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Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 1): „Wir lesen nicht!“ - taz.de
Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 1): „Wir lesen nicht!“ Streng abgeschirmt in einer Halle werden die Urkunden und Akten aus dem eingestürzten Kölner Stadtarchiv erstversorgt. Unser Autor arbeitete vier Tage mit. Tag eins des Protokolls. Darüber, wie schlimm es um die Bestände des Kölner Stadtarchivs wirklich steht, dringt kaum etwas nach außen. Bild: Klaus Graf, http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 Horoskop von Montag, 6. April, Kölner Stadtanzeiger: „Wenn Sie die Eigenschaft konservieren können, sich auch über kleine Dinge zu freuen, dann werden Sie noch viele glückliche Momente in Ihrem Leben haben.“ 13 Uhr. Treibe mich in der Severinstraße am eingestürzten Historischen Archiv der Stadt Köln herum. Von der Grube ist wegen der Absperrungen nichts zu sehen. Alles, was hier geborgen wird, kommt in eine große Halle am Stadtrand. Vier Tage lang werde ich zu den Freiwilligen gehören, die sich dort im Zweischichtbetrieb um das Schriftgut kümmern wollen. Der Shuttlebus zum Erstversorgungszentrum soll heute erst um 14.20 Uhr kommen, eine Stunde später als regulär. „Entsetzen – etwas gerät aus dem Sitz, es verliert seinen Platz und entweicht furchtbar der ihm zugewiesenen Ordnung. Unweigerlich verstummt im Angesicht der Katastrophe das Wort, wenn wir sehen, dass das Unbegreifliche doch geschieht, dass möglich ist, was nicht sein kann.“ Martin Voss, „Symbolische Formen“, 2006 Von Berlin aus war nicht herauszufinden, wie schlimm „es“ wirklich um die Archivalien steht. Auch meine alten Berufskollegen, die bereits vor Ort halfen, konnten mir am Telefon keinen Eindruck von der Lage vermitteln. Wie kann, was wir immer für das Sicherste des Sicheren hielten, ein Archiv, in einer einzigen Minute völlig zerstört in einem Loch verschwinden? Wenn ein ganzes Magazingebäude voller historischer Dokumente einbricht, steht kein Déjà-vu-Erlebnis, kein Vorbild, keine Weltkriegserinnerung bereit. Deswegen sollen die Kölner ihre Stelle ruhig „Ground Zero“ nennen, auch wenn die Bezeichnung sonst anmaßend ist. 27 heißt hier die magische Zahl. Archivare geben ihre in Kartons verpackten Schätze in „laufenden Regalkilometern“ an, und die Kölner hatten 27 davon. Die reichhaltigste Überlieferung eines Stadtarchivs nördlich der Alpen. Seit Jahrhunderten keine Kriegsverluste. Und schnelle Bedienung. Sechsmal täglich war „Aushebung“, im Fachjargon das Holen der bestellten Archivalien aus dem Magazin, doppelt so oft wie in anderen Archiven. Jetzt findet hier nur noch eine einzige Aushebung statt. Und für lange Zeit die letzte. 13.10 Uhr. Mit mir warten zwei Frauen, ebenfalls Freiwillige, eine Stadtarchäologin und eine Restaurierungsstudentin. Sie wissen nicht, dass der Bus eine Stunde später kommen soll. 13.20 Uhr. Der Bus ist doch schon da. Wieso? „Hab ich jesacht bekommen“, erklärt der Fahrer. Holt er auch zur angekündigten Zeit die anderen? „Nää.“ Sein weißer Kragen trägt das dunkelrote Logo der Kölner Verkehrsbetriebe, deren U-Bahn-Bau den Einsturz verursacht hat. 13.50 Uhr. Ankunft im EVZ, dem Erstversorgungszentrum. Das Wort kannte ich „bis Köln“ nur aus der Katastrophenmedizin. Nach Atomkriegen wird in einem EVZ die unendliche Zahl der Verletzten kategorisiert: in solche, die nur ein paar Medikamente oder Pflaster brauchen, solche, für die sich eine Behandlung noch lohnt, und Schwerstverstrahlte oder -verletze, die man sterben lässt. Triage heißt diese Dreiteilung. Auch dagegen hatten wir in den friedensbewegten Achtzigern demonstriert, denn solche Pläne dienten der Kriegsvorbereitung. Das EVZ, in dem ich jetzt freiwillig arbeiten werde, ist eine riesige Halle am Stadtrand von Köln. Ihre Lage soll vertraulich bleiben, um nicht Presseleute und Autogrammjäger anzulocken, „Störer und Räuber“, sagt eine Archivarin. In der Eingangshalle hängt ein handgeschriebenes Plakat. Darauf steht: „Triage! T für trocken. N für nass. N! für nass & wertvoll.“ 14 Uhr. In Umkleideräumen streifen wir Schutzanzüge, Atemmasken und Einweghandschuhe über. Zwanzig aufgeregte weiße Michelinmännchen und -weibchen versammeln sich vor dem Triage-Plakat. Ein Mann hat ein rotes T-Shirt an. Hintendrauf steht: Archivar vom Dienst. Die Frau neben ihm trägt grün, auf dem Rücken: Restaurateurin vom Dienst. Außerdem laufen noch Blaue mit der Aufschrift Historisches Archiv Stadt Köln herum. Ansprechpartner für die nächsten Tage. Eine Idee der Katastrophenmediziner? Der Rote, ein gemütlicher Spätdreißiger, ist unser Schichtleiter. Er weist uns ein: „Erstens: Wir werfen nichts weg! Zweitens: Wir lesen nicht!“ Kichern, wir alle wissen, dass die Aktenlektüre der größte Zeitfresser beim Umgang mit Archivalien ist. Wieso ist der Rote so entspannt? Er stellt sich vor. Ach, der. Über den Archivklatsch bin ich einigermaßen informiert: Er hatte erst im Februar im Stadtarchiv angefangen und nicht diesen speziellen Kölner Doppelschock abbekommen: knapp dem Tod entkommen zu sein und zugleich Jahre oder Jahrzehnte beruflicher Arbeit in die Brüche gehen sehen zu müssen. Einer ist so traumatisiert, heißt es, dass er die Severinstraße nicht mehr betreten kann. Natürlich gibt es psychologische Betreuung, einige sind krankgeschrieben. Doch die meisten haben einfach angefangen, die Katastrophe zu bekämpfen. Dreischichtbetrieb im Regen vor Ort und in der Erstversorgung, fast zwei Wochen lang. Die Grüne, die Restauratorin vom Dienst, sieht so kämpferisch und tiefenerschöpft aus wie eine Mutter, deren Kind seit Wochen Keuchhusten hat. 14.15 Uhr. Meine Station ist die Reinigung. In der Mitte des Raums eine Palette voller Umzugskarton. Auf den Tischen rundherum: kleine Handfeger, Rollen mit weißem Zellstoff-Tissue und mit Plastikfolie, auf dem Boden große blaue Plastikwannen. Mein erster Karton enthält dicke Verwaltungsakten aus den Fünfzigern, vollständige und trockene Archiveinheiten in ihren typischen gelben Kölner Pappumschlägen, sogar mit aufeinanderfolgenden Signaturen. Aber alle Bindungen sind gerissen, die Akten gleichen Loseblattsammlungen. Behutsam umhülle ich jede Einheit mit Tissue, damit nichts durcheinanderkommt. Trocken, stabilisiert – sie kommen in eine blaue Wanne, die die Nummer 2809 trägt. Im nächsten Karton steckt ein Stehordner, zwischen dessen unbeschädigten Blättern Steinchen stecken. Er muss sich im Fallen geöffnet und um den herumwirbelnden Schutt wieder geschlossen haben. Durchblättern, ausfegen. Steine haben sich auch im Schließmechanismus eingeklemmt, einer mit einer glatten Seite sieht aus wie von der Berliner Mauer. Ein Aktenheft ist fast gleichmäßig zweimal zusammengefaltet. Wie geht so was? Ein feuchtes Buch, auf dem Leinenumschlag schwarze und rote Flecken – Pilz. Der darf nicht abgefegt werden, sonst verteilen sich die Sporen überallhin. Gesundheitsschädlich sind sie sowieso. Ich wickle das Buch in Plastikfolie ein. In einer Gitterbox, Fassungsvermögen zwei Kubikmeter, kommt es zum Einfrieren, damit der Zerfall des Papiers unterbrochen wird. Die Anlage dafür steht bei Münster, ein technisches Zentrum der Landesarchivverwaltung zur weiteren Behandlung ebenfalls. Im Raum ist es still geworden, ab und zu kollern Brocken von den Tischen auf den Boden. Meine Bauakte von 1910 hat dunkelgraue Flecken. Durch die Handschuhe aus Latex kann ich Feuchtigkeit nicht spüren. Beratung mit dem Michelinweibchen links, einer Konservatorin aus Antwerpen. Das Papier scheint trocken, ich halte den Befall für Altpilz. Auch sie blättert den Band durch – feuchte Akten rascheln nicht, sie flappen -, dann zieht sie die Maske zum Kinn herunter, schnuppert am Papier und nickt. Keine Gefahr, ab in die blaue Wanne. 16 Uhr. Ein Blauer, also ein Kölner Archivar, verteilt acht weitere Leute: die, die der Bus nicht abgeholt hat. Ein Michelinmännchen hält ihm etwas hin: „Was ist das?“ Der Blaue schüttelt den Kopf: „Das wusste ich mal. Seit dem Einsturz habe ich ein Loch im Kopf. Ich kenne meine Bestände nicht mehr.“ Ein gediegener Herr, silbernes Haar, Anzug, gestreifte Krawatte, kein Mundschutz: der Hausmeister. Er umkärchert uns. In seinem Industriestaubsauger knirschen die Steinchen. Mein nächster Karton ist randvoll gefüllt mit … Fetzen. Irgendwo abgerissen, kein Stück größer als mein Handteller, vieles kleiner, verknittert, keines passt zu anderen in seiner Umgebung. Die meisten Fetzen stammen aus dem 20. Jahrhundert, ein Zehntel aus dem 19., ein Zehntel ist noch älter. Was soll man mit so etwas machen? Manches ist so leicht, dass der Staubsauger es aufwirbeln und verschlucken könnte, wenn der Hausmeister nicht aufpasst. Kölnflocken. Eine Krankenhausmappe zum Thema Radium! Immer mal wollte ich über die mythenbeladene Kulturgeschichte dieses Elements einen Artikel schreiben. Das Schaben der Bürsten rechts und links wird lauter. Ist ja gut, wir lesen nicht. „Wir empfehlen, Clearing- und Trouble-Shooting-Stellen einzurichten, wo geschultes Personal koordiniert und kompetent dort informieren kann, wo sich vor, während und nach Katastrophen und Unglücksfällen unbefriedigte Informationsbedürfnisse artikulieren.“ Lars Clausen, Wolf R. Dombrowsky, „Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik bei technischen Großunfällen und Katastrophen“, 1990 18 Uhr. Die Johanniter servieren Abendessen. Es gibt Wurst, Käse, Graubrot und Vollkornbrot, das nach Aromastoffen riecht. Kein Obst, kein Salat. Kalte Bockwürstchen ohne Senf. Plastikgeschirr und -besteck. Ein Behälter mit kaltem Kaffee. Kein Tee. Am Tisch: ein Restaurator aus Uppsala, eine Uni-Archivarin aus Basel, eine Stadtarchivarin aus Arnheim, drei Tschechen aus einem sudetenländischen Regionalarchiv, drei Konservatorinnen aus Antwerpen, einige Deutsche. Vor den Ausländern schäme ich mich für dieses Essen. Eine Antwerpenerin höflich: „Its kind of basic.“ Der Stadtarchivar von B.: „Die Tendenz zur Kälte ist offensichtlich.“ Eine Professorin aus S.: „Sonst heißt es noch, wir wären wegen des guten Essens gekommen.“ Wir befinden uns in Woche fünf nach dem Einsturz. Spekulationen über das, was auf das EVZ noch zukommt. Haben sie nicht 60 Mischerladungen Beton im Boden versenkt, um ihn zu stabilisieren? Lag da Archivgut? Und wo steht eigentlich das Grundwasser? Niemand am Tisch weiß Bescheid, alle sind schlecht informiert. Wozu hat die Stadt Köln eine Pressestelle? Warum keine brauchbare städtische Webseite, keine Onlineauskunft? Über unsere Einsatzplanung wird am Tisch nur geseufzt. Einige Schichten waren offenbar deutlich unterbesetzt. Und auf die Mails mit Hilfsangeboten reagierte die Stadt wochenlang nicht. Dann kam die Anforderung ganz kurzfristig. Warum gibt es keinen wöchentlichen Newsletter an alle Freiwilligen? Zweitausend Fachleute haben sich gemeldet. Mit einem Computer wäre die Verwaltung unserer Adressen und unser planvoller Einsatz kein Problem gewesen. 18.30 Uhr. Eine Palette Nassgut muss sofort weggearbeitet werden! 30 Kartons, in Folie eingewickelt. Auch wir sind 30, jeder nimmt sich einen vor. Als die Ersten ihre Kartons öffnen, verbreitet sich Modergeruch. Die beiden, die bislang ohne Mundschutz gearbeitet haben, setzen ihn jetzt auf, viele Frauen mit langen Haaren ziehen die Kapuzen über. Ein Michelinweibchen zieht einen dicken, nassen, grün verpelzten Schulatlas von 1875 aus ihrem Karton, in zwei Teile zerrissen und teilweise zerquetscht. Unbeschädigt ist so einer bei Ebay für 50 Euro zu bekommen. Aber: „Wir werfen nichts weg.“ Wer weiß – vielleicht gehört er ja zum Nachlass von Reichskanzler Wilhelm Marx, mit Bleistiftkrakeleien aus seiner Zeit auf dem Gymnasium in Köln? Fast zärtlich legt die Helferin das Konvolut auf Klarsichtfolie. „Schöön einpacken!“, sagt sie sich laut. Ihre Nachbarin: „Aber vorsischtisch, datt dem Pilz nix passiert!“ In meiner Kiste liegen ein paar angetrocknete Stehordner. Darunter kommt ein kleines Amtsbuch von 1712 über den Weinhandel zum Vorschein. Der Einband schimmelt. Alles reparabel. Am Rand steckt noch eine mit rotem Lack besiegelte Quittung von 1495, wie die Aufschrift ihrer Plastikhülle sagt. Diesmal gibts bräunlichen Schimmel. Oder ist 1495 die Archivsignatur? „Wir lesen nicht!“ 19.15 Uhr. Die 30 Schachteln haben sich in zwei Kubikmeter künftiges Gefriergut verwandelt. „Jetzt kommt wieder Trockenes“, ruft der Blaue. Einer applaudiert. 21 Uhr. Rückfahrt. Viele auswärtige Deutsche wohnen bei Freunden. Der Rest und fast alle Ausländerinnen und Ausländer sind in einer städtischen Notunterkunft einquartiert, „Jugendherberge, aber nicht von heute, sondern wie früher“, erzählt eine Schwäbin. Eng, spartanisch, am Wochenende gab es Probleme mit der Verpflegung, ich mag keine Einzelheiten mehr hören. Drei junge Archivarinnen aus W. haben ihre Chefin angerufen und das Übernachten in einer Pension durchgesetzt. Gut, dass ich das gleich so gemacht habe. „Die Katastrophensoziologie nimmt eine hohe ,Magisierung' als Merkmal, um Katastrophen von rational erwartbaren großen Risiken abzugrenzen.“ Wikipedia „Wenn das begriffliche Alltagsvermögen des Menschen überfordert ist, greift er auf Rituale zurück, die ihm die Bewältigung des Unerwarteten doch irgendwie ermöglichen.“ Martin Voss, „Symbolische Formen“, 2006 22 Uhr. Tagesbilanz. Andreas Rossmann, der örtliche Korrespondent der FAZ, wird oft mit seiner Kurzanalyse zitiert: „Der Umgang mit Stadtentwicklung, Denkmalschutz oder dem Kulturetat in den letzten Jahren zeigt die Geringschätzung von Geschichte aufseiten der Stadtverwaltung. Der Zusammensturz des Archivs ist nun die maßlose Strafe für diese Haltung.“ Eine ideale Vorlage für die Stadtspitze. Gott straft? Dann sind im katholischen Köln gleich die Sünden vergeben, die zum Kollaps geführt haben. Beim Sicherheitsdienst haben wir am Mittag eine Schweigeerklärung unterschrieben, nicht nur wegen des Datenschutzes: Die Stadt verbietet auch das „Verfassen eigener Presseartikel“, das Fotografieren. Und alle Informationen an die Medien müssen ausdrücklich genehmigt werden. An der Einsturzstelle führt die Feuerwehr jeden Mittag Medienvertreter herum. Das EVZ hingegen ist tabu. Die Rettung darf gezeigt werden, der Zustand des Geretteten nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn – anders könnte die Stadtspitze wohl ihre Exkulpation nicht durchhalten, Auch städtische Öffentlichkeitsarbeit findet praktisch nicht mehr statt. Die Archivare selbst sind blockiert: Bettina Schmitt-Czaia, die bedauernswerte Direktorin des Stadtarchivs, muss der Stadt ein neues Haus abverhandeln und ist auf ihr Wohlwollen angewiesen. Nur: Die Strafe ist auf Jahre nicht vorbei. Sie steckt in Kartons, Plastikwannen, Gitterboxen. Und es werden immer mehr. Nachricht von drinnen: 35 Tage nach dem Einsturz wurde der vermisste Kater Felix unter den Trümmern gefunden, berichtet die Feuerwehr. Nachricht von draußen: Erdbeben in der italienischen Stadt L'Aquila mit 60 Toten. Auch das dortige Staatsarchiv mit vier Kilometern Schriftgut sei betroffen, meldet Agenzia Italia.
Dietmar Bartz
Streng abgeschirmt in einer Halle werden die Urkunden und Akten aus dem eingestürzten Kölner Stadtarchiv erstversorgt. Unser Autor arbeitete vier Tage mit. Tag eins des Protokolls.
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Der letzte Sänftenträger - taz.de
Der letzte Sänftenträger Das Leben von Monsieur Séry erzählt die Geschichte der Insel La Réunion im Indischen Ozean. Er trug Zuckerbarone, französische Verwaltungsbeamte und seine Frau durch die dichte Vegetation. Heute ist die Insel Wanderparadies VON MIRIAM FREUDIG Monsieur Séry umfasst mit der rechten Hand den Knauf seines Spazierstocks, der linke Arm ist leicht angewinkelt, die Beine stehen ganz gerade nebeneinander, als könnte ihn die kleinste Bewegung aus dem Gleichgewicht bringen. So unbeweglich, wie er dasteht, wirkt der alte Mann wie Teil eines Gemäldes. Im Hintergrund verschwinden die Kuppen des gewaltigen Bergkessels in grauen Wolken. Es gibt Meer, Strand, Sonne, hohe Berge, grandiose Natur, dichte Vegetation, unzählige Wasserfälle, über 1.000 Kilometer beschilderte und attraktive Wanderwege, einen aktiven, aber ungefährlichen Vulkan, einen kristallklaren südlichen Sternenhimmel, kreolisches Essen, Nebelwälder. Unzählige Male ist François-Joseph Séry die Berge rauf- und runtergelaufen, hat reiche Plantagenbesitzer und französische Verwaltungsbeamte, Ärzte und Dienstboten hoch in den Thermalkurort getragen. Das war vor mehr als siebzig Jahren, bevor die Straße nach Cilaos gebaut wurde. Monsieur Séry ist 99 Jahre alt und der letzte lebende Sänftenträger aus dem Ort. Cilaos, das war der Name des Chefs einer Bande geflüchteter Sklaven und bedeutet auf madegassisch „jemand, den man nicht verlässt“. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Berge im Inneren der Vulkaninsel La Réunion im Indischen Ozean Rückzugsgebiet entlaufener Sklaven. Der Sklave Cilaos muss nachts von der Plantage geflohen und immer tiefer in den Bergkessel mit seinen dicht bewachsenen Steilwänden eingedrungen sein. In Cilaos ist die Luft feucht und klar, in den Cafés sitzen nachmittags Wanderer und Bergsteiger, die von ihrer Tour zurückgekommen sind. 1.200 Meter weiter unten schäumt der Indische Ozean, Wellen umspülen die schwarzen Steine, erkaltete Lava, die sich einst bis zum Meer ergossen hat. Die Franzosen ließen die Aufständischen nach Réunion deportieren und überließen sie ihrem Schicksal. Als sie nach drei Jahren, in denen keiner nach ihnen geschaut hatte, bei bester Gesundheit angetroffen wurden, nahmen die Franzosen die Insel offiziell in ihren Besitz und begannen, sie zu besiedeln und zu bewirtschaften. Als die Sklaverei 1848 abgeschafft wurde, mangelte es den „dicken Weißen“ – so werden die Großgrundbesitzer auf La Réunion genannt – an Arbeitskräften, und sie engagierten Vertragsarbeiter aus Indien, Afrika und einige wenige Chinesen. Auch die Straße nach Cilaos wurde von Arbeitern aus Madagaskar gebaut. Nachdem 1815 ein Jäger zufällig die warmen Quellen entdeckt hatte, entstand Mitte des 19. Jahrhunderts die erste Badeanstalt. Spätestens um sechs Uhr morgens musste Monsieur Séry im Tal sein, um die Herrschaften, die zur Kur nach Cilaos wollten, in Empfang zu nehmen. „Manche waren dick und schwer“, erinnert er sich. Dann schnitt der Lederriemen in den Rücken, und an den Händen bildeten sich Schwielen. Mindestens zu zweit trugen sie den Stuhl, der auf zwei Stangen montiert war, einer hinten, einer vorne, durch enge Schluchten und über wacklige Stege. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht von herabfallenden Felsbrocken erschlagen wurden. Auf halber Strecke wurden sie von zwei anderen Sänftenträgern abgelöst, das Gepäck trugen Ochsen. „Mittags um zwölf kamen wir in Cilaos an“, sagt Monsieur Séry. Dann hatte er 20 Franc in der Tasche. Neun Jahre lang, von 1923 bis 1932, arbeitete er als Sänftenträger. Monsieur Séry stammt von „kleinen Weißen der Höhen“ ab, von verarmten Kleinbauern, die im 19. Jahrhundert den Weg in die Berge gemacht hatten, um der Not zu entkommen. Denn fast alle fruchtbaren Böden im Tal waren unter den Großgrundbesitzern und Zuckerbaronen aufgeteilt. Die „petits blancs des hauts“, die „kleinen Weißen der Höhen“, lebten oft in bitterer Armut, ähnlich wie die Sklaven, die nach der Befreiung die Plantagen verließen und versuchten, sich in den Bergen eine neue Existenz aufzubauen. Seine Eltern waren damals überhaupt nicht damit einverstanden, dass der Sohn eine Schwarze heiraten wollte. „Wenn du diese Frau heiratest“, sagte der Vater, „dann baue ich dir kein Haus.“ Von allen Ethnien auf La Réunion haben sich Schwarze und Weiße am meisten vermischt und bezeichnen sich am selbstverständlichsten als Kreolen. Obwohl es auf La Réunion von schwarz bis weiß alle Hautfarben gibt und die Menschen stolz sind auf ihre vielfältige Herkunft, war es lange Zeit sehr schlecht angesehen, wenn Schwarze und Weiße einander heirateten. Eines Tages zu Beginn des Sommers saß in der Sänfte, die François-Josef Séry den Berg hinauftrug, das schwarze Hausmädchen eines reichen weißen Arztes aus der Inselhauptstadt Saint Denis. Dieser verbrachte die Ferien in Cilaos mit seiner Familie und seinem Personal. Der junge Sänftenträger, damals Anfang zwanzig, verliebte sich in die Frau, die er den Berg hinauftrug, und heiratete sie gegen den Willen seines Vaters. Die junge Frau gab ihre Stelle auf und zog zu ihm nach Cilaos. Da es damals in dem Kurort zwar viele Kranke, aber keine Krankenschwester gab, kümmerte sich Victorine Séry um sie. Monsieur Séry ist schwer zu verstehen, er spricht kreolisch. Die Sprache entstand zu Beginn der Kolonialzeit auf den Plantagen, zwischen weißen Siedlern und schwarzen Sklaven, die sich nicht verständigen konnten. Über Jahrhunderte haben die Menschen auf La Réunion untereinander nur kreolisch gesprochen, Französisch war die Sprache der Behörden und der „z’oreilles“, der „Ohren“. So werden die Mutterlandsfranzosen von den Kreolen genannt, weil sie die Ohren spitzen müssen, um Kreolisch zu verstehen, lautet eine Legende. Marie-Louise, die Tochter von François-Joseph und Victorine, spricht gut Französisch. Mehrmals schon hat sie ihren Sohn in Paris besucht. „Das ist sein Restaurant, er kocht kreolische Küche“, sagt sie und zeigt stolz einen Artikel in einer französischen Zeitschrift. Nach seinem Militärdienst ist der Sohn nach Frankreich gegangen, wie viele junge Réunioner. Die Arbeitslosenquote in dem Überseedépartement liegt offiziell bei rund 30 Prozent, unter den 25-Jährigen hat nur jeder Zweite einen Job, obwohl Frankreich jährlich Millionen investiert, damit der Lebensstandard sich mit dem im Mutterland in etwa messen kann. Nachdem die Straße nach Cilaos gebaut wurde und Monsieur Séry seine Arbeit als Sänftenträger los war, wurde er Landwirt und baute Linsen, Getreide und Gemüse an. Seine Frau arbeitete nicht nur als Krankenschwester, sie wurde auch Mitglied im Gemeinderat. Nach der Hausangestellten des reichen Arztes, die zu dunkelhäutig war, um der Familie zu gefallen, ist heute eine Straße in Cilaos benannt.
MIRIAM FREUDIG
Das Leben von Monsieur Séry erzählt die Geschichte der Insel La Réunion im Indischen Ozean. Er trug Zuckerbarone, französische Verwaltungsbeamte und seine Frau durch die dichte Vegetation. Heute ist die Insel Wanderparadies
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Kommentar: Rüstung -ein Wahlkampfthema: Augen zu und durch  - taz.de
Kommentar: Rüstung -ein Wahlkampfthema: Augen zu und durch  Weil im linken Lager die pazifistischen Gewissheiten schwinden hätte Elisabeth Motschmann mit dem Rüstungsthema punkten können. Wie gesagt: Hätte. Friedrich Lürßen (li) wird selbst von Friedensbürgermeister Jens Böhrnsen nicht gemieden. Bild: dpa So ein Superthema – und die Herausforderin lässt’s einfach liegen. Mit ihrer Weigerung, den Besuch bei der heimischen Rüstungsindustrie in den Kontext des Wahlkampfs zu stellen, hat Elisabeth Motschmann (CDU) eine Chance vertan. Denn taktisch wäre sie hier ja gut positioniert gewesen: Zwar ist Nähe zu Rüstungskonzernen unpopulär. Aber sie lässt sich begründen. Und sie hat kein Glaubwürdigkeitsproblem – anders als das Festhalten an radikalpazifistischen Forderungen: Wenn Linke sich für Waffenlieferungen nach Kobane stark machen, in der SPD der Bürgerschaftspräsident den Mayor of Peace auffordert, mehr Stolz auf die heimische Industrie zu entwickeln und einige Grüne die Ukraine-Krise durch Nachrüsten entschärfen wollen, drohen Zivilklauseln zu gesetzgeberischer Folklore zu verkommen. Doch mit einem Auftritt als Friedrich Lürßens Sprechpuppe, die nicht problematisiert, dass Rheinmetalls Bestechungsgelder Griechenland unterhöhlt, und die nicht reflektiert, dass Bremer Konzerne sowohl Russland als auch die Ukraine aufgerüstet und mit Saudi-Arabien Waffendeals eingefädelt haben, als das dortige Regime mit den ISIS-Terroristen noch per Du war, also nach dem Motto Augen zu und durch – nein, so sind keine Wahlen zu gewinnen.
Benno Schirrmeister
Weil im linken Lager die pazifistischen Gewissheiten schwinden hätte Elisabeth Motschmann mit dem Rüstungsthema punkten können. Wie gesagt: Hätte.
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EU-Kommission ignoriert Anti-TTIP-Demo: TTIP ist überall - taz.de
EU-Kommission ignoriert Anti-TTIP-Demo: TTIP ist überall Bei der Bundesregierung und der EU-Kommission gibt man sich gelassen – nach der Devise: ignorieren wir’s mal. Anti-TTIP-Demo in Berlin: Merkel zündelt noch. Foto: dpa BRÜSSEL/BERLIN taz | Wenn so viele BürgerInnen auf die Straße gehen, dann ist das eben so. Warum? Wir leben in einer Demokratie. So nichtssagend lässt sich die Reaktion aus der Wirtschaft und der Berliner und Brüsseler Politik auf eine der größten Protestdemonstrationen in Deutschland der letzten Jahre zusammenfassen. Zwischen 150.000 und 250.000 Menschen waren am Wochenende durch Berlin gezogen, um ihren Widerstand gegen die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP kundzutun. Im Kanzleramt gibt man sich am Montag betont gelassen: „Es ist das gute Recht der Bürger, gegen das Abkommen zu demonstrieren“, sagte Merkels Sprecher Steffen Seibert auf taz-Anfrage. Und: „Die Kanzlerin hält die Vorbehalte für unbegründet.“ Noch nichtssagender reagiert die EU-Kommission, nämlich gar nicht. Die größte Anti-TTIP-Demo seit Beginn der Verhandlungen ist nicht der Rede wert. Es gibt keine Presseerklärung, keinen Kommentar der Behördensprecher, keinen Auftritt von Handelskommissarin Cecilia Malmström – nichts. TTIP in KürzeWann? Das geplante Abkommen zur Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) geht am 19. Oktober in die elfte Verhandlungsrunde zwischen der EU und den USA. Dabei geht es um ein Kapitel des Vertragstextes, das Handel mit nachhaltiger Entwicklung verbinden soll.Was? Bisher ging es um Themen wie Investitionsschutz, Lebensmittel, Nachhaltigkeit, Energie und Rohstoffe oder die Standards in der Pharmabranche. Befürworter aus Politik und Wirtschaft hoffen auf Arbeitsplätze und Umsätze, wenn über den Atlantik hinweg Zölle abgebaut und Standards in diesen Bereichen wechselseitig anerkannt werden.Aber? Kritiker fürchten, das Abkommen führe zum Abbau demokratischer Mitbestimmung und zu schlechteren Umwelt- und Sozialstandards, da es einseitig Konzerninteressen begünstigt. Brüssel tut so, als sei der Protest eine rein Berliner Angelegenheit. Genau das könnte sich als Fehler herausstellen: Auch in Athen, Amsterdam und Oslo gingen Gegner am Wochenende auf die Straße. „Der Widerstand gegen TTIP und CETA regt sich keineswegs nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas. Die europäische Politik wäre gut beraten, die berechtigte Kritik der Menschen endlich ernst zu nehmen“, sagt foodwatch-Sprecher Martin Rücker. Das deutsche Stopp-TTIP-Bündnis sieht sich als Teil einer breiten europäischen Bewegung. Von den 3,2 Millionen Unterschriften der europäischen Bürgerinitiative „Stopp TTIP“ wurden eine halbe Million in Großbritannien gesammelt, 360.000 in Frankreich. In den Niederlanden haben Aktivisten gerade ein Referendum gegen TTIP gestartet. Regierungssprecher Seibert„Es ist das gute Recht zu demonstrieren . . . Die Kanzlerin hält die Vorbehalte für unbegründet“ Entwickelt sich nun durch den Protest so viel politischer Druck, dass die Verhandlungen scheitern? „Eine Pressekonferenz, auf der das Ende der Verhandlungen verkündet wird, ist unwahrscheinlich“, glaubt Pia Eberhardt, die sich für die Organisation Corporate Europe Observatory gegen die Freihandelsabkommen einsetzt. Sie hält es für möglich, dass die Verhandlungen einfach kein Ende nehmen. Ähnlich ging es bei den Versuchen der Welthandelsorganisation, die globalen Märkte zu liberalisieren: Seit November 2001 wird bereits diskutiert. Anfangs war der Optimismus groß, ein schnelles Abkommens zu schließen. Doch die Interessen waren zu unterschiedlich. Proteste treiben den politischen Preis Jetzt, beim transatlantischen Freihandelsversuch, kommt ein erschwerender Faktor hinzu: Alle reden drüber. „Proteste wie am Wochenende treiben den politischen Preis eines Kompromisses nach oben“, sagt Pia Eberhardt. Das zeigt momentan das Beispiel Sigmar Gabriel. Der SPD-Wirtschaftsminister steht vor dem Problem, dass ihm wegen seines Pro-TTIP-Kurses die Gewerkschaften abtrünnig werden, die am Wochenende ihre Mitglieder mobilisierten. Vielleicht zeigt sich deshalb das von SPD-Chef Sigmar Gabriel geführte Wirtschaftsministerium etwa offener. Die Massendemonstration gegen TTIP und Ceta habe gezeigt, „dass das ein wichtiges Thema ist“, sagte ein Sprecher. „Der Minister versteht, dass Leute protestieren.“ Allerdings teile Gabriel die Sorgen „nicht ganz“. Das Wirtschaftsministerium wolle im Rahmen von TTIP „Standards sicherstellen und Paralleljustiz verhindern“. Gabriel will umstrittene, private Schiedsgerichte nicht zulassen, weil die Konzerne damit hinter verschlossenen Türen Staaten verklagen könnten – etwa wegen zu hoher Umweltstandards. Stattdessen soll es öffentliche Gerichte geben. Das hatte Gabriel am Wochenende erneut in Anzeigen in vielen überregionalen Zeitungen angekündigt – dabei allerdings den unzutreffenden Eindruck erweckt, die USA würden einem derartigen Handelstribunal zustimmen. USA gegen Handelsgerichtshof Was mitnichten der Fall ist: Den Vorschlag zur Reform von ISDS haben die Amerikaner schon brüsk abgelehnt. Möglich wäre also, dass sich Bundesregierung und EU-Kommission in eine missliche Lage manövrieren: Sie machen öffentlich Versprechungen wie die eines echten Handelsgerichtshofs, die aber mit den USA nicht umsetzbar sind. Am Ende müssen Parlamente in Brüssel und den europäischen Hauptstädten TTIP zustimmen, was schwer wird, wenn bereits versprochene ökologische und soziale Standards nicht eingehalten werden. Allerdings liegt hier der Teufel im Detail. Ab dieser Woche verhandeln EU und USA das Kapitel „nachhaltige Entwicklung“, in dem soziale und Arbeitnehmerrechte festgeschrieben werden sollen. Ein erster Entwurf der Vorstellungen der EU liegt der taz vor. Unter anderem geht es darin, dass beide Parteien internationale Arbeitsrechte einhalten sollen, um sich nicht durch Sozialdumping Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Allerdings sind sämtliche Vorgaben nicht verbindlich. Selbst wenn die USA die Normen zustimmen sollten: einklagbar wären sie nicht – die Rechte der Konzerne schon.
I. Arzt
Bei der Bundesregierung und der EU-Kommission gibt man sich gelassen – nach der Devise: ignorieren wir’s mal.
