sein Fazit: Eine Forderung, mit der Huntington bei Autokraten aller Länder, von Iran bis Singapur, auf offene Türen stieß. In diesem Licht erschien der Marshallplan für eine schrittweise Demokratisierung der arabischen Welt, mit der die gegenwärtige US-Administration vor dem Irakfeldzug so vollmundig hausieren ging, sicherlich als das progressivere Konzept, wenngleich es auch kaum glaubwürdig verfolgt wird: Bislang ist es bloßes Lippenbekenntnis. Auf der anderen Seite hat diese Doppelzüngigkeit den latenten Antiamerikanismus in der arabischen Welt nur verstärkt, wie auch Edward Said bedauerte. In einem seiner letzten Essays für Le Monde diplomatique vom März 2002 warnte er vor den „Gefahren eines allzu schlichten, reduktiven oder statischen Denkens über Amerika“ in der Region. Ein solcher Okzidentalismus, der im Westen die Wurzel allen Übels sieht, sei nur die Kehrseite des westlichen Orientalismus. Dass er an Leukämie litt, an der er am vergangenen Donnerstag in New York mit 67 Jahren starb, hatte Edward Said vor elf Jahren durch eine Routineuntersuchung beim Arzt erfahren. Das Wissen um seine Krankheit hatte ihn zur Niederschrift seiner Memoiren bewegt. Doch als seine Autobiografie „Am falschen Ort“ vor drei Jahren erschien, sorgte sie für Erstaunen. Kein Wort war da die Rede von seinem politischen Engagement und seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit. Stattdessen berichtete Edward Said detailreich über seine Kindheit und Jugend, die so gar nicht mit dem palästinensischen Schicksal verbunden schien. Salman Rushdies auf den Umschlag gedruckte Widmung, das Buch vermittle „einen Eindruck davon, was es in den vergangenen fünfzig Jahren bedeutet hat, Palästinenser zu sein“, legte jedenfalls nur einen Schluss nahe: dass der befreundete Schriftsteller das Buch nicht gelesen hatte, bevor er dieses Urteil abgab. Edward Said war 1935 bei einem Familienbesuch seiner Eltern in Jerusalem geboren worden. Der Vater, ein palästinensischer Christ, hatte durch einen längeren Aufenthalt in Amerika einen US-Pass erworben und betrieb in Kairo ein florierendes Schreibwarengeschäft, das seine Produkte bald im gesamten arabischen Raum vertrieb. Trotz ihres Wohlstands aber blieb die Familie aufgrund ihrer Herkunft doch nur Außenseiter im großbürgerlichen Milieu der Stadt. Ihren Fluchtpunkt suchte die Mutter, die aus einer angesehenen palästinensischen Familie stammte, in der Anpassung an die Etikette der schwindenden britischen Kolonialmacht. So wuchs der junge Edward, mit englischem Namen ausgestattet, am Victoria College in Kairo auf wie ein junger Engländer. Peinlich genau bis ins körperliche Detail beschreibt Edward Said die Zurichtungen seiner Erziehung: Wie er zwischen Schule, Sportclub und dem elterlichen Zuhause aufwächst, einigermaßen abgeschottet von den turbulenten Entwicklungen in Ägypten, die schließlich zum Sturz des Königs Faruk führen. Aber da ist Edward Said längst in die USA übergesiedelt, als Student zunächst nach Princeton, später als Doktorand nach Harvard. Hier endet die Biografie. Das politische Engagement setzte erst später ein, mit dem Sechstagekrieg. 1977 wurde Edward Said als unabhängiger Kandidat ins Exilparlament der PLO gewählt, 1991 trat er wieder aus dem Gremium aus – aus Protest gegen das Friedensabkommen von Oslo, das er als Ausverkauf palästinensischer Interessen deutete. Seine Kritik entzündete sich daran, dass alle wesentlichen Fragen – die Flüchtlingsfrage, der Status von Jerusalem, die Siedlungen und Grenzen sowie die ausgebliebene Anerkennung israelischer Schuld bei der Vertreibung – im Friedensvertrag ausgeklammert worden waren. Was damals wie ein starrsinniges Beharren auf utopischen Maximalforderungen wirkte, erwies sich jedoch im Rückblick als durchaus klare Voraussicht. Denn nicht zuletzt an diesen offen gebliebenen Fragen ist der Friedensprozess von Oslo gescheitert: Der Siedlungsbau und die Schikanen gingen weiter. Und dafür bekamen die Palästinenser eine Autonomiebehörde, deren Inkompetenz, Korruption und mangelndes Demokratieverständnis Edward Said nicht müde wurde anzuprangern. Seine Kritik an Arafats Führungsstil brachte ihm zeitweilig sogar ein Verbot seiner Bücher in den autonomen Gebieten ein, so tief ging der Bruch mit dem einstigen Mitstreiter. Stattdessen gründete er, der als verhinderter Konzertpianist stets eine Passion für klassische Musik pflegte, mit dem Dirigenten Daniel Barenboim ein Forum für junge arabische und israelische Musiker, sein letzte Projekt. Seit 1963 arbeitete Edward Said an der Columbia University in New York, wo er bis zuletzt als Professor für Englische Literatur lehrte. Hier war er genau am richtigen Ort. Denn nur hier konnte er zur wichtigsten intellektuellen Stimme der palästinensischen Diaspora avancieren. Und vielleicht war er, in seiner inneren Zerrissenheit und seiner Überidentifikation mit einem Land, das er kaum je aus eigener Anschauung gekannt hatte, eben gerade doch ein typischer Palästinenser, lebt doch die große Mehrheit quer über den Globus verstreut im erzwungenen Exil.
DANIEL BAX
In seinem Buch „Orientalismus“ hat er die Sicht des Westens auf die arabische Welt als eine Wunschprojektion entlarvt. Sein politisches Engagement im Nahostkonflikt war von der palästinensischen Wurzellosigkeit geprägt: Zum Tod von Edward Said
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Essay zum neuen Öko-Kulturkampf: Die fetten Jahre sind vorbei - taz.de
Essay zum neuen Öko-Kulturkampf: Die fetten Jahre sind vorbei Über die „Fridays for Future“-Schüler wird gestritten. Die einen bezeichnen sie als Helden, andere als Verblendete. Erst wenn das aufhört, ist Politik möglich. Luisa Neubauer (re.) spricht gemeinsam mit Greta Thunberg vor Tausenden in Berlin Foto: dpa BERLIN taz | An einem Freitag im Frühjahr steht Luisa Neubauer auf der Bühne am Brandenburger Tor. Mit Bommelmütze und der ­Kollegin Greta Thunberg. „Wer uns fragt, wie lange wir noch streiken wollen“, ruft sie, „dem sagen wir: Geht zur Politik und fragt, wie lange sie die Klima­krise noch ignoriert.“ Dann trifft sich Neubauer mit Potsdamer Klimawissenschaftlern, sie bespricht in einem ­„Inner Circle“ der Grünen deren neues­ ­Grundsatzprogramm, sie streitet bei „Lanz“ mit Christian ­Lindner, sie referiert beim taz lab. Fast immer trägt sie Schwarz. Und jetzt sitzt sie ohne Bommelmütze und nicht schwarz gekleidet in einem Café in Berlin-Mitte und wundert sich, dass davon gesprochen wird, eine „Öko-Apo“ sei im Entstehen, so wie 1968 die Jungen gegen ihre Eltern auf die Straße zogen. Neubauer, 22, ist das Gesicht dieser Bewegung, und tatsächlich hat sie mit zwei anderen vor etwa vier Monaten den Schülerstreik in Berlin erfunden und groß gemacht. „Wir sind keine Öko-Apo, wir sind da schon eher Mainstream“, sagt sie. Nun gut: Sie ist faktisch aus dem grünen Kreisverband Göttingen, auch wenn sie da nie hingeht. Aber in den mittler­weile 400 Ortsgruppen von Fridays for Future sind auch jede Menge Leute, die sich ­gerade erst politisieren. Oder, wie Neubauer sagt: „Wir erreichen die Insta­gramer, die nicht seit zehn Jahren in einem Grünen-Büro rumhängen.“ Es handelt sich allerdings nicht um die Jungen. So wie Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke 1968 nicht für alle jungen Leute auf den Barrikaden standen. Es gibt auch Studenten, die keine Zeit für Proteste gegen das Fehlen einer Zukunftspolitik haben. Weil sie gerade in der Welt herumfliegen. Andere junge Leute demonstrieren für Dieselautos. Wieder andere, etwa von der Jungen Union, sind für den Erhalt der bestehenden ­Wirtschafts- und Machtstrukturen. Die neuen Moralisten wie etwa Lindner drehen die alten Vorwürfe um Will sie panic, wie die Schwedin Thunberg, ein Begriff, der einige empört, die den Jugendprotest kritisch sehen? Neubauer überlegt. „Greta will nicht, dass man nach Hilfe schreit, sondern dass man sich der Krise bewusst wird.“ Sie hat wie Thunberg den Eindruck, dass vielen Leuten nicht klar ist, wie schnell und wie radikal gehandelt werden muss. Das wollen sie ihnen jetzt klarmachen. Sie sucht nach einem besseren Wort als „Panik“, das nicht lähmt, sondern Handeln auslöst. „Konstruktive Angst“, sagt sie irgendwann. Was will diese Bewegung sonst noch? Sie will keine linke Räterepublik, keine sexuelle Revolution, sie will eine Klimapolitik durchzusetzen, die Menschen, deren Lebensspanne an das 22. Jahrhundert heranreicht, eine Zukunft ermöglicht. In dieser Woche hat Fridays for Future ein Forderungspapier vorgestellt, in dem die Bewegung Bundes-, Landes- und Kommunalregierungen auffordert, alles Erforderliche zu tun, um das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad einzuhalten. Noch knapper kann man sagen: Sie wollen eine Bundesregierung, die die Politik macht, die Union und SPD versprochen haben. Konkrete Forderungen sind: Die Energieerzeugung bis 2035 komplett erneuerbar machen und den CO2-Ausstoß auf null bringen. Als politische Werkzeuge schlagen sie vor: eine CO2-Steuer. Ein Viertel der deutschen Kohlekraftwerke noch in diesem Jahr abschalten. Kohleausstieg bis 2030 und nicht erst 2038. Umerziehungsmaßnahmen, Gebote oder Verbote sind nirgends zu entdecken. AKK wäre ein Schritt zurück, würde sie das Problem weiter ignorieren Dennoch werden speziell Thunberg und Neubauer bereits auf die alten Revolutionsfolien projiziert: Die einen malen Ikonenbilder, die Zweiten streicheln ihnen altväterlich übers Haar, die Dritten murren, dass Neubauer „nicht radikal genug“ sei – so, wie sie selbst früher angeblich waren. Und die Vierten rufen nach der Polizei, wahlweise wegen Schulschwänzen, Verbalradikalismus, Scheinheiligkeit, Religionsstiftung, Tugendwahn, Gefährdung des Wirtschaftsstandorts … Die mediengesellschaftliche Diskussion wird in Deutschland traditionell von den Alarmrändern bestimmt, früher war das von links, neuerdings von rechts, aber stets wird alles in moralischen Höhen verhandelt: Nazikeule, Gutmenschkeule, Freiheitsberaubungskeule, Elitenverschwörungskeule, Bio­­eli­ten­keule, Umerziehungskeule. Ökomoralkeule. Allzu oft geht es dabei aber nur darum, das öffentliche Gespräch zu Bullshit zu erklären. Und damit ist man unweigerlich bei dem grundsätzlichen Versuch der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, des FDP-Chefs Christian Lindner und anderer, das Problem eines vertragswidrigen Fehlens von Klimaschutz in Deutschland zu ignorieren, dafür einen Pseudokonflikt zu entfachen und einen guten alten Charakter als Pappkameraden wieder ins Spiel zu bringen: Den „calvinistischen Öko“, den „linksideologischen Grünen“ (Lindner), der unter Instrumentalisierung von gehirngewaschenen Jugendlichen den Deutschen ihre rechtmäßige Kultur und Lebensweise verbieten will, die offenbar aus Autofahren, Industriefleischverzehr und einer bipolaren Aufteilung in Männer- und Frauen­klos besteht. Das sind die neuen Moralisten. Sie drehen die alten Vorwürfe um, indem sie die Minderheit der Veganer oder klitzekleine Umweltverbände wie die Deutsche Umwelthilfe als riesige Gefahren für das gute Leben stilisieren. Es ist eine Schizophrenie, die erstens davon ablenkt, dass die ökopolitischen und geschlechterpolitischen Beschlüsse der vergangenen Jahre von CDU, CSU und SPD durchgesetzt oder zumindest unterschrieben wurden. Beim Paris-Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung wird das besonders deutlich: Dieselben Parteifreunde, die das Abkommen unterschrieben haben, stigmatisieren es nun. Bezeichnen ihre eigenen Umsetzungsmaßnahmen, wie etwa Verkehrsminister Scheuer, als „gegen den gesunden Menschenverstand“ gerichtet. Das zeigt einerseits, dass diese Gesellschaft einen weiten Weg gegangen ist. Ihre Parameter haben sich umgedreht. Der Mainstream ist jetzt nicht mehr muffig wie zu 68er-Zeiten, er ist europäisch und gesellschaftsliberal. Dabei aber nur bedingt sozialökologisch, das hat man in der Fixierung auf das Soziale und das Identitätspolitische vernachlässigt. Daran hat Kanzlerin Merkel ihre Politik orientiert. Doch da seit 2015 die schönen Jahre mit Merkel vorbei sind, ist die große Frage: Und nun? Vorwärts oder zurück? Und da sehen wir sowohl bei der implodierenden SPD,als auch bei der verunsicherten Union klare Rückwärtsbewegungen. Kramp-Karrenbauer, die derzeitige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und interessanterweise auch der als innovativ gelabelte Lindner versuchen, die Zeit anzuhalten und dem sozialökologischen Jahrhundert durch Rückzug zu entkommen. Konkret, indem sie das Problem in den vorpolitischen, kulturellen Bereich verlagern und Menschenrechte auf Schwenkgrillen oder Stickoxide propagieren. Nicht weil ihnen das Problem nicht klar wäre, sondern weil sie keine Lösungen haben. Weil sie im Moment nicht glauben, Lösungen finden zu können und/oder in der Lage zu sein, Mehrheiten dafür zu gewinnen. Luisa Neubauer, Klimaaktivistin„Es sind radikale Maßnahmen notwendig“ Was ist das grundsätzliche Pro­blem? Die fortschreitende Erhitzung der Erde entsteht durch Treibhausgasemissionen, die vor allem durch fossile Brennstoffe verursacht werden, auf denen unsere Art zu wirtschaften basiert. Folgen sind unter anderem Landverlust, Kriege, Hungersnöte, Abermillionen Klimaflüchtlinge. Es geht also nicht um die „Umwelt“, sondern um eine gute Zukunft der Menschen. Eine zentrale Lösung besteht darin, das Verbrennen fossiler Energie zügig einzustellen und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit: eine demokratische Mehrheit für sozialökologische Politik und Wirtschaft zu gewinnen. Keiner weiß, wie das geht. Es geht jedenfalls nicht, indem man das Zeitalter des persönlichen Verzichts und der menschlichen Mäßigung für gekommen erklärt. Das ist die Überzeugung von Ralf Fücks, einem führenden Ökointellektuellen des Landes und langjährigen Vorstand der grünennahen Böll-Stiftung. Fücks, 67, warnt vehement vor einem „Ökocalvinismus“, der im Namen der Weltrettung Verzicht und Selbstbegrenzung predigt und gegen den sich dann all jene formieren können, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie leben. An diesem Tag sitzt er in Berlin-Mitte, nahe Bahnhof Friedrichstraße, in den Räumen der Liberalen Moderne. Das ist der Thinktank, mit dem er die ökologische Modernisierung der Wirtschaft von einem grünen Nischenprojekt ins Zentrum der Gesellschaft rücken will. Wie immer trägt er Schwarz und den Kopf haarfrei. „Die Privatisierung der Klima­frage ist falsch“, sagt er. Fücks ist allergisch gegen die Vorstellung, es sei Aufgabe der Politik, Menschen umzuerziehen. Er hat sich auf die ganz harte Tour in den Siebzigern in einer westdeutschen kommunistischen Sekte vom Gegenteil überzeugt. „Wenn ich die Leidenschaft auf Twitter für Lebensstilfragen wie Essen oder Autos sehe, das steht in keinem Verhältnis zu Lösungen, die in eine nachhaltige Ökonomie führen“, sagt er. Tatsächlich scheint die „Leidenschaft“ für ökologische Modernisierung wirklich noch unterentwickelt zu sein. Es ist unklar, ob Fücks das traurig oder wütend macht. Und man hat ja wirklich diese linksliberalen oder linksgrünen Freunde, die bei Identitätsfragen durch die Decke gehen, engagiert über Fleischessen und Porschefahren schimpfen können, aber sofort einschlafen, wenn die Worte „ökologische Modernisierung der Wirtschaft“ fallen. Lange Zeit durften die Kohlekraftwrke friedlich vor sich hin pusten, heute werden sie attackiert Foto: dpa Fücks sieht im Moment zwei Linien, auf denen um Hoheit gerungen wird. Die erste ist die alte Linie von Ökonomie und Ökologie, also die fossilen Geschäftsmodelle von heute gegen die postfossilen Geschäftsmodelle. Da wird als Hauptargument immer gesagt: Klimaschutz ist schon okay, darf aber nie der Wirtschaft in die Quere kommen, also Wachstum (Union, FDP) und Arbeitsplätze (SPD) gefährden. Dass sich die Pro­bleme aus der selbstzerstörerischen Art des Wirtschaftens ergeben haben und deshalb nicht mit einer Beibehaltung oder Intensivierung zu lösen sind, ist in diesem Politikframe nicht denk- und nicht verhandelbar. Das ist ein Teil der Blockade. Fücks sieht den „ökologischen Calvinismus“ aber eben nicht nur als Pappkameraden, den interessierte Politiker und Medien aufstellen, sondern seit dem Club of Rome in der Ökodebatte angelegt. Dessen Klassiker, „Grenzen des Wachstums“, war vor knapp 50 Jahren der Beginn der ökologischen Frage und zielte stark auf Kontrolle von Produktion, Konsum und sogar Fortpflanzung. Fücks befürchtet, dass eine Öko-Apo mit Endzeitstimmung und Verzichtsrhetorik den Kulturkampf manifestiert und Fortschritt verhindert. Er hat ein Buch mit dem Titel „Intelligent wachsen – die grüne Revolution“ geschrieben. Darin geht es um ein grünes Wirtschaftswunder statt um Mäßigung und Verzicht. Er wünscht sich auch bei den Jungen, die jetzt auf die Straße gehen, „mehr Futurismus“ statt Endzeitstimmung. „Ist das eine Bewegung für ein Grünes Wirtschaftswunder?