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Entsorgung von radioaktivem Müll: Streit über Atom-Logistikzentrum - taz.de
Entsorgung von radioaktivem Müll: Streit über Atom-Logistikzentrum Bür­ge­r:in­nen und Kommunen legen ein Gegengutachten zum Standort Würgassen in NRW vor. Der Bau soll indes schon dieses Jahr losgehen. W wie Widerstand Foto: Angela to Roxel/imago BERLIN taz | Soll es auf dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks Würgassen im nördlichen Nordrhein-Westfalen ein neues Zwischenlager geben? Die Anlage soll als Logistikzentrum für das geplante Endlager im niedersächsischen Schacht Konrad dienen. In der Region, in der Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen aufeinandertreffen, regt sich Widerstand. „Liebe Bürger, Bürgerinnen sind nicht anwesend“, eröffnete Marcus Dittrich, parteiloser Bürgermeister von Hessens nördlichster Gemeinde Bad Karlshafen, seine Rede am Dienstagvormittag. Zwischen seinem Ort und Würgassen liegen etwa zehn Autominuten. Dittrich ist sich sicher, dass „dieses Logistikzentrum bei uns an der falschen Stelle steht“. Er sprach auf Einladung der Bürgerinitiative „Atomfreies 3-Ländereck“. Sie hat ein Gutachten beim Planungsbüro Regio­Consult beauftragt, das dieses am Dienstag vorstellte. Mehrere Kommunen aus der Gegend hatten sich an der Finanzierung beteiligt. Das Papier scheint Dittrichs Sicht auf die Dinge zu untermauern. Demnach haben die Gutachten, auf die sich die bundeseigene Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ) beruft, deutliche Mängel. Vor allem sieht die RegioConsult Probleme bei der Verkehrsanbindung. Die Straßenanbindung sei nicht ausreichend für die geplanten Atommüll-Liefermengen, erklärte der Gutachter Wulf Hahn. Und bei der Begutachtung der Schienenanbindung habe man bislang nicht einberechnet, welchen Sanierungsbedarf eingleisige Strecken und Brücken hätten. Endlagergesellschaft verteidigt Logistikzentrum „Atommüll aus der ganzen Republik soll nach Würgassen gekarrt werden“, sagte Dirk Wilhelm vom Verein „Atomfreies 3-Ländereck“. Es geht um mehr als 300.000 Kubikmeter Strahlenmüll, der im Schacht Konrad eingelagert werden soll: Im Jahr 2027 soll das Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Betrieb gehen und beispielsweise Pumpen, Rohre, Schutzkleidung, verstrahltes Abbruchmaterial aus den AKWs, aber auch Abfälle aus der Medizin und Forschung aufnehmen. „Der Bund hat diesen Standort ausgewählt, ohne ein vernünftiges Genehmigungsverfahren und ohne Beteiligung der Öffentlichkeit“, kritisierte Wilhelm. Mit dem Bau der Halle, so groß wie drei Fußballstadien, soll in diesem Jahr begonnen werden. „Viele Zwischenlager für Atommüll sind so voll, dass da nicht mal mehr ein Keks reinpasst“, erklärte eine Expertin der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) das Vorhaben gegenüber der taz. Nicht überall sei der Atommüll schon im richtigen Container, zudem sei eine bestimmte Reihenfolge der Einlagerung festgelegt. „Erst die richtige Kombination aus Abfall plus Behältnis plus Reihenfolge bringt Sicherheit“, sagt die Expertin der BGE, die quasi die Kontrollbehörde der Einlagerung ist. Durch das Logistikzentrum könnte Deutschland dabei zehn Jahre Zeit einsparen.
Nick Reimer
Bür­ge­r:in­nen und Kommunen legen ein Gegengutachten zum Standort Würgassen in NRW vor. Der Bau soll indes schon dieses Jahr losgehen.
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Grüner über Ausraster gegen Rösler: „Ich bin kein Rassist“ - taz.de
Grüner über Ausraster gegen Rösler: „Ich bin kein Rassist“ Ein Mitglied der Grünen greift in einem Facebook-Kommentar so richtig daneben. Dass er Philipp Rösler den NSU an den Hals wünschte, bereut er außerordentlich. Auf Facebook wird so manches öffentlich. Bereuen ist hinterher. Bild: ap taz: Herr Kerkovius, warum haben Sie Herrn Rösler den NSU an den Hals gewünscht? Christopher Kerkovius: Als ich gelesen habe, dass ein Politiker, also jemand, der für Menschen zuständig ist, so etwas sagen kann, bin ich emotional ausgerastet. Ich bin aufgekocht vor Entsetzen und wollte einfach einen bitterbösen Sarkasmus dazu schreiben – dass ich Idiot da auf diese NSU-Verbrecher kam, verstehe ich selber nicht. Anscheinend stimmt das nicht mal, was Rösler da gesagt haben soll, was es noch idiotischer von mir macht, darauf hereingefallen zu sein. Ich bin absolut kein Rassist, zu Null Komma Null Null Null Prozent! Ich habe selbst einen Patensohn in Togo, der mich meistens „father“ nennt. Rassismus kann auch unterschwellig existieren, obwohl man schwarze Freunde hat. So bin ich absolut nicht, nicht mal in homöopathischen Dosen! Ich habe mich mit großem persönlichen Einsatz für Asylanten [sic!] stark gemacht und an Aktionen gegen Rechts auf Facebook teilgenommen. Ich würde jeden Menschen jeder Hautfarbe jederzeit aufnehmen. Das zeigt doch, dass man kein Rassist ist! Der Facebook-KommentarIn seiner Empörung über die vermeintliche Meinung des FDP-Chefs Philipp Rösler, 4 Euro Lohnuntergrenze reiche den Menschen, schrieb Christopher Kerkovius auf Facebook: „Schade dass die NSU-Gruppe sich nicht solche vorgenommen haben, denn das wäre nicht so schlimm.“ Aber einem vietnamesisch-stämmigen Politiker ein rechtes Mordkommando hinterher zu wünschen ist doch rassistisch... Nein, nein, nein! Das war überhaupt nicht rassistisch gemeint. Das hätte ich über jeden anderen Politiker auch gesagt, der eine solche Ausbeutung von Menschen gutheißt. Nachträglich verstehe ich, dass man das rassistisch lesen kann, aber das war überhaupt nicht meine Intention. Dazu stehe ich null. Deswegen habe ich 10 Minuten später alles rausgelöscht und mich entschuldigt. Röslers asiatische Herkunft hat für mich wirklich nie eine Rolle gespielt – für mich ist er immer ein deutscher FDP-Politiker gewesen. Wie ist das Verhältnis zu den Grünen, deren Parteibuch Sie besitzen und für die sie sogar schon mal kandidiert haben? Meine Austrittserklärung habe ich schon abgeschickt, um den Grünen nicht zu schaden. Ich wurde von ihnen darum gebeten, aber letztlich haben wir darüber geredet und werden uns im Guten trennen. Für meine Empörung gibt es dort Verständnis, natürlich nicht für meine Äußerung. Aber nochmal: Ich bin kein Rassist, auch nicht unterschwellig. Die Rechten hasse ich wie die Pest und das dritte Reich ist das schlimmste Verbrechen der ganzen Menschheitsgeschichte.
Marlene Staib
Ein Mitglied der Grünen greift in einem Facebook-Kommentar so richtig daneben. Dass er Philipp Rösler den NSU an den Hals wünschte, bereut er außerordentlich.
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Brauchen wir jetzt mehr KohleJA - taz.de
Brauchen wir jetzt mehr KohleJA STROM Durch den Ausstieg aus der Atomenergie muss Deutschland Wind- und Wasserkraft stark ausbauen – oder auf Kohle setzen nächste frageDie sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer am Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.taz.de/sonntazstreit Doro Zinke, 57, ist Vorsitzende des DGB im Bezirk Berlin-Brandenburg Kohle im Sinne von fossilen, nicht erneuerbaren Brennstoffen, so wie auch Gas und Öl, brauchen wir als Brückentechnologie auf absehbare Zeit. Da die Vorräte endlich sind, können wir nicht „mehr“ brauchen – selbst wenn wir es wollten. Die Frage ist nicht, ob Kohle genutzt wird, sondern wie lange noch. Die Antwort hängt auch davon ab, wie schnell sich unsere Gesellschaft darauf verständigen kann, was nachhaltige Energieversorgung ist und was dafür getan werden muss. Dazu gehört auch die Frage nach Speicherung und Transport von Energie. Und jedes scheinbare Patentrezept hat Haken. Nur einige Beispiele: Offshore-Windparks beeinflussen das Leben in der See. Mit Biomasse werden Flächen belegt, die besser zur Produktion von Lebensmitteln genutzt werden sollten. Windräder und Überlandleitungen stören, Kabel unter der Erde sind teuer. Als Gewerkschafterin stelle ich natürlich auch die Frage nach der sozialen Nachhaltigkeit. Leider führen sich einige aufstrebende Unternehmer aus der Solarbranche wie Manchesterkapitalisten der ersten Stunde auf. Die traditionelle Energiewirtschaft hingegen zeichnet sich in Deutschland durch hohe soziale Standards aus. Dass unsere Kumpels nicht mit halbierten Löhnen als Märtyrer des Klimawechsels in die Geschichte eingehen wollen, ist naheliegend. Barbara Lambrecht, 45, arbeitet als Energieanalystin bei der Commerzbank Zumindest vorübergehend wird sich meines Erachtens unser Bedarf an Kohle erhöhen. Schließlich kam die Kernenergie im vergangenen Jahr noch für 22 Prozent der deutschen Stromerzeugung auf. Zwar wurde der Ausbau der regenerativen Energien in den letzten Jahren massiv vorangetrieben, und diese machen bereits 18 Prozent unserer Stromerzeugung aus. Aber das Tempo dürfte nicht schnell genug sein, bis 2022 den Verlust an Kernenergie gänzlich zu kompensieren. Wenn wir den Stromimport nicht massiv erhöhen wollen, sind wir auf ein Mehr aus den Kohle- und den Gaskraftwerken angewiesen. Damit die dadurch bedingten Treibhausgas-Emissionen nicht zu stark steigen, können wir alle einen Beitrag leisten. Wir müssen die Einsparpotenziale nutzen, damit der Stromverbrauch nicht wie prognostiziert weiter steigt, sondern sich auf dem aktuellen Niveau stabilisiert. Saskia Ludwig, 43, ist Partei- und Fraktionschefin der CDU in Brandenburg Die CDU-Fraktion Brandenburg ist für die weitere Nutzung der einheimischen und subventionsfreien Braunkohle. Diese ist aus unserer Sicht als Energieträger noch so lange notwendig, bis sie versorgungssicher und wirtschaftlich durch alternative Energieformen ersetzt werden kann. Die Braunkohle gehört in Brandenburg zum bestehenden Energiemix. Dies wird bis auf Weiteres auch so bleiben. Auch bei dem schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, der jetzt in Angriff genommen wird, wird der verbleibende Energiebedarf mittelfristig zu einem erheblichen Anteil aus Kohle erzeugt werden müssen. Die Nutzung der heimischen Kohle wird also auch weiterhin eine zentrale Säule für einen sicheren, für die Bürger bezahlbaren und umweltverträglichen Energiemix in unserem Land sein. Dabei kommt es darauf an, die Umweltverträglichkeit der Braunkohle zu erhöhen. In der aktuellen energiepolitischen Lage Deutschlands werden wir noch länger auf den heimischen fossilen Brennstoff Braunkohle angewiesen sein. Ob es einem passt oder nicht: Die Brandenburger Braunkohle wird eine größere Rolle bei der Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland spielen, zumal es sich um eine kostengünstige Energieform handelt. NEIN Katharina Reuter, 34, ist die Leiterin der Geschäftsstelle der klima-allianz deutschland Es darf jetzt keinen Atomausstieg auf Kosten des Klimaschutzes geben. Wir dürfen die Chance für eine wirkliche Energiewende nicht mit neuen Kohlekraftwerken verspielen. Denn Braunkohle ist der klimaschädlichste Energieträger und verursacht bei der Verbrennung einen etwa dreimal so hohen CO2-Ausstoß wie Erdgas. Die jetzt geplanten Steinkohlekraftwerke würden mit einer Laufzeit von 40 bis 60 Jahren den klimaschädlichen CO2-Ausstoß zementieren und die Erreichung der Klimaziele unmöglich machen. In Ergänzung zu erneuerbaren Energien dürfen daher nur noch hocheffiziente Gas- und Dampfkraftwerke in Verbindung mit Kraft-Wärme-Kopplung neu gebaut werden. Die erneuerbaren Energien müssen jetzt die Vorfahrt bekommen – damit wird eine komplette Versorgung von Deutschland mit regenerativen Energien bis 2050 möglich. Dazu muss die Politik klare politische Rahmenbedingungen zum Beispiel für die Energiewirtschaft setzen und auch die richtigen Anreize für einen schnelleren Ausbau. Mit der Novelle des Gesetzes für den Vorrang erneuerbarer Energien dürfen nicht wieder die Energieriesen bevorteilt werden, auch dezentrale erneuerbare Stromerzeugungs- und Speicherungsprojekte sind wichtig, denn hier liegt die Zukunft. Atomausstieg und Abschied vom Klimakiller Kohle: Ja bitte. Bärbel Höhn, 59, ist stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Energiepolitisch brauchen wir auch nach dem Abschalten der Pannen-AKWs keine neuen Kohlekraftwerke. Wenn wir die Erneuerbaren verstärkt ausbauen und Energie einsparen, ist die Energiewende machbar. Die EU hat sich Einsparungen von zwanzig Prozent bis 2020 vorgenommen – das muss auch in Deutschland möglich sein. Die Brücke sind neue Gaskraftwerke, die flexibel einsetzbar sind und ins Stromnetz der Zukunft passen. Auch der Klimaschutz spricht gegen die Kohle: Jedes moderne Steinkohlekraftwerk stößt dreimal so viel CO2 aus wie ein vergleichbares Gaskraftwerk. Braunkohlekraftwerke sind richtige Klimakiller, sie haben fast den dreifachen Ausstoß. Und auch wirtschaftlich rechnen sich neue Kohlekraftwerke nicht. Denn der Betrieb von Gaskraftwerken wird allein schon durch steigende Zertifikatspreise für CO2 im Emissionshandel immer wirtschaftlicher. Deshalb setzen wir auf Erneuerbare Energien, Effizienz und Gaskraftwerke. Das schafft neben den schon bestehenden 400.000 Jobs weitere hunderttausende Arbeitsplätze der Zukunft – und ist unsere Antwort für eine sichere und klimafreundliche Energieversorgung. Camila Moreno, 38, brasilianische Klima-Aktivistin, arbeitet für die Böll-Stiftung Die Ankündigung, dass Deutschland die Vorreiterrolle übernimmt und den Ausstieg aus der Atomenergie umsetzt, wurde von den Bewegungen, den Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt, mit großer Hoffnung und Bewunderung aufgenommen. Doch über den Herausforderungen dieses notwendigen und lange ersehnten Übergangs darf der Kampf um Klimagerechtigkeit nicht vergessen werden. Kohlekraftwerke sollten weder eine Option noch eine Alternative sein. Die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle oder Gas hat verheerende Auswirkungen für das gesamte globale Klima. Die Leidtragenden wären wieder die schwächsten Bevölkerungsgruppen des Südens, die historisch am wenigsten zu dem hohen CO2-Ausstoß beitragen. Ich begrüße die Entscheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie und hoffe, dass dies nicht nur zu einer neuen energiepolitischen Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland führt, sondern auch zu einer faireren und gerechteren Welt.
Doro Zinke / Barbara Lambrecht / Saskia Ludwig / Katharina Reuter / Bärbel Höhn / Camila Moreno
STROM Durch den Ausstieg aus der Atomenergie muss Deutschland Wind- und Wasserkraft stark ausbauen – oder auf Kohle setzen
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Krieg in Syrien: Flüchtlinge dürfen nach Deutschland - taz.de
Krieg in Syrien: Flüchtlinge dürfen nach Deutschland Die Bundesregierung ist bereit, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Vor Ort zu helfen, findet sie jedoch erst mal wichtiger. Die Opposition verlangt mehr Engagement. Opfer des Kriegs: Eine Frau vor einem zerstörten Haus in A'zāz. Bild: dapd BERLIN dapd/dpa | Die Bundesregierung hat erstmals die grundsätzliche Bereitschaft erkennen lassen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien in Deutschland aufzunehmen. „Ich schließe das nicht aus, aber Priorität hat derzeit die Hilfe vor Ort“, sagte Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Bislang hatte die Regierung die Auffassung vertreten, dass sich die Frage nach einer Aufnahme von Flüchtlingen hierzulande nicht stelle. Insbesondere SPD und Grüne machen sich für die Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen stark. Westerwelle begründete den Ansatz der Bundesregierung in der Frankfurter Rundschau damit, dass - solange die Gewalt gegen die syrische Zivilbevölkerung andauere - es auch Flüchtlinge geben werde. Allerdings machte er deutlich, dass Deutschland bereit sei, mehr Mittel als bisher für die Flüchtlingshilfe im Syrien-Konflikt zu mobilisieren. Bereits jetzt habe die Bundesregierung 22 Millionen Euro bereitgestellt. Zudem habe er seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu Unterstützung bei der Flüchtlingsversorgung angeboten. Eine humane Tragödie verhindern „Wenn der Flüchtlingsstrom aus Syrien nicht zum Erliegen kommt - und im Augenblick deutet nichts darauf hin - werden auch die EU-Mitgliedsländer nicht umhin kommen, Flüchtlinge aufzunehmen“, sagte SPD-Fraktionsvize Gernot Erler der Welt. „Daher ist die Bundesregierung gefordert, dieses Thema aktiv aufzugreifen, um eine humanitäre Tragödie zu verhindern.“ In jedem Fall sei eine „stärkere Unterstützung der Anrainerstaaten, die bislang die Hauptlast der Flüchtlingsströme tragen“, erforderlich. Mehr als 200 000 Syrien-Flüchtlinge hielten sich in der Türkei, in Jordanien, dem Irak und dem Libanon auf. Erler: „Das ist für diese Länder eine ungeheure Belastung.“ Der stellvertretende Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Josef Winkler, sagte der Welt: „Die Forderung nach einer aktiven Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge und dem Ansatz des 'Schutzes in der Region' sind kein Gegensatz, sondern bedingen einander: Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass Deutschland aus humanitären Gründen unbürokratisch Flüchtlinge aus Syriens Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien aufnimmt.“ Dies sei auch ein Akt der Solidarität gegenüber diesen Nachbarstaaten, die schon viel geleistet hätten. Winkler: „Ein solcher Schritt Deutschlands - oder besser noch: der Europäischen Union - soll den Anrainerstaaten helfen, ihre Grenzen auch weiterhin offenzuhalten.“ Beide Oppositionspolitiker lehnten es ab, christliche Flüchtlinge in Deutschland - wie von Unionspolitikern gefordert - bevorzugt aufzunehmen.
taz. die tageszeitung
Die Bundesregierung ist bereit, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Vor Ort zu helfen, findet sie jedoch erst mal wichtiger. Die Opposition verlangt mehr Engagement.
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Kroatien vor der Parlamentswahl: Viktor Orbán lässt grüßen - taz.de
Kroatien vor der Parlamentswahl: Viktor Orbán lässt grüßen Angesichts Zehntausender Flüchtlinge spielt die Opposition HDZ die nationalistische Karte. Sie will sofort Militär für den Grenzschutz einsetzen. Erstmal ausruhen: Ein Flüchtling in Slowenien, der gerade die Grenze zu Kroatien überquert hat. Foto: reuters VUKOVAR taz | In einer Kleinstadt wie Vukovar mit nur einem annehmbaren Hotel fällt die Gruppe von hohen Armeeoffizieren aus Kroatien, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina auf. Vor allem, wenn dieses Treffen in einem Zusammenhang mit Maßnahmen der slowenischen Regierung steht. Denn Slowenien hat sich am Dienstag entschlossen, Militär an die Grenze zu Kroatien zu senden, um diese gegen Flüchtlinge abzuschotten. Werden in Kroatien und den anderen Ländern nun ähnliche Schritte erwogen? Bisher stellen internationale Journalisten und humanitäre Helfer der sozialdemokratisch geführten kroatischen Regierung ein gutes Zeugnis aus, was den Umgang mit den Flüchtlingen angeht. Im Gegensatz zu Serbien werden die Flüchtlinge in Kroatien professionell behandelt, die Registrierung und die Versorgung mit sauberen Schlafplätze verläuft reibungslos, es gibt Essen, Duschen, medizinische Versorgung und eine organisierte Weiterfahrt in Bussen an die slowenische Grenze. Denn niemand der Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan will in Kroatien bleiben. Ihr Ziel ist Deutschland. „Die gute Organisation,“ witzelt Igor, ein kroatischer freiwilliger Helfer, „hat damit zu tun, dass man die Flüchtlinge so schnell wir möglich aus dem Land haben will.“ Die Strategie der kroatischen Regierung sei, den Flüchtlingen ein positives Bild von Europa zu vermitteln, also im Gegensatz zu Ungarn den Anforderungen der Europäischen Union gerecht zu werden, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass der Weitertransport reibungslos verläuft. Soll sich das jetzt ändern? Die Stimmung im kroatischen Oppositionsbündnis, das von der konservativ-nationalistischen Partei HDZ ( Kroatische Demokratische Gemeinschaft) angeführt wird, ist bereits aufgeheizt. „Man kann sogar von einer Orbanisierung der Opposition sprechen,“ sagt der bekannte Ex-Verleger und Publizist Nenad Popovic. Stimmung machen mit nationalistischen Tönen Die aus der HDZ stammende Präsidentin des Landes, Kolinda Grabar-Kitarovic, würde nach Ansicht auch anderer Beobachter der kroatischen Innenpolitik am liebsten schon jetzt Militär an die Grenzen schicken. Die HDZ warte nur auf die Gelegenheit, vor den Parlamentswahlen am 8. November mit nationalistischen Tönen in rechtspopulistischer Manier Stimmung zu machen. Denn nur so könnte sie die Mehrheit der Wählerstimmen erringen. „Wir sind in einer Wirtschaftskrise, beide Parteiblöcke haben keine Ideen, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes anzukurbeln, man hofft nur auf eine generelle Besserung in Europa insgesamt,“ sagt Nenad Popovic. Die humanitären Helfer wie der Student der Volkswirtschaft Igor und kroatische Journalisten vieler Medien, die sich derzeit in Vukovar aufhalten, stimmen dieser Analyse im Prinzip zu. „Beide Parteienblöcke versprechen ihrer Klientel mehr Mittel aus dem Staatsbudget, ohne zu erklären, woher das Geld kommen soll,“ sagt Igor. Schon seit Jahren werden in Kroatien fehlende Innovationen für die Entwicklung neuer Industrien beklagt. Die vor allem nach dem Krieg ab 1995 systematisch betriebene Deindustrialisierung unter dem damaligen Tudjman-Regime – große Teile der Volkswirtschaft wurden an Günstlinge des Regimes verteilt - wurde später auch von anderen Regierungen nicht grundsätzlich korrigiert. Kroatien hat beispielsweise die Entwicklung der Solarenergie verschlafen, obwohl das Land vor allem an der Adriaküste über große Potentiale verfügt. Wichtige Industrien, die schon vor dem Krieg existierten - in Kroatien wurden die Hard- und Software für die damals in Jugoslawien mächtige Rüstungsindustrie entwickelt – wurden einfach fallen gelassen. „Das Potential war da,“ sagt auch Stjepan, ein junger Ingenieur aus Vukovar, „man hätte es für die Entwicklung moderner Industrien nutzen müssen.“ Junge Leute haben die Nase voll In der Region Ostslawonien und vor allem in Vukovar ist die Schuh- und Lederindustrie, in der vor dem Krieg 1991 über 20 000 Menschen beschäftigt waren, völlig zusammengebrochen. Stjepan hat jetzt die Nase voll. „Wir jungen Leute haben angesichts der Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent keine Hoffnung mehr.“ Er hat sich schon bei einer Firma in Baden-Würtemberg beworben. „Wer Englisch spricht, will nach Großbritannien, wer Deutsch gelernt hat, will nach Deutschland. Wir verlieren die jungen Leute,“ sagt Goran, ein Gerichtsdolmetscher aus Vukovar, der den jungen Menschen beim Ausfüllen der Formulare hilft. „52 Ärzte und Krankenschwestern haben in diesem Jahr gekündigt und sind nach Westeuropa gegangen.“ Stjepan wird auch nicht wählen gehen. Er vertraut keiner Seite mehr. Alle sind sich aber einig darin, dass Kroatien gar nicht in der Lage sei, angesichts der eigenen sozialen Probleme Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Einer der Offiziere sagt bei einer Raucherpause vor dem Hotel immerhin: „5000 Flüchtlinge wäre für uns Kroaten die Obergrenze.“ Er lächelt. Das Treffen der Armeeoffiziere deutet auf mehr hin: Geht es um die Koordinierung militärischer Aktivitäten der beteiligten Staaten?
Erich Rathfelder
Angesichts Zehntausender Flüchtlinge spielt die Opposition HDZ die nationalistische Karte. Sie will sofort Militär für den Grenzschutz einsetzen.
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Europa nach den Morden von Toulouse: Im Kampf der Kasten - taz.de
Europa nach den Morden von Toulouse: Im Kampf der Kasten Der öffentlich gezeigte Hass auf das Andere gehört wieder zu Europa. Multikulturalismus und Assimilierung sind gescheitert. Eine Reflexion nach den Morden von Toulouse. Die im Finstern sieht man anders. Bild: misterQM / photocase.com Das Problem des Anderen – des Anderen an sich – steht ganz oben auf der Tagesordnung Europa. Denn es vergeht ja kein Monat mehr ohne eine neue Horrormeldung: Zu den Massakern von Toulouse, Norwegen, Florenz gehören die Meldungen von diskriminierenden Gesetzen in einem und von Hassaufmärschen in einem anderen Land des Kontinents. Nicht dass in den letzten 70 Jahren das Problem des Anderen jemals ganz verschwunden wäre. Sehr viele Europäer waren immer Antisemiten, dachten, sprachen und handelten negrophob, antitürkisch oder antiarabisch – waren eben gegen alles, was sie von ihrem eigenen Ich meinten abspalten zu können oder zu müssen; aber es war doch ein Hass, der sich wesentlich im Privaten ausleben musste, dort, wohin der gesellschaftliche Druck ihn verbannte. Aber nun gilt das nicht mehr – man denke nur an die aktuelle Appeasement-Politik gegenüber den Abscheulichkeiten in Ungarn. Für diesen Wandel gibt es kein konkretes Datum, keine Wasserscheide wie die, als die mittelalterlichen Europäer plötzlich eine neue Welt entdeckten – Tzvetan Todorov hat das in seinem Buch „Die Eroberung Amerikas – Das Problem des Anderen“ analysiert. Irgendwann zwischen den 1980er Jahren und der Jahrtausendwende ist jedenfalls der öffentlich artikulierte Hass auf den Anderen zu einer Art Grundrecht geworden. Marco d'Eramoschreibt für die italienische Tageszeitung il manifesto aus den USA. Auf Deutsch erschien von ihm: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft“. Selffullfilling Prophecy Das, was den Anderen zum Outsider machte, war in den meisten Fällen nicht mehr die Herkunft, das „Blut“, sondern die Kultur, der „Clash of Civilizations“, wie dann auch der 1996 erschienene Bestseller von Samuel Huntington hieß – klassischer Fall einer Selffulfilling Prophecy: Und ab dem 11. September 2001 gab es kein Halten mehr. Aber Vorsicht: Die Klage über die miesen Zeiten, in denen man selbst leben muss, das ewig-nörglerische „O tempora, o mores“, ist eher dem eigenen Alterungsprozess als den Zeitläuften geschuldet. „Der Untergang des Abendlands“ – Spengler schrieb sein Buch 1918, zu einem Zeitpunkt also, da der Westen seine beste Zeit noch vor sich hatte. In amerikanischer Perspektive wirkte Europa immer kleingeistig, feindlich, krämerisch, mit seinen alles Fremde abwehrenden Patrouillenbooten, seinen stacheldrahtbewehrten Abschiebelagern. Zu denken gibt auch der Wandel des Ansehens der nordischen Sozialdemokratie, die einst die skandinavischen Länder zu einer Art Paradies auf Erden gemacht zu haben schien. Heute dominiert dort in der öffentlichen Wahrnehmung die dunkle Seite à la Stieg Larsson. Und was ist aus den Niederlanden geworden, aus der weltbürgerlichen Fahrradstadt Amsterdam? Weiter im Süden hat sich der Mythos vom „guten Italiener“ längst erledigt. Man rühmte sich der eigenen Toleranz, solange keine Fremden im Land waren. Dann begann man umstandslos sie zu lynchen, obwohl man doch selber Immigrant gewesen war, erniedrigt und beschimpft als „Spaghetti“ und „Katzlmacher“. Bemerkenswert ist sie schon, die Gabe der Völker, zu vergessen. Die Geschichte lehrt buchstäblich nichts. Paris liegt in Marokko Nüchtern gesprochen ist es wohl einfach so, dass die beiden in den letzten Jahrzehnten einflussreichsten Modelle für die Beziehung zum Anderen gescheitert sind: Der angelsächsische Multikulturalismus, den Nobelpreisträger Amartya Sen schlicht „Multi-Heuchelei“ nannte, die nur der Besitzstandwahrung diene. Das andere Modell war die französische monokulturelle Assimilierungsidee, die eine Zeit lang nicht unerfolgreich schien – man denke nur an den französischen Chanson, der fast durchweg von Immigranten geprägt ist (Ferré und Yves Montand – Italiener, Georges Moustaki – Grieche, Charles Aznavour – Armenier). Beide Modelle haben die Migranten aber ökonomisch nicht vorangebracht, ein sozialer Aufstieg fand kaum statt, in den Städten herrscht die soziale Apartheid. Hinter dem vieldiskutierten Kopftuch oder Hidschab ist immer noch vor allem ein leeres Portemonnaie. Die neuen Kommunikationstechniken machen die Sache paradoxerweise nicht einfacher. Denn während sie den Entfernten heranholen, entfernen sie den Anwesenden. Wenn früher ein Marokkaner nach Paris auswanderte, dann hörte er französisches Radio, ging ins französische Kino, konnte sich einen Besuch in der alten Heimat selten leisten. Heute fliegt er low-cost jedes Jahr nach Hause, sieht über Satellit marokkanisches TV, jubelt für die Mannschaft von Casablanca und isst mit seiner Familie am Atlantik via Skype zu Abend. Er kann in Paris leben, ohne Marokko je zu verlassen. Im Immigrationsland sind es vor allem die verarmten Einheimischen, die mit diesen Migranten in Konkurrenz stehen: Um das Krankenhausbett, den Platz in einer „guten“ Schule, die günstige Wohnung. Es ist eben die Unterschicht, in der die rechtsradikalen Parteien ihre größten Erfolge feiern, in den ehemaligen Arbeiterbezirken, während die sogenannte Linke ihrem kostenlosen Antirassismus und Gutmenschentum in Vierteln wie Prati (Rom), Islington (London), Marais (Paris) oder Prenzlauer Berg frönt. Das alles ist dabei nicht ein Ergebnis der Krise von 2008 ff. Vorzeichen waren das französische und niederländische Nein zur europäischen Verfassung, die Krawalle in den Banlieues, der Aufstieg der Anti-Islam-Parteien. All dies Ausfluss einer neuen europäischen Kastengesellschaft, über die man sich in Indien im Urlaub so schön aufregen kann. Kaste = ökonomische Diskriminierung + Hautfarbe. Diese Farbe unterscheidet sich dabei von Land zu Land: Für die Marokkaner ist es in Holland schlimmer als für die Niederländisch sprechenden Einwanderer aus Surinam, in Italien ergeht es Senegalesen besser als Albanern. Der Klassenkampf ist vorbei. Willkommen im Kastenkampf. Übersetzung: Ambros Waibel
taz. die tageszeitung
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Steuerungsloser Frachter im Nordmeer: „Eemslift Hendrika“ gesichert - taz.de
Steuerungsloser Frachter im Nordmeer: „Eemslift Hendrika“ gesichert Der vor Norwegen in Seenot geratene Frachter wird nach Ålesund geschleppt. Die befürchtete Umweltkatastrophe ist abgewendet. Gefahr für die Umwelt: Der Frachter hat 350 Tonnen Schweröl und 50 Tonnen Diesel an Bord Foto: ap OSLO dpa | Ölverschmutzung abgewendet: Ein verlassenes und antriebslos im Nordmeer schwankendes Frachtschiff ist von Spezialkräften in der Nacht zu Donnerstag gesichert worden und wird nun in den Hafen der norwegischen Stadt Ålesund geschleppt. Bergungsmannschaften sei es gelungen, an Bord der “Eemslift Hendrika“ zu gelangen und das Schiff mit zwei Schleppern zu verbinden, teilte die norwegische Küstenverwaltung mit. Zuvor war angesichts des schlechten Wetters befürchtet worden, das 112 Meter lange Schiff der niederländischen Reederei Amasus Shipping mit 350 Tonnen Schweröl und 50 Tonnen Diesel an Bord könne auf Grund laufen – und sensible Naturgebiete in der Gegend verschmutzen. Das Schiff war auf dem Weg von Bremerhaven nach Kolvereid an der norwegischen Küste gewesen. Es hatte am Ostermontag bei schlechtem Wetter und heftigem Wellengang Schlagseite bekommen, nachdem sich Teile der Fracht verschoben hatten, und ein Notsignal abgesetzt. Die Besatzung wurde noch am Montag per Hubschrauber von Bord geholt. Am späten Montagabend verlor das Schiff dann seine Antriebskraft. Ursprünglich hatte die „Eemslift Hendrika“ am Mittwoch aus der Bredouille geholt werden sollen. Wegen schlechten Wetters wurde die Aktion zunächst auf Donnerstag verschoben. Dann jedoch veränderten sich am Nachmittag und Abend nach Angaben der Küstenverwaltung die Bedingungen. Man machte sich Sorgen, dass der Frachter nicht auf dem zuvor berechneten Weg dahintreiben könnte – und startete doch noch einen weiteren Bergungsversuch. Zu diesem Zeitpunkt trieb das Schiff rund zehn Seemeilen (18,5 Kilometer) von der Küste entfernt. Laut Küstenverwaltung bedeutete das, dass es im Laufe von rund acht Stunden auf Land driften könnte. Parallel bereitete man sich auf das schlimmste Szenario vor, dass die „Eemslift Hendrika“ auf Grund laufen könnte. Ressourcen zur Bekämpfung von Ölverschmutzungen wurden mobilisiert. In der Region gebe es besonders verletzliche Naturgebiete, und man wolle nicht, dass diese der Belastung einer Ölverschmutzung ausgesetzt würden, sagte Bereitschaftsdirektor Hans-Petter Mortensholm. Gefahr der Grundberührung gebannt Im Laufe des Mittwochabends gelang es dann tatsächlich, die Besatzung des niederländischen Bergungsunternehmens Smit Salvage sowie einen Retter von einem Hubschrauber an Bord der „Eemslift Hendrika“ zu bringen. Sie schafften es nach Angaben der Küstenverwaltung, das Schiff mit zwei Schleppern zu verbinden – sowohl am Bug als auch am Heck des Schiffes. Damit sei die Gefahr einer Grundberührung gebannt. Das Schiff werde nun über Breisundet nach Ålesund geschleppt. Die norwegische Küstenwache halte die Notfallbereitschaft aufrecht, bis das Schiff sicher angelegt habe. Die Schlepper sind nach Angaben der Küstenverwaltung von der Reederei von der niederländischen Bergungsgesellschaft Smit Salvage gechartert worden. Smit Salvage ist eine Tochterfirma des Bergungsunternehmens Boskalis, das sich zuletzt auch um die Bergung der „Ever Given“ im Suezkanal gekümmert hatte.
taz. die tageszeitung
Der vor Norwegen in Seenot geratene Frachter wird nach Ålesund geschleppt. Die befürchtete Umweltkatastrophe ist abgewendet.