“, fragt er, ganz offenbar rhetorisch. Denn von Technologien, Innovationen, Unternehmertum ist bei Fridays for Future bisher nicht die Rede. Eine moralisierende Bewegung sei nicht realitäts- und lösungsorientiert, wenn man die globalen Wachstumsschübe sieht. Sie liefe hinaus auf den sinnlosen Clash mit einer moralischen Gegenbewegung, deren Hauptziel in ebenjenem moralischen Clash besteht, der dann politisches Handeln weiter hinausschieben soll. Fücks’ Punkt ist daher die Überwindung des alten linken und grünen Defizits: vom richtigen Sprechen zu einer gelebten Kultur unternehmerischer und politischer Mündigkeit zu ­kommen. Wie eine Mehrheit für Zukunftspolitik gewinnen? Er plädiert für Einbeziehung der Zukunftskosten in die Preise („ökologische Wahrheit“). Er findet auch fleischfreies Essen oder Eigenstromproduktion gut als Ausdruck individueller Freiheit. Aber: „Ohne grüne ­Revolution werden wir den Wettlauf mit dem Klimawandel nicht ­gewinnen.“ Also weder Radikalisierung einer moralischen Umkehrbewegung noch ein trotziges „Weiter so!“, sondern etwas Drittes: eine fundamentale Veränderung der industriellen Produktionsweise, „eine neue Synthese zwischen Natur und Technik“, wie er sagt. Seine Formel: Sonnenenergie mal menschliche Kreativität, mit Ordnungspolitik als Steuerungsinstrument. Aber noch mal: Woher kommt eine neue Mehrheit für eine solche ernsthafte Zukunftspolitik? Ein paar hundert Meter entfernt vom Büro der Liberalen Moderne betritt am nächsten Tag Bernd Ulrich ein Café am Hackeschen Markt. Trägt Freizeitlook. Sieht entspannt aus, vielleicht weil er gerade vom Yoga kommt, aber das könnte auch Einbildung sein. Der Politikchef und stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung Zeit hat in einem außergewöhnlichen Move vor etwa anderthalb Jahren Öko ins Zentrum seiner politischen Berichterstattung gerückt. Vorher waren dort auch die Ökos für Öko zuständig, vorne liefen die beliebten Was-Merkel-sich-so-denkt-Stücke. Von der moralischen auf die politische Ebene Ulrich, 58, ist politisch später sozialisiert als Fücks, er sieht menschliche Entwicklung generell als wichtiges Moment einer Veränderung. Er selbst hat sich auch verändert, unter anderem ist er seit einem Jahr ­Veganer. In einem sehr ­politischen Leitessay hat er jüngst auch folgenden Satz geschrieben: „Es geht um den Kampf zwischen dem inneren Schweinehund in den meisten von uns und dem besseren Engel unserer selbst.“ Einig ist er sich aber mit Fücks in einem zentralen Punkt: Das Thema muss von der moralischen und der ­kulturellen auf die politische Ebene gehoben werden. Nur wie? Moral und Apokalyptik seien vor 30 Jahren die stärkste Waffe der Ökobewegung gewesen, um gehört zu werden und den Graben zwischen der damaligen Gegenwart und einem Pro­blem zu überwinden, das in der Zukunft lag. Manche Ökos hingen heute noch in der Moralisierung drin, weil sie das so gelernt haben. „Aber jetzt ist der Klimawandel da, also braucht es keinen Altruismus, sondern intelligenten Egoismus als Antrieb“, sagt Ulrich. Für ihn ist die zunehmende Härte aller Diskussionen eine Folge der zunehmenden Unruhe der Gesellschaft, und diese wiederum speist sich aus dem zumindest unterbewusst realisierten Defizit an Zukunftspolitik. Das Abwarten und Nichthandeln dieser Regierung in allen Fragen, vor allem der ökologischen, sei „beispiellos.“ Beispiellos, tatsächlich? „Ja, gemessen daran, was sie sich vorgenommen haben. Sie haben in Paris eine Revolution unterschrieben, dann verheimlicht und wenn sie jetzt umgesetzt werden muss, beschimpfen sie die Grünen, als hätten die 13 Jahre eine Ökodiktatur veranstaltet.“ Ulrich sieht hier den Übergang von der „Wattierung“ der Probleme durch Kanzlerin Merkel zur Moralisierung von Kramp-Karrenbauer. Weil sie ebenjene attackiere, die darauf bestehen, dass nun endlich Zukunftspolitik gemacht wird. Die SPD spielt bezeichnenderweise auch in der Klimadiskussion keine Rolle. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Vielleicht kann man ja das übliche AKK-Portfolio (Frau, so­zialkatholisch, gesellschaftsliberal, rückschrittlich) zum jetzigen Zeitpunkt vergessen und sich auf diesen Punkt konzen­trieren: Merkel war verbale Akzeptanz und gleichzeitige Einhüllung des Problems, Kramp-Karrenbauer könnte der Schritt zurück sein, wenn sie wirklich weiterhin das Problem ignoriert und stattdessen jene, die es lösen wollen, als Bedrohung stigmatisiert. Aber genau dieses Verdrängen funktioniert nicht mehr lange, sagt Ulrich. „Die Verdrängungsenergie, die eine Gesellschaft aufbringen muss, um bestimmte Probleme nicht zu sehen, ist genauso groß wie das zu Verdrängende. Das neurotisiert diese Gesellschaft und jeden Einzelnen.“ Handelt es sich um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert? Nun haben wir aber nicht nur das Problem, dass „die anderen“ verdrängen, auch wir selbst kommen nicht klar mit den Widersprüchen unseres Lebens. Oder wie ist es zu erklären, dass ökologisch aufgeklärte Menschen ständig darüber räsonieren, was für ein perverser Wahnsinn das mit den Billigflugtickets sei, während sie selbst welche in der Hand halten, so billig, dass sie ja praktisch gar nicht anders konnten, als schnell irgendwo hin zu fliegen? Trifft also der Vorwurf der Gegenmoral zu, nach dem es sich in unserem Fall um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert handelt? Na ja, sagt Ulrich, erstens gelte der Spruch von Max Weber: Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der Tugend. Zweitens könne nur dort Heuchelei sein, wo Menschen sich etwas vornehmen. „Deshalb ist der Nachweis, dass es Ökoheuchler gibt, völlig unwichtig.“ Die Privatisierung von Ökopolitik meint: Luisa Neubauer und die bayerische Grünen-­Politikerin Katharina Schulze werden als Vielfliegerinnen „entlarvt“ – um damit Zukunftspolitik zu desavouieren und zu verhindern. Dahinter steht aber das Grunddilemma des Problems: Unsere politische Einstellung ist mit einem gelebten Weltbürgertum nicht zu vereinen. In ökologischer Hinsicht verhalten wir uns so, als ob wir uns als Feministen bezeichnen, aber zu Frauen immer noch „Schlampe“ sagen würden. Das tiefer liegende Problem ist für Bernd Ulrich aber noch mal ein anderes: Er sieht die deutsche Gesellschaft feststecken in einer „Maß-und-Mitte-Orthodoxie“. Es gebe ein „deutsches Radikalitätsverbot“. Heißt: Es tönt mal halb links und mal halb rechts, aber letztlich trifft man sich in der Mitte. Dieses westdeutsche Schmidt-, Kohl-, Schröder-, Merkel-Prinzip des 20. Jahrhunderts gilt weiter und ungeachtet der Radikalität der Probleme. Die AfD sammelt den Protest dagegen mit dem Angebot eines radikalen Rückzugs in eine Welt ohne Klimawandel. Das Problem der Erderhitzung ist aber halt auch nicht im bloßen Widerstand gegen die AfD zu lösen. Als erster Politiker, sagt Ulrich, habe der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck das deutsche Radikalitätsverbot für sich abgelehnt, „allerdings ohne es bisher jemals gebrochen zu haben“. Kretschmann haut's aus den Schuhen Tatsächlich sagt Habeck seit einiger Zeit ab und an, dass den radikalen Problemen der Realität nur mit radikalen Lösungen begegnet werden könne. Nur radikal sei daher realistisch. Das ist im Grunde die Ulrich-These. Den Grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg haut’s bei solchen Sätzen immer fast aus dem Schaukelstuhl. „Maß und Mitte“ ist Winfried Kretschmanns zentraler politischer Leitstern, damit steht er morgens auf und geht abends zu Bett und damit ist er (allein) zur führenden Partei von Baden-Württemberg geworden. Kretschmann ist ohne jeden Zweifel ein Hardcore-Öko und Hardcore-Demokrat. Er hat als Person eine Zweidrittelmehrheit hinter sich, als Partei eine einfache Mehrheit. Aber er scheint nicht richtig daran zu glauben, dass er sie für sozialökologischen Wandel bekommen hat. „Ich würde meinen radikal-realistischen Ansatz sofort einpacken, wenn die herrschende Politik noch die Menschen beruhigen würde“, sagt Ulrich. „Aber das tut sie ja nicht.“ Deshalb glaube er, dass die Zeit der Merkel-plus-SPD-Politik vorbei sei, in der die Kanzlerin und ihr damaliger Umweltminister Gabriel vor Eisschollen posierten und viele das tatsächlich für Handeln hielten. „Alles wird anders“, heißt sein neues Buch, das im Herbst „das Zeitalter der Ökologie“ ausruft. Ulrich sieht aber auch die erste Generation Grünenpolitiker mit sozialistischer oder kommunistischer Phase am Ende, weil „verhext von ihrer Vergangenheit, einer Kombination aus einem wahnsinnigen Trauma und einer noch wahnsinnigeren Erfolgsgeschichte. Die Heilung und Anpassung haben sich zu tief in ihre Biografien eingegraben, als dass man noch mal über die Frage reden darf, wie der Mensch eigentlich lebt.“ Deshalb könnten sie die ökologische Frage nicht mehr lösen. Auch Ulrich sagt: „Wir bewegen uns in einen Generationenkonflikt hinein, gegen den 1968 ein Kindergeburtstag war.“ Je länger nichts getan werde, desto größer werde der Graben zwischen den Alten und den Jungen, deren Perspektive immer kleiner wird. „Massives Aufklärungsversagen der Grünen“ Das ist der objektive Interessenkonflikt in der Gesellschaft. Und er betrifft eben nicht nur die von Kramp-Karrenbauer repräsentierte Erwachsenenteilgesellschaft, sondern auch den Teil der Grünen, der Tränen der Rührung in den Augen hat, wenn Neubauer zu ihnen redet. Die Ablehnung, das Schulterklopfen und auch die Rührung gilt der Moral, je radikaler desto besser, denn dann kann man sich besser fühlen. Aber auch die gerührten Grünen versaufen im Moment nicht nur das kleine Häuschen der Oma, sondern das ihrer Kinder. Das hat Neubauer ihnen bei ihrer Rede zu sagen versucht. Es gebe ein „massives Aufklärungsversagen“, speziell der Grünen, sagt sie auch in dem Berliner Café. Aber wie kriegt man eine Mehrheit für ökologische Zukunftspolitik? „Nicht, indem man vorher Konflikte unter den Teppich kehrt. Sondern mit Ehrlichkeit. Einerseits muss auf den Tisch gelegt werden, wie krass wir ­unserem Planeten in den ­letzten 100 Jahren geschadet ­haben und was das für unsere Lebensumstände in der Zukunft bedeutet. Und andererseits braucht es Ehrlichkeit im Bezug auf die anstehenden Veränderungen für Gesellschaft und Wirtschaft. Die Überwindung des ‚Klimaschutz gefährdet Wohlstand‘-Paradigmas. Das zeugt vor allem davon, dass die politische Elite sich nicht traut, mit den Menschen Klartext zu sprechen. Denn, ja, es sind radikale Maßnahmen notwendig, das wird unbequem – für alle.“ Ist Neubauer ein typisches Protestprodukt eines linksgrünen Bürgertums? Sie kommt aus Hamburg-Iserbrook, einem bürgerlichen Stadtteil, sagt sie. Aber nicht Blankenese-mäßig. Ihre Eltern sind Gründer eines kleinen Altenpflegeheims. Ihre Mutter liest die taz, okay. Sie selbst hat mal einen taz-Genossenschaftsanteil geschenkt bekommen. Aber sie fühlte sich nicht vom Elternhaus politisch agitiert. In die Grünen-Partei trat sie 2017 mit der „Habeck-Welle“ ein, wie sie sagt: „Robert Habeck hat es für mich als einer der ersten Grünen Politiker geschafft, den Eindruck zu vermitteln, dass grüne Politik anschlussfähig ist, dass sie auf zwei Beinen steht und sich mit klugen Konzepten behaupten kann – auch jenseits von Tierwohldebatten und einem Atomausstieg.“ Es kam so ein bisschen eins zum anderen: Mit 18 wurde sie Jugendbotschafterin für Afrika, sie machte ein Praktikum beim Greenpeace Magazin. Währenddessen lernte sie Bill McKibben kennen, den Gründer der Klimaschutzorganisation 350.org. Später arbeitete sie dort. Lernte, wie man mit Politikern redet, wie man Bewegung organisiert, wie man Medien interessiert. Anfangs rief sie an, jetzt klingelt dauernd ihr Telefon, auch im Berliner Café. Im Grunde ist sie ein Vollprofi, wie Christian Lindner es fordert. Eine, die im Gegensatz zu ihm auch von dem französischen Präsidenten Macron empfangen wird. Neubauer sieht die Entwicklung in der Tendenz wie Bernd Ulrich: Die Merkel-Regierungen hätten ein bisschen Klimaschutz gemacht, aber an dem Punkt aufgehört, an dem es hätte anfangen müssen, weil es unbequem wurde und ja die Gesellschaft auch nicht darauf drängte. Und jetzt sind die Merkel-Jahre vorbei – und die Jungen sind da. „Ja, jetzt sind wir da“, bestätigt Luisa Neubauer. „Viele, viele Jahre zu spät.“ Bernd Ulrich sagt, die junge Greta Thunberg und auch Luisa Neubauer seien vergleichbar mit dem Kind in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. In dem Moment, da es in die Menschenmenge ruft, dass der Kaiser nackt ist, kann plötzlich die ganze Bevölkerung sehen, was sie eigentlich die ganze Zeit schon gewusst hat. Ab da ist alles anders.
Peter Unfried
Über die „Fridays for Future“-Schüler wird gestritten. Die einen bezeichnen sie als Helden, andere als Verblendete. Erst wenn das aufhört, ist Politik möglich.