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Die Gelassenheit des Unentwegten - taz.de
Die Gelassenheit des Unentwegten SOZIALER UNTERNEHMER Nils Kleemann vermisste an Regelschulen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Seit 16 Jahren entwickelt er die Greifswalder Montessori-Schule in der vorpommerschen Provinz immer weiter. Nun beginnt sie, auf die Staatsschule auszustrahlen Freie Schulen unter Druck: Protest der PrivatenDas Jahr endet so wie es begonnen hat. Im Januar demonstrierten 20.000 Menschen vor dem Stuttgarter Landtag, um ein Wahlversprechen einzuklagen: Die Landesregierung hatte versprochen, die Förderbedingungen für freie Schulen zu verbessern. Doch das kam nicht. Inzwischen geht es anderswo in der Republik nicht mehr ums Verbessern, sondern ums Kürzen: In Sachsen und Thüringen werden die freien Schulen an die Leine genommen, die ohnehin mageren Zuschüsse gehen zurück. In Mecklenburg-Vorpommern müssen Gründer drei statt zwei Jahre warten, ehe sie Anrecht auf einen staatlichen Zuschuss haben. Hintergrund ist, dass die Privatschulen ihren Anteil an den Schülern ausbauen – während die Schülerzahlen insgesamt sinken. Im internationalen Vergleich sind knapp neun Prozent immer noch wenig, aber den Kultusministern trotz des Grundrechts auf Privatschulen ein Dorn im Auge – sie wollen eine härtere Gangart gegen private Konkurrenten einschlagen. Mit Spannung schaut man daher auf die Berliner Volksinitiative „Schule in Freiheit“. Mit Unterstützung des „Tatort“-Kommissars Axel Prahl, des Autors Wladimir Kaminer und fast 30.000 Unterzeichnern hat sie es in die zweite Runde geschafft. Das Berliner Landesparlament muss sich nun damit befassen: mehr Geld für die freien Schulen – und mehr Freiheit für staatliche Schulen. Die Initiative hat das Recht, sagt Kampagnenleiter Kurt Wilhelmi, „ihren Vorschlag im Abgeordnetenhaus vorzustellen“. Auch in Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen sind weitere Aktionen geplant. (taz) AUS GREIFSWALD ANKE LÜBBERT Was nicht gut ist, muss man eben besser machen. So etwa lautet das Motto von Nils Kleemann, Schulleiter der Greifswalder Montessori-Schule. Kleemann, kurze schwarze Haare, Schriftzug „California Surfing“ auf dem Hemd, hat die Gelassenheit eines Mannes erworben, der Dinge nicht nur besser machen will, sondern auch weiß, dass er sie besser machen kann. Gleich nach der Wende ging Kleemann als unzufriedener junger Lehrer auf einen Montessori-Lehrgang nach Baden-Württemberg. „Ich hatte das Gefühl, dass Schule, wie ich sie kennen gelernt habe, so nicht laufen muss“, sagt er. „Also habe ich mich auf die Suche nach etwas anderem gemacht.“ Maria Montessori hat unter dem Motto „hilf mir es selbst zu tun“ eine Pädagogik entwickelt, die Kinder für fähig hält, selbstständig und eigenverantwortlich zu lernen und zu handeln. Das ist für ihn eine Grundlage, auf der sich etwas aufbauen lässt. „Ich tue mich schwer damit zu sagen: Das ist nun der Weisheit letzter Schluss“, sagt Kleemann. „Nach den Wahrheiten, die uns in der DDR-Zeit vorgesetzt wurden, war ich von Anfang an ziemlich zurückhaltend damit zu sagen, Montessori ist die einzige Lösung.“ In Ostdeutschland leben an vielen staatlichen Schulen noch alte DDR-Strukturen und Werte weiter. Direktoren regieren hier oft als Patriarchen, demokratische Strukturen wie Schülerversammlungen und Elternbeiräte existieren manchmal höchstens auf dem Papier, der Klassensprecher wird von den Lehrern vorgeschlagen und Pünktlichkeit, Disziplin und Leistung stehen an erster Stelle. Die Nachfrage nach freien Schulen war gleich nach der Wende hoch. Vor diesem Hintergrund und in der Aufbruchsstimmung der Nachwendezeit hat Kleemann seine eigne Schule gegründet – mit 26 Jahren. Im Jahr 1994 gab es eine erste Klasse, einen Lehrer, 20 SchülerInnen. Mittlerweile gehen in Schule 245 Kinder, dreimal so viele bewerben sich jedes Jahr um einen Platz. Heute lernen die „Monte-Kinder“, wie Kleemann seine Schüler nennt, in sogenannten jahrgangsübergreifenden „Ebenen“, 1., 2., 3. Klasse und 4., 5., 6. Klasse gemeinsam. Auf dem Gelände gibt es einen Hort und einen Kindergarten. Sieben von zehn Schülerinnen und Schülern machen Abitur. „Für die Eltern spielt das eine Rolle“, sagt Kleemann, „ich kann es ihnen auch nicht verdenken. Wir leben in dieser Gesellschaft und nicht in einer Luftblase.“ Seine Schule ist für Kleemann nicht nur Arbeitsplatz, sie ist ein Zuhause. Durch die bunt gestrichenen Gänge in dem dreistöckigen Haus mitten in einem Greifswalder Plattenbauviertel stromert seine Tochter am frühen Nachmittag auf der Suche nach ihm – sie will zum Musikunterricht, er soll endlich ihr Fahrrad abschließen. Sein Haus hat Kleemann in der Nähe der Schule gebaut, und selbst am Wochenende kann man ihn in der Schule antreffen – irgendjemand muss ja die Räume für Projektveranstaltungen auf- und zuschließen. Die Lehrerinnen, die die Lehrpläne eigenständig entwickeln, hocken nach Schulschluss in Diskussionen verstrickt in den Klassenräumen. Die Schüler rennen durch die Gänge. Und auch Kleemann selbst hat auf dem Weg durch seine Schule den zügigen Schritt von einem, der immer auch noch etwas anderes vorhat. Alle paar Meter hält er an, um eine Mutter zu begrüßen, mit einer Gruppe Schüler zu reden. Eine Lehrerin kommt ihm entgegen. „Hast du gesehen, wir sind in der Musikzeitschrift!“, ruft sie ihm im Vorbeigehen zu. Obwohl die Schule so etwas wie ein Zuhause für Kleemann ist, ist sein kleines Büro wohl der am schlechtesten renovierte Raum des Hauses. Ein winziger Schreibtisch, darauf nichts als ein Laptop, Ordner im Regal, an den ungestrichenen Wänden hängen Tapetenreste. Kein Ledersessel, kein Empfangsraum, keine gerahmten Familienbilder. Für Repräsentation hat Kleemann keine Zeit. Er macht immer was Neues. „Wenn der Staat es nicht hinbekommt, Schulen zu betreiben, in denen Kinder sich gut entwickeln können – dann muss man diese Schulen eben selber machen.“ Sagt Kleemann. Und: „Wenn es in Deutschland Schulen wie in Finnland gäbe, würde ich auch keine Schule gründen.“ In der finnischen Gemeinde Jyväskylä koste jeder Grundschüler den Staat rund 8.000 Euro, in Deutschland seien es nur 3.031. „Mit diesen Zahlen“, sagt Kleemann, „lässt sich nicht alles, aber schon viel erklären.“ Mehr Geld als dem Schulleiter einer staatlichen Schule steht Kleemann nicht zur Verfügung, im Gegenteil. Freie Schulen müssen in Deutschland mit einer Kostendeckung von 85 Prozent leben, im Fall der Greifswalder Montessori-Schule sind das 2.576 Euro. Dazu kommen Gemeindemittel und Elternbeiträge, die im Durchschnitt bei 120 Euro pro Kind und Monat liegen. Für die exzellente Technikausstattung mit Schlagzeug und Vibrafone in der neu gebauten Aula hat Kleemann Anträge geschrieben, genauso wie für die Ausstattung seiner Klassen mit Beamern, Scannern und Laptops. „Ich verstehe da die staatlichen Schulen nicht“, sagt er. „Die gucken neidisch auf uns und hätten doch die gleichen Möglichkeiten, sich für Fördermittel zu bewerben.“ Kritiker von Privatschulen führen oft an, dass es Aufgabe des Staates ist, gute Schulen für alle zur Verfügung zu stellen, und dass private Schulen nur den Privilegierten helfen. Kleemann vertritt die These vom mündigen Bürger. Wer ist der Staat, wenn nicht wir? Wer trägt die Verantwortung, wenn nicht wir? „Verantwortung“ ist für ihn ein zentraler Begriff. Die wolle an staatlichen Schulen keiner übernehmen – die Schulleiter nicht, die Lehrer nicht. Das habe er selbst leidvoll gelernt als Lehrer, aber auch in der Zusammenarbeit mit staatlichen Schulen. „Die Staatsschule beneidet uns – und hätte doch die gleichen Möglichkeiten“NILS KLEEMANN Seit einem Jahr gibt es an der Schule ein Angebot für die Schulabgänger seiner Schule. An der Greifswalder Humboldt-Schule können die Kinder ab der 7. Klasse einen reformpädagogischen Zweig besuchen. So kritisch Kleemann die staatlichen Schulen auch sieht, ihn reizt die Auseinandersetzung mit ihnen. Schon seit Jahren versucht er eine Kooperation umzusetzen, das Modell ist ein Anfang. Hier beginnt die pädagogische Innovation seiner privaten Schule auf die des Staates überzugreifen. Irgendwo muss sich die Schule schließlich weiterentwickeln können. Kleemann sieht sich selbst als „sozialen Unternehmer“, als jemand, der Projekte anstößt und Schule entwickelt. „Eigentlich wollte ich ja nur Lehrer sein“, sagt er und kokettiert ein bisschen damit, dass er die Bedingungen, unter denen er gerne Lehrer ist, erst selber schaffen musste. Mittlerweile kommt er kaum noch dazu, Unterricht zu geben. Für sein Unternehmen Schule hat sich Kleemann in der Stadt und in ganz Mecklenburg-Vorpommern Verbündete und Kooperationspartner gesucht. Im Schulamt und auf der Verwaltungsebene. Die Greifswalder Kinderbuchautorin Antonia Michaelis hat für die Schule ein Theaterstück geschrieben, das die Schülerinnen und Schüler in Kooperation mit dem Theater aufgeführt haben. Ines Darr, die quirlige Museumspädagogin des Pommerschen Landesmuseums, schwärmt von seiner kompetenten, zuverlässigen und flexiblen Art, seinen „unglaublich schnellen Reaktionen in der Zusammenarbeit.“ Neben der Arbeit in seiner Schule ist Kleemann Dozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Greifswald. Er bildet künftige Lehrer aus. Auf einem Informationsabend für zukünftige Eltern von Montessori-Schülern fragt Kleemann provokant: „Muss es denn wirklich Montessori sein?“, und legt den überraschten Eltern nahe, doch einfach selbst eine Schule zu gründen – eine, die ihnen gefällt. Das ist ernst gemeint. Denn im Grunde genommen ist Kleemann selbst immer noch auf der Suche nach dem richtigen Weg. Vielleicht macht diese Haltung einen Teil seines Charmes aus, dem die Eltern am Ende des Elternabends zuverlässig verfallen sind. Aber vermutlich werden sie keine eigene Schule gründen. Das hat ja Kleemann schon für sie gemacht.
ANKE LÜBBERT
SOZIALER UNTERNEHMER Nils Kleemann vermisste an Regelschulen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Seit 16 Jahren entwickelt er die Greifswalder Montessori-Schule in der vorpommerschen Provinz immer weiter. Nun beginnt sie, auf die Staatsschule auszustrahlen
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Da weiß man, was man hat - taz.de
Da weiß man, was man hat ■ Sex mit der Ex: Gefühls-Recycling oder lesbische Avantgardebeziehung? Die Psychologin warnt: Häufig tarnt sich Liebesbedürfnis als Triebhaftigkeit Geben wir bei aller Toleranz zu: In der Lesben-WG war es bisweilen schon verwirrend, wenn die nach Monaten unter Heulen und Zähneklappern getrennten Ex-Loverinnen plötzlich aus Nachbarins Zimmer Quieklaute wie zu besten Zeiten produzierten. Und weiterhin behaupteten: Nö, wir sind getrennt. Das Phänomen ist weit verbreitet: „Wenigstens das haben wir den Heteras voraus“, frohlocken nicht wenige – und der Sex mit der Ex mausert sich plötzlich vom Teil einer Trennungsgeschichte zum eigenständigen Modell zwischenlesbischer Beziehungen. Sind Lesben wirklich da, wo sie sich sehen wollen – als traditionelle Beziehungsmuster aufbrechende Vorreiterinnen? Gar auf dem Weg zur frei fließenden, allumfassenden Liebesenergie? Eine selbstredend nicht repräsentative Umfrage in einer homosexuellen Gaststätte ergab, daß von sieben Befragten fünf es tun und zwei nicht. Die Tatsache, daß in der Befragungssituation mehrere Vertreterinnen der „Ja, ja, ja“-Gruppe verträumte Augen und rote Wangen bekamen, 50 Prozent der „Nein“- Gruppe hingegen vor Schreck ein Whisky-Glas umwarfen, mag ein wenig die Polarisierung in dieser Frage verdeutlichen. „Wenn ich eine Liebesgeschichte wirklich abgeschlossen habe, werde ich einen Teufel tun und mit Sex alte Wunden oder Sehnsüchte wieder aufreißen“, sagt eine Contra-Fraktionistin. Das Gegenargument der Befürworterinnen: Lesbische Beziehungen sind einfach anders, und selbst wenn die Liebesbeziehung vorbei ist, bleibt mehr – mehr Vertrauen, mehr lebenslängliche Zuneigung und mehr Erotik. Nach dem Motto „Warum sich was Schönes verkneifen?“ geht es dann ab ins Bett. Angeblich just for fun. Und: „Da weiß man, was man hat. Es ist doch immer wieder ein Wagnis, sich auf Sex mit einer Neuen einzulassen“, so eine Befürworterin. Fragt sich, wenn wir niemandem pure Bequemlichkei unterstellen wollen: Wieviel Gewohnheit brauchen Lesben, um Spaß zu haben? Einen heftigen Kratzer auf das Wunschbild der frei fließenden Hormone macht auch die Psychologin Christa Schulte: „Die meisten reden sich doch nur ein, sie seien triebgeritten. Oft geht es gar nicht um den Sex, eigentlich wollen sie etwas anderes aus der Beziehung wiederhaben.“ Für die Psychologin liegt die Ursache in der Schwierigkeit von Frauen mit dem Abschiedsprozeß: „Frauen machen selten klare, saubere Schnitte. Und zu einem Nichtloslassenkönnen gehört auch, Teile der alten Beziehung immer wieder aufzukochen.“ Manchmal nach Jahren noch. Die Verletzung folgt dann oft auf dem Fuße, wenn die andere trotz der heißen Nächte sich doch nicht wieder öfter verabreden will. „Schwierig“, gibt dann auch eine Befürworterin zu, „wird es in der Tat, wenn noch andere Liebesgeschichten oder Affären im Spiel sind.“ Obendrein hält der Recycling- Sex oft nicht, was die Recycling- Beziehung verspricht: „Ich hätte manche lieber in besserer Erinnerung behalten“, sagt eine (mittlerweile) Gegnerin. Wenn wir bedenken, daß viele Lesben kaum Sex mit derjenigen haben, die eines Tages ihre Ex sein wird, bleibt letztlich also nicht mal der einzige begrüßenswerte Grund bestehen: die Steigerung des lesbischen Sexlebens als solchem. Susanne Kaiser
susanne kaiser
■ Sex mit der Ex: Gefühls-Recycling oder lesbische Avantgardebeziehung? Die Psychologin warnt: Häufig tarnt sich Liebesbedürfnis als Triebhaftigkeit
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Frauenrechte in Afghanistan: Die heimlichen Unternehmerinnen - taz.de
Das Geschäft läuft, wenn auch im Geheimen Foto: Francesca Borri Frauenrechte in Afghanistan:Die heimlichen Unternehmerinnen Offiziell haben die Taliban Frauen in Afghanistan angewiesen, nicht zu arbeiten. In der Realität tun sie es doch – mit Erfolg. Ein Artikel von Francesca Borri Aus masar-i-scharif, 5.5.2023, 13:17  Uhr Hinter einem ersten Eisentor folgt ein zweites, dahinter eine schmale, steile Treppe. Sie wackelt ein wenig. Von unten dringt ein blechernes Geräusch an die Oberfläche, wie tropfendes Wasser. Doch es ist kein Wasser. Es sind Nähmaschinen. Zieht man, unten an der Treppe angekommen, einen roten Vorhang beiseite, findet man: sechs Schneiderinnen – eine geheime Fabrik, in einem Keller in Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans. Als die Taliban im Sommer 2021 wieder an die Macht kommen, schließt Najma Abeel, Modedesignerin und Schneiderin, ihr Atelier in der Innenstadt von Masar-i-Scharif und zieht vorsichtshalber in den Keller eines unscheinbaren Wohnblocks am Stadtrand. Vor zehn Jahren hat sie mit hundert Dollar Startkapital angefangen, heute beschäftigt sie 16 Mitarbeiter, erzählt sie. Und ihre schicken Kleider sind immer noch begehrt: „Ich verkaufe online, nicht in meinem Atelier, sondern über Instagram.“ Aber: „Es ist nicht dasselbe. Es ist nicht einfach.“ Das Internet erfordert Marketingkenntnisse, die sie nicht hat. Um online zu verkaufen, braucht sie Zeit und Ressourcen. Seitdem die Taliban Afghanistan wieder beherrschen, hat sie die Hälfte ihrer Einnahmen verloren. „Es wird so viel über afghanische Frauen geredet, über Solidarität, aber in der Praxis ist die einzige Unterstützung, die man bekommt, ein Schengen-Visum zur Ausreise. Und was soll das bringen? Ich habe hier meinen eigenen Raum geschaffen. Was würde ich in Europa tun? Afghanische Kleider nähen, die niemand haben will“, sagt sie. „Ich werde nach Europa kommen: aber als Designerin. Nicht als Flüchtende.“ Draußen, oberhalb des Kellers, sieht Masar-i-Scharif aus wie immer. Der Name bedeutet „Schrein des Edlen“, die Blaue Moschee – ein Wahrzeichen der nordafghanischen Stadt – gilt als Grabstätte von Imam Ali, dem Begründer des schiitischen Islams. Ein endloser Strom von Pilgern besucht sie, den ganzen Tag. Es dauert eine Weile, bis man merkt: Auf den Straßen sind nur Männer unterwegs. Doch nicht alle Frauen sind zu Hause: Sie sind im Untergrund, in den Kellern, in den Hinterhöfen, den Hinterzimmern. Bankensystem wichtiger als Burka Islamic Relief, eine britisch-muslimische Zivilorganisation, hat im Herbst ein Programm aufgelegt, das 400 afghanische Unternehmerinnen mit je 1.000 Dollar unterstützt. Genug, um die Lager mit Textilien und Düngemitteln wieder aufzufüllen, Webstühle zu erneuern, ein Stück Land in einen Gemüsegarten zu verwandeln, eine Goldschmiedewerkstatt auszustatten. Die Taliban sind für die Frauen nicht das einzige Problem. „Für die internationalen Medien ist das Thema hier die Burka. Ich trage nur meinen Hidschab, so wie früher, so wie die meisten von uns. Und wenn du eine Jeans trägst, wird dich niemand aufhalten. Mein Hauptproblem ist das Bankensystem, die Sanktionen“, sagt Mahbouba Zamani, Tochter, Enkelin und Urenkelin von Teppichknüpfern. Im Iran hat sie ihr Handwerk perfektioniert, ihre Kunden sitzen in der ganzen Welt. In Masar-i-Scharif haben sich fast zwei Jahre nach der Rückkehr der Taliban Frauen wieder – heimlich – eigene Räume geschaffen Foto: Francesca Borri Dass das Bankensystem für Afghanen und Afghaninnen blockiert ist, sagt sie, sei eine Katastrophe. An ihren Teppichen, die Tausende von Dollar wert sind, arbeitet Zamani nun in einem Heizraum. Die Wolle wird mit Blättern gefärbt, gemäß der Tradition. Nur so erhalte man einzigartige Farbtöne. Um einen Teppich zu knüpfen braucht sie Monate – und Jahre an Erfahrung. Die westliche Politik gegenüber Afghanistan frustriert sie: „Experten empfehlen Mikrokredite für Kunsthandwerker, die Schals und Anhänger an Ausländer hier verkaufen. Und ich muss meine ganze Zeit dafür aufwenden, die Sanktionen zu umgehen.“ Mit dem Zuschuss der Hilfsorganisation hat Laila Alizada das Bewässerungssystem der Gewächshäuser verbessert, in denen sie Gemüse anbaut. Inzwischen, sagt sie, stehen alle Männer ihrer Familie auf ihrer Gehaltsliste. Strengere Sanktionen – oder gar keine So geht es auch Nazia Hidari. Mit 100 US-Dollar hatte sie einmal ihr Geschäft aufgezogen, Islamic Relief hat sie bei ihrem Neuanfang unterstützt. Mittlerweile beschäftigt sie 60 Menschen, arbeitet zusammen mit einem Geschäftspartner in Übersee. Ihre Firma stellt Kleidung her, hauptsächlich für den Export. Eins ihrer Probleme: „Dass man jetzt mit einem Mahram reisen muss“ – ein Begriff der islamischen Rechtsprechung für einen Mann, entweder enger Verwandter oder Ehemann, der eine Frau außer Haus begleitet. Für jede Reise, die weiter als 48 Meilen (rund 77 Kilometer) entfernt ist, ist das nun obligatorisch. Einkäufer und Lieferanten zu treffen, Musterbücher für Stoffe durchzusehen, an Messen teilzunehmen – alles ist kompliziert. „Im Grunde versteht man nie, ob eine Vorschrift der Taliban eine Verpflichtung ist oder nicht. Und sie können von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein, oder sogar von Straße zu Straße“ Und: „Dass es kein Bankensystem gibt, macht alles noch schwieriger, auch innerhalb von 48 Meilen“, sagt sie. Denn die einzige Zahlungsmöglichkeit sei in Naturalien oder bar, erzählt sie, über das Hawala-System, ein auf Bargeld und Vertrauen auf Zwischenposten vertrauendes altes Überweisungssystem. Am Ende, sagt sie, umgehe man so zwar die Schranken, doch es gebe zu viele Zwischenhändler, und letztlich mache sie so ein Nullgeschäft. Sanktionen müssten entweder strenger sein oder eben unwirksam, sagt sie. So machten sie keinen Sinn. Nicht nur an den Sanktionen kommt man vorbei. Auch die Hilfen fließen weiter nach Afghanistan: Für 2023 haben die Vereinten Nationen eine Rekordsumme von 4,6 Milliarden Dollar bei den Geberländern angefragt. Das ist der größte Appell, den es je für ein einzelnes Land gegeben hat. Heimlich Fahrrad Theoretisch dürfte auch das Projekt von Islamic Relief nicht existieren. Denn nur humanitäre Hilfe ist erlaubt, Lebensmittel, Decken, Medikamente – aber keine Entwicklungshilfe, um die Taliban nicht zu ermächtigen. Aber das seien die Hilfen, die wirklich etwas brächten, sagt Fereshta Yusufi, die für das Projekt verantwortliche Ökonomin bei Islamic Relief. „In den letzten Jahren zogen Hilfsgelder 75 Prozent des Staatshaushalts ab. Unser Ziel ist es, dass die Afghaninnen und Afghanen von niemandem mehr abhängig sind. Das ist auch Freiheit“, erklärt sie. Ende des vergangenen Jahres hatten die Taliban Zivilorganisationen verboten, weiter Frauen zu beschäftigen, eine Ausnahme gilt für Gesundheits- und Bildungsprogramme. Und nun? „Ich komme trotzdem ins Büro“, sagt Yusufi. Die andere Ausnahmeregelung gilt für die Büros der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, die auch das Project von Islamic Relief finanzieren. Mit seinen 500.000 Einwohnern ist Masar-i-Scharif eine der fünf größten Städte des Landes. Sie ist widersprüchlich, wie ganz Afghanistan. Die Universität ist nur noch für männliche Studenten zugänglich, ebenso wie die Parks und Sporthallen, die nur für Männer geöffnet sind. Aber auch wenn der Bowlingclub, einst beliebter Treffpunkt von Frauen und Mädchen, geschlossen bleibt, ebenso wie viele der Cafés, die einst bei Künstlern, Schriftstellern und Aktivisten beliebt waren, ist ein Fitnessstudio für Frauen bereits wieder geöffnet. Auch Rabia Balkhi, ein Einkaufszentrum nur für Frauen, hat seine Rollläden hochgezogen, und in den Außenbezirken fahren Frauen heimlich Fahrrad. Die meisten sind von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – aber manche eben auch nicht. Um einen Teppich zu knüpfen braucht es Monate – und Jahre an Erfahrung Foto: Francesca Borri Taliban als Stammkunden Das eine seien Schulen und Universitäten, über welche die Taliban eindeutig verfügen können, das andere seien private Initiativen, sagt Najiba Mateen, die den Abstellraum eines Versicherungsvertreters in eine Küche verwandelt hat und hinter einer Plexiglasscheibe einen Imbiss betreibt, von dem manche sagen, er sei der beste der Stadt. Neun Köche beschäftigt sie, die Speisekarte zählt vier Seiten. „Im Grunde versteht man nie, ob eine Vorschrift der Taliban eine Verpflichtung ist oder nicht. Und sie können von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein oder sogar von Straße zu Straße“, sagt sie. Statt Gesundheitsinspektoren schaute eines Tages die Sittenpolizei bei ihr vorbei. „Die Taliban befahlen mir, den Laden zu schließen.“ Aber eigentlich verbietet das Gesetz den Frauen nicht zu arbeiten, betont sie: „Es sagt nur, dass wir zu Hause bleiben sollen, wenn es nicht wirklich notwendig ist. Und wenn ich nicht arbeite, wie kann ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen? Das habe ich ihnen gesagt: dass ich den Laden wirklich brauche, um leben zu können“, sagt sie. Und heute? „Die Taliban gehören zu meinen Stammkunden.“ Bibi Manira, Nudelfabrikantin„Mit den Taliban ist es schwierig, aber ihre Tür ist offen. Die Bürokomplexe der Vereinten Nationen haben hier sechs Meter hohe Mauern“ Auch zu den Stammkunden von Bibi Manira gehören die Talibs, erzählt sie. Vor ihrer neuen Nudelfabrik auf einem Parkplatz glänzt eine Leuchtreklame. „Der Umzug hierher war ein Schritt nach vorn. Kein Rückschritt. Vorher hat jeder von uns von zu Hause aus gearbeitet.“ Heute, sagt sie, hätten die meisten Afghaninnen und Afghanen das verdrängt, „aber es gab an jeder Ecke Schießereien“, sagt sie. Die US-Amerikaner, erklärt sie, hätten dem größten Teil des Landes nur Gewalt und Elend gebracht. Frauenrechte als strategisches Mittel Die derzeitige Situation in Afghanistan könne man aus zwei Blickwinkeln betrachten: „Wir können uns als Männer und Frauen, Taliban und Nicht-Taliban sehen. Oder als Mütter und Söhne, Väter und Töchter, Brüder und Schwestern – und miteinander reden.“ Sie appelliert auch an die Vereinten Nationen: „Mit den Taliban ist es schwierig, aber ihre Tür ist offen. Die Bürokomplexe der Vereinten Nationen haben hier sechs Meter hohe Mauern.“ Die meisten Verbote der Taliban seien strategisch, nicht ideologisch begründet, glaubt sie – und spricht damit aus, was in Afghanistan viele denken. Schließlich hat selbst Suhail Shaheen, der Sprecher der Taliban, dessen Familie in Doha lebt, zwei Töchter, die die Universität besuchen. Aber das sei es, worum sich die Welt kümmere, sagt sie: die Rechte der Frauen. Und dieses Interesse schenke den Taliban ein Druckmittel, ihr einziges, gegen die Sanktionen. Und dagegen anzuarbeiten hätte Priorität, sagt sie, denn 97 Prozent der Af­gha­n*in­nen hungerten. „Natürlich möchte ich, dass die Schulen wieder öffnen“, sagt sie. „Wir sind keine Spielfiguren.“ Sondern Frauen mit Plänen und Ideen, Geschäften und Angestellten – und Geheimnissen.
Francesca Borri
Offiziell haben die Taliban Frauen in Afghanistan angewiesen, nicht zu arbeiten. In der Realität tun sie es doch – mit Erfolg.
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Krieg in Libyen: Rebellen nehmen Vorort von Sirte ein - taz.de
Krieg in Libyen: Rebellen nehmen Vorort von Sirte ein Die Kämpfer des libyschen Übergangsrates rücken weiter vor. Offenbar haben sie einen Vorort von Sirte, eine der letzten Hochburgen der Anhänger Gaddafis, eingenommen. Kämpfer des Übergangsrates suchen Schutz an einer Mauer. Der Kampf um Sirte dauert an. Bild: dapd KAIRO dpa | Kämpfer des libyschen Übergangsrates haben nach Medienberichten im Kampf um die Stadt Sirte einen wichtigen Vorort erobert. Wie der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira in der Nacht berichtete, rückten sie am Montagabend in Kasr Abu Hadi ein. Dort soll der gestürzte Diktator Muammar al-Gaddafi 1942 in einem Beduinenzelt geboren worden sein. Der größte Teil der knapp 5000 Einwohner des südlichen Vororts sei bereits vor dem Einmarsch geflohen, hieß es. Verbliebene Bewohner berichteten, ins Kreuzfeuer zwischen Gaddafi-treuen Truppen und den Kämpfern des Übergangsrates geraten zu sein. Sirte ist eine der letzten Hochburgen der Anhänger Gaddafis. Sie leisten seit Wochen erbitterten Widerstand gegen die vorrückenden Truppen der neuen Führung in Tripolis. Die humanitäre Lage in der Hafenstadt ist nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) katastrophal. Am Montag hatten tausende Bewohner eine Feuerpause zur Flucht genutzt. Mehr als 10.000 Menschen sollen Sirte laut IKRK inzwischen verlassen haben. Truppen des Übergangsrates begannen den Berichten zufolge am späten Montag erneut mit dem Beschuss der Stadt.