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berliner szenen: Christopher Trimmels Hose - taz.de
berliner szenen: Christopher Trimmels Hose Ich habe sie. Seine weiße Shorts, die er in der Saison 2014/2015 immer dann anhatte, wenn nicht in Rot gespielt wurde. Am letzten Spieltag in besagter Saison drehte die Mannschaft noch eine lange Ehrenrunde, bevor es in die Sommerpause ging. Mit dabei hatte sie zwei große Säcke, aus denen sie Devotionalien zog und auf die Zuschauerränge warf. Das Stadion war ausverkauft, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ich etwas fangen würde, aber plötzlich hielt ich Christopher Trimmels Hose in den Händen. Blütenweiß und gewaschen. Ich hatte einfach meine Arme ausgestreckt. „Die hat der doch nie getragen“, sagte meine Frau skeptisch, als ich nach Hause kam und sie ihr zeigte. Aber warum nicht? Ich glaube, dass er sie in seinen stärksten und den wichtigsten Spielen der Saison anhatte und dass von dieser Stärke und seinem Siegeswillen immer noch etwas in dieser Hose steckt. Ich spiele kein Fußball, aber ich spiele hin und wieder Tennis, und ich trage dabei gern seine Shorts. Wenn ich in einem Match aussichtslos hinten liege, berühre ich die 28 auf der Hose und konzentriere mich auf den Aufschlag meines Gegners. Ich stelle mir vor, dass der Tenniscourt sich in der Alten Försterei befindet. Die Waldseite jubelt mir zu und die Gegengerade ist ein Meer aus rotweißen Schals. Manchmal schaffe ich das scheinbar Unmögliche: Aus einem 0:40 beim Stand von 0:5 wird noch ein Punktgewinn und eineinhalb Stunden später ein Sieg. Ich gehe stolz zum Handshake ans Netz. Diese kleinen Sensationserfolge verdanke ich Christopher Trimmel. Vielleicht hätte ich, wenn ich oben her­um auch noch ein Trikot von ihm tragen würde, sogar eine Chance gegen Roger Federer. Sollte also irgendwer ein Trimmel-Trikot besitzen und es abgeben wollen, freue ich mich, wenn er sich bei mir meldet. Daniel Klaus
Daniel Klaus
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Opposition in Russland: Noch muss Nawalny nicht ins Lager - taz.de
Opposition in Russland: Noch muss Nawalny nicht ins Lager Der Hausarrest gegen den Blogger wird um weitere sechs Monate verlängert. Der Kämpfer gegen Korruption steht derzeit ohnehin ständig vor Gericht. Weitere sechs Monate unter Hausarrest: Alexej Nawalny. Bild: dpa MOSKAU taz | Noch muss Russlands bekanntester Oppositioneller nicht ins Straflager. Ein Moskauer Gericht lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft am Donnerstag ab. Sie hatte verlangt, die im Juli 2013 verhängte Bewährungsstrafe auszusetzen und Alexej Nawalnij wieder in Haft zu nehmen. Im Sommer war der Antikorruptionskämpfer wegen vermeintlichen Betrugs im sogenannten Casus „Kirowles“ zu einer fünfjährigen Lagerstrafe verurteilt worden, wurde aber sofort auf freien Fuß gesetzt. Im September konnte er noch an den Moskauer Bürgermeisterwahlen teilnehmen, wo er einen Achtungserfolg erzielte. Die Staatsanwaltschaft sah es als erwiesen an, dass sich der Blogger nicht an Auflagen halte, die ihm den Kontakt mit der Öffentlichkeit und die Nutzung des Internets verbieten. Das Gericht verlängerte stattdessen den Hausarrest auf sechs Monate. Nawalny steht zurzeit erneut wegen eines besonders schweren Betrugsfalles in der Sache „Yves Rocher“ vor Gericht. Zusammen mit seinem Bruder soll er Gelder in Höhe von mehr als einer halben Million Euro veruntreut haben. Beide streiten die Anklage ab. Auch bei diesem Prozess handelt es sich wohl um einen Versuch, Putingegner mundtot zu machen. Wegen Verleumndung vor Gericht In den letzten Tagen ging es Schlag auf Schlag. Am Dienstag hatte sich Nawalny bereits vor Gericht wegen Verleumdung zu verantworten. Kläger war ein gewisser Alexej Lisenko, Abgeordneter eines Moskauer Bezirksparlaments, der in Nawalnys Twitterdienst als „irgendein drogenabhängiger Deputierter“ bezeichnet worden war. Dem war eine Anzeige des Abgeordneten der Kremlpartei „Einiges Russland“ vorausgegangen, in der er Nawalny vorwarf, gegen Haftauflagen zu verstoßen. Lisenko war der Auffassung, Nawalny führe sein Twitter noch persönlich. Nawalny hatte vorher darauf hingewiesen, dass seine Frau und Mitarbeiter des Antikorruptionsfonds die Arbeit übernommen hätten. Mit dem Portal „Rospil“, das die Korruption im Staatsapparat untersucht, brachte Nawalny die herrschende Elite noch vor den gefälschten Dumawahlen im Winter 2011 in Bedrängnis. Das Gericht verurteilte Nawalny unterdessen zu einer Geldstrafe von umgerechnet 6000 Euro wegen übler Nachrede. Die Verteidigung kündigte an, in Revision zu gehen. Anderthalb Stunden vor Beginn der Verhandlung im Casus „Yves Rocher“ fand im Gericht Lublino im Moskauer Umland noch ein Verfahren statt. Der stellvertretende Dumavorsitzende Sergej Newerow klagte diesmal wegen übler Nachrede gegen Nawalny. Dessen Portal hatte im vergangenen Jahr behauptet, der Abgeordnete der Kremlpartei hätte 2012 seinen Immobilienbesitz nicht - wie vorgeschrieben – vollständig in der Vermögenserklärung ausgewiesen. Es drehte sich um drei Grundstücke in exklusiver Umgebung der Hauptstadt. Laut Nawalny seien alle Liegenschaften von dem Ex-Bergmann Newerow erworben worden. Dieser gibt jedoch vor, die Immobilien seien im Besitz anderer Familienmitglieder. Kann ein Kohlekumpel in so kurzer Zeit so viel Geld verdienen, fragte Nawalny im Gericht. Die für Vermögensfragen zuständige Untersuchungskommission der Duma hatte vorher bereits keine Unregelmäßigkeiten feststellen können. Dem folgte auch das Gericht, das den Blogger dazu verpflichtete, eine Entschuldigung und Klarstellung zu veröffentlichen. Mit anderen Worten: es forderte ihn dazu auf, gegen die Arrestauflagen zu verstoßen.
Klaus-Helge Donath
Der Hausarrest gegen den Blogger wird um weitere sechs Monate verlängert. Der Kämpfer gegen Korruption steht derzeit ohnehin ständig vor Gericht.
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Friedensgespräche in Kolumbien: Juristische Unklarheiten - taz.de
Friedensgespräche in Kolumbien: Juristische Unklarheiten In Mexiko spricht die ELN-Guerilla erneut mit der Regierung Petro. Erschwert wird das durch chaotisches Regierungshandeln. Steht vor schwierigen Friedensgesprächen mit der ELN: Kolumbiens Präsident Petro Foto: Ivan Valencia/ap BOGOTÁ taz | An diesem Montag beginnt verspätet die zweite offizielle Runde der Friedensgespräche zwischen den Verhandlungsteams der kolumbianischen Regierung und der ELN-Guerilla. Derweil gefährden juristische Unklarheiten den Prozess. Hauptthema der zweiten Gesprächsrunde, die in Mexiko-Stadt stattfindet, soll ein Waffenstillstand sein. Das zweite ist die Teilhabe der Zivilgesellschaft an der Konstruktion des Friedens. Der Druck auf den Gesprächen ist enorm: Sowohl Präsident Gustavo Petro als auch der oberste Kommandant der ELN-Guerilla drängen auf Ergebnisse – wenngleich unterschiedlicher Art. Petro will, dass die Regierungstruppe einen verhandelten Waffenstillstand heimbringt, damit weniger Menschen sterben. Die Guerilla hatte Friedensgespräche bisher vor allem als Mittel gesehen, um politische Ziele durchzusetzen. Oder mit den Worten des obersten Kommandanten alias Antonio García: „Der einzige Zweck des Friedensprozesses ist, aus Kolumbien ein demokratischeres, gerechteres und inklusiveres Land zu machen, dass die gerechtfertigten Wünsche der Mehrheit des Landes gehört und berücksichtigt werden.“ Die zweite Runde hätte eigentlich schon am 23. Januar beginnen sollen. Doch eine Kommunikationspanne von Präsident Gustavo Petro ließ den Zeitplan platzen: Er hatte an Silvester einen Waffenstillstand mit der ELN verkündet – dem diese allerdings nie zugestimmt hatte. Statt der zweiten offiziellen Runde trafen sich beide Seiten im Januar zu Notfallgesprächen, um die Wogen zu glätten. Der Friedensbeauftragte muss die Fehler korrigieren Kommandant García, der nicht bei den Gesprächen dabei ist, hatte zuletzt über Twitter kritisiert, dass die Armee weiter die alte Militärdoktrin verfolge. So habe sie bei einer Operation bei Buenaventura wehrlose ELN-Kämpferïnnen erschossen. Außerdem würde die Petro-Regierung wie die des rechten Vorgängers Iván Duque die Guerilla mit Drogenkartellen, kriminellen Organisationen und paramilitärischen Gruppen in einen Topf werfen – entgegen der Gespräche. Petro will für sein Hauptregierungsziel verhandeln, den „totalen Frieden“, mit allen verbliebenen bewaffneten Gruppen im Land. Jenseits des Verhandlungstisches zeigte sich zuletzt aber, dass die Regierung bislang zu chaotisch agiert, schlecht kommuniziert und rechtliche Unschärfen den „totalen Frieden“ gefährden. So sah sich das Büro des Friedensbeauftragten der Regierung, Danilo Rueda, zuletzt mehrfach zu Klarstellungen gezwungen. Es ging dabei vor allem um rechtliche Konstrukte zur Einsetzung sogenannter Friedensvermittlerïnnen, die offenbar nicht einmal die Justiz versteht. Auf Ernennung der Regierung sollen solche Personen – in der Regel Verurteilte mit Verbindungen zur Verbrecherwelt – überprüfen, ob bewaffnete Gruppen wirklich Frieden und sich in die Zivilgesellschaft wiedereingliedern wollen – allerdings von der Zelle aus. Für einen Aufschrei sorgte, dass ein Richter einen wegen mehrerer Morde verurteilten Mann freiließ, nachdem ihn die Regierung zum Friedensvermittler bestellt hatte. Dem widersprach der Friedensbeauftragte Rueda: Nur der Präsident könne die Freilassung anordnen – und dies habe er nicht getan. Der Mann sitzt mittlerweile wieder ein. Zweitens kam ein Anwaltskartell ans Licht, das inhaftierte Drogenbosse und Paramilitärs belog – und ein Vermögen für seine Dienste verlangte. Sie versprachen ihnen, dass sie Friedensvermittler würden, deshalb Haftvorteile genießen würden und ihre Auslieferung ins Ausland ausgesetzt würde. Sie nutzten als Türöffner den Namen des Bruders des Präsidenten, Juan Fernando Petro, sowie des Menschenrechtsanwalts und von der Regierung fürs Verbrecherkartell Golf-Clan zum Friedensvermittlers ernannten Pedro Niño – auch Lügen. Niño ist bekannt als Anwalt von Paramilitärs. Er leitet zudem eine Organisation namens Amerikanische Menschenrechtsorganisation. In deren Namen und unter Verweis auf seine Rolle als Friedensvermittler hatte er zu Friedensdialogen eingeladen, die denen der Regierung in Buenaventura ähneln – ohne dafür ein Mandat zu haben, wie Rueda klarstellte.
Katharina Wojczenko
In Mexiko spricht die ELN-Guerilla erneut mit der Regierung Petro. Erschwert wird das durch chaotisches Regierungshandeln.
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Berlins Bausenatorin zum Fall Holm: „Im Einzelfall bewerten“ - taz.de
Berlins Bausenatorin zum Fall Holm: „Im Einzelfall bewerten“ Katrin Lompscher (Linke) fordert einen fairen Umgang mit Andrej Holm, ihrem wegen seiner Stasi-Vergangenheit umstrittenen Staatssekretär. Senatorin Lompscher und ihr Staatssekretär Andrej Holm am Mittwoch vor der Presse Foto: dpa taz: Frau Lompscher, die Linke hat sich am Freitagabend beim Koalitionsgipfel vorerst hinter Andrej Holm gestellt. Wie groß war der Druck von SPD und Grünen, ihn fallen zu lassen? Katrin Lompscher: Ich äußere mich nicht zum Verlauf vertraulicher Gespräche. Richtig ist, dass es unterschiedliche Einschätzungen der Situation durch die Koalitionspartner gab und gibt. Hat Holm alles auf den Tisch gepackt, bevor Sie ihn als Staatssekretär nominiert haben? Andrej Holm hat auch uns gegenüber seine Biografie offengelegt und dargelegt, wie er die Zeit damals erlebt und was er getan hat. Ich sehe nichts, was dieser Darstellung widerspricht. Aus seiner Akte geht hervor, dass er nicht beim Wachregiment seine Grundausbildung absolvierte, sondern in der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Berliner Bezirksverwaltung. Er hat 1989 seine Grundausbildung gemeinsam mit ganz normalen Wehrdienstleistenden des Wachregiments absolviert, was ihn glauben ließ, dass er Angehöriger des Wachregiments war. Dass sich seine weitere Ausbildung danach von der anderer Wehrdienstleistender unterschied, hat er nie bestritten und damit begründet, dass er später hauptamtlicher Mitarbeiter werden sollte. Hätten Sie auf die Nominierung verzichtet, wenn Sie gewusst hätten, dass er hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi war? Ich denke nein. Ich habe Andrej Holm als anerkannten Fachmann für Wohnungs- und Mietenpolitik vorgeschlagen, weil er dazu beitragen kann und will, eine soziale Wohnungspolitik in der Stadt umzusetzen. Für die Nominierung und in der aktuellen Auseinandersetzung war und ist entscheidend, was Andrej Holm real in seiner kurzen Zeit beim MfS getan hat und wie er sich heute dazu positioniert. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er gespitzelt hat beziehungsweise an Aktionen gegen Oppositionelle beteiligt war. Dass er kein normaler Wehrdienstleistender war, hatte er seinem Umfeld früh offenbart, der Öffentlichkeit war es nach seinem taz-Interview 2007 bekannt. Er selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er die damalige Entscheidung bereut und dass er dazu eine kritische Haltung entwickelt hat. im Interview:Katrin Lompscher54, ist neue Bausenatorin. Die Linkspartei-Politikerin war 2006 bis 2011 Umweltsenatorin Wenn Andrej Holm zurücktritt, wird er womöglich auch nicht mehr in seinen Job an der Humboldt-Universität (HU) zurückkönnen. Tragen Sie da auch eine Verantwortung? Es ist auch meine Verantwortung, deshalb setze ich mich für einen fairen Umgang ein. Aber für einen sachlichen Umgang mit Biografien gibt es eine darüber hinausgehende gesellschaftliche Verantwortung. Wir müssen wegkommen von pauschalen und formalen Kriterien, wir müssen im Einzelfall bewerten, was jemand real getan hat und Menschen danach beurteilen. Nun liegt die Entscheidung bei der HU. Diese muss darüber entscheiden, ob seine Angaben im Personalbogen 2005 ein arbeitsrechtliches Vergehen waren. Wann rechnen Sie mit dieser Entscheidung? Ich habe dazu bisher keine Signale. Ich gehe davon aus, dass die HU alles für eine zügige Prüfung unternimmt. Wird Andrej Holm bis dahin überhaupt ernsthaft seinen Job als Staatssekretär für Bauen ausfüllen können? Die inhaltliche Arbeit hat bereits begonnen, und wir können uns dabei auf eine sachkundige Verwaltung stützen. Dass die Nominierung von Dr. Andrej Holm als Staatssekretär für Wohnen Gegenwind erzeugt, war mir und uns klar. Zugleich signalisieren viele Menschen aus Verbänden und Initiativen, aus der Wissenschaft und aus Kreisen der früheren Opposition in der DDR Unterstützung für Andrej Holm, weil sie mit dieser Personalie wie wir eine Veränderung in der Wohnungspolitik zugunsten der Mieterinnen und Mieter verbinden. Was, wenn er dann im Januar oder Februar entlassen wird? Ich gehe bisher nicht davon aus, dass es dazu kommen wird.
Uwe Rada
Katrin Lompscher (Linke) fordert einen fairen Umgang mit Andrej Holm, ihrem wegen seiner Stasi-Vergangenheit umstrittenen Staatssekretär.