taz. die tageszeitung
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Schuldlos wohnungslos: Räumung wegen Jobcenter - taz.de
Schuldlos wohnungslos: Räumung wegen Jobcenter Das Jobcenter Bremen stellte widerrechtlich die Mietzahlungen für die Hartz IV-Empfängerin Jolanda D. ein. Nun soll ihre Wohnung geräumt werden Wo der Gerichtsvollzieher öfter klingelt: die „Grohner Düne“ in Bremen Foto: Florean Fortescu Wikimedia BREMEN taz | Für den heutigen Mittwochmorgen hat sich der Gerichtsvollzieher angekündigt, um die Wohnung von Jolanda D.* räumen. Obwohl nicht sie, sondern das Jobcenter Bremen die Mietzahlungen an ihren Vermieter, den Immobilienkonzern Grand City Property (GCP) eingestellt hat, soll sie ihre Wohnung verlassen. Dabei hatte das Sozialgericht bereits im Februar entschieden, dass D.’s Miete vom Jobcenter übernommen werden muss. D. wohnt seit dem Jahr 2013 in der „Grohner Düne“, einer Hochhaussiedlung im Bremer Norden. Die polnische Staatsbürgerin lebt seit sechs Jahren in Deutschland und ist aufgrund prekärer Beschäftigungen auf Hilfe vom Jobcenter angewiesen. Mit dem hatte sie bereits vor drei Jahren Ärger: Damals hatte es schon einmal für mehrere Monate die Übernahme der Miete verweigert: „Das Jobcenter hat damals argumentiert, dass aufgrund baulicher Mängel die Wohnung nicht erhaltenswert sei“, sagt Herbert Thomsen vom Bremer Erwerbslosenverband, der seither Kontakt zu D. hat. Aufgrund der so entstandenen Mietschulden besteht seit damals ein Räumungstitel gegen D. Weil das Jobcenter nach langem Drängen die Mietzahlungen 2016 aber wieder übernahm und D. überdies seither monatlich von ihrem Hartz-IV-Regelsatz Raten in Höhe von 50 Euro zur Abtragung dieser Schulden zahlt, durfte sie in ihrer Wohnung bleiben. „Im Januar 2018 allerdings kündigte das Jobcenter an, die Zahlungen zum ersten Februar einzustellen“, sagt Thomsen. Der Grund: D. habe kein Aufenthaltsrecht mehr in Deutschland. „Dabei wusste das Jobcenter aus den eigenen Akten, dass D. dort regelmäßig Lohnabrechnungen vorgelegt hat und dass sie seit dem Jahr 2012 hier in Deutschland gemeldet ist“, so Thomsen. Das bedeutet: D. lebt nachweislich seit mehr als fünf Jahren in Deutschland – und hat nach EU-Recht somit bereits seit 2017 ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Herbert Thomsen, Bremer Erwerbslosenverband (BEV)„Grand City darf die Mieten nur um 15 Prozent innerhalb von drei Jahren erhöhen – eine Neuvermietung bringt denen also viel mehr Geld ein“ Erwartungsgemäß war eine Eilklage vor dem Sozialgericht dann auch erfolgreich: Am 22. Februar dieses Jahres entschied das Gericht, dass das Jobcenter verpflichtet sei, D. weiterhin Leistungen zu gewähren. „Aber auch einen Monat später war immer noch nichts passiert“, sagt Thomsen. Am 19. März sei D. gemeinsam mit einer Dolmetscherin zum Jobcenter gegangen, weil ihr Vermieter Grand City Property bei ihr die noch immer fehlenden Mietzahlungen angemahnt hatte. „Da hat man ihr gesagt: Wir kümmern uns“, sagt Thomsen. Aber stattdessen bekam D. das Schreiben des Gerichtsvollziehers mit dem Räumungstermin am 18. April. „Das Jobcenter ist hier seiner Verantwortung ganz klar nicht nachgekommen“, sagt Thomsen. Hinzu komme, dass es mit seinem Verhalten dem Interesse des börsennotierten Immobilienunternehmen GCP in die Karten spiele: „Als die vor vier Jahren die Grohner Düne gekauft haben, haben die Leute dort Dumping-Mieten gezahlt“, sagt Thomsen. Damit hätten die vorherige Eigentümer allzu großen Leerstand in den heruntergekommenen Wohnblöcken verhindern wollen. „Grand City darf die Mieten nur um 15 Prozent innerhalb von drei Jahren erhöhen – eine Neuvermietung bringt denen also viel mehr Geld ein“, glaubt Thomsen. Zulässige Räumung Deswegen glaubt Thomsen nicht daran, dass Grand City Property sich im Falle von Jolanda D. noch umstimmen lässt. „Rechtlich ist die Räumung zulässig, schließlich gibt es ja den Räumungstitel aus dem Jahr 2015 und auch die Frist des Gerichtsvollziehers war korrekt“, sagt er. Selbst wenn das Jobcenter in letzter Minute seiner Pflicht zur Zahlung der Miete noch nachkomme, liege alles weitere nun im Ermessen des Vermieters. Der übernahm zwischen März und Juli 2014 alle 570 Wohneinheiten der Grohner Düne, die zuvor zum Teil der „Deutsche Wohnen AG“ und zum Teil einem niederländischen Immobilienunternehmen gehörten. Die Bremer Bürgerschaftsfraktion der Linken nannte das Unternehmen mit Sitz in Zypern damals eine „Heuschrecke“ und kritisierte, dass die Stadt Bremen den Wohnkomplex nicht selbst gekauft hatte. In Bremen war der Konzern damals bereits berüchtigt, weil er dort auch andere Wohnungen gekauft und nur sehr schleppend saniert hatte. Ähnlich sah es anfangs auch in der Grohner Düne aus. Im August 2016 allerdings unterzeichneten die Stadt Bremen und Grand City Property eine Kooperationsvereinbarung: Bremen erklärte sich bereit, für die Infrastruktur rund um das „Problemviertel“ bis zu 3,5 Millionen Euro zu investieren, GCP sollte im Gegenzug bis 2017 alle Fahrstühle und Treppenhäuser sanieren, rund 100 leer stehende Wohnungen renovieren und die Außenflächen „aufwerten“. Einiges davon wurde auch bereits umgesetzt. Hausflur blockiert Von vielen Zwangsräumungen dort bekomme der Erwerbslosenverband nichts mit, sagt Thomsen, „aber Anwohner berichten uns, dass in die Grohner Düne ungefähr zweimal in der Woche der Gerichtsvollzieher zum Räumen kommt“. Erst im vergangenen November hatten dort 30 Menschen einen Hausflur blockiert und so die Räumung einer Familie verhindert. Auch in diesem Falle soll das Jobcenter die Mietzahlungen an Grand City Property unrechtmäßig eingestellt haben. „Wir tun alles, was wir können, um beim Vermieter zu intervenieren und den Wohnraum unserer Klientin zu erhalten“, sagt auf Nachfrage der taz Christian Ludwig, Sprecher des Bremer Jobcenters. Aufgrund personenbezogener Daten könne er darüber hinaus aber leider nichts zum Fall von Jolanda D. sagen. Sollte das Jobcenter tatsächlich noch intervenieren, beeindruckt das Grand City Property wenig. Auf Nachfrage der taz heißt es schriftlich: „GCP hat diese Situation nicht verursacht. GCP handelt immer gemäß interner standardisierter Prozedere. GCP ist immer an langfristigen Mieterverhältnissen mit seinen Mietern interessiert.“ Und darüber hinaus könne GCP aufgrund der rechtlichen und gesetzlichen Datenschutzbestimmungen keinerlei Informationen zur Verfügung stellen. *Name geändert Aktualisierung (18. April, 15.10 Uhr): Die angekündigte Zwangsräumung wurde kurzfristig abgesagt. Offenbar haben sich das Jobcenter und Grand City Property (GCP) geeinigt: Man wolle die Angelegenheit nicht auf dem Rücken der Mieter austragen, hieß es dazu bei GCP. Das Jobcenter Bremen räumte ein, „grundsätzlich können natürlich auch bei uns, wie in jeder Behörde, Fehler passieren und falsch, zu spät oder gar nicht entschieden werden.“
Simone Schnase
Das Jobcenter Bremen stellte widerrechtlich die Mietzahlungen für die Hartz IV-Empfängerin Jolanda D. ein. Nun soll ihre Wohnung geräumt werden
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Präsident Lula schickt Soldaten nach Rio - taz.de
Präsident Lula schickt Soldaten nach Rio Brasiliens wiedergewählter Präsident Lula da Silva stimmt dem Einsatz von Militär und Sondereinheiten gegen die Drogenhändler im Bundesstaat Rio de Janeiro zu. Die wollen offenbar dem neuen Gouverneur ihre Macht beweisen Künftig soll ständig Militär in Rio patrouillieren, will der Gouverneur VON JÜRGEN VOGT Als eine der ersten Maßnahmen nach seinem Amtsantritt hat der Gouverneur des brasilianischen Bundesstaates Rio de Janeiro, Sergio Cabral Filho, Präsident Lula da Silva um die Entsendung von Streitkräften gebeten, um seinen Bundesstaat zu schützen. Kurz vor Cabral Filhos Amtsantritt hatte die Drogenmafia in der Nacht zum 28. Dezember mit Angriffen auf Polizeiwachen und Linienbussen mindestens 24 Menschen getötet. Sieben Menschen verbrannten, als rund 30 Maskierte einen Fernbus in Brand steckten. Die Anschläge wurden angeblich bei einem Treffen der örtlichen Drogenbosse beschlossen, um gegen den Vormarsch der Polizei gegen ihre Geschäfte vorzugehen. Die Presse vermutete, die Drogenbosse wollten dem neuen Gouverneur zeigen, wer Herr im Bundesstaat ist. Präsident Lula nannte die Angriffe „Terrorismus“. Die Angriffe und Tötungen fanden auch nicht wie sonst üblich in den Elendsvierteln auf den Hügeln von Rio statt, sondern kamen den reichen Vierteln im Süden ziemlich nahe. Zudem erinnerten die Ereignisse an die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Drogenmafia im Mai und Juli vergangenen Jahres, als im Großraum São Paulo bei einer Serie von Anschlägen mehr als 120 Menschen getötet wurden. Zwar hatte sich die Lage zur Silvesternacht wieder beruhigt, aber kaum im Amt, hatte Sergio Cabral Filho am Mittwoch angekündigt, er werde den Einsatz des Militärs und der sogenannten „Kraft für die Nationale Sicherheit“ (FSN) bei Präsident Lula beantragen. Als bräuchte der Gouverneur noch ein Argument, wurde wenig später ein Touristenbus mit sechs Urlaubern aus Deutschland, Kroatien und Österreich auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt überfallen und ausgeraubt. Der Kleinbus wurde zunächst auf der Straße gestoppt und anschließend mit den Touristen in die Favela Nova Holanda gefahren. Dort wurde den Urlaubern abgenommen, was sie besaßen. Wenig später bat Cabral Filho offiziell Lula um Truppenhilfe – und der Präsident stimmte am Donnerstag dem Einsatz der Força Nacional de Segurança Pública zu. Lula selbst hatte die Elitetruppe im November 2004 ins Leben gerufen, um eine Eingreiftruppe für innerstaatliche Konfliktsituationen neben den offiziellen Streitkräften zu haben. Gegenwärtig kann die Truppe auf rund 7.700 Frauen und Männer zurückgreifen und ist eine Mischung aus speziell geschulten Militärpolizisten und Feuerwehrleuten. Bisher kam die Truppe zweimal zum Einsatz, in den Bundesstaaten Espírito Santo und Mato Grosso do Sul. Bisher ist geplant die FSN nur zur Sicherung der Grenzen einzusetzen. Sie soll das Einsickern von Drogen, Waffen und unerwünschten Personen verhindern. Aber nach den Vorstellungen von Cabral Filho könnten sie auch bald auf den Straßen der Stadt Rio de Janeiro auf Streife gehen. Am 19. Januar findet das halbjährliche Gipfeltreffen der Mercosurstaaten in Rio statt. Und zum Karneval im Februar schaut die Welt wieder nach Rio. Da will sie nackte Haut sehen und keine überfallenen Touristen.
JÜRGEN VOGT
Brasiliens wiedergewählter Präsident Lula da Silva stimmt dem Einsatz von Militär und Sondereinheiten gegen die Drogenhändler im Bundesstaat Rio de Janeiro zu. Die wollen offenbar dem neuen Gouverneur ihre Macht beweisen
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IM NAHOSTKONFLIKT AGIEREN DIE DEUTSCHEN OHNE KONZEPT: Ein Plan ist vonnöten - taz.de
IM NAHOSTKONFLIKT AGIEREN DIE DEUTSCHEN OHNE KONZEPT: Ein Plan ist vonnöten Als kürzlich der Bundeskanzler das Ende der deutschen Zurückhaltung in der internationalen Politik verkündete, wurde das in der arabischen Welt sehr positiv aufgenommen. Gerade die Palästinenser erwarten, dass sich die Deutschen nun für eine Wiederbelebung der israelisch-palästinensischen Verhandlungen einsetzen. So gesehen hat Bundesaußenminister Joschka Fischer während seiner jetzigen Nahostreise eine extrem schwierige Aufgabe: Er muss beim gefährlichsten Konflikt der Gegenwart konkret umsetzen, was sein Chef abstrakt umrissen hat. Besonders überzeugend wirkt der deutsche Außenminister dabei nicht. Schließlich kann Fischer seine Vermittlung zwischen dem mächtigen Scharon und dem schwachen Arafat nicht als neuen politischen Kurs der deutschen Außenpolitik im Nahen Osten verkaufen. Dafür fehlt ihm eine eigene politische Konzeption, die zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Basis des internationalen Rechts und der UNO-Resolutionen beitragen könnte. Ein solcher Kurs setzte voraus, dass Deutschland ebenso wie die Europäische Union gegenüber dem israelischen Ministerpräsidenten auch den palästinensischen Forderungen ernsthaft Nachdruck verliehe. Der lange Händedruck zwischen Fischer und Scharon zeigte jedoch deutlich, dass sich die Deutschen wie bisher mit konkretem Engagement lieber zurückhalten. Demzufolge kann der deutsche Außenminister Scharons Bedingungen an Arafat übermitteln und bestenfalls den Abzug der israelischen Panzer aus den autonomen Gebieten der Palästinenser erwirken. Der Konflikt bleibt jedoch bestehen. Fischers größte Schwierigkeit liegt darin, dass er derzeit als Stellvertreter der USA im Nahen Osten fungiert – oder zumindest deren Konzept nichts entgegenzusetzen hat. Faktisch heißt das: Die Regierung von US-Präsident Bush hat sich vor ihrem Krieg gegen Afghanistan nicht für den israelisch-arabischen Friedensprozess interessiert und tut es jetzt immer noch nicht. Scharon bleibt mit Unterstützung Washingtons der Herr über Krieg und Frieden im Nahen Osten. Dafür erhielt er aus den USA zwei Milliarden Dollar für seine Militärausgaben – und das, obwohl Scharon die amerikanischen Forderungen missachtete und seine Panzer nicht vollständig aus den palästinensischen Gebieten abzog. Der deutsche Außenminister kann nicht das Fehlen einer politischen ausgewogenen Position der USA durch irgendeine diffuse Vermittlerrolle kompensieren. Das Ergebnis von Fischers Nahostdiplomatie wird also mager bleiben. Und die neue internationale deutsche Außenpolitik vor allem im Nahen Osten lässt leider noch auf sich warten. ABDEL MOTTAB EL HUSSEINI
ABDEL MOTTAB EL HUSSEINI
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Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? - taz.de
Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? Fidel Castro wird vermeintlich 90, Gauck hat es mit der Burka und überhaupt: Olympia. Aber die Weltherrschaft der Hämorrhoiden ist keine Alternative. Selbst dem Papst hat Fidel Castro sein wahres Alter verschwiegen Foto: dpa taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht in der vergangenen Woche? Friedrich Küppersbusch: Deutschland kauft in Israel eine bewaffnete Drohne, die in Israel bleibt, weswegen man nicht mitteilen dürfe, wie die Drohne bewaffnet sei. Und was wird besser in dieser? Von der Leyen schließt die Bundeswehr komplett und vergibt Kriegsverbrechen als Auftragsarbeit an befreundete Armeen. Fidel Castro ist 90 geworden. Mögen Sie ihm gratulieren? Reingelegt! Fidel hat ein gefälschtes Haltbarkeitsdatum, wenn’s ne Wurst wäre, würden Sie Aldi verklagen. 89 wurde er, weil sein Vater ihn qua Urkundenfälschung reif fürs Jesuitenkolleg log. Faszinierend ist die damit bloßgelegte Niedlichkeitsgrenze für Diktatoren: Als die Linkspartei ihm vor 5 Jahren genau so falsch zum 85. gratulierte, musste sie sich hinterher für ein paar unverbrüchlich sozia­lis­tische Revolutionstextbausteine entschuldigen. Jetzt hingegen ist fidelfiedeln mehr so Feuilletonvolkssport. Irgendwo kurz vor 90 muss die unmerkliche Ganz-egal-Grenze liegen. Bei deren Überschreiten (Helmut Schmitt, Johannes Heesters, Fidel Castro) ordentlich rauchen hilfreich zu sein scheint. „Mit 85 wieder anfangen“ ist ein schönes Ziel. Bundesonkel Joachim Gauck gibt Thomas de Maizière in puncto Burkaverbot Rückendeckung. Müssen wir Angst haben, dass Gauck demnächst als Hilfspolizist weitermacht? Boateng wählen und dabei Gauland abstrafen macht einfach auch doppelt Spaß Gauck könnte im Ernstfall nicht mehr sehen, mit welchen Passantinnen er noch aus früherer Zeit verheiratet ist. Und zudem ist die ganze Schleierhaft schleierhaft: Dass Männer durchdrehen würden, sähen sie Haar, Hals, Gesicht einer Frau, ist dermaßen männerverachtend, dass manche Feministinnen schon wieder dafür sein müssten. Äh … sind sie auch? Okay. – Gauck hat den Wulf-Satz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, ordentlich verschleiert; das genügt ihm. Das durchgehende Thema seiner Amtszeit war ­Verantwortung übernehmen“, Pazifismus als „Glückssucht“ diffamieren und also Außenpolitik mit Helm­pflicht. Darin ist er nicht unersetzbar. Und überhaupt, dieser Michael Phelps …? Da komm ich ins Schwimmen … vermutlich war Bundesliga, Pokal, dann Fußball-EM irgendwann zu viel für mich. Olympia, wochenlang propagandistisch auf die Frage zugespitzt, wie man ein politisch unliebsames Teilnehmerland am besten ganz rausschmeißen könnte, war mir ab Eröffnungsfeier unsympathisch. Ist der Ami Phelps jetzt toll, ein schiefgegangener Fisch oder im Vertuschen von Doping noch cleverer als Lance Armstrong? Boateng ist Fußballer des Jahres. Kündigt Alexander Gauland jetzt sein Kicker-Abo? Man muss nicht alle Sportjournalisten für todesverachtend mutig halten. Manchen ist der Zugang zum höfischen Glanz der Clubmonarchien wichtiger als eine eigene Meinung. Das mag sich hier ein ersehntes Ventil gesucht haben: Mit Wucht wählten sie Boateng und keinen anderen. Ohne also Gauland überbewerten zu wollen – Boateng wählen und dabei Gauland abstrafen macht einfach auch doppelt Spaß. Juhu, 20 Jahre Smartphone! Feiern wir bald auch 200.000 Jahre Hämorrhoiden? Man soll ja auf beidem nicht so richtig gut sitzen können. Das Smartphone markiert jene historische Epoche, in der Grußformeln wie „Guten Tag“ weltweit durch „Hab ich hier Netz?“ und „Kann ich mal an Ihre Steckdose?“ ersetzt wurden. Aus Sicht der künstlichen Intelligenz, die insgeheim längst die Weltherrschaft übernommen hat, taugen wir altmodischen Biointelligenzen gerade noch dazu, als Stromsklaven zur Versorgung der KI beizutragen. Schlimm, aber die Weltherrschaft der Hämorrhoiden ist keine Alternative. In Köln läuft die Gamescom. Haben Sie zufällig eine Videospielidee auf Lager, die uns alle reich macht? Was derzeit noch für Fußballturniere und Olympiaden an TV-Lizenzen bezahlt wird, könnte in absehbarer Zeit aus dieser Richtung ernsthafte Konkurrenz bekommen. Das Bild ist sensationell, die Regeln sind im Kern archaisch einfach, und die Zielgruppe ist brutal jung und kaufkräftig. Merke: Die Idee ist nie so viel wert wie der gerissene Handel mit ihr. Sigmar Gabriel hat rechten Pöblern den Mittelfinger gezeigt. Irgendwelche Vorschläge, was man den Nazis sonst noch so zeigen könnte? Das Pikto der Sozialistischen Internationalen zeigt die traditionell geballte Faust mit einer revolutionär roten Rose darin. Gabriel allerdings lässt die Mitgliedschaft der SPD in der SI seit 2013 ruhen und promotet mit allerhand Nichtsozialisten eine „Progressive Allianz“. Wetten auf das Logo bitte jetzt platzieren. Die Stimmung zwischen Deutschland und der Türkei ist durch ein „Büroversehen“ wieder mal leicht beschädigt. Könnten die beiden Länder nicht mal was zusammen unternehmen, damit die Beziehung wieder in Fahrt kommt? Sie meinen so … Gesprächstherapie? Na ja, für alle, die Deutschland einen „starken Mann“ wünschen, käme vielleicht so ein Privatfernseh-Partnertauschformat infrage. Oder der Sat1-Klassiker „Mein großer, dicker, peinlicher Verlobter“. Endlich wieder Neues von Ötzi. Laut dem Spiegel soll er eine „Russenmütze“ getragen haben. Haben wir nicht langsam genug die Persönlichkeitsrechte dieses Mannes mit Füßen getreten? Hm … höre die Uhr ticken, bis vaterländisch gesinnte Presse Ötzi als ­„Putins Neandertaler“ und eindeutig aggressiven Einmarsch der Sowjetarmee geißelt. Was für ein herzloser Sommer: Es herrscht so ein Gefühl der permanenten Unterflauschung. Wo ist eigentlich das passende Tier zum Sommerloch geblieben? Auf Trumps Kopf. Und was machen die Borussen?Verärgern Fans durch lieblosen Umgang mit verdienten Recken wie Subotic und zuvor Blaszczykowski. „War super, aber jetzt nerv nicht“ – wer kennt das nicht, „echte Liebe“ halt. FRAGEN: AWEI
Friedrich Küppersbusch
Fidel Castro wird vermeintlich 90, Gauck hat es mit der Burka und überhaupt: Olympia. Aber die Weltherrschaft der Hämorrhoiden ist keine Alternative.
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„Lohnarbeit ist Sklaverei“ - taz.de
„Lohnarbeit ist Sklaverei“ FAULENZER Auch Jesus hatte keinen Job, sagt Kultautor Tom Hodgkinson im Gespräch über seine schwierige Mission für den Müßiggang Tom Hodgkinson■ Der Brite gab vor zwanzig Jahren seinen gut bezahlten Job bei einer englischen Tageszeitung auf, um 1993 die Zeitschrift The Idler (Der Faulenzer) zu gründen. Er schrieb 2004 den Weltbestseller „Anleitung zum Müßiggang“ und zog mit seiner Familie aufs Land. 2011 gründete der 44-Jährige in London die Idler Academy, ein Kulturzentrum mit Bibliothek und Café. INTERVIEW SÖREN SIEG taz: Mr Hodgkinson, Sie sind schwer zu erreichen. Tom Hodgkinson: Ja, ich habe gestern noch in Frankreich einen Vortrag gehalten und zehn Songs zur Ukulele vorgetragen. Natürlich über Faulheit. Ist es nicht merkwürdig, so hart dafür zu arbeiten, dass andere Leute nicht mehr hart arbeiten? Ja, das fragt man mich, seit ich 1993 die Zeitschrift The Idler (Der Faulenzer) gegründet habe. Das war auch sehr viel Arbeit für sehr wenig Geld. So wie meine Faulenzerakademie hier. Ich träume davon, vom Buchhandel zu leben. Aber in Zeiten von Amazon ist das fast unmöglich. Auch das Café und die Kurse bringen fast nichts ein. Ich konnte 2011 nur durch einen Buchauftrag von einer Firma überleben, die Elektroautos herstellt. Warum tun Sie sich diesen Stress an? Das frage ich mich auch. Es ist verrückt. Aber auch ein großes Missverständnis. Beim Müßiggang geht es nicht um ein angenehmes Leben. Nicht mal um ein leichtes Leben. Vielleicht ist dein Leben sehr hart, und du hast kein Geld. Aber du bist frei. Du tust, was dir Spaß macht. Darum geht es, das hat schon Sokrates gelehrt. Auch Jesus hatte keinen Job. Lohnarbeit ist Sklaverei. Ihr Motto ist: „Never ever work!“ Muss das nicht zynisch klingen für all die Leute in Spanien und Griechenland, die gerade ihre Jobs verloren haben? So ist der Kapitalismus. Wer sich mit ihm einlässt, kommt in ihm um. Ich habe immer gesagt: Verlasst euch nie auf euren Job. Euer Chef wird euch bei der ersten Gelegenheit feuern. Unternehmen kennen keine Moral. Deshalb geben wir hier auch Kurse für Existenzgründer. Schaffe dir deine eigene Geldquelle! Ich habe immer sehr viel gearbeitet. Und dann lese ich in Ihrem Buch: Du hättest lieber im Bett bleiben und weiterschlafen sollen! Na ja, ich bin Anarchist, ich sage niemandem, was er tun soll. Aber es gibt in unserer Kultur nur noch eine einzige Einstellung zur Arbeit. Und das ist falsch. Es ist genauso gut, im Bett liegen zu bleiben wie zur Arbeit zu gehen. Faulheit ist menschlich – und produktiv. Denken Sie an John Lennon. Er war sehr faul. Und sehr produktiv. Im Mittelalter wurden Leute verachtet, die zu viel gearbeitet haben. Das ist uns völlig verloren gegangen. Vor der Reformation war alles besser? Vieles. Es wurde weniger gearbeitet und mehr gefeiert. Es war verboten, nachts zu arbeiten oder an den zahllosen Feiertagen. Bettler waren heilig, keine Parasiten. Und dann kam Calvin mit seiner Arbeitsmoral. Damit begann das ganze Elend. Sie loben den Buddhismus. Ist nicht auch den Buddhisten Disziplin extrem wichtig? Na ja, inzwischen stehen meine Texte in buddhistischen Lehrbüchern. Muslime sagen mir, ich sei ein Sufi. Eigentlich bin ich ein mittelalterlicher Christ. Aber inzwischen möchte ich ein römischer Stoiker sein: Lerne das Leben zu ertragen. Mr Hodgkinson, Sie empfehlen, man solle seinen Wecker wegwerfen. Wie soll das mit Kindern und Job funktionieren? Ich habe 15 Jahre ohne Wecker gelebt. Aber ich muss beichten: Heute morgen um halb sieben ging mein Wecker. Manchmal muss man auch die eigenen Regeln brechen. Im Moment ist einfach höllisch viel zu tun. Muss man nicht in die Südsee auswandern, um unserer Arbeitsmoral zu entkommen? Ich glaube nicht. Man würde sich langweilen und unendlich fremd fühlen. Ich bin ausgestiegen, indem ich mir ein Bauernhaus in Südengland gemietet und Gemüse angepflanzt habe. Für den Müßiggang empfehlen Sie das Leben auf dem Land, aber ist die Kulturlosigkeit dort nicht schrecklich? Sie ist schrecklich. Einer meiner Nachbarn war noch nie in London. Und mein großer Sohn wollte immer zurück in die Stadt, seit er zwei war. Es war ein Schock, als ich nach zehn Jahren auf dem Land meinen Buchladen in London aufmachte. Ich stellte fest: Mit den Leuten, die hier reinkommen, verstehe ich mich auf Anhieb. Ich war auch in einer Anti-Flughafen-Kampagne, bis mir klar wurde: Hallo, Tom, du fliegst gerne nach Berlin oder Paris. Was machst du dann hier? In ihrem Buch „Leitfaden für faule Eltern“ schreiben Sie: „Das Hauptproblem mit unserer Kleinfamilie ist, dass sie einfach zu klein ist.“ Diese Enge löse Stress aus. Gibt es einen Weg zurück zur mittelalterlichen Großfamilie? Leider habe ich herausgefunden, dass die Familien im Mittelalter genauso klein waren wie unsere. Wie bitte? Nicht auf dem Land. Aber in der Stadt. In Florenz um 1350 hätten wir dasselbe Gespräch geführt wie jetzt. Ich dachte auch, in Südamerika würde das Paradies der Großfamilie andauern. Bis mir ein Journalist aus Paraguay erzählte, dort hätten sie auch alle nur zwei oder drei Kinder. Es ist ein globales Problem. Und wie schaut es mit dem Sex in der Ehe aus, wenn man eine Kleinfamilie hat? Darüber denke ich jetzt seit zehn Jahren nach. Frauen können mal so eben vier, fünf Jahre ohne Sex auskommen. Wir nicht. Und dann schauen wir uns um. Mit schlechtem Gewissen. Und haben Affären. Frauen haben auch Affären. Sie können sie nur besser verheimlichen. Und haben kein schlechtes Gewissen dabei. Ist die Ehe eine Fehlkonstruktion? Absolut. Wir erwarten viel zu viel. Die Griechen unterschieden vier Arten von Liebe: eros, die Leidenschaft; ludus, spielerische Liebe; pragma, gemeinsame Arbeit; und philia, geschwisterliche Freundschaft. Und unsere Ehe soll alle vier enthalten? Genau. Das kann nicht klappen. Ich kenne keine einzige glückliche Ehe. Im Mittelalter war Prostitution eine akzeptierte Lösung. Nicht nur damals. Noch der Filmemacher Luis Buñuel hat offen von den Bordellen Madrids in den zwanziger Jahren geschwärmt. Das ist heute das größte Tabu überhaupt. Damit machen wir uns das Leben unnötig schwer. Aber Eifersucht ist ein mächtiges Gefühl. Großer Themenschwenk: Sie sind Schriftsteller, was halten Sie davon, im Netz solle alles umsonst sein? Die Nerds, die das fordern, haben selber hoch bezahlte Jobs als Webdesigner. Und erwarten, dass wir Künstler umsonst arbeiten. Es ist grotesk. Diese Typen geben sich libertär, aber eigentlich sind sie bloß Parasiten. Lässt sich dieser Prozess noch aufhalten? Na ja, historisch gesehen ist das Urheberrecht sehr jung. Der englische Schriftsteller Samuel Johnson bekam regelmäßig Geld vom englischen König. Voltaire war Aktienhändler. In Zukunft werden wir wohl vom Sponsoring leben müssen. Und von Liveauftritten. Zuletzt noch eine Frage meiner 13-jährigen Tochter: Was waren die glücklichsten Momente Ihres Lebens? Sex, Trinken, Schreiben, Reden. Manchmal hatte ich auch nach drei Stunden Tanzen ein tiefes Glücksgefühl. Oder mit meinen Kindern. Am besten ist das Lesen, weil man es – anders als Sex oder Trinken – den ganzen Tag machen kann, sein Leben lang. Aber das ist eine gute Frage. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch an Glück glaube. Es gibt kein irdisches Paradies. Es wird nie eins geben. Dein bester Freund kann morgen sterben, und dein Leben ist zerstört. Das ist mir vor 15 Jahren passiert. Früher dachte ich auch, meine Bücher würden eine Revolution auslösen. Leider ist sie ausgeblieben. ■ Sören Sieg, 45, freier Autor und Komponist aus Hamburg, taz-Genosse seit 2009. Im Juni erscheint sein Roman „Superdaddy“ (14,99 Euro) im List-Verlag. Sieg ist für dieses Interview extra nach London geflogen
SÖREN SIEG
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Die Wahrheit: Warst du schon mal am Südpol? - taz.de
Die Wahrheit: Warst du schon mal am Südpol? Die Erde ist keine Scheibe, sondern eine Kugel mit gekrümmten Längengraden. Und Breitengraden. Zeit für ein neues Magazin. Fragte ich sie. Nein, war ihre Antwort, und dass sie das auch noch niemand gefragt habe. Und was denn mit mir sei? War ich schon mal am Südpol? Nein, ich auch nicht. Aber in der Nacht zuvor war ich auf einer Art Schiff oder einfach einem flachen, bungalowartigen Hafengebäude mit breiten Plexiglasfenstern mit Blick auf das Meer und überlegte, wie viele Erdkrümmungen entfernt denn Hawaii liegen könnte, schließlich ist die Erde rund, und dank der Erdkrümmung läge doch alles ganz nahe, also Hawaii supernah an Mittelamerika, nur so ein oder zwei Erdkrümmungen entfernt, und vom Südpol aus wäre man auch flugs in Chile oder in Neuseeland, weshalb Chile und Neuseeland gar nicht so weit voneinander entfernt liegen würden. Und in der nächsten Nacht gründete ich dann mit Freunden und Aufklebern eine neue Zeitschrift, etwas leichtsinnig dieser Tage, aber nun ja: das Längenmagazin. Und worum sollte es da wohl gehen, wenn nicht um Längegrade und sehr breite Texte? In der Realität, die ich am folgenden Morgen wieder betrat, erschienen mir andere Dinge. Junge Menschen aus Problemvierteln trugen ironische T-Shirts, die sich an HipHop-Merch orientierten. „Straight outta my bed“, sagten sie auf Englisch, und tatsächlich schien die Struwwelfrisur des T-Shirtträgers seine Botschaft zu bestätigen. Andere trugen Sandalen und pink lackierte Zehennägel, wieder andere den Kopf eines Außerirdischen. Eine Frau schließlich setzte sich erleichtert irgendwohin, um den Flugtanz der Wespen um ein leeres Kaffeeglas besser sehen zu können und sich Eier aus Abwehrhaltung zu bestellen. In einer Frischluftglocke überlegte ich, dass es gar nicht so leicht wäre, mit dem Schiff zum Südpol zu gelangen. Kein Wunder, dass die Spanier noch nie da waren! Oder die alten Griechen. Früher, als das Wort Luftbuchung noch irgendetwas mit Aeroplanen zu tun hatte, war mir aufgegangen, dass im Norden, an der nördlichen Grenze des Landes, in dem ich mich seit Geburt befand, wenn auch nicht ununterbrochen, das sei einmal gesagt, die Welt noch nicht zu Ende war. Im Gegenteil, jenseits der Grenze ging die Welt einfach so weiter. Noch mehr Landschaften und Wälder und grüne Wiesen, einige topfitte, einige gähnende Schluchten und Städte, in denen andere Sprachen gesprochen werden und die Verkehrsschilder etwas anders aussehen und unter besonderem Identitätsschutz stehen, und am Ende lauert wieder das Meer um die Ecke. Meer, das mehr ist als nur Brauchwasser. Jenseits der Bezahlschranken Vielleicht wäre also dies das Thema für die erste Ausgabe des Längenmagazins, Texte von jenseits der Grenzen, Texte von jenseits der Bezahlschranken. Texte, die das Nähe-Distanz-Problem lösen. Texte in geschmeidigem Deutsch. In denen das Meer chinesisch aussieht. Es schien weit und breit die Sonne und alles möglich an diesem Tag. Ich war bereit, sehr weit zu gehen. Zur Not bis zum Südpol, da war ich schließlich noch nicht. Die Wahrheit auf taz.de
René Hamann
Die Erde ist keine Scheibe, sondern eine Kugel mit gekrümmten Längengraden. Und Breitengraden. Zeit für ein neues Magazin.
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Impfwut fördert Krankheitsanfälligkeit - taz.de
Impfwut fördert Krankheitsanfälligkeit ■ betr.: „Impfmüdigkeit fördert Epi demien“, taz vom 10. 6. 95 Es erschreckt mich immer wieder, wenn in der taz, die ich fast seit Beginn ihres Erscheinens abonniert habe und wegen ihrer kritischen Berichterstattung sehr schätze, in Artikeln über medizinische Themen völlig einseitig die Sichtweise der Schulmedizin wiedergegeben wird und kritische Denkansätze überhaupt nicht erwähnt werden, wie in dem oben genannten Artikel. Gerade ein so kontroverses Thema sollte kritisch dargestellt werden. Schließlich gibt es genügend Veröffentlichungen über die relativ häufigen schädlichen Folgen von Impfungen. Coulter beschreibt die Verbindung zwischen Impfungen und cerebralen Störungen (H. L. Coulter: „Impfungen, der Großangriff auf Gehirn und Seele“), angefangen von leichten Verhaltensauffälligkeiten, über den sogenannten Minimalschaden (MCD), bis zu schweren Krankheitsbildern, die dann oft auch als Impfschaden anerkannt werden. Impfungen stehen außerdem im Verdacht, Allergien auszulösen. Ich erlebe es in meiner Praxis immer wieder, daß Auffälligkeiten nach Impfungen auftreten: Die Kinder waren vorher ganz gesund, ab da werden sie krankheitsanfällig oder entwickeln sich nicht mehr richtig, oder schlafen schlecht, oder es zeigen sich auf einmal allergische Zeichen. Wenn man dann bei der homöopathischen Behandlung das Wissen um den (vermuteten) Auslöser einbezieht, kann man im allgemeinen diese Störungen erfolgreich behandeln. Die „Impfmüdigkeit“ mit Unwissen und Sorglosigkeit abzutun, ist ein Nicht-Ernstnehmen der Eltern, die um diese Gefahren wissen, dies zum Teil bei ihrem ersten Kind selbst erlebt haben, und die sich nun gegen den massiven Druck von impffreudigen Ärzten wehren müssen. Es ist ein Nicht- Ernstnehmen der Ärzte, die mit Impfungen eher zurückhaltend umgehen, weil sie aus Erfahrung wissen, daß Impfungen relativ häufig auch Schäden verursachen können. [...] Peter Neuhold, Heilpraktiker (Homöopathie)
taz. die tageszeitung
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Gründerin der Berliner Tafel: "Wir müssen das System umkrempeln" - taz.de
Gründerin der Berliner Tafel: "Wir müssen das System umkrempeln" Sabine Werth gründete 1993 die Berliner Tafel. Heute versorgt ihr Verein im Monat 125.000 Bedürftige mit Lebensmitteln. "Gerade ist einiges an Salat und Radieschen da" - Sabine Werth in der Lagerhalle der Tafel in Moabit. Bild: Amélier Losier taz: Frau Werth, wenn Sie essen gehen, lassen Sie sich die Reste dann immer für zuhause einpacken? Sabine Werth: Ich hab im Restaurant nie Reste. Normalerweise sind das Portionen, die ich auch schaffe. Ich esse immer alles auf. Selbst wenn ich schon satt bin. Und wenn Ihnen übel wird? Mir wird so schnell nicht schlecht. Ich bin auch so erzogen worden: Nix darf auf dem Teller bleiben, weil ja die Sonne morgen wieder scheinen soll. Das steckt tief drin. Lebensmittel zu verwerten, statt sie wegzuwerfen, ist auch das Prinzip der Berliner Tafel, die Sie 1993 als erste ihrer Art in Deutschland gegründet haben. Die Mitarbeiter verteilen aussortiertes Essen an soziale Einrichtungen und Bedürftige. Eine einfache, gute Idee. Wie kamen Sie darauf? Wir haben uns das von den Amerikanern abgeguckt. Ich war damals Mitglied der Initiativgruppe Berliner Frauen, ein Verein für bessergestellte Damen, die sich der Wohltätigkeit verschrieben hatten. Heute wundere ich mich, was ich da verloren hatte - aber gut. Wir wollten etwas für Obdachlose tun und hörten von "City Harvest" in New York, einem Projekt, bei dem Lebensmittel gesammelt und verteilt wurden. Das versuchten wir auf Berlin zu übertragen. Wie sind Sie vorgegangen? Zunächst haben wir Kontakt zu den Obdachlosen-Organisationen aufgenommen. Wir luden auch die Presse ein, um unser Vorhaben bekannt zu machen. Wir haben schon die ersten Pfannkuchen in die Kameras gehalten, da gab es noch gar nichts zu verteilen. Schnell stellten wir fest, dass die Obdachlosen nur ein Teil der Bedürftigen sind. Es riefen Frauenhäuser, Beratungsstellen und andere Vereine bei uns an. Also beschlossen wir, das Ganze zu öffnen. War es Teil des Konzepts, dass am Anfang nur Frauen mitmachten? Nein, das hat sich durch die Initiativgruppe so ergeben. Allerdings musste ich feststellen, dass ich die Einzige war, die von einem Laden zum nächsten fuhr und Lebensmittel einsammelte. Die anderen Mädels kamen nur, wenn auch die Presse anrückte. Das wurde mir bald zu blöd. Ich habe das Projekt aus der Initiativgruppe herausgenommen und die Berliner Tafel als Verein gegründet. Von da an halfen auch Männer mit. Sie haben Sozialpädagogik studiert und sich dann mit einem Unternehmen in der Familienpflege selbstständig gemacht. Sind Sie gerne Ihr eigener Chef? Sabine WerthDie West-Berlinerin: Sabine Werth, geboren 1957, wuchs in Schöneberg auf. Sie studierte an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin und absolvierte danach ein Jahrespraktikum als Sozialarbeiterin im Bezirksamt Charlottenburg. Später arbeitete sie beim Nachbarschaftsheim Schöneberg.Die Unternehmerin: 1987 machte sich Werth mit einem Unternehmen in der Familienpflege selbstständig, inzwischen beschäftigt sie 51 Mitarbeiter. Die helfen in Familien aus, wenn die Mutter krank oder risikoschwanger ist oder gerade entbunden hat.Die Tafel-Gründerin: 1993 gründete Werth gemeinsam mit anderen Frauen die erste Tafel Deutschlands in Berlin. Inzwischen gibt es bundesweit 877 Tafeln. Die Berliner Tafel hat rund 1.900 ehrenamtliche Helfer und 14 festangestellte Mitarbeiter. Sie beliefert zahlreiche soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln. In 45 Kirchengemeinden gibt es zudem Ausgabestellen der Aktion Laib und Seele, bei denen Einzelpersonen Essen abholen können. Die Tafel betreibt inzwischen auch zwei Restaurants für Kinder und Jugendliche. Sie erreicht nach eigenen Angaben insgesamt 125.000 Bedürftige im Monat. Ab einem Monatsbeitrag von mindestens 2,75 Euro kann man auch Fördermitglied im Verein werden. 1.500 Mitglieder gibt es derzeit. Auf jeden Fall. In einem Amt irgendwo zu vergammeln, mit so einer Amtsleitung über mir, das wäre nichts für mich. Sie lassen sich nicht gerne was von anderen sagen? (lacht) Hm, ja. Ich würde niemals von mir behaupten, ich sei teamfähig. Das stimmt einfach nicht. Ich bin ein Platzhirsch, da führt kein Weg dran vorbei. Aber ich habe mich schon sehr gebessert. Ich kann inzwischen auch delegieren. Früher dachte ich: Nur was ich alleine mache, ist gute Arbeit. Wie schafft man das, ein Unternehmen und gleichzeitig ehrenamtlich die Tafel zu leiten? Es geht nur, weil ich mein Unternehmen direkt am Standort der Tafel habe und so beides koordinieren kann. Aber es gibt manchmal schon sehr viel zu tun. Gestern Abend bin ich fünf Minuten vor Mitternacht aus dem Büro gekommen. Sind Sie ein Workaholic? Ja, aber ein trockener. Ich bin mir der Gefahr bewusst. Früher habe ich 80 Stunden die Woche gearbeitet, jetzt sind es vielleicht 60 Stunden. Ich brauche auch einfach Ruhepausen. Ich habe seit 14 Jahren multiple Sklerose und muss mir schon überlegen: Was mache ich mit meinem Körper, auf Dauer gesehen? Deshalb versuche ich, in meiner Freizeit wirklich abzuschalten und mich nicht ununterbrochen um die Tafel zu kümmern. Genug zu tun gäbe es sicherlich immer. Ihr Verein versorgt inzwischen 125.000 Arme im Monat mit Essen. Fühlen Sie sich manchmal wie ein moderner Robin Hood? Schon. Ich hab mir anfangs aus dem Sammeln von Lebensmitteln und anderen Dingen eine Art Spiel gemacht. Wir hatten ja gar kein Auto für die Tafel, ich fuhr alles mit meinem eigenen Wagen. Da bin ich einmal zu einer alternativen Autovermietung, in Jeans und Turnschuhen, mit einem taz-Artikel über die Tafel und habe gesagt: "Hey, Jungs, könnt ihr mir nicht helfen? Ich brauche ein Mal die Woche ein Auto, und zwar kostenlos." Oder ich bin zum Chef eines Obsthandels, im schicken Outfit, ein bisschen geschminkt, habe einen Artikel aus der Welt vorgelegt und gesagt: "Schauen Sie mal, das machen wir." So lief das. Sie haben sich Ihrem Gegenüber angepasst? Immer. Anders als Sie hat Robin Hood die Reichen nicht gefragt, ob er ihr Hab und Gut bekommt. Er hat sie bestohlen. Das ist ein Unterschied, weil wir den Firmen ja nichts wegnehmen. Für die ist das, was wir von ihnen wollen, Müll. Klar, manchmal bewegen sich unsere Unterstützer am Rande der Illegalität. Zum Beispiel gab es mal einen jungen türkischen Lagerleiter eines Gemüsehändlers in Brandenburg. Wir kamen immer freitags, um Lebensmittel zu holen. Und jeden Freitag hatte er zufällig morgens einen Havarieschaden, war aus Versehen mit dem Gabelstapler gegen die Eierkiste gefahren oder über die Paprikakiste. Er hatte jede Woche unverkäufliche Sachen da und grinste sich einen. Das war klasse. Aber richtig was Verbotenes haben wir nie gemacht. Trotzdem finde ich es toll, wenn Robin Hood mit meinem Namen in Zusammenhang gebracht wird. Viel lieber Robin Hood als Mutter Teresa. Warum? Mutter Teresa war eine wundervolle Frau, absolut beeindruckend. Aber ich bin nicht einfach nur gut. Ich schwimme gerne mal gegen den Strom. Robin Hood liegt mir mehr, denn irgendwo bin ich auch ein bisschen anarchisch drauf. Inwiefern? Ich bin der Meinung, wir müssten den gesamten Staat ein Mal in die Tüte kloppen, kräftig schütteln und gucken, wie wir ihn neu sortieren können. Wenn wir etwas an der Lage der Bedürftigen, die zur Berliner Tafel kommen, ändern wollen, müssen wir das ganze politische System umkrempeln. Wie denn? Die Länderhoheiten müssten zum Beispiel abgeschafft werden. Schauen Sie sich die deutsche Bildungslandschaft an. Aufgrund dieses unsinnigen föderalen Systems gibt es viel zu viele verschiedene Schultypen und überhaupt keine Bildungsgleichheit. Wir müssten auch die Uni-Gebühren streichen. Das sind Bildungsfragen. Aber wie wollen Sie Arbeitslosen und armen Rentnern helfen, die ja einen großen Teil Ihrer Klientel ausmachen? Ich bin für ein bedingungsloses Grundeinkommen. 1.100 oder 1.200 Euro sollten es schon sein. Dagegen gibt es immer das Argument, dass unser Staat zusammenbricht, weil niemand mehr arbeiten will. Das glaube ich nicht. Viele bei der Berliner Tafel arbeiten ehrenamtlich, inklusive mir selbst. Sie tun das, weil ihnen der Job Spaß macht. Ich glaube, dass auch mit Grundeinkommen in allen Bereichen Leute arbeiten würden, und sie hätten endlich Freude daran, weil sie es freiwillig täten. Wir hätten Gelder frei ohne Ende, weil wir die ganzen Leute auf den Ämtern nicht mehr bräuchten. Die könnten wir in anderen Bereichen sinnvoller einsetzen, zum Beispiel in den Arbeitsvermittlungen. Ich würde wirklich das ganze System neu stricken wollen. Sie versorgen heute viel mehr Menschen als früher. Ist die Armut in den letzten 15 Jahren so viel größer geworden? Ich bin mir ganz sicher, dass das nicht der Fall ist. Die Berliner Tafel ist einfach gewachsen. Durch die Hartz-Reformen hat es vielleicht so ausgesehen, als ob die Armut zunimmt, aber das lag nur an der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfestatistik. Die Zahlen wurden größer. Die Situation der Menschen hat sich nicht geändert. Mit Hartz IV wurden auch Kürzungen umgesetzt. Wer seinen Job verliert, fällt viel schneller auf das Existenzminimum als früher. Natürlich. Sicher ist es ein Unterschied im Alltag, ob ich 100 Euro mehr oder weniger habe. Aber Armut kann man nicht steigern. Man kann die Armen noch ärmer machen. Armut ist immer relativ. Im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft war ein Sozialhilfebeziehender früher arm und ist es als Hartz-IV-Empfänger weiterhin. Kommen heute andere Leute zur Berliner Tafel als früher? Schon. Es ist kein Gesichtsverlust mehr, zur Tafel zu gehen, weil alle in der Umgebung das auch machen. Im Gegenteil: An den Ausgabestellen für Lebensmittel schätzen die Leute gerade den sozialen Kontakt. Sie sitzen zusammen bei Kaffee und Kuchen. Es gibt auch viele, die selbst bedürftig sind und mithelfen. Sie sagen, sie fänden es toll, wieder eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Bei den Anti-Atom-Demos sind Hunderttausende auf die Straße gegangen, in Stuttgart ist Schwaben-Aufstand. Nur der angekündigte "heiße Herbst" gegen die Sozialkürzungen fiel mau aus. Warum? Das war meiner Einschätzung nach ein Problem der beteiligten Organisationen. Aber es stimmt schon: Es gibt eigentlich genug arbeitslose Berliner, die von den Kürzungen betroffen sind. Die hinter dem Ofen vorzulocken ist schwer. Da herrscht eine große Resignation. Ich merke das vor Wahlen auch immer wieder bei den Ehrenamtlichen der Berliner Tafel. Die wollen alle nicht ihre Stimme abgeben. Mit welcher Begründung? Sie sagen, es gehe ihnen beschissen, und es werde auch morgen nicht anders sein. Die da oben schöpfen eh nur das Geld ab, ist auch ein häufiger Vorwurf. Viele haben schlicht die Hoffnung aufgegeben, dass sich für sie etwas zum Guten ändern könnte. Es ist auch ein Aufklärungsproblem. Ich habe in der Schule gelernt, wie unser Staat funktioniert. Hier haben viele davon noch nie gehört, sie verstehen das politische System nicht. Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, um soziale Proteste in Gang zu bringen? Ich glaube, der Armenbewegung fehlt eine charismatische Erscheinung. Wenn es irgendjemand gäbe, der den Leuten einheizen würde, könnte schon was draus werden. Was ist mit Ihnen? Als Chefin der Berliner Tafel würden Sie sehr viele Menschen erreichen. Das Charisma einer Person ist das eine, aber mir fehlen die Inhalte. Wahrscheinlich geht es mir als Mittelschichts-Vertreterin noch zu gut. Ich könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern, aber das ist vielen zu kompliziert und schwer zu vermitteln. Es gibt auch genug Leute, die sagen, das rechnet sich nicht. Um das zu überprüfen, müssten alle Zahlen auf den Tisch. Ich würde das unheimlich gerne mal komplett durchrechnen lassen von jemanden, der es nicht totmachen will. Aber es wäre schon Ihr Ding, derart im Mittelpunkt zu stehen? Auf jeden Fall. Ich war mit 14 Jahren schon Schülersprecherin, da musste ich mich vorher auch ständig allen präsentieren. Das mache ich einfach gerne. Haben Sie als Chefin der Tafel schon mal zu sozialen Protesten aufgerufen? Das Problem ist: Ich könnte mich nicht hinstellen und einfach höhere Hartz-IV-Sätze fordern. Dafür hätte ich zwar sofort eine Mehrheit hinter mir und alle kämen mit auf die Straße. Aber das ist in meinen Augen keine Lösung. Wenn, dann will ich eine radikale Änderung des Systems. Wären Sie denn überhaupt bereit, die Berliner Tafel zu einer politischen Organisation zu machen? Ich stelle mich schon öfters hin und kommentiere politische Entscheidungen. Aber zu Demos rufe ich nicht auf. Das habe ich ein Mal gemacht, sofort gab es einen Austritt aus unserem Verein. Das ist auch der Grund, warum ich in keiner Partei bin: Zum einen will ich nicht vereinnahmt werden. Zum anderen fühle ich mich den 1.500 Fördermitgliedern der Berliner Tafel gegenüber verpflichtet, eine gewisse Neutralität zu wahren. Jeder, auch die Konservativeren, sollen sich mit der Idee der Tafel identifizieren können. Wenn ich ein bedingungsloses Grundeinkommen fordere, tue ich das als Privatperson, nicht als Chefin der Tafel. Es gibt immer wieder den Vorwurf, dass die Berliner Tafel das System nicht verbessere, sondern stabilisiere, indem sie die Not der Menschen lindere. Ich sehe das anders. Ich glaube, dass die Armutsdiskussion gerade aufgrund der Tafeln entstanden ist. Diese Debatte wäre ohne uns in dieser Form nicht geführt worden. So stehen an 877 Stellen in diesem Land - so viele Tafeln gibt es inzwischen - Schlangen vor der Tür. Die Armut wird sichtbar, sie ist nicht mehr zu verdrängen. Trotzdem kann man sagen: Wer keinen Hunger hat, geht weniger schnell auf die Barrikaden. Diesen Gedanken kann ich schon nachvollziehen. Wenn die Tafeln dann auch noch größer werden und Kleider anbieten und Kinderspielzeug, müssen die Leute tatsächlich nicht mehr viel kaufen. Da denke ich: Die Tafeln müssen eine Übergangslösung sein. Sie dürfen keine Grundversorgung bieten. Es gibt meiner Meinung nach inzwischen zu viele Tafeln in Deutschland. Wir nehmen uns gegenseitig die Lebensmittel weg. Deshalb halte ich es auch für schwierig, dass allein in Berlin 16 verschiedene Organisationen Obst, Gemüse und anderes an Bedürftige verteilen. Wenn sich jemand 16 Mal die Woche mit Lebensmitteln eindecken kann, ist das eindeutig mehr als eine Zusatzversorgung. Apropos Versorgung: Wie könnte ein Weihnachtsmenü aussehen, das man sich bei der Tafel zusammenstellt? Gerade ist einiges an Salat und Radieschen da. Wir verteilen zu Weihnachten oft auch Gänsekeulen oder sogar ganze Gänse oder Truthähne, das sind ausrangierte Werbegeschenke. Findet nicht erst nach Weihnachten das große Resteessen statt? Früher war das so. Da haben wir bis Ostern die ganzen Weihnachtssachen bekommen und bis Weihnachten die Ostersachen. Heute wird schneller sortiert. Inzwischen gibt es oft auch schon gute Lebensmittel vor dem Fest.
Antje Lang-Lendorff
Sabine Werth gründete 1993 die Berliner Tafel. Heute versorgt ihr Verein im Monat 125.000 Bedürftige mit Lebensmitteln.
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In Slawjansk verschleppt - taz.de
In Slawjansk verschleppt UKRAINE Künstler Pawlo Jurow und Denis Hryschtschuk spurlos verschwunden BERLIN taz | In Slawjansk werden offensichtlich nicht nur Mitarbeiter der OSZE entführt, sondern alle, die sich unabhängig von den russischen oder ukrainischen Medien ein eigenes Bild von den Ereignissen in der Ostukraine machen wollen. Vor mittlerweile zwei Wochen, am 25. April, wurden der vielfach ausgezeichnete ukrainische Regisseur Pawlo Jurow und der Künster Denis Hryschtschuk von den sogenannten prorussischen Separatisten und selbst ernannten Machthabern in Slawjansk verschleppt. Seither gibt es keine Nachricht über ihren Verbleib. Die beiden waren am Morgen nach Slawjansk gefahren, um sich vor Ort über die dortigen Vorgänge zu informieren, da sie ein Theaterstück über die Ereignisse vorbereiteten. Am Abend desselben Tages wollten sie nach Kiew zurückfahren Ukrainische Regisseure und Theatermacher haben den selbst ernannten Machthabern in der „Volksrepublik Donezk“ nun einen Brief mit der Bitte um Freilassung übergeben. Inzwischen haben sich mehr als 50 russische Künstler dem Appell ihrer ukrainischen Kollegen angeschlossen und setzen sich für die Freilassung der beiden ein. Bisher allerdings vergeblich. Vor einigen Tagen berichtete ein Augenzeuge, dass Jurow und Hryschtschuk noch leben, aber geschlagen würden. ALEXANDER KRATOCHVIL
ALEXANDER KRATOCHVIL
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„Lila Eisen“ im Gaza-Streifen - taz.de
„Lila Eisen“ im Gaza-Streifen Israelische Panzer rücken erneut in das Flüchtlingslager Khan Junis ein. Soldaten töten sieben Palästinenser, mehrere werden verletzt. Der Einsatz ist eine Reaktion auf Mörser-Beschuss AUS JERUSALEM ANNE PONGER Ein massives Aufgebot israelischer Truppen ist, unterstützt von Panzern und Kampfflugzeugen, in der Nacht zum Donnerstag zum dritten Mal in diesem Monat in den südlichen Gaza-Streifen eingedrungen. Ziel der Offensive, die sich auf die Stadt und das Flüchtlingslager Khan Junis konzentriert, ist die Liquidierung von Zellen militanter Gruppen, die allein in der vergangenen Woche 55 Mörser in den benachbarten jüdischen Siedlerbezirk Gusch Katif schossen. Sowohl die Armee als auch palästinensische Quellen sprachen von sechs getöteten Hamas-Aktivisten und einem Zivilisten sowie zahlreichen Verwundeten durch Angriffe der Bodentruppen und der Luftwaffe. Die Militäroperation namens „Lila Eisen“ soll andauern, bis die vermuteten 10 bis 15 Quellen von Raketen- und Mörserfeuer zerstört sind. „Auch die Siedler sind Bürger Israels, für deren Schutz wir verantwortlich sind“, erklärte der Militärkommandant der Gaza-Truppen, General Aviv Kochavi. Der palästinensische Gouverneur von Khan Junis und die palästinensischen Sicherheitskräfte seien ausreichend gewarnt worden, dass Israel sich der anstehenden Präsidentschaftswahlen am 9. Januar Handlungsfreiheit einräume, falls sich Aggressionen fortsetzten. Nach dem Tod von PLO-Chef Jasser Arafat ist auf israelischer und palästinensischer Seite verstärkt die Rede von neuen Möglichkeiten in der Region, die auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses hoffen lassen. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon plant im kommenden Jahr den Rückzug aus dem Gaza-Streifen, während Mahmud Abbas, Spitzenkandidat für die palästinensische Präsidentschaft, auf den Misserfolg der bewaffneten Intifada hinwies und in Israel als pragmatischer Verhandlungspartner favorisiert wird. Seit Ägypten versucht, eine Waffenruhe (arabisch Hudna) zwischen den Militanten und der Palästinenserbehörde zu vermitteln, nach der alle palästinensischen Fraktionen sich Gewaltbeschränkungen auferlegen sollen, steckt die Hamas in einem Dilemma. Solange der Waffenstillstand nicht in Kraft ist, versucht sie, den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass Israel den Gaza-Streifen nicht freiwillig verlässt, sondern vertrieben wird. Die Organisation bremste zwar den Kassam-Raketenbeschuss von Ortschaften innerhalb Israels, nachdem die Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung infolge israelischer Vergeltung dem Ansehen von Hamas schadete. Mörserbeschuss von Siedlungen wird dagegen als Antibesatzungskampf erachtet. Israels Verteidigungsexperten interpretieren die Ziele der Hamas unterschiedlich. Die einen fürchten, die Hardliner wollten die Wahlen stören. Die anderen meinen, Hamas wolle mit der Fortsetzung des bewaffneten Kampfes einen hohen politischen Preis von der Autonomiebehörde für das Zugeständnis erzwingen, Attacken gegen Israelis einzustellen. Ziel der Hamas sei nicht nur der Kampf gegen die Zionisten, sondern ein der PLO gleichwertiger politischer Status in der Nach-Arafat-Ära.
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Eine fast versehentliche Erotik - taz.de
Eine fast versehentliche Erotik ■ Sasha Waltz, Kitt Johnson, Adria Ferrali und ein Kessel Buntes – Variationen zum Thema „Solo“ im Tacheles Was haben ein Jongleur, ein Zitherspieler, drei Filme und drei Tänzerinnen gemeinsam? Nicht viel mehr, als daß sie unter dem gemeinsamen Titel „Solo“ im Tacheles zu sehen sind. Als Tanzabend proklamiert, beginnt die Veranstaltung mit „Bon Voyage“, einem computeranimierten Film von Stefan Kerda. Die Hauptfigur, eine virtuelle Frauengestalt, scheint die weibliche Version des begehrten Film-Oscars zu sein, gleicht sie ihm doch, als wäre sie aus seiner Rippe geschnitten (wenn er eine hätte). Ihre Reise durch Raum und Zeit, unterlegt von rhythmischen Klängen, führt durch endlose Tunnel und bringt periodische Verwandlungen in Kugel- und Ellipsenformen mit sich. Leider war der Abspann wegen mangelnder Schärfe nicht lesbar. Aber über diese Art von Kunstfehlern sehen Tacheles-Kenner spielend hinweg, desgleichen über das verpatzte Solo des feuerschluckenden Jongleurs, der beim akrobatischen Spiel mit demselben so oft seine Fackeln fallen ließ, daß man glauben konnte, es gehöre zur Choreographie. Dann, endlich, tritt die dänische Tänzerin Kitt Johnson auf. Ihr Beitrag „Yellow Fever“, den sie zusammen mit dem Instrumentalisten Sture Eriscon erarbeitete, setzt sich zwar nicht im Geringsten mit dem Thema „Solo“ auseinander, doch beeindruckt sie mit ihrem schon mehrfach aufgeführten Erfolgsstück aus einer eigenwillig- explosiven Mischung aus Butoh und New Dance. Mit dem wackelnden Kopf einer japanischen Alten oder verschmutzten Knien und kindhaft-ungelenken Bewegungen verkörpert sie fließend verschiedene Charaktere innerhalb eines Tanzes. Ihr Dialog mit Ericson ist nur elementar strukturiert, der Freiraum für Improvisationen läßt die beiden spannungs- und überraschungsreich miteinander agieren. Aber mit fast 50 Minuten ist dieser konzentrationsfordernde Auftritt neben den sieben anderen jedoch etwas zu lang. Erfrischend wirkt das Zitherspiel von Oruc Gürbüz im Anschluß, der beim Publikum sehr viel Anklang fand. Auch die zweite Tänzerin, Adria Ferrali aus Florenz, die als einzige den Titel zum konkreten Thema ihrer Choreographie verarbeitet hat, sowie ihr Begleiter, der Cellist Sebastian Hilken, der aus seinem Instrument ein ganzes Orchester hervorzaubert, sind überaus sehens- und hörenswert. Als ehemals erste Tänzerin der Graham-Company in New York ist ihr Stil einschlägig geprägt. Fast zu ästhetisch, wenn auch eindrucksvoll beschreibt sie ihre „Reise durch die unergründliche menschliche Seele“. Bei ihr scheint die Form den Inhalt zu dominieren, bei Kitt Johnson und ganz besonders bei Sasha Waltz, der letzten im Bunde, ist das Gegenteil der Fall. Die Berliner Künstlerin gewinnt dem „Solo“ die spielerische Seite ab. Wie schon bei „Travelogue-twenty to eight“ von 1993 setzt sie sich mit Alltags-Räumen wie der Küche und Requisiten wie Bett, Tisch und Stuhl auseinander. Die Elemente als „Counterpart ihres Innenlebens“ verarbeitete sie diesmal unter dem Motto: „Sasha treibt Unfug oder Paulinchen allein zuhaus“. In nur fünf Tagen improvisierte sie zusammen mit dem Klavierspieler Jochen Sandig diese leichtfüßige und kurzweilige Geschichte. In tragikomischer Stummfilmmanier mit Slapstick- Elementen beschreibt Waltz den Tagesablauf mitsamt Weckerklingeln und gierigem Kellogsfrühstück bis zum Abend. Ihr frischer, selbstironischer Humor und eine fast versehentliche Erotik geben ihr ein einmaliges tänzerisches Profil: Es ist das Solo einer verspielten, trotzig-stampfenden, o- beinig-komischen, unfügsamen Frau. Für diese Vorstellung lohnt es sich, einige unkoordinierte Pausen zu überbrücken, die die Veranstaltung in die Länge ziehen und die bruchstückhafte Zusammensetzung der einzelnen Beiträge verdeutlichte. Tacheles-Gänger werden ohnehin die Rosinen im Kuchen „solo“ genießen, und die, die es werden wollen, sollten es versuchen. Patricia Caspari Bis 8.5., 20.30 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße 54–56, Mitte.
patricia caspari
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Teil einer Rentnerbewegung - taz.de
Teil einer Rentnerbewegung ■ Wie wir unseren sechzigsten Geburtstag feiern könnten, malte sich „Hamburger Schule – Das Klassentreffen“ auf Kampnagel aus An unserem sechzigsten Geburtstag wird es eine große Feier geben. Wir engagieren eine Tanzkapelle, die Hits unserer Vergangenheit spielt: „Die schönste Zeit im Leben ist die Jugend“. Sie werden blaue Sakkos tragen, die toll im Licht der Scheinwerfer glitzern. Niemand wird tanzen, weil wir schon damals nicht getanzt haben. Aber wir werden mitsingen, um kurz darauf der „Autobiographie einer Heizung“ zu lauschen. Und wir werden denken, dass es eine gute Zeit war. Werden wir? Vor diese Frage hat uns Jan Holtmann von der No Room Galery am Samstag auf Kampnagel in seiner Inszenierung „Hamburger Schule - das Klassentreffen“ gestellt. Er ließ die Hanseatic Diamonds, eine Tanzkapelle bestehend aus sechs älteren Herren, Hits von Tocotronic, den Sternen und anderen nachspielen. In diesem als Konzert getarnten Theaterstück konnte sich das Publikum selbst unter Girlanden in dreißig Jahren spielen. Eine seltene, irritierende Gelegenheit. Dabei schien erst alles frei von Verstörung. Das sich jugendlich fühlende Publikum wollte über die älteren lachen und distanziert wie immer bleiben. Es wollte ironisch goutieren, dass auch diese Verdinglichung möglich ist und sie das deshalb nicht anficht. Ebenso wäre umgekehrt zu erwarten gewesen, dass die Diamonds sich über die Stücke lustig machen. Daß sie die intellektuellen Riffs mit spitzen Fingern spielen, um sich dagegen zu schützen, ausgestellt zu werden. Aber die Kapelle war keine Nähmaschine, neben der die Lieder wie Regenschirme liegenblieben. Das Klassentreffen war kein surrealistisches Ereignis. Die Musiker übersetzten die Stücke in das ihnen eigene Idiom. Das Publikum verlor seine Scheu davor, sich von Gitarrensoli und Schlagern unterhalten zu lassen und forderte mehr als eine Zugabe. Die glänzende Inszenierung von Jan Holtman vermied so kunstvoll jede einfache Einordnung. Es ging weder darum, die bittere Wahrheit der Hamburger Schule und ihrer Fans zu zeigen, noch diese besserwisserisch zu kritisieren. Beide Konzepte wären an der dekonstruktiven Ästhetik des Hamburger Pop zerbrochen. Deshalb überbot Holtman diese Ästhetik affirmativ und erzeugte eine Unentscheidbarkeit, die alle Beteiligten ihrer ironischen Distanz beraubte und zur Positionierung herausforderte. Die Band musste die Stücke, das Publikum die Band ernst nehmen. Und beide hatten ihren Spaß. Erst in dieser Verkehrung der Verhältnisse amusierte „Lass uns nicht von Sex reden“ von Blumfeld als expliziter Schlager. Erst so konnten alle „Die schönste Zeit im Leben ist die Jugend“ in einer endlosen Version mitsingen als seien sie auf ihrem sechzigsten Geburtstag. Und erst so zeigte sich, daß niemals wieder eine Tanzkapelle die „Autobiographie einer Heizung“ aufführen würde. Und wir können irritiert denken, dass es eine gute Zeit war. Ole Frahm
Ole Frahm
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Umgang mit der AfD: Unterscheidbarkeit oder Untergang - taz.de
Umgang mit der AfD: Unterscheidbarkeit oder Untergang Der CDU fehlt ein Konzept, wie sie mit der AfD umgehen will. Dafür müssten die Konservativen aber erst einmal definieren, wofür sie genau stehen. Schlecht beraten oder ohne Konzept? CDU-Chef Friedrich Merz wirkt im Umgang mit der AfD planlos Foto: dts/imago Im kommenden Jahr könnte es für die CDU düster aussehen. Nicht nur werden in Brandenburg, Thüringen und Sachsen neue Landtage gewählt, in denen die AfD stärkste Kraft werden könnte. In allen ostdeutschen Bundesländern sind auch Kommunalwahlen – weitere Bürgermeisterposten und Landratsämter könnten an die radikal rechte Partei fallen. Es dürfte auch dieses Szenario sein, das CDU-Chef Friedrich Merz zu seinem Versuch brachte, das Verbot der Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene im ZDF-Sommerinterview zu kassieren. Das ist bekanntlich schiefgelaufen. Die Kritik, vor allem auch aus der eigenen Partei, war groß, Merz musste eine Rolle rückwärts machen und behauptete dreist, er habe nicht gesagt, was er gesagt hatte. Was die Empörung eher vergrößerte. Man kann nun von einem neuen Kommunikationsdesaster sprechen – Merz’ Beschreibung der CDU als „Alternative für Deutschland mit Substanz“ war noch nicht lange her, ebenso wenig, dass er die Grünen, mit denen die CDU in sechs Ländern regiert, zum „Hauptgegner“ ausrief. Man kann auch von einem strategischen Fehltritt reden, weil Merz die Aufweichung des Zusammenarbeitsverbots in einem Interview rausgehauen hat, ohne seine Partei darauf vorzubereiten. Aber das Problem ist größer als ein eigenmächtig agierender und schlecht beratener Friedrich Merz, der einen Fehler nicht zugeben kann: Der CDU fehlt ein Konzept, wie sie mit der AfD umgehen will. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass der Partei noch immer eine inhaltliche Selbstvergewisserung fehlt. Die CDU weiß nicht, wofür sie steht. Sie kritisiert die Ampel – etwa beim Heizungsgesetz – schrill, kann aber keine eigenen Lösungsvorschläge vorweisen. Dass ihre Zustimmungswerte stagnieren, die AfD aber zulegt, macht sie noch nervöser. Finger weg von einfachen Lösungen Die CDU braucht dringend eigene Antworten. Die können durchaus konservativ ausfallen, auch in den Themenfeldern innerer Sicherheit oder Migration – solange sie lösungsorientiert, sachlich durchdacht und am Grundgesetz ausgerichtet sind. Von einem populistischen Wettbewerb mit der AfD samt der Suche nach Sündenböcken und vermeintlich einfachen ­Lösungen sollte die CDU die Finger lassen. Denn das würde am Ende nur bei den extrem Rechten einzahlen. Solch konservative Positionierungen können und müssen Linke und Linksliberale kritisieren und für die eigenen Vorschläge werben. Der Vorwurf an die CDU, das Geschäft der AfD zu betreiben, sollte dabei sorgsam geprüft und präzise verwendet werden. Wenn Parteien sich unterscheiden und es auch für demokratische Rechte eine politische Heimat gibt, ist das gut für die Demokratie. Für die CDU ist das manchmal eine nicht ganz einfache Gratwanderung. Auch deshalb muss die Abgrenzung zur AfD stehen, auch und gerade in den Kommunen. Je stärker aber die AfD wird, desto komplizierter wird es; Bürgermeister und Landräte lassen sich nicht einfach ignorieren. Und wer ohnehin mit einer Zusammenarbeit mit der extrem rechten Partei liebäugelt, und davon gibt es gerade in der ostdeutschen CDU einige, wird seine Annäherung als pragmatische Arbeit verkaufen. Aus der Berliner CDU-Zentrale ist das schwer zu verhindern, obwohl seit 2018 ein Parteitagsbeschluss die Zusammenarbeit mit AfD wie Linkspartei untersagt. Der CDU-Chef weiß das. Seine Vorvorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte mit dem gescheiterten Versuch, die Thüringer Landtagsfraktion nach der Wahl des Ministerpräsidenten auch mit Stimmen der AfD zur Besinnung zu bringen, ihre Autorität verspielt. Merz hat wohl auch deshalb versucht, das Zusammenarbeitsverbot auf der kommunalen Ebene wegzudefinieren. Auch wenn er es inzwischen anders darstellt: Erweckt wurde der Anschein, dass er seinen Segen für die Zusammenarbeit mit der AfD im Lokalen gibt. Damit hat er auch die Kom­mu­nal­po­li­ti­ker*in­nen geschwächt, die sich vor Ort tagtäglich Anfeindungen entgegenstellen. Das Gegenteil wäre richtig und notwendig. Die CDU braucht dringend eigene Antworten. Die können durchaus konservativ ausfallen, auch bei Sicherheit und Migration Erforderlich ist zudem eine Verständigung innerhalb der CDU darüber, was vor Ort sinnvoll ist. Zum Beispiel: auch bei scheinbar unverfänglichen AfD-Vorstößen wie dem derzeit viel zitierten Kitaausbau eine Mehrheit unter den demokratischen Parteien zu suchen; sich bei eigenen Anträgen und Personalvorschlägen nicht von den Stimmen der AfD abhängig zu machen; und nichts zu tun, was die Agenda der extrem rechten Partei stärkt. Das sind einige der Ratschläge von Ex­pert*in­nen. Wird die Abgrenzung im Kommunalen aufgeweicht, wird sie auch auf den anderen Ebenen fallen. Nicht nächstes oder übernächstes Jahr. Aber mittelfristig. Das darf nicht passieren.