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london calling: Donnerkuppeln: Millennium Dome und Tate Modern - taz.de
london calling: Donnerkuppeln: Millennium Dome und Tate Modern Ohne Scheuerleisten In der Neujahrsnacht reichten Tony Blair und die Queen einander die Hände und sangen „All you need is love“. Im Millennium Dome. Damit war das Ding, das aussieht wie ein Zuckerhaufen, in den jemand eine Handvoll Zahnstocher gespießt hat, offiziell eröffnet. Draußen in Greenwich verbirgt es unter seiner Kuppel einen aufwendigen Themenpark. Mit Freude und Häme wurde neulich in der Presse ausgebreitet, dass bei 20 Pfund pro Erwachsenenkarte von den fürs Jahr 2000 angepeilten 12 Millionen Besuchern inzwischen erst 2 da waren. Entsprechend leer ist die Kasse, und jetzt braucht's nochmal eine Geldspritze, nachdem bereits 510 Millionen Pfund (!) verschlungen sind. Klar, das Ganze roch von Anfang an schwer nach blairitischem Verblödungsprogramm. Aber die verdächtige, anhaltende Einmütigkeit in der Kritik weckt auf Dauer den Gegenimpuls. Also doch hingehen, mit dem festen Vorsatz, mindestens ein gutes Haar am Millennium Dome zu lassen, und sei es irgendein positiver Nebeneffekt, der im offiziellen New-Labour-Gute-Laune-Getue gar nicht mal vorgesehen war. Ich habe mir Mühe gegeben. Alle „Zonen“ habe ich mir angeschaut: die Body-Zone und die Mind-Zone, die Journey- und die Money-Zone, sogar die Work-Zone und selbst das mit Peter Gabriels Soundtrack unterlegte Musical unter der zentralen Kuppel. Einen ganzen Tag war ich da, von morgens um elf bis abends halb sieben. Und, was soll ich sagen: ein einziges großes, umständliches, vor ausgestellter plumper Dreistigkeit beinahe Mitleid erregendes Desaster. Erschütternd. Nicht einmal der leiseste Kitzel, jede Schießbude in Blackpool ist aufregender. Stattdessen fühlte es sich ungefähr so an, als hätte man den Anschlussflieger verpasst und müsste nun acht Stunden am Flughafen totschlagen, und würde dabei durch Werbeblöcke von Rentenversicherungen und Fluglinien tappen, die zu plärrigen Multimediainstallationen aufgeblasen sind. Die wahren Zyniker und Klassendünkler sind nicht die Kritiker des Domes, sondern die Macher: Tatsächlich haben sie geglaubt, dass sie dem dummen breiten Volk jeden Scheiß als neues technisch-entertainiges Wunder andrehen könnten, aber die Gesichter (und die Besucherzahlen) sprechen eine andere Sprache: Bis zur Eingangspforte lassen sich die Leute vielleicht irgendeinen Mist verheißen, aber dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Und welcher von Arbeitslosigkeit bedrohte Rover-Mechaniker will sich schon von „Manpower“, den Sponsoren der „Arbeits“-Zone, erzählen lassen, dass es in der fordistischen Fabrik wie auf einer kafkaesken Galeere zuging, während man jetzt als flexibilisierter Hamburgerbrater echt befreit Freizeit verbringen kann? Oder welche wohl beleibte Wirtin möchte sich, nachdem sie durch den auch nicht gerade idealfigürlichen Henry-Moore-meets-Nikki-de-Saint-Phalle-Menschen geschleust wurde, von Kate Moss in der „Körper“-Zone erzählen lassen, dass wahre Schönheit von innen kommt? Bei der Tate Modern waren meine Erwartungen genau umgekehrt. Seit Monaten in der englischen Presse zum triumphalen Großereignis hochgeschrieben – ich hatte mich schon mal innerlich darauf eingestellt, dass ich Mitte Mai durch die Hallen schlendern würde um festzustellen: Da haben sie also mit großem Aufwand ein riesiges altes Kraftwerk umgebaut, um jetzt auf 34.500 qm (davon 8.000 qm Galerienfläche) ein Mausoleum für angestaubte Kunst zu haben. Im Fernsehen kamen die Architekten Herzog & de Meuron als kleinliche Pedanten rüber, die noch einen wochenlangen Verhandlungskrieg heraufbeschwören, weil sie auf keinen Fall Scheuerleisten wollen. Also hingehen mit dem festen Vorsatz, Herrschaftsarchitektur anzuprangern, die Gentrifizierung von South London sowieso, und die Achtzigerjahre-mäßig aufgeblasene skulpturale Großkotzigkeit in der Turbinenhalle, wo Louise Bourgeois irgendwelche von Unilever gelöhnte rostige Leuchttürme hingewuchtet hat. Und was soll ich sagen: Das Ding hat was. Es fängt schon an, wenn man auf der breiten, langen, flach abfallenden Rampe in die Turbinenhalle hineingeht: Die BesucherInnen – Eintritt frei – sind nicht die kleinen Strichmännchen am Fuße der industriellen Großkathedrale, sondern bewegen sich oberhalb des tiefsten Punktes, während die Vertikale von einer eingezogenen Zwischenebene gebrochen wird. Die Bourgeois-Türme haben was liebevoll Zusammengeschustertes, und wenn sie vom Waschmittelkonzern Unilever gesponsort sind, ist das ungefähr so, als würden die Anselm-Kiefer-Bleiregale im Hamburger Bahnhof von Persil präsentiert. Ist doch lustig. Die Sammlung hat ihre Lücken, und Tate-Chef Nikolas Serota hat eine etwas überbetonte Vorliebe für Rebecca Horn. Aber, tatsächlich, Herzog & de Meuron sind im Recht: Das Fehlen der Scheuerleisten macht die Wände luftig, sie schweben beinahe über dem hellen Holzboden, und die Räume sind eindeutig kunstfreundlicher als mit fünfmal gewundenen postmodernen Wandwürsten. Kleinere Räume, größere Räume, höhere Decken, niedrigere Decken, mit oder ohne Aussicht auf die Themse. Alles ist möglich für das Zeigen von Kunst – anstatt nur alles möglich zu machen für das Demonstrieren von Macht. JÖRG HEISER
JÖRG HEISER
Ohne Scheuerleisten
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UNRUHEN IN BOLIVIEN: POLITISCHEM MODELL DROHT DER ZUSAMMENBRUCH: Symbolpolitik mit fatalen Folgen - taz.de
UNRUHEN IN BOLIVIEN: POLITISCHEM MODELL DROHT DER ZUSAMMENBRUCH: Symbolpolitik mit fatalen Folgen Nach den blutigen Unruhen vom Februar ist die bolivianische De-facto-Hauptstadt La Paz wieder Schauplatz von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Seinerzeit ging es um die Einführung einer Lohnsteuer, jetzt ist der Protest gegen den Gasexport über Chile in die USA zum Auslöser geworden. Die beliebteste Methode: Straßenblockaden, um La Paz förmlich zu belagern. Die Forderungen in Sachen Gas sind populistisch und haben einen nationalistischen Unterton. Es geht nicht nur um die Konditionen von Gasexporten, sondern um Symbole: Gasexport über chilenische Häfen – die Chilenen haben Bolivien vor über 120 Jahren den Zugang zum Meer gestohlen. Gasexport in die USA – die Gringos beuten die Reichtümer Boliviens aus. Nur fragt man sich, was Bolivien denn sonst exportieren will und würde, wenn denn die Protestierenden regieren müssten. Die konkreten Anlässe für solche Protestwellen sind fast beliebig geworden. Hinter ihnen steht eine tiefe Unzufriedenheit. Nach 18 Jahren formal stabiler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftspolitik sind die Verheißungen auf ein besseres Leben unerfüllt geblieben. Die politische Klasse war stolz, seit 1985 Koalitions- und Dialogfähigkeit in die bolivianische Politik eingeführt zu haben. Jetzt droht das Modell zusammenzubrechen, denn große Teile der Gesellschaft blieben außen vor. Aber die Proteste haben bei aller Polarisierung weder ein klares politisches Ziel noch eine eindeutige politische Führung. Jeder nutzt die Proteste für eigene politische Interessen: die Gewerkschaften, die Minenarbeiter und die Kokabauern mit ihrem Anführer Evo Morales, inzwischen Oppositionsführer im Parlament, oder der radikale Bauernführer und Abgeordnete Felipe Quispe. Argwöhnisch beäugen sich die Spitzenfiguren der Opposition, wer da welches taktische Bündnis schmiedet. Offen ist die Frage, wie groß der Rückhalt für so radikale Proteste wirklich ist. In La Paz leiden auch die einfachen Leute unter den Blockaden, und in anderen Regionen des Landes ist das Echo begrenzt. Präsident Sánchez de Lozada, vor acht Jahren noch Hoffnungsträger mit spektakulären Reformen, versucht indessen mit Waffengewalt, die Wege nach La Paz freihalten zu lassen, und spricht von einem Putschversuch. Seine politische Hilflosigkeit hat fatale Folgen. Denn was wird geschehen? Wieder einmal werden Kirche und Menschenrechtler vermitteln, wird eine fragile Übereinkunft vorläufig für Beruhigung sorgen. Doch kein Problem wird gelöst sein, solange das nicht alle Beteiligten wirklich wollen. ULRICH GOEDEKING Der Autor ist Journalist in Berlin mit dem Schwerpunkt Andenländer
ULRICH GOEDEKING
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Polizeiwache am Kottbusser Tor: Kotti-Wache wohl erst 2023 - taz.de
Polizeiwache am Kottbusser Tor: Kotti-Wache wohl erst 2023 Innensenatorin Spranger stellt Geld für Einrichtung und ab nächstem Jahr für die Miete einer Wache bereit. Noch ist kein Mietvertrag unterschrieben. Unbeliebt: Polizei Foto: dpa BERLIN taz | Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hat im Innenausschuss am Montag Fragen zu der von ihr geplanten Polizeiwache am Kottbusser Tor beantwortet. Zum genauen Ort äußerte sich Spranger nicht; im Gespräch ist das ehemalige Wettbüro auf der Brücke über der Adalbertstraße. Ein Mietvertrag sei noch nicht unterschrieben, aber man sei „natürlich in Gesprächen“. Im Januar, zu Beginn der Legislatur, hatte Spranger angekündigt, „schnell Nägeln mit Köpfen zu machen“. Nun sind im Finanzplan der Innenverwaltung für die Einrichtung der Kotti-Wache 250.000 Euro vorgesehen. Für die Miete stehen jährlich 50.000 Euro zur Verfügung, allerdings erst ab dem kommenden Jahr. Mit einer Eröffnung der Wache dürfte also nicht vor 2023 zu rechnen sein. Weitere Wachen etwa am Görlitzer Park sollen wohl folgen. Die Innensenatorin sprach davon, ein „gesamtheitliches Konzept“ für den Kotti erstellen zu wollen, das über den „polizeilichen Schutz“ hinausgehe. Der Kreuzberger Grünen-Abgeordnete Turgut Altuğ begrüßte die Pläne, ergänzte aber ebenso: „Das Problem vor Ort kann nicht nur mit Polizei gelöst werden.“ Es brauche weitere Maßnahmen, die auch den Bezirk, die Stadtentwicklungsverwaltung und die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag als Eigentümerin des Neuen Kreuzberger Zentrums mit einbeziehe. Die CDU erneuerte ihre Forderung nach einer Videoüberwachung des Platzes, die auch von Spranger befürwortet wird. Spranger betonte, den Ort von vielen Besuchen zu kennen und Unterstützung für ihren Plan bei vielen Gewerbetreibenden und Beteiligten zu haben. Doch die Ablehnung der Kotti-Wache ist breit: Am Freitag hatte das neue Bündnis „Kotti für alle“, bestehend aus der Mieter:innenvernetzung, Stadtteilinis und Initiativen, gegen die geplante Polizeipräsenz demonstriert.
Erik Peter
Innensenatorin Spranger stellt Geld für Einrichtung und ab nächstem Jahr für die Miete einer Wache bereit. Noch ist kein Mietvertrag unterschrieben.
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Mockumentery-Serie „Abbott Elementary“: Lehrerzimmer mit Witz - taz.de
Mockumentery-Serie „Abbott Elementary“: Lehrerzimmer mit Witz In der Sitcom-Serie „Abbott Elementary School“ auf Disney+ steht ein Lehrer­kollegium im Mittelpunkt. Das ist herrlich schräg und albern. Quinta Brunson, Schöpferin und Hauptdarstellerin der „Abbott Elementary“ Die Abbott Elementary School ist eine, wie es sie in den USA vermutlich so ähnlich in jeder größeren Stadt mehrfach gibt. Eine staatliche Grundschule, die überwiegend von Schwarzen Kids besucht wird, heruntergewirtschaftet durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen und Personalkürzungen. Der Lehrkörper umfasst begeisterungsfähige und naive Berufsanfänger genauso wie erfahrene, aber desillusionierte alte Hasen. Genau der richtige Ort also für ein Kamerateam, um Material für ein Dokumentarprojekt über den Lehreralltag einzufangen. „Abbott Elementary“ ist eine Sitcom über dieses Dokumentarprojekt, oder besser gesagt: über ebenjene fiktive Schule in Philadelphia. Dass die Serie als Mockumentary daherkommt und die Prot­ago­nis­t*in­nen entsprechend immer mal wieder das Geschehen direkt in die Kamera kommentieren, spielt ziemlich schnell eigentlich keine allzu große Rolle mehr. Viel passender als Einordnung ist das Genre der „workplace comedy“ à la „Parks and Recreation“. Es geht vor allem um die Arbeitswelt des Lehrerkollegiums in all ihren Facetten. Von schlechtem Essen in der Schulkantine über mangelndes Geld für Bücher bis hin zu nicht funktionierenden Toiletten. Im Zentrum steht dabei Janine Teagues (Quinta Brunson, auch Schöpferin und Showrunnerin der Serie), die genau wie ihr Kollege Jacob Hill (Chris Perfetti) als eine von wenigen Neulingen das erste Jahr im Job überstanden hat. Skeptisch beäugt werden sie von der abgebrühten Melissa Schemmenti (Lisa Ann Walter), die Janines Parallelklasse leitet, und vor allem der ebenso strengen wie religiösen Barbara Howard (Sheryl Lee Ralph), die für die Vorschulkinder verantwortlich ist. Und dann sind da noch der neue Vertretungslehrer Gregory Eddie (Tyler James Williams) sowie die taktlose, faule und nicht ihrer Fähigkeiten wegen eingestellte Schulleiterin Ava Coleman (Janelle James). Der „Club der toten Dichter“ dient als Gag-Vorlage Allen Gefahren, die Geschichten über Leh­re­r*in­nen innewohnen, weiß „Abbott Elementary“ erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Weder liegt zu viel Fokus auf den Kindern (auch wenn die ein paar wunderbare Momente haben), noch werden der Berufsstand oder einzelne Figuren verklärt, wie das im „Club der toten Dichter“ der Fall war. Der Film muss wie so vieles als augenzwinkerndes Gag-Material herhalten. Die Serie, deren erste Staffel nach 13 Episoden viel zu früh vorbei ist, ist ohnehin eine echte Ausnahmeerscheinung im Gros des seriellen Inhalte dieser Tage. Haben die meisten Produktionen, die aktuell für echten Gesprächsstoff sorgen und von Publikum wie Kritik gleichermaßen gefeiert werden, ihr Zuhause entweder bei einem Streamingdienst oder zumindest im Pay-TV, ist „Abbott Elementary“ tatsächlich in den USA ganz klassisch im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen. Jeden Dienstagabend, Werbeunterbrechungen inklusive. Bei den Emmy Awards, dem wichtigsten TV-Preis der Welt, darf sich die Serie als erste sogenannte Network-Comedy seit dem Ende von „Modern Family“ ernsthafte Chancen ausrechnen. Schöpferin und Hauptdarstellerin Brunson, die ihre Karriere mit Comedy-Videos im Internet begann und für die US-amerikanische „Black Lady Sketch Show“ mitverantwortlich zeichnete, ist dabei übrigens die erste Schwarze Frau, die gleich drei Nominierungen im Comedy-Bereich für sich verbuchen kann: als Hauptdarstellerin, Autorin und Produzentin. Höchst verdient, wohlgemerkt, denn bei ihrer ersten eigenen Serie beweist sie als Erfinderin der Show nicht nur ein gutes Händchen für Humor und Timing, sondern vor allem für die richtige Balance. „Abbott Elementary“ ist mal bissig und trocken, mal albern und ausgelassen, mitunter herrlich schräg (nicht zuletzt dank Schulleiterin Coleman), öfter mal beiläufig und durchaus auch herzerwärmend und rührend, aber dabei weder zynisch noch kitschig. Dass die Arbeit an der zweiten Staffel, die dann ganz klassisch mit stattlichen 22 Folgen daherkommen wird, bereits begonnen hat, ist entsprechend eine gute Nachricht.
Patrick Heidmann
In der Sitcom-Serie „Abbott Elementary School“ auf Disney+ steht ein Lehrer­kollegium im Mittelpunkt. Das ist herrlich schräg und albern.