Sabine am Orde
Der CDU fehlt ein Konzept, wie sie mit der AfD umgehen will. Dafür müssten die Konservativen aber erst einmal definieren, wofür sie genau stehen.
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Literaturfestival in Cottbus: Mit dem guten Buch in den Park - taz.de
Literaturfestival in Cottbus: Mit dem guten Buch in den Park Bei „Literatur auf der Parkbank“ wird natürlich gelesen. Vor allem aber ist das Festival ein Gesprächsangebot für ein buntes Brandenburg. Das Buch ist ein Gesprächs­angebot und hat überall seinen guten Platz Illustration: Jeong Hwa Min COTTBUS taz | Der Goethe-Park ist im Vergleich mit anderen wie dem Fürst-Pückler-Park Branitz vielleicht nicht der schönste Park in Cottbus. Aber an diesem sonnigen Sonntag ist er der spannendste. Es ist wieder „Literatur auf der Parkbank“, das kleine Festival, das 2019 im Berliner Tiergarten startete und dann nach Cottbus im Osten Brandenburgs, knapp 50 Kilometer entfernt von der Grenze zu Polen, umzog. Gleich am Eingang des Parks sind die leuchtend roten Sonnenschirme zu sehen. Sie zeigen die Bänke mit den kleinen Stuhlgruppen für die Zuhörenden an, wo die 30 Au­to­r*in­nen auf 30 Parkbänken aus ihren Werken lesen – bei freiem Eintritt und zeitgleich, über vier Stunden und in selbst gesteckten Slots. Schon nach wenigen Minuten wird klar, was dieses Festival ausmacht. Unter den Be­su­che­r*in­nen sind – anders als bei den Lesenden – keine zu finden, die aus einer anderen Stadt angereist wären. Hier wird nicht wie bei großen Festivals um Tou­ris­t*in­nen geworben, sondern um jene, die hier leben. Um ins Gespräch zu kommen Gefördert wurde das Festival von Institutionen des Bundes, organisiert in Zusammenarbeit mit Institutionen der Stadt wie dem Landesmuseum für Moderne. Das Ziel liegt auf der Hand: Cottbus hat noch immer eine starke, gut vernetzte rechtsextreme Szene. Es gibt aber auch ein anderes, ein buntes Cottbus, das mit diesem Festival mobilisiert und ins Gespräch verwickelt werden soll. Schon beim ersten Sonnenschirm wird klar: Das ist gelungen. Hier ist tatsächlich ein Mix aus jungen Leuten um die Zwanzig, Eltern mit Kinderwagen und Menschen über 60 unterwegs, manche bleiben auch mal durch Zufall an einer der Bänke hängen. Vor allem aber ist an vielen der Leseorte die Lesung nur halb so wichtig wie das Gespräch, das sich dabei entspinnt. An der Bank von taz-Kollege Daniel Schulz zum Beispiel, der aus seinem 2022 erschienen Roman „Wir waren wie Brüder“ liest, bleiben mal zehn, mal fünfzehn Leute hängen. Es geht ums Aufwachsen eines Jungen auf dem Land im Osten Deutschlands, in den Jahren nach der Wende, geprägt von Rassismus und Gewalt. In den Gesprächen dazwischen herrscht großes Mitteilungsbedürfnis. Eine Frau in den Zwanzigern berichtet, sie sei in einer Kleinstadt in Sachsen aufgewachsen, und da sei es vor zehn Jahren noch genauso zugegangen wie in Schulz’ Roman. Von 100 Kindern 15 Nazis und 15 Linke, der Rest dazwischen auf der Seite der Nazis. „Die Drohung, verprügelt zu werden, war immer und überall“, sagt sie – und es entspinnt sich ein interessantes Gespräch darüber, ob junge Frauen dem nun mehr oder weniger ausgesetzt sind als junge Männer. Marienkäfer im Buch Die Linden duften, die Amseln singen, viele haben sich die Sandalen ausgezogen, beobachten zwischendurch die Eichhörnchen in den Baumkronen oder schnippen einen Marienkäfer aus ihrem Buch. Die Idee des Festivals, in entspannter Atmosphäre Literatur zu hören und darüber zu sprechen und die gute alte andachtsvolle Autor*innen-Lesung für alle zu öffnen, funktioniert auch dort, wo es nicht so direkt politisch zugeht. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Turgut Altuğ, im Berliner Abgeordnetenhaus Sprecher der Grünen für Naturschutz, liest aus seinem Fa­mi­lien­roman „Das verlorene andalusische Lied“ und findet seine Cottbuser Zu­hö­re­r*in­nen genauso wie Zaia Alexander, die aus ihrem modernen Hexenroman „Erdbebenwetter“ liest, der in ihrer Heimatstadt Los Angeles spielt und beiläufig um die Frage kreist, ob Herkunft überhaupt so wichtig ist. Unterschiedliche Echoräume Woanders geht es dann wieder kontroverser zu. Etwa dort, wo die Berliner Autorin und Fotografin Sarah Berger mit viel Verve aus ihrem 2020 erschienenen Buch „Sex und Perspektive“ liest. Um erlernte Geschlechtergrenzen geht es darin, um den Wunsch, aus diesen auszubrechen, um Gespräche mit alleinerziehenden Müttern in der Care-Mühle und um Frauenärztinnen, die ihrer Patien­tin den Wunsch abschlagen, sich die Gebärmutter entfernen zu lassen. Zur offensichtlichen Überraschung der Autorin reagieren die grauhaarigen Frauen in der ersten Reihe, die sich als Cottbuser Sozialarbeiterinnen im Ruhestand vorstellen, mit Zustimmung. Sie gratulieren Berger zu ihrem Mut, zu ihrer Wut. Die angeblich bessere Stellung der Frau in der DDR? „Von wegen“, sagt die eine. „Ich habe eben nach der Arbeit Kinder und Haushalt gemacht.“ Kinder kriegen? „Ich verstehe nicht, warum wir so viele Kinder brauchen“, sagt die andere. „Seit meiner Geburt hat sich die Weltbevölkerung verdreifacht.“ „Ich mag Menschen, die nicht nur in den eigenen Echoräumen unterwegs sind“, sagt der Erfinder des Festivals Eckhard Hündgen. 3.500 davon hat er mit der „Literatur auf der Parkbank“ in Cottbus erreicht.
Susanne Messmer
Bei „Literatur auf der Parkbank“ wird natürlich gelesen. Vor allem aber ist das Festival ein Gesprächsangebot für ein buntes Brandenburg.
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Zweifel an der Wildlife-Fotografie: Bildschöne Trophäen für die Kamera - taz.de
Zweifel an der Wildlife-Fotografie: Bildschöne Trophäen für die Kamera Vincent Muniers Film „Der Schneeleopard“ hat einen César für den besten Dokumentarfilm erhalten. Aber er kreist sehr um seine Macher. Am Ende taucht der Schnee­leopard wirklich auf Foto: MFA+ Der preisgekrönte Wildlife-Fotograf Vincent Munier macht sehr schöne Bilder von Tieren. Dafür ist er in allen möglichen, auch entlegenen Weltgegenden unterwegs. Gemeinsam mit der Regisseurin Marie Amiguet hat er einen – mit dem César nun ebenfalls preisgekrönten – Film über eine Tibet-Reise gedreht, auf der unter anderem der sehr scheue und seltene Schneeleopard bildlich festgehalten werden sollte. Mit ins Boot nahm er den Reiseschriftsteller Sylvain Tesson, wohl um die reflektorische Tiefe des filmischen Unternehmens zu verstärken. Diese Absicht ist dem fertigen Produkt deutlich eingeschrieben, und auch deshalb ist der Film eben kein großartiges Kunstwerk geworden – trotz vieler atemberaubender Bilder, kunstvoller Montage und der Musik von Warren Ellis. Ellis, langjähriger Weggefährte von Nick Cave (der groß auf dem Filmplakat steht, tatsächlich aber nur einen Song eingesungen hat), legt seine atmosphärischen, quasi subkutan pulsierenden Klangspuren so über die Landschaft, dass man deutlich zu spüren meint, wie sich hinter der Welt, die das Auge sieht, noch eine andere regt. Das wertet das Ganze enorm auf. Ohne Ellis’ Musik wäre Muniers Film wenig mehr als schöne Oberfläche, auf der zudem gefühlt mindestens die Hälfte der Zeit weder Tiere noch Landschaft zu sehen sind, sondern stattdessen ein Fotograf und ein Autor mit Kamera und Notizbuch an Berghängen hocken und, wie Tesson es im Off-Kommentar nennt, „lauern“. Die Dialoge, die sie dabei führen und die zum größten Teil vom Fotografen bestritten werden, drehen sich um die Herausforderungen der Wildtierfotografie, also um den Fotografen selbst. Wer trägt das Zelt, wer die Stative? Die narrativen Off-Texte, die der Autor für die Passagen dazwischen eingesprochen hat, handeln wiederum von diesem selbst und davon, wie er, der ewig Rastlose, durch den Fotografen, jenen unendlich geduldigen Naturbeobachter, auf dieser Reise zu echter Ruhe gefunden habe. (Tesson hat seine Eindrücke auch in einem Buch verarbeitet, das zu einem Bestseller wurde.) Von Tieren ist durchaus auch die Rede, aber ausschließlich im Zusammenhang mit der Ab- beziehungsweise Aussicht, sie vor die Linse zu bekommen. Sie sind Nebenfiguren, visuelle Trophäen für Muniers Bildersammlung. Zunächst sind die beiden Männer mit Rucksäcken unterwegs: Sie suchen einen Übernachtungsplatz in den Bergen, um anderntags das frühe ­Morgenlicht einfangen zu können. Es wirkt heldenhaft, wie Munier das Stativ mit dem Riesenzoom durch die Gegend schleppt. Man fragt sich erst nur flüchtig, wer eigentlich das Zelt trägt, die Filmkamera führt und für den hervorragenden Ton sorgt, aber irgendwann beginnt man sich ernsthaft zu wundern, dass plötzlich der eine Mann andere Stiefel und der zweite eine neue Jacke trägt. So viel Gepäck schleppen sie doch wohl nicht mit? Erst gegen Ende des Films wird offenbar, dass die Crew stationär auf einem Hof irgendwo im tibetischen Hochland wohnt. Die Landschaft ist in Wirklichkeit also auch nicht menschenleer, wie man vorher hätte glauben können. Kinder kommen ins Bild, posieren vor der Kamera, befingern neugierig die Hightech-Ausrüstung, und Tesson fertigt in seinem ­Notizbuch eine lustige Zeichnung an, wie alle zusammen auf einem Berg sitzen. Kurz­zeitig wird, das ist schön, der reale­ Kontext der ­filmischen Unternehmung deutlicher, wird auch die permanente geografische Nachbarschaft von Menschen und wild lebenden Tieren spürbar, wenn auch nur flüchtig. Der Rest der Filmcrew aber ist nie zu sehen. Spoiler: Als Krönung des Ganzen wird am Ende tat­sächlich ein Schneeleopard gefilmt – oder ist es eine Leopardin? Das Tier, das so erstaunlich nah am Schlafplatz der Menschen ein Tier gerissen haben soll und das, nachdem es satt ist, über die Bergflanke von dannen zieht, wirkt auffällig üppig um die Leibesmitte. Hat es etwa zu viel gefressen, oder handelt es sich um ein trächtiges Weibchen? Der Film„Der Schneeleopard“. Regie: Marie Amiguet, Vincent Munier. Frankreich 2021, 92 Min. Unklar; denn weder Erscheinung noch Verhalten des Tiers werden weitergehend kommentiert. Das würde thematisch auch zu weit führen, denn dieser Film handelt schließlich nicht vom Leben des Schneeleoparden an sich, sondern vielmehr davon, wie einmal ein französischer Fotograf auszog, um ihn zu filmen. Die programmatische Abwesenheit eines tieferen Interesses am abgelichteten Lebewesen aber macht diesen Film in erster Linie zu einem Hochglanzdokument der Eitelkeit seines Urhebers. Wobei eigentlich ja überhaupt nichts verkehrt ist an einem ästhetisch orientierten Blick auf die Natur. Aber wie schade, wenn dahinter nicht mehr kommt als nur das nächste schöne Bild.
Katharina Granzin
Vincent Muniers Film „Der Schneeleopard“ hat einen César für den besten Dokumentarfilm erhalten. Aber er kreist sehr um seine Macher.
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Ist „Germany’s Next Topmodel“ frauenfeindlich? - taz.de
Ist „Germany’s Next Topmodel“ frauenfeindlich? WETTBEWERB Am Donnerstag kürt Heidi Klum auf ProSieben eine strahlende Siegerin – und schafft reihenweise weinende Verliererinnen: alle, die nicht der DIN-Norm entsprechen Ja Roger Willemsen, Jahrgang 1955, ist Publizist Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernanten-Profil bringt kleine Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über „Persönlichkeit“ redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft. Der Exzess der Nichtigkeit aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nazionale mit Knallchargen-Pathos und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre gestrenge „Entscheidung“ mitteilt, und wertes von unwertem Leben scheidet. Da möchte man dann elegant und stilsicher, wie der Dichter sagt, sechs Sorten Scheiße aus ihr rausprügeln – wenn es bloß nicht so frauenfeindlich wäre. Sibylle Plogstedt, Jahrgang 1945, ist Feministin Petra hat noch keine Erfahrung als Model. Schön sein, erfolgreich, cool. Millionen schauen zu, wenn sie sich den Traum erfüllt, den Heidi Klum ihr nahe legt: einmal in Rosen zu baden. Nackt natürlich. Wow, was für eine Erfüllung, wenn Heidi Klum ihr die Rosenblätter an die Brust heftet. Ein lesbisches Eroticum. Doch mit der Ausscheidung wird Heidi Klum zur Domina. I never promised you a rose garden! Strenge. Kälte. Wer fällt raus? Die Blonde mit dem verheulten Blick. Natürlich. Schwäche unterliegt, Angst auch. Weinen. Und dann Umarmen. Ja, wenigstens noch in die Arme genommen werden von Heidi Klum. Die sagt: Du brauchst halt noch zwei Jahre. Wozu? Noch zwei Jahre, bis sie zum Allerweltsmodel abgerichtet ist. Angepasst an den männlichen Blick. So will ich Frauen nicht. Wanda Winkler, Jahrgang 1993, ist Schülerin und Zuschauerin Wir fühlen uns gut, wenn wir makellose Mädchen verurteilen dürfen. Schließlich darf Heidi Klum das auch. So macht dann die Jury die Mädchen runter, dass sie zu klein, zu dick oder zu emotionslos seien – eine Jury, die hauptsächlich aus Männern besteht und genau diese Eigenschaften repräsentiert. Ja, diese Sendung ist frauenfeindlich. Aber schlimmer ist, dass die Kandidatinnen nur unter Kamerabeobachtung telefonieren dürfen – und jeder darf sie beurteilen. Erniedrigend. Nein Oswalt Kolle, Jahrgang 1928, ist Sexpapst Warum soll das frauenfeindlich sein? Die Mädels gehen da ja freiwillig hin. Nach diesen Maßstäben wäre „DSDS“ auch männerfeindlich, da hat ja jetzt ein Mann gewonnen. Ich habe immer dafür gekämpft, dass der Mensch seine freie Entscheidung fällt. Und wenn sich die Geschlechter exhibitionieren wollen, dann kann man das doch nicht abstellen. Heidi Klum ist eine nette, fortschrittliche Frau, die etwas aus ihrem Leben macht. Sie hat nichts Böses getan. Also, was soll die Aufregung? Dolly Buster, Jahrgang 1969, ist Pornokönigin „Germany’s Next Topmodel“ ist genauso wenig frauenfeindlich, wie eine Mister-Universum-Wahl nicht männerfeindlich ist. Da die Kriterien für den Erfolg eines Topmodels fast ausschließlich vom Äußeren abhängig sind, ist es nicht nur angemessen, sondern auch erforderlich, dass sich Kritik und Bewertungen der Jury auf diesem Gebiet bewegen. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Leistungsanforderungen dieser Show vollkommen übertrieben und lächerlich wirken. Übrigens ist auch bei dieser Staffel nicht zu erwarten, dass die Gewinnerin ein echtes, weltweit gebuchtes Topmodel wird, sondern genauso wie die Gewinnerinnen der vergangenen Staffeln nur ein mäßig gebuchtes Fotomodell, das in der Anfangszeit ab und an über einen roten Teppich laufen darf. „Sunny“ ist alt genug und beantwortete die sonntaz-Streitfrage anonym auf taz.de Es ist doch nicht so wichtig, was Heidi Klum zu den Kandidatinnen sagt oder nicht sagt, es ist viel wichtiger, dass die jungen Zuschauerinnen mitbekommen, an welchen Kriterien die Kandidatinnen gemessen werden. Heidi Klum macht ja auch meist klar, dass man an sich arbeiten kann. Auftreten, Erscheinung, Selbstdarstellung, das sind alles Faktoren, die nicht selbstverständlich in die Wiege gelegt werden, sondern angenommen, trainiert – teils sogar ganz einfach aufgemalt werden können. Und der Pur- und Natur-Fan-Gemeinde kann man in diesem Fall nur sagen: Es wird natürlich immer auch Leute geben, die sich auf keinen Fall formen wollen. Und die werden dann natürlich nie eine Bikinifigur haben. Wem es denn gefällt.
Roger Willemsen / Sibylle Plogstedt / Wanda Winkler / Oswalt Kolle / Dolly Buster / "Sunny"
WETTBEWERB Am Donnerstag kürt Heidi Klum auf ProSieben eine strahlende Siegerin – und schafft reihenweise weinende Verliererinnen: alle, die nicht der DIN-Norm entsprechen
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Vielleicht die SPD … - taz.de
Vielleicht die SPD … MIGRANTINNEN Über sie wird viel spekuliert. Wir haben einige MigrantInnen persönlich gefragt, wie sie die Wahl in Deutschland sehen. Sie sind eingebürgert oder nicht, sie wählen oder nicht. Sie kommen aus Korea, aus Dänemark, aus Peru, aus der Türkei und aus Polen. Sie haben eins gemeinsam: Das Soziale ist ihnen wichtig „In Deutschland merkt man gar nicht, dass Wahlkampf ist“, sagt Ji Hyun Kwon aus Südkorea. Dort bezahlen Politiker in Wahlkampfzeiten Menschen dafür, dass sie mit Plakaten und Megafonen durch die Straßen ziehen. „Dabei tanzen und singen sie“, erzählt die 32-Jährige, die seit fast drei Jahren in Deutschland ist und in Berlin-Steglitz wohnt. In Deutschland müsse man den Fernseher anmachen, um etwas vom Wahlkampf mitzubekommen. Auf die Wahlplakate in den Straßen angesprochen, sagt die freie Fotografin und Videokünstlerin mit einem schelmischen Grinsen: „Die Fotos sind echt schlecht.“ Gut findet sie dafür Angela Merkel. Sie sei zwar „in einer komischen konservativen Partei – aber die Person ist wichtiger als die Partei.“ Wenn sie wahlberechtigt wäre, würde Kwon trotzdem die SPD wählen. Obwohl sie den Spitzenkandidaten ablehnt: „Ich mag Steinbrück nicht“, sagt sie. Er sei zwar clever, sehr diplomatisch und exakt, aber eben ein typischer Politiker. „Überhaupt ist die Politik in Deutschland sehr deutsch“, sagt sie. „Manchmal wären die Dinge einfacher, wenn die Politiker flexibler wären“, sagt sie und muss über die höfliche Verpackung ihrer Kritik lachen. Auch das Wahlrecht könnte flexibler sein. Jetzt sei ihr Deutsch noch nicht so gut, und sie findet es in Ordnung, dass sie noch nicht wählen kann. Kwon schlägt vor, dass Migranten wählen dürfen, wenn sie zehn Jahre in Deutschland gelebt haben. Nach so langer Zeit wüssten die Menschen gut genug über Politik Bescheid. ALEXANDER KOHN „Der Zweite Weltkrieg wird auch im Wahlkampf immer wieder erwähnt“, sagt Julie Andersen aus Dänemark. Für sie als Geschichtsstudentin sei es spannend zu sehen, dass Angela Merkel vor Kurzem das KZ in Dachau besucht hat. Die Kanzlerin wisse, dass das die Deutschen immer noch beschäftigt. „Ich finde, sie kann das politische Spiel ganz gut“, sagt die Studentin, die seit einem Jahr in Berlin einen Masterstudiengang absolviert. Zu Merkels Herausforderer fällt der 26-Jährigen spontan ein, dass Steinbrück „ein bisschen langweilig“ aussieht. Er habe im Wahlkampf schon ein paar Fehler gemacht. „Das mit dem Wein, und dass er dann auch noch einen höheren Lohn für den Kanzler gefordert hat, das kam einfach doof rüber“, sagt sie und rollt mit den Augen. „Der Wahlkampf dauert in Deutschland länger als in Dänemark“, sagt sie. Ob er aber inhaltlicher oder boulevardesker geführt wird als in Dänemark, könne sie nicht beurteilen. „Das kommt darauf an, welche Zeitung man liest oder welchen Sender man guckt“, sagt die junge Frau. Es mache ihr Spaß, den Wahlkampf zu verfolgen, denn dabei könne sie sehen, welche Partei für welche Inhalte steht. So lerne sie das Land besser kennen. Was sie am meisten überrascht hat, war, „dass Merkel Plakate drucken kann, auf denen ihr Name gar nicht steht, sondern nur ihr Gesicht zu sehen ist“. Man dürfe nicht vergessen, dass sie schon viel geleistet habe. Aber wenn Andersen wählen dürfte, würde sie trotzdem der SPD ihre Stimme geben, „weil sie für einen Mindestlohn und die Rechte der Armen kämpfen“. Das sei wichtig, damit alle ein „Sicherheitsnetz“ haben, sagt sie. Die Kanzlerin kümmere sich darum nicht genug, findet Andersen. Noch mehr ärgert es sie, dass sie als Dänin bei der Bundestagswahl nicht wählen darf. Sie wohne nun in Deutschland und wolle die Gesellschaft nicht nur vor dem Hintergrund der Geschichte verstehen. „Ich will aktiv daran teilnehmen“, fordert sie. ALEXANDER KOHN Papo Yoplack, 51, ist schnell beim Du, besonders wenn man ihn auf Spanisch anspricht. Aber auch sein Deutsch ist fließend. Yoplack ist in Peru geboren und lebt seit 21 Jahren in Deutschland. In Peru kämpften damals die Guerilleros vom „Leuchtenden Pfad“ um die Macht, in Deutschland saß Helmut Kohl auf selbiger. Zuerst hat Yoplack Volkswirtschaft in Heidelberg studiert, dann zog er mit seiner deutschen Ehefrau nach Berlin. Seit Kurzem arbeitet er als DJ und selbstständiger Eventmanager. Jetzt sitzt er in einem Restaurant am Görlitzer Park und kämpft mit einer Wespe um seine Apfelschorle. Hier organisiert er seit einigen Jahren jede Woche einen Stammtisch, bei dem Spanisch gesprochen wird. Nicht nur Muttersprachler sind hier willkommen. An Deutschland mag er nicht, dass alles so streng geregelt ist, zum Beispiel die vielen Parkverbote. Diese geben ihm manchmal das Gefühl, dass der Einzelne kaum Freiheiten hat. Yoplack hat den Kampf gegen die Wespe gewonnen, seine Apfelschorle ist leer. Bei der Bundestagswahl ist ihm soziale Gerechtigkeit besonders wichtig, vor allem ein flächendeckender Mindestlohn. Proteste gegen Stuttgart 21 oder die auf dem Taksimplatz machen ihm deutlich, dass sich die Politik vom Bürger entfernt hat. Aber diese Proteste machen ihm auch Mut: Sie zeigen ihm, dass die BürgerInnen die Macht haben sich zusammenzuschließen, um die Dinge gemeinsam zu verändern. „Ich bin überzeugt, dass wir in eine Epoche der Veränderung eintreten“, sagt er. Das zeige sich in Deutschland zum Beispiel durch die Gründung der Piratenpartei. „Die haben tolle neue Ideen, zum Beispiel die direkte Beteiligung der Bürger.“ Trotzdem will er am Sonntag seine Stimme entweder der SPD oder der Linkspartei geben. „Die Piratenpartei ist im Moment noch sehr chaotisch“, lacht er. Wenn man den Umfragen zur Bundestagswahl glaubt, muss sich Papo Yoplack mit dem Wandel wohl noch ein wenig gedulden. MORITZ LEHMANN Ümit Baba, 33, sitzt hinter seinem Schreibtisch im Büro der Alevitischen Gemeinde zu Berlin. Der Vizevorsitzende des Glaubenvereins ist in Deutschland geboren und seit einem Jahr wahlberechtigt. An die politische Lage in Deutschland geht er mit gemischten Gefühlen heran. Es gebe keine Partei, „die wirklich das macht, was man von ihr erwartet“. Das spiegele sich aktuell auch im Wahlkampf wider, „die Parteien haben von allem was dabei“, da könne man keine klare Linie finden. Für den jungen Aleviten stehen Themen wie Bildung und Erziehung im Mittelpunkt. „Alles, was mich und meine Familie betrifft.“ So auch die doppelte Staatsbürgerschaft oder die Berliner Mieten. Es wird dieses Jahr Ümit Babas erster Gang zur Urne sein. „Ich lebe hier seit 33 Jahren und habe immer das Bedürfnis gehabt, wählen zu gehen.“ Die Zufriedenheit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Aus familiärer Tradition stünde seine Wahl schon fest: SPD. „Das Wichtigste für mich ist: zu partizipieren.“ Gleichzeitig fühle er sich vom Verhalten der Politiker vorgeführt. Erst wenn es auf die Wahlen zugehe, seien überhaupt Bemühungen spürbar. „Das ist einfach nicht vertrauenswürdig“, sagt er seufzend. Ein Punkt, der dem Deutschtürken außerdem missfällt, ist das Betreuungsgeld. Er sei total dagegen, dass man sein Kind zu Hause behalten und dafür auch noch Geld kassieren könne. „Es ist wichtig“, fügt er an, „dass vor allem in Deutschland lebende Migranten die hiesige Erziehung genießen und die deutsche Sprache lernen“. Auf die König-Frage bringt Baba seinen Missmut über radikale Gruppen zum Ausdruck. Das Wort „NSU“ fällt. „Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich definitiv Rechts- sowie Linksradikale abschaffen und für mehr Transparenz sorgen.“ Die NSU-Geschichte habe für einen großen Vertrauensbruch zwischen Regierung und in Deutschland lebenden Türken gesorgt. „Das muss erst mal wieder aufgearbeitet werden.“ PAUL TAYLAN KILIC Verglichen mit der Art und Weise, wie Politik in Polen gemacht wird, ist der deutsche Wahlkampf langweilig – und das ist gut so. So sieht es Marcin Piekoszewski (39), der seit acht Jahren in Deutschland lebt. Für ihn ist es ein Zeichen von Professionalität, wenn Politik nicht auf emotionaler, sondern auf inhaltlicher Ebene debattiert wird. „Hier geht es um Wirtschaft, um Gesellschaft. In Polen wird seit zwei Jahren über den Flugzeugabsturz in Smolensk und die Rolle der Russen diskutiert. Aber das betrifft nicht das Leben der Menschen“, erklärt der Besitzer einer deutsch-polnischen Buchhandlung. Inhaltlich hätten viele polnische Politiker wenig zu sagen. Piekoszewski ist kein deutscher Staatsbürger. Das Wahlrecht ist für ihn der einzige Grund, warum er sich einbürgern lassen will. „Ich habe hier meine Buchhandlung und meine Familie, dafür brauche ich das nicht. Aber ich will mitentscheiden“, erklärt er. Piekoszewski sieht sich selbst als Linken. Zur SPD kann er sich jedoch nicht vollständig bekennen. Dafür stört ihn zu viel an der Außenpolitik, die die Partei in den letzten Jahren vertreten hat. Der Schulterschluss von Kanzler Gerhard Schröder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin von 2005 bei der Verlegung der Gaspipeline hat in seinen Augen polnische und somit europäische Interessen übergangen. Für Piekoszewski setzt SPD-Spitzenkandidat Steinbrück den Stil Schröders fort – nicht nur politisch. „Zigarren, teure Weine; die beiden sind sich sehr ähnlich. Und Willy Brandt ist leider schon Geschichte.“ DINAH RIESE
ALEXANDER KOHN / MORITZ LEHMANN / PAUL TAYLAN KILIC / DINAH RIESE
MIGRANTINNEN Über sie wird viel spekuliert. Wir haben einige MigrantInnen persönlich gefragt, wie sie die Wahl in Deutschland sehen. Sie sind eingebürgert oder nicht, sie wählen oder nicht. Sie kommen aus Korea, aus Dänemark, aus Peru, aus der Türkei und aus Polen. Sie haben eins gemeinsam: Das Soziale ist ihnen wichtig
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Absicherung im Alter: Altersarmut eher im Westen - taz.de
Absicherung im Alter: Altersarmut eher im Westen Der Alterssicherungsbericht ergibt: Die Unterschiede zwischen Einkommen im Ruhestand sind groß, besonders bei den Selbstständigen. Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Ehepaaren im Alter ab 65 Jahren betrage monatlich 2.907 Euro Foto: Imago BERLIN taz | Die Einkommen im Alter haben sich in den vergangenen Jahren positiv entwickelt – im Durchschnitt gesehen. Die Unterschiede in der finanziellen Situation von BeamtInnen, Selbstständigen, West- und Ostdeutschen, Frauen und Männern sind aber groß. Dies geht aus dem noch unveröffentlichten Alterssicherungsbericht der Bundesregierung hervor, der der taz vorliegt. Laut Bericht war die Entwicklung der Alters­einkommen in den vergangenen Jahren „ingesamt günstig“. Die Haushaltseinkommen der Menschen im Alter ab 65 Jahren sind von 2015 bis 2019 um 14 Prozent gestiegen. Da die Preise für die Lebenshaltung im gleichen Zeitraum nur um 5,3 Prozent gestiegen seien, zeige sich hier „ein deutlicher realer Einkommenszuwachs“, der in etwa dem Einkommenszuwachs in der Gesamtbevölkerung entspreche, so der Bericht. Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Ehepaaren im Alter ab 65 Jahren betrage monatlich 2.907 Euro, das von alleinstehenden Männern 1.816 Euro und das von alleinstehenden Frauen 1.607 Euro. Dahinter verbergen sich aber große Unterschiede. So haben pensionierte BeamtInnen ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von 2.755 Euro, ehemalige Arbeiter und Angestellte eines von 1.492 Euro und ehemals Selbstständige eines von 1.591 Euro zur Verfügung. Unter den Selbstständigen gibt es die Glücklichen, die etwa als ÄrztInnen, RechtsanwältInnen oder Angehörige anderer Kammerberufe im Alter 3.108 Euro netto haben, oder ebenjene 26 Prozent der alten Selbstständigen, die mit weniger als 950 Euro im Monat auskommen müssen. Im Westen mehr Reiche und Arme Im Westen gibt es mehr gut betuchte RuheständlerInnen als im Osten, aber auch prozentual mehr Arme. Unter den älteren Singles etwa müssen im Westen 6 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen mit einem monatlichen Netto von unter 750 Euro auskommen, im Osten liegen die Vergleichswerte nur bei 4 beziehungsweise 2 Prozent. An Rente aus eigener Altersvorsorge verfügen die Westfrauen nur über 917 Euro im Monat, die Geschlechtsgenossinnen im Osten hingegen über 1.164 Euro. In Gesamtdeutschland sind nach wie vor 3 Prozent der Alten EmpfängerInnen von Grundsicherung, im Osten hingegen nur 1 Prozent. Vermögen machen oft den Unterschied für die Wohlhabenden: Ehepaare im Westen erhalten im Monat im Schnitt 265 Euro Zinseinkünfte, im Osten sind dies nur 125 Euro. 18 Prozent der RentnerInnen erzielen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. In der Zukunftsprognose kommt der Bericht zu dem Schluss, dass sich das Netto-Gesamtversorgungsniveau für künftige Rentenneuzugänge „günstig“ entwickeln werde. Geringverdiener profitierten künftig „von der Einführung der Grundrente ab dem Jahr 2021“, heißt es. Allerdings gehen die AutorInnen des Berichts dabei davon aus, dass die Erwerbstätigen von heute „zusätzliche private Altersvorsorge“ betreiben.
Barbara Dribbusch
Der Alterssicherungsbericht ergibt: Die Unterschiede zwischen Einkommen im Ruhestand sind groß, besonders bei den Selbstständigen.