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Twitter gegen Facebook: Krieg der Filter - taz.de
Twitter gegen Facebook: Krieg der Filter Nun bietet der Kurznachrichtendienst Twitter auch eine eigene Foto-App an. Vorher zog sich die Facebook-Tochter Instagram zurück. Streitobjekt zwischen Facebook und Twitter: der Fotofilter (allerdings geht‘s um die digitale Variante). Bild: Diddi/photocase.com Wenn man sich das Video anschaut, mit dem Twitter seinen neuen Fotodienst bewirbt, könnte man meinen, dass der Netzwerkriese seinen Nutzern nur etwas Gutes tun will: In den kostenlosen Smartphone-Apps für iOS und Android können künftig geknipste Bilder mit einer ganzen Reihe von Filtern von Grellbunt bis Monochrom bearbeitet werden, bevor sie bei Twitter landen und den Freundeskreis erfreuen (oder auch nicht). Die Idee an sich ist allerdings uralt: Schon seit Oktober 2010 bot Instagram, seit dem vergangenen Sommer eine Tochter von Facebook, solche Funktionen an – in einer eigenen Anwendung mit Anbindung zu Twitter. Die App ist mit ihren Millionen Nutzern so populär, dass ihr inzwischen sogar Satire-Songs gewidmet werden. Was da im scheinbar so betulichen Geschäftsfeld der vernetzten Freizeitfotografie abläuft, ist nicht weniger als ein Kleinkrieg zwischen Twitter und Facebook. Bei Twitter versucht man, möglichst viele bislang extern ausgelagerte Funktionen auf die eigene Seite zu holen, damit der Nutzerschaft auch gewinnbringende Werbung präsentiert werden kann. Darunter leiden vor allem Entwickler, denen nun beispielsweise vorgeschrieben wird, wie viele User sie haben dürfen. Externe Dienste, die früher von Twitter fröhlich eingebunden wurden, weil es an hauseigenen Alternativen mangelte, baut man nun am liebsten selbst nach. Die Fotofilter sind ein gutes Beispiel, auch wenn hier der „Erstschlag“ offenkundig von der Facebook-Tochter Instagram kam. Deren Chef Kevin Systrom will als Reaktion auf Twitters Bemühungen seinerseits versuchen, Nutzer im eigenen Netzwerk zu halten. So wurde vor einem Monat eine neue Profilfunktion eingeführt, mit der Nutzer auf der Instagram-Website ihre Fotos ausstellen können. Firmeneigene Samrtphone-App Bislang kamen die meisten Abrufe über die firmeneigene Smartphone-App - und vor allem über Twitter. Zuvor hatte Twitter im Sommer seinerseits eine „Friendfinder“-Funktion für Instagram abgedreht. Seit letzter Woche nun werden Instagram-Bilder nicht mehr automatisch bei dem Kurznachrichtendienst eingebaut. „Foto-Darstellungsprobleme“ nannte das Twitter am Wochenende, um dann einzuräumen, dass Instagram selbst die Integration abgeschaltet habe. „Es ist zwar noch möglich, Links zu Instagram zu tweeten, aber man kann die Fotos nicht mehr wie bislang auf Twitter sehen“, so das Unternehmen. Doch Twitter muss gewusst haben, dass der populäre Fotodienst seinen Abgang plant. Jedenfalls kam nun in der Nacht zum Dienstag gleich ein Update für die hauseigene Smartphone-Anwendung, die plötzlich zahlreiche Filter mitbringt – bislang Instagrams beliebteste Funktion. Externer Dienstleister Die Technik kommt nicht von Twitter selbst, sondern wurde von einem externen Dienstleister entwickelt. Die neue Fotofunktion bietet auf den ersten Blick alles, was das Herz begehrt: Die erwähnten Filter, Skalierungs- und Beschneidungsfunktionen, automatische Bildverbesserung und einiges mehr. Die Idee dabei scheint zu sein, dass die Nutzer möglichst ihre ganze Zeit der Twitter-Nutzung auf dem Mobilgerät in der hauseigenen App des Konzerns verbringen. Über die hat dieser die volle Kontrolle – und kann auf Wunsch jederzeit Werbung einblenden. Allerdings gilt die Twitter-App unter Vielnutzern des Kurznachrichtendienstes als nicht sonderlich gelungen – so ist etwa auf dem iPhone die Tweetbot-App enorm beliebt. Unter Mac OS X, wo Twitter seine eigene Anwendung seit vielen Monaten nicht mehr pflegt, zahlen Feed-Fanatiker mittlerweile //itunes.apple.com/de/app/tweetbot-for-twitter/id557168941?mt=12:18 Euro, um die Alternativ-App zu nutzen.
Ben Schwan
Nun bietet der Kurznachrichtendienst Twitter auch eine eigene Foto-App an. Vorher zog sich die Facebook-Tochter Instagram zurück.
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Koreanisches Kulturerbe: Im Schlag der großen Jingo-Trommel - taz.de
Koreanisches Kulturerbe: Im Schlag der großen Jingo-Trommel Mit „Jongmyo Jeryeak“ ist eine geheimnisvolle, streng disziplinierte Musik zu hören. Erstmals ist dieses koreanische Ritual in Deutschland auf Tour. Prächtige Kostüme, gewagte Hutmoden: Jongmyo Jeryeak-Ritus in der Berliner Philharmonie Foto: Fabian Schellhorn/Berliner Festspiele In einem Crashkurs vorab durfte man erfahren, dass die Farbe Grün in Korea für den Osten steht und Weiß für Westen. Einmal Klatschen meint Anfang, dreimal Klatschen bezeichnet ein Ende. Und wahrscheinlich hat man auch schon K-Pop gehört, die koreanische Popmusik, und war bestimmt mal koreanisch essen, um wenigstens etwas gerüstet in diesen Abend zu gehen, der einen schließlich mit einem wirklichen Herzstück der koreanischen Kultur bekannt machen sollte. Und dann sitzt man mit diesen lächerlichen Vorbereitungen in der Berliner Philharmonie und hört die Musik, freut sich an prächtigen Kostümen und den gewagten Hutmodellen, schaut den Tänzerinnen bei ihren abgezirkelten und streng ritualisierten Armbewegungen zu und sieht sogar links auf der Bühne ein seltsames grünes Instrument und rechts ein noch seltsameres in Tigerform. Es ist weiß. Osten. Westen. Aber was heißt das schon? Man weiß also eigentlich gar nichts. Nicht mal, ob man seinen Ohren trauen darf. Aufgeführt wird vom National Gugak Center aus Seoul das „Jongmyo Jeryeak“, ein Ritual zur Ehrung der koreanischen Könige. Jahrhundertealt. Unesco-Kulturerbe. Anlässlich des 50. Jahrestags des koreanisch-deutschen Kulturabkommens ist es erstmals überhaupt auf Deutschland-Tournee, am Montag war der Auftakt in Berlin. Ornamental höchst wirkungsvoll drapieren sich auf der Bühne der Philharmonie weit über 50 Beteiligte, die singen, tröten und die große Jingo-Trommel – „die größte Trommel, die heute in Korea gespielt wird“ (Programmheftwissen) – schlagen, dumpf, wuchtig. In einem zähen Puls kommt die Musik in Gang mit dem rezitativen Singen, in dem die Heldentaten der einstigen und längst dahingestorbenen Könige beschworen werden. Jongmyo Jeryeak auf TourVon Korea: Jongmyo Jeryeak ist ein Zusammenspiel aus Musik, Tanz, Gesang und traditionellen Gewändern. Aufführungen gibt es normalerweise nur am konfuzianischen königlichen Jongmyo-Schrein in der Seouler Innenstadt.Nach Deutschland: Anlässlich des 50-jährigen Jahrestages des koreanisch-deutschen Kulturabkommens kommt die fast 600 Jahre alte koreanische Tradition auf deutsche Bühnen: Am 17. September gibt es eine Aufführung in der Hamburger Elbphilharmonie, am 23. September im Prinzregententheater in München im Rahmen der Konzertreihe musica viva des BR, und am 26. September in der Kölner Philharmonie. Gefangen im Sog Eine geheimnisvolle, leicht leiernd klingende und immer streng disziplinierte Musik, die anders temperiert ist als die hiesige. Halt anders richtig. Erdschwer ist sie und in den ewigen Wiederholungen gleichwohl auffliegend, sich verflüchtigend. Sehr fremd und doch, manchen Prinzipien nach, auch vertraut, weil das Jongmyo Jeryeak letztlich gar nicht so weit weg ist von den musikalischen Riten der christlichen Kirche, mit denen man gleichermaßen ganz diszipliniert abdriften kann und sich auf­geben in etwas Größerem. Hier in der Philharmonie ist es die Großartigkeit der koreanischen Könige, die allerdings wohl alle immer gleich großartig waren, jedenfalls bemüht sich die Musik überhaupt nicht um Abwechslung, so dass sie mit den stets wiederkehrenden Schleifen und Motiven – Unesco-Kulturerbe hin oder her – doch ermüden kann, dass man mit seinen Gedanken auch mal abschweift: ob etwa so eine musikalische Anbetung ebenfalls bei der Demokratie vorstellbar wäre, immerhin hat auch Korea keine Könige mehr. Möglicherweise aber würden reale und praktizierende Könige so einer ritualisierten Traditionspflege sowieso im Weg stehen. Aber selbst solche Überlegungen zermalmt dann die Musik in ihrer kreiselnden Bewegung. Gefangen ist man wieder in dem meditativen Sog.
Thomas Mauch
Mit „Jongmyo Jeryeak“ ist eine geheimnisvolle, streng disziplinierte Musik zu hören. Erstmals ist dieses koreanische Ritual in Deutschland auf Tour.
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Nachruf auf Ion Mihai Pacepa: Ein Meister der Desinformation - taz.de
Nachruf auf Ion Mihai Pacepa: Ein Meister der Desinformation Der ehemalige hochrangige Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate ist im Alter von 92 Jahren in den USA gestorben. Ion Mihai Pacepa im Jahr 1975 Foto: Rompres/afp BERLIN taz | Er war schon mehrmals totgesagt worden, doch nun ist es amtlich: Der frühere Generalleutnant des rumänischen Geheimdienstes Securitate, Ion Mihai Pacepa, ist in den USA an Covid-19 gestorben. Er wurde 92 Jahre alt. Die Nachricht von Ableben des prominenten Geheimdienstlers veröffentlichte am Montag zuerst das Propagandablatt antikommunistischer Exilchinesen, The Epoch Times. Der Verfasser ist der amerikanische Jurist Ronald J. Rychlak, der mit Pacepa mehrere Bücher und Artikel veröffentlicht hatte, in denen sich alles um Geschichten aus der undurchschaubaren Agentenwelt drehte. Auch Radio Free Europe bestätigte inzwischen den Tod und erinnerte daran, dass Pacepa der hochrangigste Vertreter eines Ostblockgeheimdienstes war, der sich in den Westen abgesetzt hatte. Pacepa wurde nach seinem Chemiestudium in den frühen 1950er Jahren Offizier der Securitate. Er machte schnell Karriere innerhalb des Auslandsgeheimdienstes (DIE). Von 1957 bis 1960 leitete er von Deutschland aus das im westlichen Ausland aktive Spionagenetzwerk. Dank seiner nachrichtendienstlichen Fähigkeiten wurde er 1972 zum Vize-Chef des DIE befördert. Gleichzeitig ernannte ihn der nationalkommunistische Diktator Nicolae Ceauşescu zu seinem persönlichen Berater. Ceauşescu reagierte 1977 wütend und tief enttäuscht auf die Meldung, dass sich sein engster Berater aus dem Securitate-Apparat in den Westen abgesetzt hatte. Dass Pacepa den Amerikanern Staatsgeheimnisse anvertrauen würde, war zu erwarten. Zum Tod verurteilt In kürzester Zeit mussten Spione abgezogen, die Struktur des Auslandsgeheimdienstes verändert und Schuldige für die nicht rechtzeitig erkannten Absichten des Überläufers ausgemacht werden. Pacepa wurde in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt, seine in Rumänien verbliebene Tochter schikaniert und sein Vermögen beschlagnahmt. Zehn Jahre nach seinem Untertauchen veröffentlichte er ein memorialistisch eingefärbtes Buch unter dem Titel „Red Horizons“ („Rote Horizonte“), in dem er im Stil eines Agententhrillers unglaubliche Geschichten über Ceauşescu und dessen Familie zum Besten gab. Aus einer 1988/89 von Radio Free Europe ausgestrahlten Fassung wurden einzelne, kaum belegbare Behauptungen dieses Meisters der Desinformation gestrichen. An einer Stelle erzählte Pacepa von Ausschweifungen des Diktatorensohnes. Für diesen seien Austern eingeflogen worden, auf die er dann uriniert haben soll. In den Folgejahren wartete der frühere Securitategeneral mit immer neuen Geschichten auf. Diese zeugen von einer regen Fantasie des Verfassers, der sich in Verschwörungsmythen einmauerte. In einer seiner Schriften heißt es, er habe Rolf Hochhuth Geheimdokumente aus dem Vatikan zugespielt, die dieser für sein berühmtes Theaterstück „Der Stellvertreter“ benutzt habe. Die Dokumente seien von seinen im Vatikan eingeschleusten Agenten kopiert worden, um Papst Pius XII. als Nazisympathisanten zu kompromittieren. Im gleichen Zusammenhang berichtete er über einen als Vatikanagenten verurteilten katholischen Bischof aus Rumänien, der 1959 gegen die Freilassung verhafteter Spione in die BRD ausreisen durfte. Der Bischof war 1954 gestorben. In Rumänien blieb Pacepa nach 1990 umstritten – auch nachdem 1999 das Oberste Gericht das Todesurteil gegen ihn rückgängig gemacht hatte. 2004 wurde ihm auch das Vermögen zurückerstattet. Pacepa reiste aber nie wieder in seine Heimat, sondern schrieb weiter über Verbrechen, an denen er beteiligt war. Entschuldigt hat er sich nie.
William Totok
Der ehemalige hochrangige Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes Securitate ist im Alter von 92 Jahren in den USA gestorben.
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A26-Gegner wollen reden - taz.de
A26-Gegner wollen reden Die Stadt diskutiert mit Betroffenen über ihre Einwände gegen die geplante Hafenpassage A26-Ost. Nabu und Bürgerinitiativen wollen die Autobahn verhindern und notfalls klagen Ein bisschen Platz für Natur bliebe noch: Geplanter Deckel über der A26 Foto: Wirtschaftsbehörde Hamburg Von Jana Hemmersmeier Sie soll quer durch den Hamburger Süden verlaufen und den Hafen an die A7 im Westen und die A1 im Osten anschließen: Die geplante A26-Ost. Die Stadtautobahn ist umstritten, seit 2017 haben Vereine und Initiativen mehr als 1.300 Einwände eingereicht. Für heute hat die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation (BWVI) einen ersten nichtöffentlichen Erörterungstermin angesetzt. Eine Einladung haben Naturschutzbund (Nabu) und Bürgerinitiativen nach eigenen Angaben aber nicht bekommen. Von dem Termin habe man zufällig aus dem Amtlichen Anzeiger erfahren, sagt Malte Siegert, Leiter für Umweltpolitik beim Nabu Hamburg. „Es wirkt nicht so, als interessiere sich die Behörde für unsere Einwände“, sagt Manuel Humburg vom Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg. Eine schriftliche Einladung ist allerdings auch nicht vorgeschrieben. Der Nabu habe bisher alle Gesprächsangebote kategorisch abgelehnt, hieß es auf taz-Nachfrage aus der BWVI. Jetzt hätten die Gegner erstmals Gesprächsbereitschaft signalisiert. Bei Erörterungsterminen geht es darum, wie die Stadt Einwände Betroffener berücksichtigen kann. Der Nabu und das Bündnis Verkehrswende Hamburg wollen jedoch das Projekt im Ganzen verhindern. Eine „Pendlerautobahn“ sei in Zeiten der Klimakrise nicht mehr zeitgemäß, sagt Siegert. Sie schaffe den falschen Anreiz, statt der S-Bahn das Auto zu nehmen. Die Stadt müsse stattdessen in Projekte des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wie den Ausbau der U4 und der S3/S31 investieren. Im Hafen sei zudem der Weg über die Köhlbrandbrücke wichtiger als die A26. Für die Brücke muss bis 2030 ein Ersatz her, sie liegt für moderne Containerschiffe zu niedrig. Ein Bohrtunnel unter dem Köhlbrand ist dafür im Gespräch. Der Nabu fordert, diese Strecke und den anschließenden Veddeler Damm auszubauen. Eine schnelle Anbindung des Hafens an eine Autobahn sei dringend erforderlich, teilte dagegen der Unternehmensverband Hafen Hamburg (UVHH) auf Anfrage der taz mit. Die Köhlbrandbrücke und die Verbindung über Kattwykbrücke und B73 seien zu voll. Die A26 entlaste sogar umliegende Stadtteile, weil LKW nicht mehr nach Alternativrouten durch die Viertel suchen würden, so Ines Luderer, stellvertretende Geschäftsführerin des UVHH. Lärm und Abgase würden vor allem in Moorburg, Bostelbek und im Süden Wilhelmsburgs die Lebensqualität deutlich verringern, argumentiert dagegen der Verein Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg. „Es wirkt nicht so, als interessiere sich die Behörde für unsere Einwände“Manuel Humburg, Verein „Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg“ Die Mittel für die Stadtautobahn hat der Bund bereits genehmigt. Obwohl die Strecke über den Köhlbrand keine Bundesstraße ist, könnte sich Berlin auch hier beteiligen. Die beiden Straßen lägen aber so dicht beieinander, dass der Bund sie wohl kaum beide finanzieren werde, argumentiert Malte Siegert. Dann müsse Hamburg für die Köhlbrandquerung schätzungsweise drei Milliarden Euro bezahlen. Geld, das für den ÖPNV fehle. Nabu und das Bündnis Verkehrswende hoffen nun auf die Politik. Die Grünen hatten der A26-Ost im Koalitionsvertrag zwar zugestimmt. Im Beschluss vom 13. August fordert der Landesausschuss jedoch, die A26 kritisch zu überprüfen. Die Autobahn stehe einem klimafreundlichen Verkehr „diametral entgegen“. Das macht den Autobahngegnern Hoffnung auf die nächste Koalition nach der Bürgerschaftswahl im Februar. Der Nabu hat auch konkrete ökologische Einwände gegen die A26-Ost. Die Autobahn versiegele Moorflächen in Moorburg, im betroffenen Gebiet leben geschützte Pflanzen und Tiere wie Moorfrösche, Libellen und Fledermäuse. Das sind die Grundlagen für eine mögliche Klage gegen den Planungsfeststellungsbeschluss, der noch nicht vorliegt. Unabhängig davon, wie der aussieht: Die Gegner wollen die Autobahn verhindern. „Ich gehe davon aus, dass wir klagen“, sagt Alexander Porschke, Vorsitzender des Nabu Hamburg.