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Armer schwarzer Panther - taz.de
Armer schwarzer Panther Die Finanzierungsfrage der Museumspädagogik wird zwischen Kultur- und Bildungssenator hin- und hergeschoben. Vom Arbeitsamt finanzierten Pädagogen ist die 25-jährige Vermittlungsarbeit in der Kunsthalle zu verdanken Mitleidig und ergriffen fragt sich eine Gruppe von Kindern, welcher gemeine Schuft wohl Franz Marcs „Reh im Blumengarten“ die blutigen Wunden zugefügt hat. Mit ungläubigem Staunen hören sie, dass van Goghs „Mohnblumenfeld“ mehr kostet als fünf Häuser und noch 100 Autos dazu, obwohl das Bild wild und ungenau gemalt ist. „Er war einer der ersten, der malte, was er fühlte“, vermittelt die Museumspädagogin und ermutigt im Werkstattraum, die Farbkreiden übers Papier wirbeln zu lassen. „Was wir nicht zu denken wagten, sprechen Kinder aus“, freut sich Arie Hartog vom Gerhard Marcks-Haus. Der Kunsthistoriker führt den Nachwuchs regelmäßig durch das Haus. Kinder reagieren „subjektiv und impulsiv“, da kann man für die Konzeption einer Ausstellung viel lernen, sagt er. Doch diese Haltung ist unter seinen Kollegen eher selten. Es sei ein „Grundproblem der Museen, die Didaktik ans Ende zu stellen“, stellt Hartog fest. Während sich der gewöhnliche Besucher im Angesicht der Genie-Dichte ehrfürchtig und kontemplativen Schrittes bewegt, lassen die Kunst- Frischlinge Aufsichten aus ihren Tagträumen schrecken. Schnelles Eingreifen ist manchmal erforderlich, um sie daran zu hindern, mit fettigem Fingerzeig auf ihre Entdeckungen zu patschen. Sie befreien den „schwarzen Panther“ aus seinem Käfig. Nun lauert er als große Pappmaché-Figur vor dem Gemälde seines Schöpfers. „Mein Bild vom Bild – Was wäre Kunst ohne Betrachter“, so lautet der Titel der Ausstellung, mit der die museumspädagogische Abteilung derzeit ihre Arbeit vorstellt. Während sich das vollendete Werk nicht verändert, trifft es seinerseits auf viele wechselnde Gesichter: junge, alte, skeptische, staunende. In jedem Betrachter entsteht ein eigenes Bild vom Bild. Dieses Phänomen legte die Künstlerin Charlotte Kollmorgen während eines Workshops dar. Alle Kursteilnehmer studierten ein einziges Gemälde und wurden anschließend aufgefordert, ihrem Eindruck einen bildnerischen Ausdruck zu geben. Die subjektive Bindung an Kunst zu fördern, ist eine wesentliche Aufgabe der Museumspädagogik. Diese grenzüberschreitende Funktion ist zugleich ihr Verhängnis, da sich weder Kultur- noch Bildungssenator dauerhaft für die Finanzierung verantwortlich fühlen. Erschwerend kommt hinzu, dass pädagischer Erfolg nicht so messbar ist wie die Besucherzahlen bei Mega-Events. Den qualifizierten Arbeitslosen ist die 25-jährige Existenz der Museumspädagogik in der Kunsthalle zu verdanken: 25 Pädagogen sind seither als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder abgeordnete Lehrer durch das mächtige Haus gelaufen und haben die Kunst unters Volk gebracht. Als Glücksfall für Bremer Museen erwies sich der Überschuss an Lehrern in den 80er Jahren. Während viele der ausgeliehenen Beamten noch heute bis zu ihrer Pensionierung eine relativ gesicherte Stellung haben, durften die ABMler nur maximal zwei Jahre dienen, dann mussten sie sich wieder arbeitslos melden. ABM-Stellen gibt es nicht mehr so einfach, und kostenlose Pauker für Kultur sind nicht mehr zu haben. Die Kunsthalle bekam dies mit aller Härte zu spüren, als ihr fleißiger Lehrer Willy Attenstädt 2001 das Haus verließ. Der Bedarf an Museumspädagogik wurde aber durch den Ansturm der Schulklassen bei den Großausstellungen van Gogh und Blauer Reiter offensichtlich. So wurde nach 25 Jahren im August 2002 erstmals eine Stelle aus hauseigenen Mitteln eingerichtet. Unter dem Motto „Kunst verstehen und erleben“ koordiniert Christine Campbell die vielen Aktivitäten der Abteilung mit Hilfe von Praktikanten und Honorarkräften. Ihr Anliegen ist es, „Museumsnutzer statt Besucher“ in das Haus zu holen. Bis zum Ende dieses Jahres ist ihr Arbeitsplatz gesichert. Nachdem das bisher übliche System aus „geschenkten“ Kunstvermittlern zusammengebrochen ist, begibt sich der Chef persönlich, Wulf Herzogenrath, auf Betteltour. Als Vater von sechs Kindern weiß er um die Notwendigkeit, „eine Brücke zwischen Weltkunst und Nachwuchs“ herzustellen. Esther Brandau
Esther Brandau
Die Finanzierungsfrage der Museumspädagogik wird zwischen Kultur- und Bildungssenator hin- und hergeschoben. Vom Arbeitsamt finanzierten Pädagogen ist die 25-jährige Vermittlungsarbeit in der Kunsthalle zu verdanken
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Kritik an Pflegereform: Jetzt schon zu wenig Personal - taz.de
Kritik an Pflegereform: Jetzt schon zu wenig Personal Am Freitag will der Bundestag die Pflegereform verabschieden. Fachleute von Berufs- und Sozialverbänden fordern Nachbesserungen. Die Pflegereform sieht vor, dass Zuschläge für Pflegebedürftige ab dem nächsten Jahr erhöht werden Foto: Frank Molter/dpa BERLIN taz | Thomas Greiner, der Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP) fordert in der Rheinischen Post einen gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf einen Pflegeheimplatz: „Die Lage in der Altenpflege ist ernst“, sagte Greiner in der Montagsausgabe der Zeitung: „Zahlreiche Pflegeheime stehen vor der Insolvenz.“ Darüber hinaus blieben Betten leer, „weil sie wegen des Personalmangels bei gleichzeitig rigiden Personalvorgaben nicht belegt werden dürfen. Leidtragende sind Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, die verzweifelt einen Heimplatz suchen“, so Greiner. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) hingegen hält diese Forderung für falsch: „Ein Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz wird in der aktuellen Situation zwangsläufig zu noch gravierenderen Qualitätseinbußen führen“, so DBfK-Präsidentin Christel Bienstein zur taz. „Wir haben schon jetzt viel zu wenige qualifizierte Pflegefachpersonen in den Einrichtungen, die Personalschlüssel sind unterirdisch und das alles geht zulasten der Menschen, die auf eine gute Versorgung angewiesen sind.“ Auch der Rechtsanspruch in den Kitas habe keineswegs zu einer besseren Personalsituation geführt. Bien­stein fordert stattdessen eine „grundlegende Reform des Gesundheitswesens mit neuen Aufgabenverteilungen“. Dabei sollte der Fokus stärker auf der Gesundheitsförderung, Prävention und auf pflegerischen Strukturen in der Primärversorgung liegen. Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), schätzt dies ähnlich ein: „Die Pflege steht mit dem Rücken zur Wand und die Regierung verharrt im Klein-Klein, statt an echten Lösungen zu arbeiten“, so Sonnenholzner zur taz. „Für eine wirksame Entlastung braucht es eine nachhaltige Finanzreform der Pflegeversicherung, wirksame Strategien gegen den Fachkräftemangel, und den Ausbau neuer, quartiersbezogener Versorgungskonzepte.“ Verdi befürwortet „Solidarische Pflegegarantie“ Ein Sprecher von Verdi befürwortet unterdessen die „Solidarische Pflegegarantie, bei der alle Einkommensarten in die Finanzierung einbezogen werden und sämtliche pflegebedingten Kosten abgedeckt sind“. Das Konzept von Verdi sieht vor, dass die Pflegeversicherung reformiert wird. Darin werden alle pflegebedingten Kosten durch eine Vollversicherung getragen – eine Art Bürgerversicherung, in der alle Bürger_innen je nach Einkommen einzahlen. Momentan steht eine Verabschiedung der Pflegereform für Freitag auf der Tagesordnung des Bundestages. Darin vorgesehen ist unter anderem, dass Kinderlose ab Juli einen um 0,35 Prozentpunkte höheren Pflegebeitrag als bisher leisten. Das Pflegegeld für Pflegebedürftige soll ab 2024 um 5 Prozent steigen. Zuletzt wurde es 2017 erhöht. Die Pflegereform sieht außerdem vor, dass Zuschläge für Pflegebedürftige im Heim ab dem nächsten Jahr erhöht werden. Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, beanstandete die Reformpläne gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Die Pflegereform ist halbgar“, sagte er dem RND. „Für die stationäre Pflege werden Zuzahlungen von im Durchschnitt über 2.000 Euro im Monat fällig. Das durchschnittliche Einkommen alter Menschen liegt aber nur bei 1.700 Euro“, kritisierte er.
Nicole Opitz
Am Freitag will der Bundestag die Pflegereform verabschieden. Fachleute von Berufs- und Sozialverbänden fordern Nachbesserungen.
[ "Altenpflege", "Pflegenotstand", "Pflegermangel", "Pflegekräftemangel", "Pfleger", "Pflegeberufe", "Pflegereform", "Pflege", "Deutschland", "Politik", "Schwerpunkt", "taz", "tageszeitung" ]
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Prozess gegen Neonaziduo: Hetzjagd mit Brandstiftung - taz.de
Prozess gegen Neonaziduo: Hetzjagd mit Brandstiftung Mehrere junge Männer verstecken sich vor Neonazis in einer Gartenhütte - diese wurde dann in Brand gesteckt. Die mutmaßlichen Täter stehen nun vor Gericht. Abgebrannt - zum Glück ohne Menschen. Bild: dpa BERLIN taz | Es war der erste warme Tag im Frühling 2011, zehn junge Männer mit türkischen und italienischen Wurzeln wollten auf einem Berg in der baden-württembergischen Gemeinde Winterbach grillen. Ihr großes Pech: In der Nähe ihrer Hütte feierte an diesem Abend eine Gruppe von Neonazis - die zu später Stunde Jagd auf die Migranten machte. "Ihr Scheißkanaken, wir machen euch fertig", sollen die Rechten gerufen haben, bevor sie angriffen. Fünf der Angegriffenen entkamen nur knapp dem Tod. Am Montag hat nun am Stuttgarter Landgericht der Prozess gegen einen 21-Jährigen und einen 22-Jährigen begonnen. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: versuchter Mord. Die beiden sollen sich an der Hetzjagd gegen die Migranten beteiligt haben, und als einige der jungen Männer sich aus Angst in ihrer Gartenhütte verschanzten, soll der Jüngere der Angeklagten die Laube mit einem Ast aus einem Lagerfeuer angezündet haben. Er habe aus "dumpfer ausländerfeindlicher Gesinnung" gehandelt, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Nur durch Glück konnten sich die Migranten damals aus dem brennenden Schuppen befreien. Sie erlitten Rauchvergiftungen, andere der Angegriffen wurden durch Schläge und Tritte verletzt. NPD-Party und Neonazi-Konzert Der Fall zeigt, dass nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im wohlhabenden Speckgürtel von Stuttgart gewalttätige Neonazis ihr Unwesen treiben. Und auch in diesem Fall warfen Kritiker den Behörden vor, zu wenig gegen diese Gefahr unternommen zu haben. Denn: Der Gastgeber der rechten Party, ein ehemaliger Sprecher der rechtsextremen NPD im Kreis, war vor einigen Jahren wegen eines brutalen Angriffs auf einen Griechen verurteilt worden. Auch rechtsextreme Konzerte hatte es auf dem Gartengrundstück bei Winterbach schon gegeben. "Kinderzimmerterroristen" hieß eine Band aus Thüringen, die dort 2010 aufspielte. Sie seien vor der Gefahr in der Nachbarschaft ihrer Gartenlaube von niemandem gewarnt worden, beklagten die Migranten nach der Attacke. Die beiden Angeklagten selbst haben zum Prozessauftakt bestritten, dass sie die Hütte angezündet haben. Als sie zur Laube gekommen seien, habe diese schon gebrannt. Wer den Brand gelegt hat und dass Opfer nahe der Hütte verprügelt wurden, hätten sie nicht gesehen. Der vorsitzende Richter forderte die beiden auf, ihre Aussage zu überdenken. Für den Prozess vor der Jugendkammer sind rund 30 Verhandlungstage bis Ende Mai angesetzt.
Wolf Schmidt
Mehrere junge Männer verstecken sich vor Neonazis in einer Gartenhütte - diese wurde dann in Brand gesteckt. Die mutmaßlichen Täter stehen nun vor Gericht.
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hamburg heute: Für den Libanon – und Israel - taz.de
hamburg heute: Für den Libanon – und Israel Zwei gegensätzliche Friedensveranstaltungen folgen in der City aufeinander Vor dem Hintergrund des Konflikts im Libanon rufen heute gleich zwei Hamburger Organisationen zu öffentlichen Veranstaltungen auf – und dürften sich dabei beinahe auf die Füße treten. Zunächst laden um 17 Uhr die „Frauen in Schwarz“ auf den Gerhard-Hauptmann-Platz. Die bundesweit aktive Gruppe verurteilt jede Form von Krieg, ihre Hamburger Abteilung hat für heute eine Libanon-Mahnwache anberaumt. Zudem sammeln die erklärt pazifistischen Frauen Unterschriften für einen Waffenstillstand, die Umsetzung der UN-Resolutionen sowie die „Errichtung eines freien Palästinas“ und die „Beendigung der völkerrechtswidrigen Besatzung“ durch Israel. Die Ergebnisse sollen später unter anderem Kanzlerin Angela Merkel, UN-Generalsekretär Kofi Annan und der israelischen Botschaft übergeben werden. Mit dem Ende der auf eine Stunde angesetzten Mahnwache beginnt dann um 18 Uhr an selber Stelle die Hamburger Sektion der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft“ (DIG) eine Solidaritätskundgebung mit Israel. Nach Aussage der Vorsitzenden Waltraut Rubien möchte man über die Ursachen der derzeitigen Eskalation informieren, aber auch „einige, diesen Konflikt betreffende Dinge gerade rücken“. Dass sich beide die Organisationen heute an der Mö die Klinke in die Hand geben würden, versichern beide, hätten sie nicht gewusst. KURT STUKENBERG
KURT STUKENBERG
Zwei gegensätzliche Friedensveranstaltungen folgen in der City aufeinander
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Proteste der Letzten Generation: Es geht nicht um Mehrheiten - taz.de
Proteste der Letzten Generation: Es geht nicht um Mehrheiten Der Letzten Generation wird schadenfroh vorgehalten, fast alle Deutschen lehnten ihren Protest ab. Aber aggressivem Widerstand geht es um Lärm. Geräusche, Reibung, Sand im Getriebe: Aktivist der „Letzten Generation“ auf einer Straße in Hamburg Foto: Jonas Walzberg/dpa Die deutschen Proteste für eine beherztere Erdschutzpolitik fanden in Lützerath einen vorläufigen Höhepunkt. Auf der einen Seite die Personen, die die Erde schützen wollen, auf der anderen Seite die, die sie scheinbar mit aller Gewalt weiter aufreißen wollen. Selten gab es einen Ort, der als Symbol besser taugte für – oder gegen – unser Lernen, unser mögliches Umdenken und für oder gegen die politische Schubumkehr. Die Protestierenden forderten eine Full-Stop-Mentalität und warfen sich selbst ins Getriebe. Die Politik versagte und hielt gar nichts an. Einige Politiker verstiegen sich stattdessen zu der steilen These, dass das kleine Örtchen Lützerath – das immerhin mit brachialen Methoden dem Kohleabbau zum Opfer fallen soll – „nicht das richtige Symbol“ sei. Hubertus Heil und Robert Habeck wurden nicht müde, die These vom falschen Ort und falschen Symbol in die Fernsehkameras zu wiederholen (das Argument scheint zu sein, dass es ohne sie selbst noch viel schlimmer gekommen wäre). Aber nur weil Politiker eine These der interessierten Öffentlichkeit einzureden versuchen, wird sie nicht wahrer. Es gibt kein besseres Symbol in Deutschland für den Kamikaze-Kollaps-Kurs, auf dem wir uns als Weltbevölkerung befinden. Und es gibt keinen prädestinierteren Ort für die deutsche Politik, ihr Nichtlernen, Nichtumdenken und Nichtumsteuern noch einmal symbolisch zu demonstrieren. In den Diskussionen um radikalen Protest hat sich in den letzten Jahren immer wieder das Vorurteil eingeschlichen, der Erdschutzprotest wolle doch die Mehrheit der Gesellschaft von der Richtigkeit der eigenen Ziele überzeugen. Ob beim klebenden Protest auf den Autobahnzufahrten, dem Bewerfen von Panzerglasrahmen mit Tomatensuppe oder den linksradikalen Stammesparolen in Lützerath – das seien alles falsche Mittel! Wer das Gute wolle, müsse das Richtige tun. Schon interessant, dass niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob das schaufelnde Monstrum, das da ganze Landstriche in Mondlandschaften verwandelt, das „richtige Mittel“ oder das „richtige Symbol“ sei. Stattdessen werden der letzten Generation relativ schadenfroh Umfrageergebnisse an den Kopf geworfen, nach denen zwischen achtzig und neunzig Prozent der Bevölkerung diese Form des Protests ablehnen. Ich wurde in der Vergangenheit selbst immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert, dass radikaler Widerstand doch letztlich „der falsche Weg“ sei, um eine Gesellschaft vom „eigentlich“ richtigen Anliegen zu überzeugen (bei unseren Aktionen zum Massenertrinken im Mittelmeer beispielsweise). Es geht um eine Keimzelle des Widerstands Aber geht es radikalem Widerstand überhaupt darum, die Mehrheit von der Richtigkeit des eigenen Tuns zu überzeugen? Es klingt immer sehr demokratisch, irgendeine Mehrheit überzeugen zu wollen. Aber dieser Wunsch wäre oft naiv. Es geht bei radikaleren Maßnahmen um Licht in der Finsternis, um eine Keimzelle des Widerstands oder darum, eine Einheit zu durchbrechen. Vielleicht muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass aggressiver Widerstand überhaupt sonderlich demokratisch ist. Aber wenn er für den Humanismus kämpft – und nichts anderes tun die Klimaschutzproteste, letztlich geht es mit dem Kollaps des Erdklimas sehr direkt um den Kollaps unserer Zivilisation –, wird dieser Protest auch dann richtig sein, wenn ihn 95 Prozent der Gesellschaft in irgendwelchen Forsa-Umfragen ablehnen. Ich möchte das Problem dahinter noch etwas pointieren: Es ist Luisa Neubauer oder Carla Hinrichs vielleicht nicht egal, ob die Mehrheit der Gesellschaft von der Richtigkeit ihrer „Anliegen“ überzeugt ist, aber sie sind keine protestantischen Sektenanführerinnen, denen es darum ginge, die große Mehrheit von der Richtigkeit zu überzeugen. Sie wissen, dass das Ziel, die Obergrenze von 1,5 Grad Erderwärmung einzuhalten, richtig ist. Wir alle wissen das. Nicht nur eine Mehrheit in Deutschland, praktisch die ganze Menschheit. Deshalb hat es auch eine überwältigende Mehrheit in Paris beschlossen. Bloß ist das ein paar Jahre später eben egal, wenn es noch irgendwo Kohle aus der Erde herauszubrechen gibt. Sand im Getriebe Warum dem Protest nun nachgesagt wird, Mehrheiten für Dinge zu benötigen, die demokratisch längst beschlossen sind, bleibt das Geheimnis der pseudodemokratischen Taschenspieler-Philosophie-Trickbetrüger, die solche Forderungen erheben. Es muss befriedigend sein, sich über den politischen Protest zu beugen, um ihn zu belehren, was richtig und was falsch ist. Aber wenn den Protestierenden das Ziel nur angedichtet wird, eine Mehrheit der Öffentlichkeit überzeugen zu wollen und sie das gar nicht wollen: Was wollen sie dann? Es kann bei radikalen Maßnahmen nicht darum gehen, irgendwelche demokratischen Mehrheiten zu erzeugen. Der radikale Widerstand will die Reibungslosigkeit stören. Politischer Widerstand will immer den geräuschlosen Ablauf der Dinge treffen. Und das bedeutet: Geräusche, Reibung, Sand im Getriebe. Die gut geölte Maschine des „So haben wir es immer gemacht“ soll sich krümmen, sich aufbäumen und spektakulär zusammenbrechen. In Lützerath wäre das der Kohlebagger, der bei seiner Fahrt durch irgendetwas blockiert, sich aufbäumt, verbiegt und in Blechteile zusammenfällt. Zentral ist der Lärm – die Geräusche. Lärm ist immer Belastung. Aber genau darum geht es dem radikalen Protest. Er ist in dem Sinne nicht demokratisch. Er wird keine Mehrheiten finden. Aber das muss er gar nicht. Denn es geht darum, einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst bewusst zu machen, dass die Bundesregierung nicht vorhat, irgendwelche Maschinen für den Klimaschutz zu stoppen. Das zur Schau zu stellen, die eiserne Machtdemonstration eines großen „Weiter so“ der Bundesregierung, wo es eigentlich gilt, die Maschinen anzuhalten und einzupacken, und damit die Politik vorzuführen und uns letztlich alle zu beschämen, ist ungleich wichtiger, als Mehrheiten zu organisieren, die vor Jahren in Paris längst organisiert wurden.
Philipp Ruch
Der Letzten Generation wird schadenfroh vorgehalten, fast alle Deutschen lehnten ihren Protest ab. Aber aggressivem Widerstand geht es um Lärm.
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Die Freiheitsstatue: Business as usual bei Miss Liberty - taz.de
Die Freiheitsstatue: Business as usual bei Miss Liberty Man nehme ein Inselchen, eine französische Dame, viel Symbolgehalt und fertig ist ein Nationaldenkmal. Ein Ausflug zum US-Nationalsymbol. In voller Pracht und Ansicht die Freiheitsstatue. Foto: imago/Westend61 Welcome to the symbol of freedom.“ Ein Park Ranger mit seinem breitkrempigen Hut begrüßt die Besucher. Vor ihnen der Hudson River, bunte Fähren und die Skyline von Downtown Manhattan mit dem Freedom Tower. Unter ihnen die Inselpromenade, mit roten Backsteinen gepflastert und Hunderten von Menschen. Eine ungewöhnliche Perspektive aus 93 Meter Höhe. Wir stehen im Kopf der Freiheitsstatue. Aus 25 kleinen Fenstern kann man hinausschauen. Neben uns erkennt man die Unterkante der Fackel. Der 13 Meter lange rechte Arm von Lady Liberty hält graziös das Licht der Freiheit in der Hand und streckt sie in den Himmel. New Yorks Bürgermeister mögen kommen und gehen, die 1886 eingeweihte Statue auf dem Sockel aus Granit ist für die Ewigkeit gemacht. Über drei Millionen Touristen flanieren jedes Jahr über die Promenade von Liberty Island. Etwa zehn Minuten braucht man für die Umrundung zu Fuß. Fahrzeuge gibt es hier keine, nur mit der Fähre ist das vorgelagerte Eiland am Big Apple zu erreichen. Den Zugang zur Freiheitsstatue kann man als Allegorie auf die Verfasstheit der Vereinigten Staaten lesen: US-amerikanische Freiheitssymbolik ist garantiert und umsonst, wenn das freie Unternehmertum dabei auf seine Kosten kommt. Der Eintritt zu Insel und Promenade ist frei. Aber hierher kommt nur, wer das kostenpflichtige Boot von der Südspitze Manhattans nimmt. Und nur 365 Besucher, die sich monatelang im Voraus angemeldet haben, werden täglich zur Krone hinaufgelassen. Von wegen „Freiheits“statue. Für die US-Amerikaner sei Miss Liberty ein universelles Symbol, erklärt Barry Moreno. Zum Beispiel für die Überlegenheit und Vollkommenheit der eigenen Demokratie. Sie bezeuge, dass die USA das liberalste Land der Welt seien und ihre Bürger den Nimbus der Einzigartigkeit besäßen. Moreno ist Historiker und arbeitet für den National Park Service. Der eloquente Enddreißiger kennt wie kein anderer die Geschichte der 129 Jahre alten Französin. Moreno kritisiert die Überheblichkeit und Geschichtsvergessenheit seiner Landsleute. Dabei spricht er schnell und gewandt, mit wenigen Gesten, stets zuvorkommend und freundlich, in Bluejeans und mit kurz geschorenem Haar. Die Sätze des Historikers sind Salven gegen das Nichtwissen. Die Instrumentalisierung von Miss Liberty ist ihm ein Dorn im Auge. Die Instrumentalisierung der 129-jährigen Lady Besuch der KultfigurZugang: Nur mit einer Fähre von Statue Cruises gelangt man nach Liberty Island. Es gibt verschiedene Ticketarten. Das "Reserve Ticket with Pedestal Access" erspart Wartezeiten beim Boarding der Fähre. Mit dem Ticket erhält man den Zutritt zur Fähre, zu Liberty Island, für den Sockel der Freiheitsstatue sowie in das Ellis Island Immigration Museum samt Audioguide. Informationen bekommt man telefonisch unter folgender Nummer: 0 01-8 77-5 23 98 49.Die Fähren: Sie verkehren ab Battery Park, die Fähranleger befinden sich jeweils am Battery Park (an der Südspitze Manhattans) und Liberty State Park (Jersey City, New Jersey).Besuch der Krone: Der Fährenbetreiber warnt auf seiner Internetseite vorsorglich vor den Strapazen des Aufstiegs. "Der Aufstieg zur Krone ist ein beschwerlicher Weg, der 393 Stufen umfasst oder der Höhe eines 27-stöckigen Gebäudes entspricht". Pro Stunde werden nur 12 bis 15 Personen hinaufgelassen. Das Reserve Ticket with Crown Access kostet 21 US-Dollar (bzw. 17 und 12 Dollar). Für beide Besichtigungen müssen die Tickets im Voraus online reserviert werden unter www.statuecruises.com/chosse_tickets.aspx oder telefonisch unter 0 01-20 16 04 28 00.Literatur: Barry Moreno, "The Statue of Liberty. Images of America". Arcadia Publishing 2004, Paperback 17,25 $ Wann immer Miss Liberty für ideologische Zwecke gebraucht wurde, sagt Moreno verschmitzt, wurde sie von den Mächtigen als Symbol eingesetzt: im Kampf gegen Mussolini, gegen Hitler und Stalin, gegen den japanischen Militarismus, gegen Totalitarismus und Kommunismus. Auch nach dem Terroranschlag vom 11. September sei die Freiheitsstatue instrumentalisiert worden, so wie nach Pearl Harbor oder dem D-Day, erklärt der Historiker. Die Idee, auf dem kleinen Eiland eine symbolträchtige Frauenfigur zu errichten, hatte der französische Historiker, Republikaner und Antiroyalist Édouard de Laboulaye. Die alte Waffenbrüderschaft zwischen Frankreich und den USA sollte beschworen werden. Aber das gehöre zu den Geschichten, die nur wenige kennen, so Moreno: „Viele Besucher wissen nicht, dass die Freiheitsstatue vor allem den Freimaurern und ihrer Unterstützung zu verdanken ist. Manche Leute denken, dass Miss Liberty für die Emigranten gebaut wurde, die nach Amerika kamen. Aber das ist ebenso falsch wie die Annahme, sie sei ein Denkmal für das Ende der Sklaverei in den USA. Einige Leute glauben, sie sei ein Geschenk für die Stadt New York gewesen. Auch das ist Unsinn. Sie ist nicht einmal ein Symbol für New York.“ Miss Liberty wurde der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von einer Gruppe französischer Republikaner geschenkt. 1865 hatten die französischen Liberalen um Laboulaye beschlossen, den Idealen der Freiheit mit einem symbolischen Geschenk an die USA zu huldigen – und damit gegen die Politik Napoleons III. zu protestieren und seines als repressiv empfundenen Staates. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten war vorbei, die Sklaverei abgeschafft, der hundertste Geburtstag der jungen US-amerikanischen Nation stand bevor. Zunächst dachte man an eine Geschenkmünze aus Gold, aber bald war daraus ein Riesendenkmal aus Kupfer und Stahl geworden. Die Idee der Freiheitsstatue war geboren. Frédéric-Auguste Bartholdi aus Colmar im französischen Elsass wurde damit beauftragt, eine mächtige Statue nach der Art des Kolosses von Rhodos zu schaffen. Er konzipierte eine Dame von 46 Meter Höhe. Für das Gesicht diente ihm seine alleinerziehende Mutter als Modell, für den Körper seine Geliebte. Die Freiheitsstatue mit Richtmikrofon 21 Jahre später war es vollbracht: Auf der anderen Seite des Ozeans wurde Miss Liberty aufgestellt. Doch von Freiheit und Dankbarkeit kann kaum die Rede sein. Die NSA spionierte nicht nur Merkels Handy aus, sondern auch Frankreichs Diplomaten in der Washingtoner Botschaft. Vor allem aber schöpfte der US-Geheimdienst Daten in Frankreich ab. Ob Anschlüsse privater Haushalte, öffentlicher Einrichtungen oder Firmen – die NSA zapfte sie an. Deshalb taucht Miss Liberty auf Cartoons in neuem Look auf: Statt Freiheitsfackel trägt sie ein Richtmikrofon. Waffenbrüderschaft anno 2015. In den USA hielt sich Ende des 19. Jahrhunderts die Begeisterung für das Vorhaben des Franzosen zunächst in Grenzen. Der Kongress wollte die Kosten für den Unterhalt nur dann übernehmen, wenn der Koloss sich zusätzlich nützlich machte, etwa als Leuchtturm. Schon nach einigen Jahren war es den Amerikanern gelungen, die Freiheitsstatue den eigenen kulturellen Bedürfnissen zu unterwerfen, zu amerikanisieren. Aus dem universellen Symbol der französisch-amerikanischen Freundschaft wurde ein Sinnbild des amerikanischen Nationalismus, resümiert Historiker Moreno. Wir stehen im Café der Freiheitsstatue, nebenan ist der Andenkenladen. Beides gehört seit 1931 der Familie Hill. Aaron Hill war ein junger Sergeant in der US-Armee und während des Ersten Weltkriegs auf Liberty Island in der Festung Fort Wood stationiert. Später bekam er die Erlaubnis, den Militärangehörigen Alltagsgegenstände zu verkaufen. 1931 verließ er die Armee und eröffnete einen richtigen Laden. Dort konnten die Touristen kleine Mitbringsel und Frankfurter Würstchen kaufen. Heute ist das Ganze ein florierendes Geschäft in der dritten Generation. Das Facelifting von Miss Liberty Unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September wurde Liberty Island gesperrt. Zwar durfte die Insel schon wenige Wochen darauf wieder betreten werden, doch das Innere der bronzenen grünen Dame blieb für die Öffentlichkeit jahrelang ein No-Go-Bereich – aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell hieß. Schließlich wurde 2009 Miss Liberty für Besucher wieder freigegeben – und 2011 erneut geschlossen. Nach diversen Restaurierungen und Reparaturen musste die Freiheitsstatue nur einen Tag nach der Wiedereröffnung im Oktober 2012 erneut geschlossen werden. Der Hurrikan Sandy hatte Teile der Promenade und des Sockels zerstört. Seit dem 4. Juli 2013, dem Unabhängigkeitstag, sind Promenade und Freiheitsstatue wieder von Touristen begehbar. Jetzt ist die 93 Meter hohe Touristenattraktion feuerfest und bombensicher. Wer unter den Füßen der Freiheitsgöttin das neue Museum besuchen will, muss Sicherheitsschleusen mit modernster Technik passieren. Heute kommt man nur bis zur Krone. Die Fackel ist für die Öffentlichkeit tabu. Bis 1916 konnte auch sie bestiegen werden. Liberty Island mit seiner Promenade und seiner Statue zeige dem Rest der Welt, dass Amerikaner stark seien und ihre Freiheit schätzten, meinte New Yorks ehemaliger Bürgermeister Michael Bloomberg während der Neueröffnung im Juli 2013. Solches Pathos sei typisch für die Vereinigten Staaten, findet Moreno: „Die Freiheitsstatue ist ein leeres Symbol, nicht nur weil sie im Inneren hohl ist.“ Die Statue werde von allen instrumentalisiert: von Konservativen, Liberalen, Radikalen, sie werde für kommerzielle wie für gewerbliche Zwecke benutzt. Miss Liberty für die Sofashow Und das mehr als erfolgreich. Die totale Kommerzialisierung begräbt jede Erinnerung an die ursprüngliche historisch-politische Botschaft des Denkmals. Und ob diese heute noch gilt? Fast-Food-Restaurant, Museumsshop, Andenkenladen mit billigen T-Shirts, Kaffeetassen, Plastikfreiheitsinseln, Stars-and-Stripes-Fähnchen und andere Devotionalien sind für viele Touristen ein Muss beim Besuch. So wie der digitale Fotoprint von Miss Liberty für die private Sofashow zu Hause mit den Daheimgebliebenen. Während die Geheimdienste ihren Aufgaben nachgehen, wurde das Symbol der Freiheit, auf das sich Ex-NSA-Direktor Keith Alexander während seiner Amtszeit berief, Anfang Oktober 2013 erneut geschlossen: Nach dem zwischenzeitlichen Scheitern der Haushaltsverhandlungen wurde auch Miss Liberty der Geldhahn zugedreht. Knapp zwei Wochen lang konnte die Freiheitsstatue von den Touristen nicht besucht werden. Es hagelte Kritik, der Bundesstaat New York entschied, die Betriebskosten von täglich knapp 62.000 Dollar zu übernehmen. Seitdem flanieren die Touristen wieder über die Promenade von Liberty Island.