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Die Stadt diskutiert mit Betroffenen über ihre Einwände gegen die geplante Hafenpassage A26-Ost. Nabu und Bürgerinitiativen wollen die Autobahn verhindern und notfalls klagen
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Auf 13 Joints mit Helmut Höge: Fernsehen auf LSD - taz.de
Auf 13 Joints mit Helmut Höge: Fernsehen auf LSD Helmut Höge ist taz-Autor, taz-Hausmeister und Tierforscher. Wir treffen uns mit ihm auf 13 Joints, oder so. Diesmal: das Fernsehen. Sehen Sie den zweiten Mann in der dritten Reihe mit dem komischen Schlips? Bild: archiv Wenn man auf einem der beiden Sofas sitzt, die auch nach jahrelangem Nebeneinanderstehen nicht so recht zueinander passen wollen, kann man durch die offene Tür zur Dachterrasse die bunten Buchstaben am Axel-Springer-Haus aufblinken sehen. Und hören, wer gerade durch das alte Treppenhaus in den fünfeinhalbten Stock hinaufsteigt. Helmut Höges Schritte klingen so: Tripp-trapp, tripp-trapp. Viervierteltakt, allegro, ma non troppo. Helmut ist ein bisschen zu spät und nicht allein. Der scheidende tazzwei-Ressortleiter, Schwerpunkt Medien, im Folgenden der Einfachheit halber D. genannt, viervierteltaktet hinter ihm her. „Und Kollegin M. kommt gleich auch noch“, sagt Helmut. So viel Interesse, nur weil wir heute übers Fernsehen reden wollen? Ja, sagt D. Vom Joint zieht er später dann trotzdem. Also von beiden. Aber erstmal schließt Helmut die Tür zum Dach und sperrt die bunten Buchstaben aus, um in Ruhe mit dem Tabak und anderen Dingen zu hantieren. Währenddessen fragt D., ob meine Brille neu ist. Nur das Gesicht dahinter, sagt Helmut und leckt von links nach rechts über das Blättchen, - „für eine neue Brille hat es dann nicht mehr gereicht.“ Gelächter. Um Humor soll es heute übrigens auch gehen. Genauer: Um Politsatire im deutschen Fernsehen. Wobei Helmut Höge, taz-Autor und Aushilfshausmeister, vermutlich eher so einer ist, der gar keinen Fernseher hat und nur Tierfilme auf Youtube guckt. „Nicht ganz falsch“, sagt er. Er hat noch nie im Leben einen Fernseher gehabt, aber alle seine Freundinnen. Und was schaut er sich da so an, bei seiner Freundin? Eigentlich nur Dokus, sagt Helmut, am liebsten über Tiere. Ab und zu auch mal „diese Sendung morgens aus den Tiergärten“. Panda, Gorilla und Co. Weil er es gut findet, wenn mal die Tierpfleger reden und nicht nur die Kuratoren. „Und die sind erstaunlich kenntnisreich.“ Helmut macht jetzt auch einmal im Monat einen Abend in einer Kneipe, wo er Tierdokus zeigt, die ersten beiden werden sowjetische Filme sein. Zum Beispiel über einen Amphibienforscher in Wien, der am Ende Selbstmord macht. „Ich lege keinen Wert auf Unterhaltung“ Kollegin M. war zwischendurch auch mal kurz da, ist aber schon wieder weg. Genauso wie der erste Joint und mein Interesse an Politsatire. Tiere sind ja auch wirklich so viel lustiger! Zum Beispiel bestimmte Esel, die so Riesenohren haben und schönes Fell, findet Helmut. Auch Erdmännchen. Und sogar Mikroorganismen. Aber eigentlich geht es ihm beim Fernsehen mehr ums Lernen, sagt er und schiebt einen Satz hinterher, der so gut ist, dass er sich metaebenenmäßig in meinem Kopf aufschichtet: „Ich lege keinen Wert auf Unterhaltung.“ Wumms. Aber Lernen und Unterhaltung, geht das nicht gleichzeitig? Zum Beispiel in der „heute-show“, von der einige meinen, dass sie bildungsfernes Publikum politisiert. Helmut hat die Sendung nur einmal gesehen, mochte sie aber ganz gerne. Weil sich die Politiker sowieso zu ernst nehmen und er es gut findet, wenn das karikiert wird. Dieser Zwang, witzig zu sein, sei allerdings auch anstrengend. Wie damals, als er mit Wladimir Kaminer bei der Reformbühne in der Ackerstraße war, und dann machte das Kaffee Burger auf und sie haben die Reformbühne dorthin verlegt. Und alles hat sich verändert. Vorher war es nämlich so, dass sie kleine Alltagsbeobachtungen in Prosa verpackt haben, aber dann kamen immer mehr Touristen und es lief immer mehr auf Lacher pro Minute hinaus. Dann haben sie irgendwann aufgehört, weil ihnen nicht nach Witz zu Mute war. „Allein der Gedanke: Es ist Sonntag, es geht dir total mies und du sollst dir jetzt drei wahnsinnig komische Texte ausdenken“, sagt Helmut und reicht den zweiten Joint rüber, „das fand ich schrecklich.“ Titty-Tainment und Neoliberalismus Zum Glück reißt D. dann die Rolle des Interviewenden an sich, denn ich kann nicht mehr wirklich reden, aber denken dafür ziemlich gut. Als ich wieder einsteige, sprechen die anderen gerade über Titty-Tainment und Neoliberalismus. Auch Helmuts Praktikant Stefan ist jetzt da. Es wird eng. Worüber sich irgendwie alle einig sind, ist, dass der Alarmismus in der Politik nervt. Immer ist es fünf vor 12, sagt Helmut, und in der nächsten Woche wieder. Wenn Politiker ein Thema haben, halten sie das für das Wichtigste überhaupt. Die Abschaffung der Gesamtschule. Oder das Gegenteil. Und wenn das jetzt nicht passiert, sind ganze Generationen von Kindern verloren. Gut, dass die „heute-show“ da die Luft rauslässt. taz am wochenendeDank der „heute-show“ interessieren sich junge Menschen für Politik, sagen die Macher. Im Gegenteil, meinen Kritiker: Es gehe nicht um Aufklärung, sondern um Verachtung. Ob TV-Humor politisch sein kann, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 22./23. März 2014 . Außerdem: Was passiert, wenn sich die Erde erwärmt? Der neue UN-Klimabericht exklusiv in der taz. Und: Warum bekriegt sich die Opposition gerade in der Krim-Krise? Gregor Gysi streitet mit Katrin Göring-Eckardt über den Umgang mit Russland, der Ukraine und der Großen Koalition. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Es kritisieren aber auch viele, dass Politik in solchen Formaten nicht ernst genug genommen wird. Ja, zum Beispiel die Politiker, sagt Helmut. Anspruchsvoll bei Humor sei er sowieso eher nicht. Neulich war er bei Otto, der hat ihm gut gefallen. Also die Show, nicht seine Filme. „Die sind ja so wie Einohrmaus oder -hase.“ - Zweiohrhase. - Ja, Zweiohrhase. - Zweiohrküken. Quatsch, Keinohrhase. - Sowas wie Einohrhase gefällt mir jedenfalls nicht, sagt Helmut. Keinproblembär wäre auch ein guter Titel, denke ich, und dass ich das Til Schweiger mal vorschlagen muss. Aber dann reden wir doch lieber nochmal über echte Tierfilme. Auf dem Discovery Channel, den Helmut mal per Zufall reinbekommen hat. Mehrmals am Tag liefen da Haifilme, „diese Amis, die haben doch den Arsch offen.“ Es ging nämlich immer nur um Mutproben, gar nicht um die Tiere. Der eine Typ hatte so ein Kettenhemd an, wie die Ritter früher, sagt Helmut, aber natürlich mit Hai-Tech. Moment. Ich schaue auf die Buchstaben, die auf meinem Block verschwimmen. Als mir Minuten später klar wird, dass Hai-Tech eigentlich High-Tech geschrieben wird, muss ich kichern, aber mehr so innerlich. Helmut erzählt, dass er sich zur Erholung von den grauenhaften Haifilmen dann Unterwasserfilme von Jacques Cousteau angucken musste. Früher, wenn er durch Frankreich fuhr im Sommer, hatten die in den Kneipen oben rechts einen Fernseher, das war wie in Deutschland beim Fußball schauen. Nur eben: Cousteau. „Aber ich schweife ab“, sagt Helmut, und er sagt es nicht das erste Mal an diesem Abend, denn unser eigentliches Thema scheint nur der Angelpunkt des Karussells zu sein, auf dessen galoppierenden Pferdchen es viel lustiger ist. Den Anschluss verlieren Lange Zeit hat Helmut auch auf LSD ferngesehen. Das kriegt dann nochmal einen anderen Dreh, wie bei einer Satiresendung. Und das Programm ist akzeptabler, man holt viel mehr raus, oder bildet es sich zumindest ein. Dann achtet man plötzlich auf den zweiten Mann in der dritten Reihe, was der für einen komischen Schlips hat. Und verliert schnell den Anschluss, oder? Ja, das macht doch aber nichts, sagt Helmut. Damals ist ihm und seiner Freundin auch immer mal wieder ein Fernseher kaputt gegangen. Und sie haben jedes Mal einen neuen gekauft, für nen Hunni oder so. Gleich schräg gegenüber am Görlitzer Bahnhof, da war so ein Laden für gebrauchte Geräte. Den neuen haben sie dann einfach auf den alten gestellt, bis irgendwann am Fußende vom Bett vier Dinger aufeinander waren. Ein Fernsehstapel. Oder: Ein Fernsehturm. Helmuts Praktikant Stefan erzählt dann noch die Geschichte, wie er vor Jahren versucht hat, seinen Fernseher abzumelden, weil er kaputt gegangen ist. Die GEZ hat ihn per Brief gefragt, wie das passiert sei. Sie wollte es genauer wissen. Stefan schrieb dann fünf Seiten über den langsamen Abschied vom Fernsehen, wie das Gerät geblinkt hat und komisch gerochen, über Verlust und Trauererscheinungen. Eine Antwort hat er nie bekommen, aber das mit der Abmeldung hat dann endlich geklappt. Und was gucken Sie so im Fernsehen? Finden Sie die „heute-show“ sehenswert? Über was können Sie lachen? Diskutieren Sie mit! Die Titelgeschichte „Humor ist ein schwieriges Thema“ über Politsatire im deutschen Fernsehen lesen Sie in der taz.am wochenende vom 22./23. März 2014.
Franziska Seyboldt
Helmut Höge ist taz-Autor, taz-Hausmeister und Tierforscher. Wir treffen uns mit ihm auf 13 Joints, oder so. Diesmal: das Fernsehen.
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Kolumne „Hier und dort“: Es geht mir gut und ich schäme mich - taz.de
Kolumne „Hier und dort“: Es geht mir gut und ich schäme mich Kefah Ali Deeb ist dem Krieg in Syrien entronnen, aber viele ihrer Freunde sind noch dort. Dass sie in Sicherheit ist, bereitet ihr Unbehagen. Hier ist Damaskus: Das Bild stammt vom 11. Juni 2016 und wurde im Viertel Assayidah Zainab aufgenommen Foto: dpa In der Fremde verändern sich die Maßstäbe. Jede noch so kleine Gefühlsregung wächst sich aus zu einem erbitterten Konflikt zwischen Akzeptanz und Ablehnung. Bevor ich Syrien verließ, verbrachte ich viel Zeit mit meinen Freunden. Wir machten uns gegenseitig Mut, saßen oft bis spät in die Nacht zusammen und sangen gegen den Gefechtslärm des Krieges an. Was mir auch im Gedächtnis geblieben ist: Unsere Angst vor der Verhaftung, unser Warten auf die Rückkehr der inhaftierten Freunde, unsere Trauer, wenn der Tod einen aus unserer Mitte entriss, oder wenn jemand von uns das Land verließ in der Hoffnung, irgendwo in Europa einen sicheren Hafen zu finden. Nichts davon konnte uns unsere Lebensfreude rauben. Alles um uns herum war Zielscheibe unseres Spotts: der Krieg, seine Warlords und Profiteure, das Schicksal. Kampf für das Leben Die Preissteigerungen, der Mangel an Erwerbsmöglichkeiten, das stundenlange Warten an den Checkpoints, bevor man von einer Straße zur nächsten weiterkam, so dass man immer Stunden zu spät zu seinen Terminen gelangte – das alles war ein Ankämpfen gegen die Lebensumstände des Krieges und der Diktatur, war ein Kampf gegen den Tod und für das Leben. Ich schrieb zu der Zeit Gedichte über unser Alltagsleben und beendete sie immer triumphierend mit: „Hier ist Damaskus“. Ja, dort im Herzen jener altehrwürdigen Stadt zu schreiben, das war schon ein ganz besonderes Gefühl. Heute bin ich seit fast drei Jahren nicht mehr in Syrien. Seitdem ich den „sicheren Hafen“ erreicht habe, ist alles anders geworden. Vor allem mein „Ich“ und mein Selbstverständnis. Singen bedeutet mir nichts mehr und ich schreibe auch keine Gedichte mehr, die ich mit „Hier ist Damaskus“ enden lasse. Zu dem Gefühl von Sicherheit hat sich ein erbärmliches Gefühl der Machtlosigkeit gesellt, denjenigen gegenüber, die ich in Syrien zurückgelassen habe, wo ihnen jeden Augenblick der Tod droht. Hier bedroht mich nichts Denjenigen, die mich jeden Tag aus der Ferne fragen: „Wie geht es dir?“ Worauf ich ihnen jeden Tag antworte: „Es geht mit gut“. Und dann schäme ich mich. Und noch mehr schäme ich mich, wenn ich zurückfrage: „Und euch?“ Die Antwort ist immer die gleiche: „Uns geht es auch gut.“ Dann kichern sie meistens und erzählen mir, wie sie mal wieder dem Tod ein Schnippchen geschlagen haben, indem sie gerade noch einer Granate oder einem Projektil entrinnen konnten. Dann fragen sie weiter: „Wie ist es so in Deutschland? Und wie ist dein Leben dort?“ Ich zucke zusammen und antworte mit bebender Stimme: „Hier ist alles bestens.“ Bis unser Gespräch irgendwann durch einen Stromausfall bei ihnen abrupt beendet wird. Danach bin ich jedes Mal eine Zeit lang in Gedanken woanders. Verhaftungen, Entführungen, Fassbomben, Granaten – hier bedroht mich nichts von all dem. Hier gibt es keine Stromausfälle und keine Inflation. Fast wäre der Krieg für mich nur eine ferne Erinnerung – würden ihn mir die Nachrichten und die abrupt unterbrochenen Gespräche mit meinen Freunden nicht immer wieder ins Gedächtnis rufen. Übersetzung: Rafael Sanchez
Kefah Ali Deeb
Kefah Ali Deeb ist dem Krieg in Syrien entronnen, aber viele ihrer Freunde sind noch dort. Dass sie in Sicherheit ist, bereitet ihr Unbehagen.
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Allianz der Konzerne - taz.de
Allianz der Konzerne General Motors und Renault-Nissan verhandeln über eine Kooperation. Arbeitnehmervertreter protestieren DETROIT dpa/rtr/ap ■ Der angeschlagene US-Autokonzern General Motors (GM) wird Gespräche über eine Allianz mit den Konkurrenten Renault und Nissan aufnehmen. Das hat der Verwaltungsrat von GM am Freitagabend beschlossen. Die Kooperation könnte die globale Autoindustrie neu ordnen. Die Dreierallianz käme weltweit auf einen Absatz von 15 Millionen Autos und einen Marktanteil von rund 25 Prozent. Am Freitag will GM-Chef Richard Wagoner mit dem Chef der französisch-japanischen Autogruppe Carlos Ghosn ein erstes Sondierungsgespräch führen. Arbeitnehmervertreter von GM und Renault lehnen aus Angst um Arbeitsplätze eine engere Zusammenarbeit der Autokonzerne ab. Die US-Automobilarbeitergewerkschaft UAW sprach am Samstag von einer „weiteren Erosion guter Jobs“ falls es zu diesem Dreierbündnis kommen sollte. GM will im Zuge seiner Sanierung 35.000 Stellen in den USA streichen und mehrere Fabriken schließen. „Angesichts der Komplexität einer möglichen Beziehung muss man vorsichtig die Chancen abwägen, bevor man eine Entscheidung trifft“, sagte GM-Chef Wagoner. Nach US-Medienberichten steht das Management von GM einer Allianz skeptisch gegenüber. GM-Aktionär und Milliardär Kirk Kerkorian hat Wagoner nach Aussage von Branchenbeobachtern jedoch zu den Verhandlungen gedrängt, um die Sanierung von GM zu beschleunigen. Der Konzern hatte im vergangenen Jahr wegen seines schlechten US-Autogeschäfts einen Verlust von 10,6 Milliarden Dollar verbucht. „Ich bin sehr, sehr besorgt, dass eine Allianz negativen Einfluss, insbesondere für unsere Beschäftigten in Entwicklung und Produktion haben wird“, sagte der Chef des GM-Betriebsrats für Europa, Klaus Franz. Der Opel-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Franz sieht starke Überschneidungen der Modellpaletten der GM-Tochter Opel und Renault. Auch Philippe Noël, Sekretär der Gewerkschaft CGT, der wichtigsten Gewerkschaft bei Renault, beurteilt eine Partnerschaft zwischen dem französischen Autobauer und dem weltgrößten Autokonzern skeptisch. „Eine Allianz mit GM scheint verfrüht“, sagte Noël. „Die Vorteile der Allianz zwischen Renault und Nissan sind noch nicht gehoben, insbesondere beim Absatz.“ Renault hatte sich 2002 mit 44 Prozent bei Nissan beteiligt und den japanischen Autokonzern seitdem hart saniert. Auch Bernd Gottschalk, Präsident vom Verband deutscher Automobilhersteller, fürchtet mögliche Konkurrenz: „Mit der Allianz würde der deutschen Autobranche ein sehr ernst zu nehmender Konkurrent erwachsen.“
taz. die tageszeitung
General Motors und Renault-Nissan verhandeln über eine Kooperation. Arbeitnehmervertreter protestieren
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Kinder fragen, die taz antwortet: Stammt die Uroma von den Affen ab? - taz.de
Kinder fragen, die taz antwortet: Stammt die Uroma von den Affen ab? Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche beantworten wir eine. Diese kommt von Enja, 6 Jahre alt. Ein japanischer Schneeaffe relaxt in warmen Quellen Foto: Nick Ut/ap Liebe Enja, das ist eine superspannende Frage. Kurz gesagt: Jein. Man kann schon sagen, dass die Omioma, also deine Uroma, von den Affen abstammt. Und nicht nur sie, sondern alle Menschen. Aber ganz richtig ist das nicht. Richtiger wäre es zu sagen, dass die Affen, die du aus dem Zoo kennst, und die Menschen einen gemeinsamen Vorfahren haben. Denn Affen und Menschen gehören beide zur Ordnung der Primaten. Eine Ordnung ist so etwas wie eine große Tierfamilie. Menschen und Affen haben eine gemeinsame Urururururururoma. Eigentlich müssten hier noch viel mehr „ur“ vor der Oma stehen, jedes für eine Generation. Das Ganze ist nämlich echt schon lange her, so ungefähr 6 bis 7 Millionen Jahre. Seitdem gehen Menschen und Affen getrennte Wege in ihrer Entwicklung. Die Affen, die uns am nächsten stehen, nennt man Menschenaffen. Am meisten gemeinsam haben wir mit Bonobos und Schimpansen. Sie sind so etwas wie unsere weit entfernten Cousinen und Cousins. Und man kann noch heute sehen, dass wir mit den Affen verwandt sind. Es gibt Merkmale, die nur Primaten – also Menschen und Affen – haben. Etwa unsere Hände. Mit Affen- und Menschenhänden kann man sehr gut greifen und wir sind die einzigen Lebewesen mit Fingerabdrücken. Außerdem sind unsere Gehirne im Vergleich zu anderen Tieren sehr groß. Wenn du das nächste Mal einen Affen siehst, kannst du ja mal schauen, ob dir noch weitere Ähnlichkeiten mit uns Menschen auffallen. Wenn dich interessiert, warum sich Affen und Menschen unterschiedlich entwickelt haben, solltest du dich mit der Evolutionstheorie beschäftigen. Sie erklärt, wie das Leben auf der Erde entstanden ist und warum es so vielfältig ist. Aber das ist ein anderes Thema. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Um deine Frage zu beantworten, habe ich übrigens mit Barbara Fruth telefoniert. Sie ist Affenforscherin aus Konstanz. Frau Fruth verbringt dafür auch viel Zeit mit Affen im Dschungel von Afrika, um mehr über ihre Lebensweise zu erfahren und auch was man darüber, über uns Menschen lernen kann. Ein wirklich spannender Beruf, falls du überlegst, was du mal werden willst. Abschließend kann man also sagen, dass deine Omi­oma und die Affen aus dem Zoo einen gemein­samen Vorfahren haben. Die Eltern von deiner Omioma waren aber ganz sicher keine Affen. Hast du auch eine Frage? Dann schreib sie uns an [email protected]
Jannis Holl
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche beantworten wir eine. Diese kommt von Enja, 6 Jahre alt.
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God save us all! - taz.de
God save us all! Foto: Henry Nicholls/reuters Was wäre eine Königin ohne Volk? Was natürlich auch umgekehrt gilt: Was wäre das Volk ohne Königin? Nun wird also im Vereinigten Königreich das unfassbar 70-jährige Thronjubiläum der Queen begangen – im Vorfeld hatten Bür­ge­r*in­nen (also das Volk) tagelang campierend im Matsch ausgeharrt, um sich einen guten Platz bei den Feierlichkeiten zu sichern. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass sich das zweite Elisabethanische Zeitalter allmählich dem Ende zuneigt. Aber ein Optimist, um nicht da­rüber ­nachzudenken, was gerade sonst noch alles zur Neige geht, an ein Ende gelangt oder auch insgesamt einfach im Arsch ist. Umso wichtiger ist es in einer solchen Situation, dass es Menschen gibt, die durchhalten! Wie die Queen, Mireille Mathieu, Rolf Eden. Und nicht wie Jürgen Drews zu schwächeln anfangen und weniger Konzerte auf dem Ballermann geben, weil sie „nicht mehr so belastbar“ sind. Wir wollen keine Nachrufe, wir wollen, dass es weitergeht. Gerade, weil sich alles ändern muss Martin Reichert
Martin Reichert
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Coronabeschlüsse zur Arbeitswelt: Bitte großzügig zu Hause bleiben - taz.de
Coronabeschlüsse zur Arbeitswelt: Bitte großzügig zu Hause bleiben Unternehmen erhalten nur freundliche Appelle in Sachen Infektionsschutz. Dabei gibt es Grund genug für strengere Maßnahmen. Ohne Mundnasenschutz: Arbeitgeber sind nicht verpflichtet, für den Schutz Angestellter zu sorgen Foto: Sina Schuldt/dpa Da gibt es etwa einen Mitarbeiter einer Kreisverwaltung, der schreibt: Ja, es gibt zwar Homeoffice bei uns, aber viel zu wenig, und wer es nutzt, der wird schräg angeschaut. Ein Vorgesetzter sei Impfgegner und verharmlose Covid von Beginn an. Eine Mitarbeiterin eines Callcenters schreibt, es gebe bei ihnen kein Homeoffice, über 30 Mitarbeitende gingen ihrer Arbeit gleichzeitig in angrenzenden Büros ohne Masken nach. Und ein Mitarbeiter eines Hostels schreibt, er habe während der Pandemie Reisende aus Spanien empfangen müssen, für die eigentlich Quarantäne vorgeschrieben gewesen wäre. Das sind nur drei Beispiele einer ganzen Reihe von Geschichten aus der Arbeitswelt, die Laura Dornheim auf Twitter unter dem Hashtag #MachtBüroszu sammelt. Die Berliner Grünen-Politikerin, die sich um ein Bundestagsmandat bewerben will, setzt sich dafür ein, dass Unternehmen schärfere Maßnahmen zum Infektionsschutz erhalten: Während Schulen und Restaurants schließen und man privat nur noch eine Person empfangen darf, richten Bund und Länder nur freundliche Appelle an Unternehmen. „Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dringend gebeten großzügige Home-Office-Möglichkeiten zu schaffen“, heißt es im jüngsten Beschluss von Bund und Ländern. Dabei sind die Daten des Robert-Koch-Instituts klar: An Arbeitsplätzen kommt es zu mehr Ansteckungen als in Schulen und Kitas. Zwar sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen, weil man nur in circa einem Sechstel der Fälle nachvollziehen konnte, wo sich Menschen angesteckt haben. Die Wissenslücken, wo man sich ansteckt, sind groß – doch Arbeit spielt eindeutig eine Rolle. Deshalb fordert auch die IG Metall ein Umdenken. „Die Politik tut im Moment so, als würde das Infektionsgeschehen primär in der Öffentlichkeit stattfinden, aber vor den Werkstoren, Büros und den Verwaltungsgebäuden weitestgehend haltmachen“, sagt Hans-Jürgen Urban. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, der taz. Er betont dabei, dass es von Unternehmen zu Unternehmen große Unterschiede gebe, in einer Umfrage zeigte sich eine Mehrheit der Befragten in den Betrieben zufrieden mit den Schutzmaßnahmen. Weil in vielen produzierenden Betrieben Präsenz unabdingbar sei, müsse Homeoffice ermöglicht werden, wo es geht. Die Appelle des jüngsten Bund-Länder-Beschlusses seien zu wenig. „Hier muss die Politik klare Vorgaben machen“, fordert er. Arbeitsminister Hubertus Heil plant zwar ein Homeoffice-Gesetz, aber das kommt zu spät für den aktuellen Lockdown – und eine Pflicht zum Homeoffice enthält es nicht. Fürsorgepflicht der Arbeitgeber*innen Dornheim hat nicht nur negative Beispiele gesammelt, sondern auch eine Liste von Unternehmen, die nach Berichten von Mitarbeitenden vorbildlich arbeiten. Aber der Anteil sei eben angesichts der momentanen Lage zu wenig. „Bund und Länder müssten vorschreiben, dass alle Tätigkeiten, bei denen keine zwingende Präsenz notwendig ist, ins Homeoffice verlagert werden. Arbeitgeber müssten das Gegenteil begründen – nicht genug Laptops reicht dann nicht“, sagt sie. Die Wissenslücken, wo man sich mit Corona ansteckt, sind groß. Doch Arbeit spielt eindeutig eine Rolle – mehr als in Schulen und Kitas Eine Anfang Dezember veröffentlichte Umfrage des Branchenverbandes Bitkom unter Berufstätigen in Deutschland ergab, dass immerhin ein Viertel komplett, weitere 20 Prozent der Erwerbstätigen zumindest zeitweise im Homeoffice arbeiten. Welche Möglichkeiten aber hat man, wenn man sich als Arbeitnehmer*in im eigenen Betrieb unzureichend gegen eine Ansteckung geschützt fühlt? Die Rechtsanwältin Kathleen Kunst hat während der Pandemie sowohl Arbeit­neh­mer*in­nen als auch Arbeitgeber*innen bei derartigen Streitfällen vertreten und beraten. Grundsätzlich, sagt sie, haben Arbeitgeber*innen eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeitenden – entsprechend müssen sie für Infektionsschutz sorgen. Streitigkeiten seien aber immer abhängig von der Art der Tätigkeit, den betrieblichen Umständen vor Ort, persönlichen Risikofaktoren. „Man kann etwa nicht pauschal sagen, wenn ich kein Einzelbüro bekomme, dann komme ich nicht zur Arbeit“, sagt Kunst. Denn theoretisch können Arbeitnehmer*innen sich weigern, in den Betrieb zu kommen, und gleichzeitig auf Lohnfortzahlung pochen. Das wäre der Fall, wenn Arbeit­geber*innen den Infektionsschutz nicht gewährleisten, etwa keine Desinfektionsmittel zur Verfügung stellen oder die Abläufe im Betrieb nicht so organisieren, dass das Risiko einer Ansteckung deutlich minimiert ist. Erhebliche Unsicherheiten Aber wer, dem das Arbeitsverhältnis lieb ist, riskiert schon einen solchen Rechtsstreit, besonders im Niedriglohnsektor? Klagen sind laut Kunst ­deshalb eher Einzelfälle. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auf beiden Seiten, bei ­Arbeit­gebern und Arbeitnehmern, weiterhin erhebliche ­Unsicherheiten bestehen, weil die Pandemie für das Recht eine komplett neue Lage ist“, sagt sie. Und was ist mit den Behörden? Die haben Sanktionsmöglichkeiten, sagt die IG Metall – aber dazu bedürfe es eines Kontrollbesuchs der Arbeitsschutzaufsicht oder zuständiger Berufsgenossenschaften. „Es findet aber viel zu wenig Kontrolle statt“, sagt Urban.
Ingo Arzt
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Debatte um Verhandlungen im Ukrainekrieg: Habermas unterschlägt die Risiken - taz.de
Debatte um Verhandlungen im Ukrainekrieg: Habermas unterschlägt die Risiken Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Doch sein Vorschlag steckt voller Widersprüche. Nach der Befreiung Chersons: Putin-Porträt in einem russischen Gefangenenlager Foto: Valentyn Ogirenko/reuters Vor einigen Tagen erschien in der Süddeutschen Zeitung ein „Plädoyer für Verhandlungen“ von Jürgen Habermas. Darin fordert der Soziologe „rechtzeitige Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen“. Mit seinem Plädoyer möchte Habermas nach eigenem Bekunden die „allmählich einsetzende Diskussion über Sinn und Möglichkeit von Friedensverhandlungen“ befördern. Man wünschte sich indes genauere Aussagen, worüber dann mit wem verhandelt werden soll. Die Wiederherstellung des Status quo ante vom 23. Februar 2022 zieht Habermas faktisch nicht mehr in Betracht. Sein Votum läuft, wie diverse „offene Briefe“, darauf hinaus, die Annexion der Krim zu bestätigen und Geländegewinne der russischen Armee im Donbass hinzunehmen. Dank dieser neuen Grenzziehung sei „nicht von vornherein auszuschließen, dass auch für die einstweilen einander diametral entgegengesetzten Forderungen ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte“, meint Habermas. Nichts, aber rein gar nichts deutet darauf hin. Über tote Russen trauert nur die hiesige Friedensbewegung, dem Kreml sind sie völlig gleichgültig. Die Ukraine ist undenkbar als amputierte Nation Habermas’ Vorschläge werden in der Ukraine und bei der sie stützenden Solidaritätsbewegung im Westen auf entschiedene Ablehnung stoßen. Denn sie sind widersprüchlich: Echte Sicherheitsgarantien des Westens, die er fordert, sind jenseits der Budapester oder Minsker Floskeln nur mit einem Nato-Beitritt der Ukraine erreichbar beziehungsweise durch die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union, die analoge Beistandspflichten mit sich bringt, sollte der imperiale Aggres­sions­hunger Putins wieder zunehmen. Die Ukraine ist undenkbar als amputierte Nation und neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West; zu garantieren ist ihre Integrität und Unabhängigkeit nur als westliche Bündnisnation. Aber genau um das zu verhindern und den „kollektiven Westen“ nicht an Russlands Grenzen auszudehnen, war Putin über das Land hergefallen! Russland wird Kiews Nachbar bleiben Wofür soll Putin sein eigentliches Ziel beerdigen: die „Entnazifizierung“ der Ukraine und die Wiedergeburt der imperialen „russischen Welt“? Genauso wenig, wie Wolodimir Selenski eine Kapitulation politisch überleben dürfte, würde Wladimir Putin einen Pyrrhussieg überstehen. Habermas unterschlägt, dass sein Verhandlungsfokus keine geringeren Risiken für Deutschland und den Westen beinhaltet als die Positionen der von ihm leichtfertig angegriffenen „Bellizisten“, die übrigens zwischen militärischer Unterstützung und diplomatischen Verhandlungen keinen starren Gegensatz aufmachen. Was Habermas wie meist auch die Solidaritätsbewegung mit der Ukraine übergeht: Nicht mehr Putin, wohl aber Russland wird Kiews Nachbar bleiben. Verhandeln muss man also vor allem mit der russischen Opposition. Jedes Regime nach Putin wird daran gemessen werden, inwieweit es die Kriegsschuld Russlands anerkennt und Putin und seine Kamarilla einem Tribunal überantwortet. Pessimisten erwarten die nächste Diktatur Ein Regimewechsel erschöpft sich nicht in der Auswechslung der Person Putins und der Einsetzung eines kongenialen Autokraten. Die Demokratisierung Russlands darf sich nicht (wie 1991ff.) auf die Abhaltung von regelmäßigen Wahlen ohne normativen und institutionellen Unterbau beschränken. Zur Auflösung des tiefen Staats gehören die Teilung der Gewalten, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse und die Garantie der Bürgerfreiheiten. Dafür ist Russland ob seiner jahrzehntelangen autoritären Tradition noch weniger bereit als das Deutsche Reich im Jahr 1945. Zu schwach waren in Russland liberale Strömungen, an die anzuknüpfen wäre – von den adligen Reformern der 1860er Jahre über die Februarrevolution 1917 bis zu den Reformern der Perestroika und der Jelzin-Jahre. Die große Unbekannte ist, inwieweit Kräfte in der russischen Bevölkerung und im Exil heute eine Perspektive „nach Putin“ überhaupt erwägen und konkret in Angriff nehmen. Die Opposition ist seit Jahren dezimiert worden, das faktische Kriegsrecht und die an den Stalinismus erinnernde weltanschauliche Mobilisierung haben ein Übriges getan. Zudem haben die meisten Russinnen und Russen jetzt „andere Sorgen“. Pessimisten erwarten im Fall eines Sturzes von Putin eher die nächste, womöglich noch härtere Diktatur. Pläne schmieden für den Tag danach Seitens des Westens muss man dennoch jeden noch so kleinen Keim des Widerstands fördern, mit der Aufnahme russischer Oppositioneller, mit dem Aufbau von Nachwuchskräften bis hin zu einer Exilregierung, mit der Fortführung wissenschaftlicher und kultureller Kontakte, wo immer sie noch möglich sind oder wieder werden. Der russischen Gesellschaft müssen Alternativen einleuchten, die das Land in die „Gemeinschaft der Völker“ und in die weltweiten Bemühungen um Klima- und Artenschutz zurück- und an alternative Energiequellen und Wirtschaftsweisen heranführen. Der deutsche und europäische Widerstand war in den 1940er Jahren von Hitler ebenso marginalisiert, wie Kritiker Putins es heute sind. Er konnte ungeachtet seiner hoffnungslosen Lage jedoch Pläne schmieden für den Tag danach, den die meisten Zeitgenossen für völlig „undenkbar“ hielten. Gleichwohl wurden diese Pläne zu einem beträchtlichen Teil in einem freien Europa unter Einschluss der Westdeutschen verwirklicht. Auch wenn eine bilaterale Zukunft der beiden kriegführenden Länder utopisch erscheint, darf eine mittelfristige Kooperation zwischen ihnen so wenig ausgeschlossen bleiben wie die einst für ebenso unmöglich gehaltene Verständigung zwischen den deklarierten „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich im Rahmen eines freien Europas. Einstweilen wird man alles daransetzen müssen, dass die Ukraine den Frieden gewinnt. Daniel Cohn-Bendit ist Politiker von Bündnis 90/Die Grünen Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler
Daniel Cohn-Bendit
Der Philosoph Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Doch sein Vorschlag steckt voller Widersprüche.
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Champions League Gruppenphase: Sieglos weiter - taz.de
Champions League Gruppenphase: Sieglos weiter Nach dem 1:1 gegen den RSC Anderlecht erreicht Borussia Dortmund als Gruppensieger das Achtelfinale. Leverkusen vergab diese Chance durch ein 0:0 in Lissabon. Dortmunds Ciro Immobile: vier Tore in fünf Spielen Bild: ap DORTMUND/LISSABON dpa | Die Rückkehrer waren nach langer Leidenszeit einfach nur glücklich, und Torschütze Ciro Immobile bekam ein dickes Lob von Trainer Jürgen Klopp. „Ciro ist ein richtiger Stürmer, er bleibt immer torgefährlich. Er ist ein Kämpfer und entwickelt sich gut“, sagte der Coach von Borussia Dortmund nach dem 1:1 (0:0) gegen den RSC Anderlecht im letzten Gruppenspiel der Champions League. Damit startet der westfälische Fußball-Bundesligist zum dritten Mal nacheinander als Gruppensieger ins Achtelfinale der Königsklasse. Immobile sorgte mit seinem vierten Treffer im fünften Champions-League-Spiel für die Führung der Gastgeber (58. Minute). „Jetzt werde ich versuchen, auch in der Bundesliga zu treffen“, sagte der Italiener. Am Ende ging am Dienstagabend fast unter, dass der lange verletzte Jakub Blaszczykowski erstmals nach 318 Tagen wieder zum Einsatz kam. Klopp wechselte „Kuba“ in der 84. Minute ein, und der Pole konnte die letzten Minuten richtig genießen. „Auf dieses Glücksgefühl habe ich lange gewartet“, gestand der 28-Jährige nach seinem Kurz-Comeback. Auch der lange verletzte Nuri Sahin kam zu seinem Startdebüt in dieser Saison. „Das Leiden hat ein Ende“, sagte er, „ich habe versucht, es zu genießen.“ Nun kann die ganze Mannschaft entspannt der Auslosung am kommenden Montag entgegensehen. Nach dem Happy End in der Vorrunde der Königsklasse hat sich der in der Bundesliga abgestürzte deutsche Vizemeister auch Selbstvertrauen für den Abstiegskampf geholt. „13 Punkte sind eine Marke. Das ist richtig gut“, stellte Klopp im TV-Sender Sky zufrieden fest. Den aus BVB-Sicht unnötigen Ausgleich markierte Aleksandar Mitrovic (84.). Vor 65.851 Zuschauern war das auf sechs Positionen umgestellte Borussen-Team fast die gesamte Spielzeit überlegen, tat sich aber gegen die konterstarken Belgier schwer. Größtes Problem war die Chancenverwertung, dennoch gab es Lob vom Trainer. „Wie die Jungs das gemacht haben, war das in Ordnung“, sagte Klopp. „Das Gegentor hätte nicht sein müssen. Aber am Ende haben die Kräfte gefehlt.“ Achtelfinal-Auslosung Karim Bellarabi haderte nach dem verschenkten Gruppensieg nicht lange mit dem Schicksal. „Alle, die jetzt im Achtelfinale kommen, werden schwere Gegner sein“, sagte der Stürmer von Bayer Leverkusen nach dem enttäuschenden 0:0 bei Benfica Lissabon. „Aber wir werden uns auf alle gut vorbereiten.“ Mit ihrer trostlosen Nullnummer hat die Werkself den möglichen Gruppensieg in der Champions League noch aus der Hand gegeben. Nun muss die Mannschaft von Trainer Roger Schmidt bei der Achtelfinal-Auslosung am kommenden Montag mit einem ganz dicken Brocken rechnen. Der verärgerte Bayer-Sportdirektor Rudi Völler sprach bereits zur Halbzeit von der schlechtesten Leistung seiner Mannschaft in der Königsklasse. In der 90. Minute sah Ömer Toprak zu allem Überfluss die Gelb-Rote Karte. Vor nur rund 10.000 Zuschauern im Estadio da Luz blieb der Bundesliga-Vierte den Nachweis internationaler Klasse vor allem in der Offensive schuldig. Drei Tage nach dem kräftezehrenden Bundesliga-Spiel beim FC Bayern (0:1) setzte Schmidt mit fünf Veränderungen im Team voll auf Rotation – und verzockte sich damit gründlich. „Wir haben in der ersten Halbzeit nicht gut gespielt. Die Kompromisslosigkeit, die wir beim Verteidigen gezeigt haben, haben wir vor dem gegnerischen Tor nicht umgesetzt“, analysierte der Trainer im TV-Sender Sky. Nun muss es die Mannschaft in der K.o.-Runde so nehmen, wie es kommt. „Auch als Gruppensieger hätten wir auf den FC Barcelona oder Paris St. Germain treffen können“, meinte Schmidt.
taz. die tageszeitung
Nach dem 1:1 gegen den RSC Anderlecht erreicht Borussia Dortmund als Gruppensieger das Achtelfinale. Leverkusen vergab diese Chance durch ein 0:0 in Lissabon.
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Pflichtprogramm konfus abgehakt - taz.de
Pflichtprogramm konfus abgehakt ■ Ausblick statt Ausreden: HSV verliert mit zehn Spielern 0:4 gegen Hertha BSC Es waren jene zwei Minuten, die sich vorzüglich als Legitimation der gezeigten Leistung hätten heranziehen lassen. Zwei Minuten zwischen der 29. und 31., die Andrej Panadic zwei gelbe Karten und dem Hamburger Sport Verein einen Mann weniger bescherten. Zwei Minuten, die als Erklärung hätten dienen können, wie eine solche 4:0-Niederlage gegen Hertha BSC zustande kommt: „Mit zehn Mann war es einfach unmöglich“, „die gelb-rote Karte hat unseren Spielfluss vollkommen zerstört“ oder „danach war nicht mehr drin“. Dass kaum einer nach dem Spiel in Berlin die Dezimierung als Grund für die desolate Leistung vorschob, zeigt den neuen Anspruch beim HSV. Ziele wie der Klassenerhalt oder ein einstelliger Tabellenplatz sind passé. Jetzt, da die Champions League in unmittelbarer Nähe liegt, fallen Sätze wie „wir wollen wieder in den internationalen Wettbewerb“ (HSV-Trainer Pagelsdorf) leichter, vor allem wenn der Blick gen Etablierung als Deutschlands Nummer drei gerichtet ist. Davon war man am Samstag Nachmittag aber ein deutliches Stück entfernt. Schon vor der Hinausstellung Panadics dominierten die Berliner das Geschehen und erzielten durch den überragenden Stefan Beinlich in der 17. Minute das 1:0. Der Ex-Leverkusener, der sichtlich seinen Vorhersagen („In drei Jahren will ich mit Hertha Meister werden“) Nachdruck verleihen wollte, war überall zu finden, dirigierte, gab Anweisungen. Die Hamburger dagegen zeigten sich nicht aggressiv genug und verloren bei den ständigen Seitenwechseln der Berliner Spieler oft die Übersicht. „Ziemlich konfus“ sei das Spiel seiner Mannschaft gewesen, kommentierte Frank Pagelsdorf, die Ordnung habe gefehlt, „und zwar nicht nur nach dem Platzverweis“. Womit sich der Reigen derer schloss, die sich im Klaren waren, dass hoher Anspruch den offenen Umgang mit der eigenen Vorführung beinhaltet. „Wir haben nicht dagegen gehalten und nur in der eigenen Hälfte verteidigt. Das war eine indiskutable Leistung“, gab Nico Kovac zu Protokoll. „Sehr blamabel“ etikettierte Roy Präger und beklagte die mangelnde Konzentration. Auch der Übeltäter selbst konstatierte: „Ganze Mannschaft hat nicht geklappt.“ Und dann entsprang ihm doch einer der Sätze, die fast schon vergessen waren. „Was soll ich auch machen, wenn er mit 100 km/h auf mich zu rennt.“ Eine andere Auslegung besagt, dass Panadic zweimal zu spät kam. Erst traf er Dariusz Wosz mit dem Ellbogen, dann war er zu langsam für den Berliner Piotr Reiss. So ergänzte sich die Geschichte mit 2:0 und 3:0 durch einen Freistoß von erneut Beinlich und einen Sololauf von Michael Hartmann fast von alleine. Das 4:0 (76.) von Marko Rehmer war nur eine weitere Offenbarung der völlig unorganisierten Abwehr, in der es nur noch um schnelle Entledigung des Balles ging. Ein fader Beigeschmack bleibt und wirft die Frage auf, ob es den Hamburgern in gewissem Maße nicht auch um die Erledigung dieses unerwünschten Pflichtprogramms ging. Roy Präger jedenfalls war schnell an dem Satz angelangt: „Wir müssen nach vorne schauen und uns auf Dienstag konzentrieren.“ Dienstag, tiefgreifendes „All-in-one“ für den HSV. Der Tag, der über Anspruch und deren Umsetzung entscheidet. Das Spiel gegen Bröndby Kopenhagen um den Einzug in die Champions League scheint die Köpfe der Beteiligten zu füllen. Und so blieb denn auch noch Zeit, ein wenig zu scherzen. Auf die Frage, warum denn diese Saison die Bindung zwischen den Mannschaftsteilen nicht zu erkennen wäre, erwiderte der HSV-Coach: Die Mannschaft brauche eben eine gewisse Anlaufzeit. Um das Abspulen dieser Zeitspanne sollte er sich bereits jetzt Gedanken machen. Damit am Dienstag nach dem Spiel der Trainer von Bröndby nicht auch mit einem Schmunzeln auf die eigentliche Gefährlichkeit der Hamburger Spitzen hinweisen kann – so wie am Samstag Nachmittag Hertha-Trainer Jürgen Röber. Florian Bauer Siehe auch Seite 16
Florian Bauer
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Kühnert-Nachfolgerin Jessica Rosenthal: Jusos wollen Machtfaktor bleiben - taz.de
Kühnert-Nachfolgerin Jessica Rosenthal: Jusos wollen Machtfaktor bleiben Jessica Rosenthal löst Kevin Kühnert ab. Sie ist zur neuen Vorsitzenden des SPD-Jugendverbandes gewählt worden, und versteht sich auf deftige Ansagen. Jessica Rosenthal, die neu gewählte Bundesvorsitzende der Jusos Foto: Kay Nietfeld/dpa BERLIN taz | Kevin Kühnert steht im Atrium der SPD-Parteizentrale. Er trägt ein dunkles T-Shirt und ein Jackett. Der Hoodie, bislang Markenzeichen des scheidenden Juso-Chefs, gehört offenbar eher der Vergangenheit an. Ein Jackett ist ein passenderer Dresscode für einen SPD-Vizechef, der in den Bundestag strebt. „Die Tränen sind getrocknet“, sagt er. Beim Juso-Bundeskongress Ende November hatte Kühnert aus Rührung geweint. Die Juso-Zukunft verkörpert nun Jessica Rosenthal, Gesamtschullehrerin aus Bonn und bislang Juso-Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen. Die 28-Jährige hatte keine Gegenkandidaten, ihre Wahl ist eher Routine. Sie bekommt in der Briefwahl 77,8 Prozent. Ihre Vize, die Berliner Doktorandin Ferike Thom, schneidet mit 86 Prozent besser ab. Rosenthal gilt als eloquent und links und versteht sich auf deftige Ansagen. 2018 bezeichnete sie CSU-Innenminister Horst Seehofer mal als „Vollidiot, Spalter und Hetzer“. Doch sie beherrscht auch den ausweichenden Politsprech. Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, kommt in ihrer Rede nicht vor. Mit ihm hat Rosenthal ihren Frieden gemacht – eher widerwillig und spät. Die Jusochefin will sich für jüngere Arbeiternehmer einsetzen und plädiert für Ausbildungs- und Jobgarantien. Klar ist: Kühnerts Fußstapfen sind sehr groß. Die Jusos, die die NoGroKo-Kampagne anführten, sind einflussreicher als früher. Ohne ihr Engagement wären Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans kaum an die Parteispitze aufgerückt. Königs- oder Königinnenmacher war die SPD-Jugend zuvor noch nie. Auch ein Juso-Chef, der wie Kühnert direkt von den Jusos zum Vize-Parteivorsitzenden aufgestiegen ist, ist ein Novuum. „Wir sind ein Machtfaktor in der SPD geworden und werden das auch bleiben“, sagt Rosenthal nach ihrer Wahl. Die Partei sei ja bei der Schuldenbremse oder Hartz IV in Richtung der Jusos gerückt. Und sie versichert, dass die SPD-Jugend nun nicht „langweilig und brav“ werden. Das muss offenbar betont werden. Denn Kühnerts Erbe hat für die Jusos etwas Doppeltes. Sie haben mehr Macht, sind aber auch enger an den Apparat gebunden. Ob und wie sie da ihre klassische Rolle als Kritikerin der SPD spielen werden, ist eine Frage, die Rosenthal wird beantworten müssen. Werden sie ihrem Ex-Vorsitzenden auch mal Kontra geben? Es klingt nicht so. Rosenthal betont, dass die Jusos Kühnerts politische Heimat bleiben. „Wir werden weiter als Team zusammenarbeiten“, verspricht sie. Die Jusos, sagt sie, seien schon immer mehr als „nur Opposition zur Parteiführung“ gewesen.
Stefan Reinecke
Jessica Rosenthal löst Kevin Kühnert ab. Sie ist zur neuen Vorsitzenden des SPD-Jugendverbandes gewählt worden, und versteht sich auf deftige Ansagen.
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Der Zeuge "Hippi" schwieg eisern - taz.de
Der Zeuge "Hippi" schwieg eisern ■ Rabta-Drahtzieher verweigert Aussage gegen Komplizen
th. scheuer
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