Michael Marek
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Duisburg nach der Loveparade: Im Trauertunnel - taz.de
Duisburg nach der Loveparade: Im Trauertunnel Eine Woche nach der Katastrophe, die 21 Tote und über 500 Verletzte forderte, findet die Trauerfeier statt. In Duisburg herrscht nach der Loveparade Entsetzen. "Entschuldigung für das Versagen der Gehirne der Entscheidungsträger": Gedenktafel im Tunnel zum Veranstaltungsgelände. Bild: dpa DUISBURG taz | In dem Tunnel, der zum alten Duisburger Güterbahnhof führt, erinnert nichts mehr daran, dass er vor einer Woche der einzige Zugang zur größten Technoparty der Welt war. Der Tunnel, den sie jetzt "Todestunnel" nennen, ist zu einem Ort des Gedenkens geworden. "24. 7. 10 - Nichts ist mehr so, wie es einmal war", steht auf einem schwarzen Banner. Trotz einiger hundert Menschen, die sich an diesem Donnerstag hier eingefunden haben, ist es still. Unzählige Grablichter brennen, dazwischen liegen Bilder der Toten, Trauerbriefe, Plüschtiere und Keramikengel. Aus Teelichtern sind Kreuze, ineinander verschlungene Herzen oder die Zahl 21 geformt. Zwischen Blumen liegen handgeschriebene Schilder. "Wir wollten zusammen feiern, und nicht um unser Leben kämpfen" ist da beispielsweise zu lesen. An der Stelle am Tunnelausgang, an der die Besucher zu Tode getrampelt und gequetscht wurden, ragt ein großes, weißes Kreuz in den Himmel. An der Absperrung davor wehen Flaggen der Länder, aus denen die Verunglückten stammen: Spanien, Deutschland, Australien, Italien, Niederlande, Bosnien-Herzegowina. Hier verharren die Menschen im stillen Gebet, weinen, umarmen und trösten sich gegenseitig. Für einige sind die Eindrücke noch zu überwältigend, sie brechen zusammen und müssen von Rettungssanitätern behandelt werden. Auch für André Druch sind die Erinnerungen an die Loveparade noch zu schmerzhaft; er muss das Gespräch zwischenzeitlich abbrechen, an die frische Luft, eine Zigarette rauchen. Der Bochumer Student war gemeinsam mit zwei Freunden in dem Kessel, in dem 21 Personen zu Tode gequetscht wurden. Plötzlich seien sie mitten in der panischen Masse gewesen, nichts ging mehr. Wer beschuldigt wen?Rainer Schaller: Der Veranstalter der Loveparade gibt der Polizei eine Mitschuld. Die Einsatzleitung habe alle Schleusen geöffnet, wodurch der Besucherstrom unkontrolliert in den Tunnel gelangt sei.Adolf Sauerland: Duisburgs CDU-Oberbürgermeister will von den Sicherheitswarnungen im Vorfeld nichts gewusst haben. Am Tag nach dem Unglück hatte er von "individuellen Schwächen" gesprochen und indirekt die Opfer selbst beschuldigt.Stadt Duisburg: Die Bauaufsicht soll wenige Tage vor der Parade die Sicherheitsauflagen zu den Fluchtwegen gelockert haben. Das Sicherheitskonzept von Polizei und Feuerwehr habe man als zu personalaufwendig verworfen. Im März soll sich die Leiterin des Bauordnungsamtes geweigert haben, die Genehmigung zu unterschreiben, und sei deshalb versetzt worden.Polizei Duisburg: Die Polizei soll bereits früh Bedenken am Sicherheitskonzept geäußert haben, sei damit aber auf politischen Widerstand gestoßen. Polizeipräsident Rolf Cebin soll deswegen in den Ruhestand versetzt worden sein. Sein Nachfolger Detlef von Schmeling sagt, dass die Polizei vor dem Unglück eine zweite Zugangsrampe geöffnet habe, damit der Druck auf den ersten Zugang nachlassen könne. Der Zugang zum Party-Gelände sei nie gesperrt worden.Ralf Jäger: Der SPD-Landesinnenminister wirft den Veranstaltern vor, im sensiblen Eingangsbereich das Sicherheitskonzept nicht in die Tat umgesetzt zu haben. Er kritisiert zudem die Stadtverwaltung für eine unzureichende Zusammenarbeit mit der Polizei.Fritz Pleitgen: Der Chef des Kulturhauptstadtprojekts bestreitet, dass die Macher der Kulturhauptstadt "Ruhr.2010" Druck auf die Stadt Duisburg ausgeübt hätten, die Loveparade unbedingt zu veranstalten. Sicherheitsbedenken seien ihm "nie zu Ohren" gekommen. (dpa, taz) "Alle haben um Hilfe geschrien", schildert er die Situation "und es wurde immer enger". Dennoch hätten die Ordner sie immer weiter nach vorne geschickt und Polizisten zugeschaut. Zu dieser Zeit habe bei ihm eine Todesangst eingesetzt: "Denn wir konnten nicht mehr vor oder zurück, Menschen um uns herum bekamen keine Luft mehr." Druch und seinen Freunden gelang es, auf einen Container zu steigen und an einem Kabel nach oben zu klettern. Erst zu Hause sei ihnen klar geworden, was gerade um sie herum geschehen sei. Seitdem schaut er sich alle Sendungen zu dem Thema an, liest alle Nachrichten dazu. Als wolle Druch sich immer selbst versichern, dass er es aus der Panik rausgeschafft hat. In die Trauer über die Katastrophe mischt sich immer mehr Zorn auf die politisch Verantwortlichen, zuallererst auf den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Dessen Pressesprecherin Anja Huntgeburth sagt, dass sie eigentlich nichts sagen kann. "Wir sind Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen. Alles, was eine Stadt sagt, kann gegen uns verwendet werden", lautet ihre Begründung. Hunderte Menschen demonstrieren an diesem Tag vor dem Duisburger Rathaus und fordern den Rücktritt des CDU-Oberbürgermeisters. Sauerland hat dies stets abgelehnt, obwohl inzwischen auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft oder der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach (CDU), ihm diesen Schritt mehr oder minder offen nahegelegt haben. "Ich weiß, dass Sie von mir Antworten erwarten. Ich kann Ihnen diese heute nicht geben. Aber ich werde Ihnen diese geben, sobald sie vorliegen", ist auf der Homepage des Bürgermeisters zu lesen. An der Trauerfeier am Samstag, zu der auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Christian Wulff erwartet werden, wird er nicht teilnehmen. Er wolle, wie er Mitte der Woche wissen ließ, durch seine Anwesenheit nicht provozieren. Während eine Woche nach der Massenpanik Veranstalter, Stadtverwaltung und Polizei sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben und die Staatsanwaltschaft noch gegen unbekannt wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, ist die Stimmung in Duisburg ganz klar: "Kein Geld der Welt ist Menschenleben wert, Herr Sauerland", hat jemand auf ein Stück Pappe gekritzelt und zwischen Sonnenblumen in den Tunnel gelegt. "Sauerland und Schaller sind Verbrecher" ist auf einer Plakatwand zu lesen, daneben steht: "Ein Menschenleben ist wichtiger als ,Einfach gut aussehen'." Gemeint ist der Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller, der mit diesem Slogan für seine Fitnesskette McFit wirbt. Eine Bürgerinitiative hat im Tunnel ein Kondolenzbuch ausgelegt, vor dem die Menschen Schlange stehen. Eigentlich sollte es schon am Mittwoch geschlossen werden. "Aber die Leute werden einfach nicht weniger", sagt Hildegard Jansen, eine der Helferinnen, die an der Mahnwache Stellung halten, und fügt hinzu: "Solange die Leute kommen, bleibt das Buch hier." Die Krankenhaus-Seelsorgerin sitzt auf einem Klappstuhl neben dem Kondolenzbuch. Wer sie ansprechen will und Rat braucht, kann das gerne tun; wer es nicht will, darf es auch lassen. Dirk Oberhagemann sei von Anfang an klar gewesen "dass hier etwas Schlimmes passieren wird". Der 41-jährige Katastrophenforscher ist Koordinator der Studie "Risiko Großveranstaltung: Planung, Evakuierung und Rettungskonzepte", die das Bundesforschungsministerium vor einem Jahr in Auftrag gegeben hat. Deswegen wollte er zu Forschungszwecken im Tunnelbereich filmen - wie schon so oft auf Großveranstaltungen in Deutschland. Er bat den Veranstalter der Loveparade - die Lopavent GmbH, deren Geschäftsführer Rainer Schaller ist - um eine Dreherlaubnis. Diese Bitte wurde abgelehnt. "Der Tunnel sei ein sehr sensibler Punkt. Dort wollen wir keine Externen haben", habe es zur Begründung geheißen, erzählt Oberhagemann und ist sich sicher: "Die wussten genau, dass hier ein heikler Punkt ist. Deshalb sollte ich nicht dabei sein." Trotzdem fuhr er nach Duisburg und beobachtete die Loveparade aus dem 14. Stock eines Hochhauses. "Das vorgelegte Zu- und Abstromkonzept wäre zu keinem Zeitpunkt realisierbar gewesen", sagt er der taz. Michael Schreckenberg, Verkehrsforscher von der Universität Duisburg-Essen, hat das Sicherheitskonzept für die Loveparade begutachtet. Auf Anfragen der taz reagiert er nicht. In den ersten Tagen nach dem Unglück hatte er noch in Interviews zynische Sätze wie diesen von sich gegeben: "Tunnel hin, Tunnel her: Es ist überprüft worden, dass die Kapazität für die Menschenmenge pro Stunde ausreichend ist." Nur das "Fehlverhalten Einzelner", aber keine Panik wollte der Panikexperte erkennen. André Druch wird wütend, wenn er so etwas hört. "Wer nicht vor Ort war, kann das nicht beurteilen", sagt er. "Neben mir waren Menschen, die umgefallen sind. Und da soll man nicht von einer Massenpanik sprechen?" Der 28-Jährige hat mit seinen Freunden Anzeige gegen den Veranstalter und gegen die Polizei wegen unterlassener Hilfeleistung erstattet. Auch Manuel Lippka war mittendrin, als die Menschen in tödliche Panik verfielen. Dem 30-jährigen Schweißer aus Hude sei zunächst überhaupt nicht bewusst gewesen, welche Katastrophe sich gerade um ihn herum abspiele. Es sei eng gewesen, die Menschen unruhig, und auch die Krankenwagen haben ihn nicht weiter beunruhigt. "Das gehört einfach zur Loveparade dazu", so Hude, der schon zwölfmal auf der Loveparade war. Irgendwann habe sich der Stau aufgelöst, und Hude fuhr heim. "Erst im Auto habe ich von dem Unglück erfahren", und da begann die Aufarbeitung der Eindrücke. Seitdem wird er die Schreckensbilder nicht mehr los, sieht immer wieder, wie Menschen um sich schlagen, andere treten, um zu entkommen. Auf der Trauerfeier am Samstag in der Salvatorkirche, die in mehreren Kirchen der Stadt und im Duisburger Stadion auf Leinwänden übertragen werden soll, wird André Druch den Oberbürgermeister nicht vermissen: "Niemand fühlt sich verantwortlich", sagt der junge Mann. "Das ist ein Hohn für die Opfer."
Cigdem Akyol
Eine Woche nach der Katastrophe, die 21 Tote und über 500 Verletzte forderte, findet die Trauerfeier statt. In Duisburg herrscht nach der Loveparade Entsetzen.
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Bundestag ändert eigene Auflagen: Lieber große Karren als Umweltschutz - taz.de
Bundestag ändert eigene Auflagen: Lieber große Karren als Umweltschutz Limousinen können die Umweltauflagen des Bundestags nicht einhalten. Doch weil Bundestagsabgeordnete lieber in großen Autos fahren, änderten sie die Auflagen. Für ein paar Minuten durch Berlin: Die Fahrbereitschaft des Bundestags wartet auf Abgeordnete. Bild: dapd BERLIN dpa | Den Abgeordneten des Bundestags sind kleinere Fahrzeuge oder Taxis für ihre Fahrten in der Hauptstadt nicht komfortabel genug. Die Fahrbereitschaft des Parlaments darf laut einem Medienbericht deshalb im kommenden Jahr wieder stärker gegen Umweltauflagen des Bundestags verstoßen. Nach Informationen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung hat der Ältestenrat die Grenzwerte kurzerhand von 120 auf 140 Gramm Kohlendioxid-Ausstoß pro Kilometer heraufgesetzt. Aus einem Schreiben von Bundestagspräsident Norbert Lammert an Parlamentarier gehe hervor, dass es kaum Limousinen gebe, die die vereinbarten Grenzwerte einhalten. Den Standard für solche Einsätze setzen gehobene Wagentypen von Mercedes, BMW und Audi, die teilweise Spitzenwerte knapp unter 200 Milligramm erreichen. „Die Abgeordneten von Union und FDP wollen nur mit großen Limousinen durch Berlin gefahren werden“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Bärbel Höhn, der Zeitung. Dies sei auch deshalb unverständlich, weil man für solche Fahrten in der Regel nur wenige Minuten im Auto sitze. Dafür reichten auch kompaktere Fahrzeuge. Nach Höhns Angaben wurde ein Vorschlag, vermehrt Taxis einzusetzen, im Ältestenrat mit der Bemerkung abgeschmettert, „dass die Taxifahrer oftmals dazu neigten, Belehrungen politischer Art abzugeben“.
taz. die tageszeitung
Limousinen können die Umweltauflagen des Bundestags nicht einhalten. Doch weil Bundestagsabgeordnete lieber in großen Autos fahren, änderten sie die Auflagen.
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Eritrea und Äthiopien kooperieren: Aufmarsch gegen Tigray - taz.de
Eritrea und Äthiopien kooperieren: Aufmarsch gegen Tigray Berichte über eine Offensive Eritreas nähren die Sorgen über eine Eskalation des Krieges in der äthiopischen Region Tigray. 8. Mai 2021: Ethiopische Regierungssoldaten nördlich von Mekelle Foto: Ben Curtis/ap BERLIN taz | Erneut soll Eritrea in den Krieg eingegriffen haben, den sich Äthiopiens Zentralregierung seit 2020 mit den abtrünnigen Machthabern der an Eritrea angrenzenden Region Tigray liefert. Die in Tigray herrschende TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) erklärte am Dienstag, am Morgen habe eine „Großoffensive“ der äthiopischen und eritreischen Armeen begonnen, „um die Tigray-Armee ein für alle Mal in die Knie zu zwingen und unser Volk auszulöschen“. In diesem „völkermörderischen Krieg“ seien „reguläre Armeeeinheiten aus ganz Äthiopien, Amhara-Spezialkräfte, Fano (Amhara-Territorialmilizen, d. Red.) und die gesamte Armee und Reservestreitmacht Eritreas mobilisiert“. Während Eritreas und Äthiopiens Regierungen sich dazu nicht geäußert haben, bestätigte Mike Hammer, US-Sonderbeauftragter für das Horn von Afrika, in der Nacht zum Mittwoch, dass die USA die eritreischen Truppenbewegungen beobachten und für „extrem besorgniserregend“ halten. „Die Anwesenheit eritreischer Truppen in Äthiopien dient bloß dazu, die Dinge zu verkomplizieren und eine bereits tragische Situation anzuheizen“, sagte er. Auch andere Länder wie Kanada verurteilten das mutmaßliche Eingreifen Eritreas. Eritrea war bereits beteiligt, als Äthiopiens Armee im November 2020 die Kontrolle über Tigray übernahm, nachdem die TPLF-Regionalregierung mit der Zentralregierung gebrochen hatte. Eritreische Soldaten wurden damals für Kriegsverbrechen an Zivilisten verantwortlich gemacht, auch an Flüchtlingen vor der eritreischen Militärdiktatur in Lagern in Tigray. Eritreas Regierung ist historisch mit der TPLF aus jener Zeit verfeindet, als sich beide Länder 1998 bis 2000 einen blutigen Grenzkrieg mit über 70.000 Toten lieferten. Damals war die TPLF tonangebend in Äthiopiens Regierung. Erst unter Ministerpräsident Abiy Ahmed, der nicht zur TPLF gehört und seit 2018 regiert, söhnten sich die beiden Regierungen aus – und die TPLF in Tigray verblieb als ihr gemeinsamer Gegner. Alle Männer unter 55 eingezogen Die Kämpfe in Tigray flammten am 24. August neu auf. Am 11. September erklärte sich die TPLF bereit, die Friedensvermittlung der Afrikanischen Union (AU) zu akzeptieren. Äthiopien reagierte darauf vergangene Woche mit Luftangriffen auf Tigrays Hauptstadt Mekelle. Berichte über eine Generalmobilmachung in Eritrea kursieren seit dem Wochenende. Der BBC-Monitoringdienst für die lokale Sprache Tigrinya berichtete am Samstag, seit zwei Tagen würden alle Männer unter 55 Jahren eingezogen – in Eritrea gilt eine allgemeine Wehrpflicht. Reservisten in mehreren Städten seien über öffentliche Aushänge und Botschaften angewiesen worden, sich zum Dienst zu melden und Decken und Wasserbehälter mitzubringen. Es wurde von Konvois in Richtung äthiopische Grenze berichtet. Eritreas Regierung sagte zum BBC-Bericht, nur eine „winzige Zahl“ von Reservisten sei einberufen worden. Ausgerechnet in der Woche der UN-Vollversammlung stellt das Vorgehen Eritreas, so es sich im vorgeworfenen Ausmaß bestätigt, eine klare Eskalation dar. Eritrea gehört zur kleinen Gruppe von UN-Mitgliedstaaten, die im Krieg in der Ukraine Russland unterstützen, und wirft den Vereinten Nationen seit Jahren Feindseligkeit vor. Auch Äthiopiens Regierung macht in diesen Tagen Front gegen die UNO. Sie reagiert empört auf den am Montag veröffentlichten Bericht einer UN-Untersuchungskommission zu Kriegsverbrechen im Tigray-Krieg. Der Bericht der drei UN-Experten aus Kenia, den USA und Sri Lanka, die der UN-Menschenrechtsrat Ende 2021 beauftragte, benennt „außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt und Aushungerung der Zivilbevölkerung als Methode der Kriegsführung“. Der Bericht wirft beiden Seiten Verbrechen vor – der TPLF Tötungen beim Vorstoß ins äthiopische Kernland im Sommer 2021, Äthiopien unter anderem die „systematische Verweigerung“ humanitärer Hilfe für Tigrays Zivilbevölkerung. Da Äthiopiens Regierung der Gruppe nicht erlaubt habe, die Hauptstadt Addis Abeba zu verlassen, seien weitere Untersuchungen nötig. Es gebe „keinen einzigen Beweis“ für die Vorwürfe, sagte dazu Äthiopiens UN-Botschafter Zenebe Kebede in New York und wies den Bericht als „widersprüchlich und parteiisch“ zurück. Auf Twitter schimpfte Abiy Ahmeds Sicherheitsberater Redwan Hussien, der UN-Bericht sei schlechter noch als CNN-Reportagen, „wirr und irrig“.
Dominic Johnson
Berichte über eine Offensive Eritreas nähren die Sorgen über eine Eskalation des Krieges in der äthiopischen Region Tigray.
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25,005
Millionen sparen? Nicht mit uns! - taz.de
Millionen sparen? Nicht mit uns! A 281 Neue Verkehrsprognosen machen in Huckelriede eine einfache Lösung des Autobahn-Problems möglich. Koalition hält aber am Gesamtpaket fest Wer kriegt die Autobahn vor seine Haustür? Das ist die entscheidende Frage Bremen könne 40 Millionen Euro sparen, das Bundesverkehrsministerium könnte rund 100 Millionen Euro sparen – lohnt es sich darüber zu reden? Diese Frage stellte gestern Klaus-Rainer Rupp von der Linksfraktion – und erntete einhellige Ablehnung von SPD, CDU und Grünen. Beschlossen sei beschlossen, so die Argumentation, man könne einen einmal erreichten Kompromiss nicht infragestellen. Es geht um den „Bauabschnitt 2.2“ der Autobahn A 281, der in Huckelriede von der halbfertigen, weil nur zweispurig ausgebauten Rampe in Höhe von Open Bergmann in den Trog an der Kreuzung Neuenlander Straße/ Kattenturmer Heerstraße führen soll. Für die Anwohner der Neuenlander Straße in der Höhe Huckelriede würde die Autobahntrasse 100–300 Meter weiter entfernt liegen als die Neuenlander Straße und also einen Lärmschutz-Vorteil bringen. Die Verkehrsprognosen, die im Jahre 2003 angestellt wurden, seien inzwischen aber nach unten korrigiert worden, erklärte Rupp, und die Probleme einer dreijährigen Baustelle im Trogbauwerk dürfe man auch nicht außer acht lassen. Die Frage also: Würde eine vierspurig ausgebaute Rampe nicht ausreichen für die bis 2025 erwarteten Verkehrsmengen? Die Nutzer der A 281 müssten auf einem Kilometer dann eben nur 50 statt 80 km/h fahren. Die von Rupp wieder ins Spiel gebrachte „ampelfreie vierspurige Auf- und Abfahrt vom Bauabschnitt 2.1 auf die Neuenlander Straße“ ist in einem Planfeststellungsbeschluss aus den Jahre 2002 vorgesehen. Sie ist vor Jahren nicht gebaut worden, die bremischen Verkehrsplaner haben ein problematisches Provisorium geschaffen, das den Druck auf das Verkehrsministerium, die Autobahn an der Stelle weiter zu bauen, aufrecht erhalten sollte. Auch Grünen-Politiker Ralf Saxe verwies auf das Gesamtprojekt und erklärte, man werde keine privaten Investoren für den Weser-Tunnel finden, wenn im Bereich des Bauabschnittes 2.2 jetzt auf eine kleine Lösung ausgewichen würde. Ein Hintergrund dieses Streites ist auch die Tatsache, dass der Bremer Bausenator in Berlin für einen direkten Anschluss an die A 1 auch die Trasse an der Wolfskuhlen-Siedlung entlang als eine mögliche Variante angemeldet hat – neben der offiziell befürworteten Lösung eines Tunnels unter dem Flughafen hindurch. Diese Option wäre für Berlin deutlich preiswerter. Der jetzt vorgesehene Bauabschnitt 2.2 lässt sie offen. Wenn aber nur die Rampe ausgebaut würde, wäre diese Option unwahrscheinlicher – zu Lasten der lärmgeplagten Huckelrieder. Diese Frage spaltet so auch die Bürgerinitiativen vor Ort.  KAWE
KAWE
A 281 Neue Verkehrsprognosen machen in Huckelriede eine einfache Lösung des Autobahn-Problems möglich. Koalition hält aber am Gesamtpaket fest
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Bundestag stimmt Zypern-Hilfe ab: Ansteckungsgefahr verhindert - taz.de
Bundestag stimmt Zypern-Hilfe ab: Ansteckungsgefahr verhindert Der Bundestag stimmt den Milliarden-Hilfen für Zypern zu. Außerdem verlängert das Parlament Hilfskredite für Irland und Portugal um sieben Jahre. Zypern selbst muss Milliardensummen zur Sanierung des Staatshaushalts aufbringen. Bild: dpa BERLIN dpa | Deutschland hat endgültig grünes Licht für die Milliarden-Hilfen zugunsten der Inselrepublik Zypern gegeben. Im Bundestag stimmte am Donnerstag wie angekündigt eine große Mehrheit der Abgeordneten von Union, FDP, SPD und Grünen für das Hilfspaket. Die Linksfraktion lehnte es wie schon frühere Rettungsaktionen für angeschlagene Euro-Länder ab. Die Euro-Länder unterstützen das kleine Zypern mit bis zu neun Milliarden Euro, der Internationale Währungsfonds (IWF) will bis zu eine Milliarde Euro beisteuern. Für die Hilfen stimmten 487 Abgeordnete, 102 votierten dagegen, 13 enthielten sich. 602 Abgeordnete gaben ihre Stimme ab. Gegner des Zypern-Hilfspakets waren am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht mit ihrem Antrag gescheitert, die Abstimmung im Bundestag über die Milliarden-Hilfe zu verhindern. Das Entscheidungsgremium des für die Zypern-Hilfen zuständigen dauerhaften Rettungsschirms ESM soll am Mittwoch zustimmen, so dass erste Gelder für Nikosia Anfang Mai ausgezahlt werden könnten. Die Parlamentarier stimmten außerdem einer leichten Anhebung des Haftungsanteils Deutschlands beim auslaufenden Euro-Rettungsfonds EFSF von 29,07 auf 29,13 Prozent zu. Das Parlament billigte auch Erleichterungen für Irland und Portugal. Die Laufzeiten der Hilfskredite für beide Länder sollen um sieben Jahre verlängert werden, um die Ansteckungsgefahren für die Eurozone zu mindern. Rettung vor dem Staatsbankrott Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte, das Zypern-Paket sei notwendig, um die Stabilität und Handlungsfähigkeit der Euro-Zone zu schützen. „Wenn wir Zypern nicht helfen, steht Zypern unausweichlich vor dem Staatsbankrott.“ Dann drohten neue Ansteckungsgefahren für andere Euro-Krisenstaaten und gefährdeten Fortschritte in Griechenland, Irland oder Portugal. Die Euro-Länder seien bei der Bewältigung der Staatsschuldenkrise auf dem richtigen Kurs. Dabei dürften die Deutschen nicht vergessen, welche Lasten die Bürger in den Krisenstaaten zu schultern hätten. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier kritisierte Schäuble hart. Das Ja der SPD zum Rettungspaket sei keine Zustimmung zum Zypern-Krisenmanagement der Regierung. „Das war Dilettantismus.“ Die zunächst in Zypern geplante Einbeziehung von Kleinanlegern sei ein Riesenfehler gewesen und habe europaweit für Angst und Verunsicherung gesorgt. Das sei eine „erbärmliche Vorstellung“ der Euro-Retter gewesen. „Und sie haben darin keine saubere Rolle gespielt“, sagte Steinmeier zu Schäuble. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast warf der Regierung mangelnden Einsatz bei der Regulierung der Finanzmärkte oder dem Kampf gegen Steueroasen vor. Deutschland müsse sich stärker als bisher für Investitionsprogramme etwa zum Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit einsetzen. Der als Euro-Kritiker bekannte FDP-Abgeordnete Frank Schäffler sprach von „kollektivem Rechtsbruch“. Zypern sei nicht systemrelevant für den Euro-Währungsraum, wie es als Voraussetzung für die Hilfen vorgeschrieben sei. Zypern werde nicht zurückzahlen Linkspartei-Fraktionschef Gregor Gysi argumentierte, alle Auflagen, die jetzt auch Zypern gemacht würden, führten dazu, dass die Kaufkraft in dem Land zurückgehe, damit auch die Wirtschaft und die Steuereinnahmen. „Zypern und die anderen Länder werden deshalb nicht in der Lage sein, die Darlehen zurückzuzahlen.“ Dieses Geld werde wiederum in Deutschland bei den Sozialausgaben fehlen. Zypern selbst muss Milliardensummen zur Sanierung des Staatshaushalts aufbringen. So sollen Gläubiger und Anteilseigner der zyprischen Banken sowie Anleger mit Guthaben über 100 000 Euro zur Kasse gebeten werden. Auch werden Banken abgewickelt oder restrukturiert. Hinzu kommen höhere Steuern sowie Einnahmen aus Privatisierungen und Goldverkäufen sowie Reformen.
taz. die tageszeitung
Der Bundestag stimmt den Milliarden-Hilfen für Zypern zu. Außerdem verlängert das Parlament Hilfskredite für Irland und Portugal um sieben Jahre.
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Neonazis schäumen - taz.de
Neonazis schäumen ■ „NL“ verklagt Polizei wg. Demoverbot Hamburgs militante Neonazis werden immer dreister: Nachdem die neofaschistische Nationale Liste (NL) um Christian Worch und Thomas Wulff nach den Morden von Mölln zunächst mit einem Verbot gerechnet hat - eine Schutzschrift wurde vorsorglich beim Verfassungsgericht hinterlegt - wollen die Neonazis nun die Stadt verklagen. Grund: Der NL wurde Samstag eine Demo verboten. Am Donnerstag hatte die NLlerin Jennifer Meyer die Demo vor der Flüchtlingsunterkunft in der Sengelmannstraße angemeldet. Motto: „Gegen Sozialabbau“. Die Polizei hatte per Fax die Anmeldung bestätigt, am Freitag gegen 18 Uhr, so Worch, aber schriftlich ein Verbot verfügt. Grund: Die öffentliche Sicherheit sei durch den menschenverachtenden Tenor des Neonazi-Aufmarsches stark gefährdet. O-Ton Polizei: „In Anbetracht der Ereignisse von Solingen ist insbesondere in einer Zeit des Wahlkampfes in Hamburg davon auszugehen, daß auch durch die betreffende Mahnwache die Öffentlichkeit in erheblichem Maße angesprochen wird. Es ist davon auszugehen, daß die Anwohnerinitiative , die sich zum Schutz des Containerdorfs gegründet hat, gegen die Mahnwache aktiv werden wird und sich andere Gruppierungen anschließen.“ Die NL-Führer schäumen nun. Wulff: „Wir werden wegen dieses skandalösen Verhaltens vor dem Verwaltungsgericht Feststellungsklage einreichen.“ Begründung: Durch das späte Verbot habe die Partei keine Möglichkeit gehabt, beim Verwaltungsgericht eine Eilentscheidung gegen das Verbot zu erwirken. Die Neonazis geben sich offensiv: „Für den Fall einer Wiederholung behalten wir uns vor, nach dem 19. September eine Wahlanfechtungsklage zu erheben, weil ein schwerer Verstoß gegen die Chancengleichheit begangen worden ist.“ Wohl mit geringem Erfolg: Denn wer gegen die Menschenwürde verstößt, darf dafür nicht die Demonfreiheit mißbrauchen. Ludwig Lehmann/Peter Müller
L.Lehmann / P.Müller
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Nach der Wahl in Berlin: Lasset die Verhandlungen beginnen - taz.de
Nach der Wahl in Berlin: Lasset die Verhandlungen beginnen Die Spitzen von Rot-Rot-Grün sind sich einig, sie wollen Koalitionsgespräche aufnehmen. Ein Streitpunkt könnten die Finanzen werden. Berlins neue Gang? Michael Müller, Regierender Bürgermeister, inmitten seiner möglichen Koalitionspartner Klaus Lederer (Linke, rechts) und Daniel Wesener (Grüne) Foto: dpa BERLIN taz | Nach fast fünf Stunden interner Gespräche traten die Parteichefs von SPD, Linken und Grünen am Montagnachmittag aus dem Arbeitszimmer des Regierenden Bürgermeisters im Roten Rathaus. Drei Männer in schwarzen Jacketts, in der Mitte Michael Müller, gerahmt von Klaus Lederer (links) und Daniel Wesener (grün). Alle strahlten sie Zuversicht aus, Lederer gar grinste über beide Ohren. Müller sprach zuerst die entscheidenden Worte: „Es ist deutlich geworden, dass wir in Koalitionsverhandlungen etwas zu besprechen haben.“ Die Sondierungsgespräche, die die SPD vergangene Woche mit allen demokratischen Parteien führte, sind mit diesem Dreiergipfel also zu Ende gegangen – mit dem allseits erwarteten Ergebnis. Schon nach den Einzelsondierungen der SPD, zuerst mit den Linken, dann mit den Grünen, schienen die Differenzen überschaubar, die Atmosphäre harmonisch. Das war auch diesmal nicht anders. R2G, wie die Koalition aus zweimal Rot und einmal Grün genannt wird, soll es also richten – so der Wille der Parteichefs und Verhandlungsführer. Der strahlende Lederer betonte, dass sie sich gemeinsam über die „Tragweite der Probleme der Stadt bewusst“ seien, Wesener sprach von „sehr guten Gesprächen“. In einem Nebensatz verwies er darauf, dass deutlich wurde, dass Rot-Rot schon einmal regierte – was er damit meinte, bleibt unausgesprochen. Um Posten oder etwaige Ressortverteilungen sei es in der Runde nicht gegangen, stattdessen um Inhalte. Wesener – fast noch im Wahlkampfmodus – betonte, was sie als Grüne ansprachen: Kohleausstieg, Bedarfsprüfung bei der Vergabe von Hort- und Kitaplätzen, Radverkehr, den ÖPNV. Und wo hakt es? Müller verwies auf bevorstehende „harte Gespräche über finanzpolitische Fragen“ – also die Aufteilung von Investitionen und Schuldentilgungen. Ist das Verhältnis bislang 50:50, drängen Linke und Grüne auf eine deutliche Verschiebung hin zu Investitionen. Müller wird sich wohl beugen, verwies auf die „Spielräume“, die es gebe, natürlich im Rahmen eines weiterhin ausgeglichenen Haushalts. Die Köpfe links und rechts nickten. Der Zeitplan für die Koalitionsgespräche ist ambitioniert. Noch diese Woche entscheiden der SPD-Landesvorstand (Donnerstag), der Landesausschuss der Grünen (Mittwoch) und ein Parteitag der Linken (Freitag) über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Bis zum 8. Dezember heißt es, will man sich geeinigt haben und den neuen Senat vom Abgeordnetenhaus wählen lassen.
Erik Peter
Die Spitzen von Rot-Rot-Grün sind sich einig, sie wollen Koalitionsgespräche aufnehmen. Ein Streitpunkt könnten die Finanzen werden.
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Ein Ali, zwei Tore, drei Punkte - taz.de
Ein Ali, zwei Tore, drei Punkte ■ Jörg Albertz gewinnt 2:0 gegen Stuttgart, beschert dem HSV die ersten drei Punkte, bringt seinen Trainer an den Rand der Schwärmerei und seinen Ex-Coach ins Dozieren Alter und neuer Heilsbringer für den Hamburger SV ist Jörg Albertz. Der für 9,5 Millionen Mark von den Glasgow Rangers zurückgeholte offensive Mittelfeldspieler machte am Samstag beim 2:0 Sieg gegen den VfB Stuttgart genau das, wofür er eingekauft wurde: Tore schießen und Tore vorbereiten. Knapp 40 Minuten lang fiel der Blondschopf den 40.000 Zuschauern in der Arena lediglich durch verlorene Zweikämpfe und unglückliche Zuspiele auf. Doch dann jagte der Linksfuß nach einem eher zufälligen Pass von Bernd Hollerbach dem VfB-Keeper Timo Hildebrand völlig überraschend die Kugel in die Maschen. Fortan war „Ali“ ein anderer: Er strotzte vor Selbstbewusstsein, glänzte mit Pässen und demonstrierte einen unwiderstehlichen Drang in Richtung des gegnerischen Strafraums. Als Albertz auch noch gekonnt das 2:0 für Erik Meijer auflegte, wäre er am liebsten eine Ehrenrunde über die Zuschauerränge geflogen. Doch eine bereits in der 22. Minute erlittene Knieverletzung stoppte seinen Tatendrang und zwang ihn zum vorzeitigen Abgang. Eine Kernspintomographie ergab gestern eine Innenband- und Kapselzerrung sowie eine Knochenprellung. Dennoch halten die Ärzte seinen Einsatz am nächsten Samstag in München gegen 1860 für wahrscheinlich. „Es hat sich gelohnt, dass ich durchgehalten habe“, befand der 30 Jahre alte Ex-Schotte, der letztmals am 24. April 1996 für den HSV getroffen hatte. Von Zweifeln unangefochten äußerte sich HSV-Chef Werner Hackmann: „Albertz hat die Erwartungen erfüllt.“ Und HSV-Coach Frank Pagelsdorf geriet angesichts der gezeigten Leistung – für seine Verhältnisse – geradezu ins Schwärmen: „Eine exzellente Heimpremiere von Jörg.“ Der zu Beginn des Spiels sichtlich angespannte Trainer hatte seiner Mannschaft nach der 0:1-Pleite zum Saisonstart in Cottbus bedingungslosen Erfolg verordnet. Der Druck entlud sich in ungewohnt akrobatischen Luftsprüngen des 105-Kilo-Mannes nach dem zweiten Tor. „Ich bin froh, dass wir trotz der vielen verletzten Spieler einigermaßen aus den Startlöchern gekommen sind“, gestand der erleichterte Coach, der in den Hitlisten der Wettbüros als Nummer drei der möglichen Trainer-Entlassungskandidaten geführt wird. Kollege Felix Magath, dem als HSV-Chefcoach 1997 der Stuhl vor die Tür gesetzt worden war, erinnerte seine in der jungen Saison noch sieglose VfB-Mannschaft an die Grundlagen des mitteleuropäisch geprägten Ballspiels auf Rasen. „Fußball ist ein Kampfsport. Wer die meisten Zweikämpfe gewinnt, gewinnt das Spiel“, dozierte er und grollte: „Wir haben den Gegner stark gemacht. Nach dem 0:2 haben wir aufgesteckt.“ Die mit neuem Angriffs-Duo Ioan Viorel Ganea und Jochen Seitz angetretenen Schwaben bewiesen, warum sie seit 18 Auswärtsspielen kein Bein auf den Boden bekommen haben: harmlos, zahnlos, kraftlos. Gefällig zwar im Mittelfeld, doch im Sturm weht kaum ein Lüftchen. „Die Stuttgarter haben stark abgebaut“, stellte Hackmann abschließend fest. Für VfB-Spiellenker Krassimir Balakow, der sich durch Lauffreude auszeichnete, ist der verpatzte Saisonauftakt das erwartete Ergebnis. „Dass es schwer wird, war schon vor Saisonbeginn abzusehen“, meinte der Bulgare und beugte für die Zukunft vor: „Wir haben eine sehr junge Mannschaft. Wir müssen sehr viel Geduld haben.“ Franko Koitzsch
Franko Koitzsch
■ Jörg Albertz gewinnt 2:0 gegen Stuttgart, beschert dem HSV die ersten drei Punkte, bringt seinen Trainer an den Rand der Schwärmerei und seinen Ex-Coach ins Dozieren
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Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Eine nette Geste - taz.de
Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Eine nette Geste Alles hilft. Irgendwie. Die TUI unterstützt zusammen mit dem BMZ ein Projekt für die Qualifizierung tunesischer Frauen im Tourismus. Tunesierin bei der Kinderbetreuung im Club Mediterannee auf Djerba. Bild: imago/Caro Die TUI unterstützt in Tunesien ein Projekt für die berufliche Qualifizierung von Frauen im Tourismus. Das ist gut für die neun Frauen, die inzwischen mithilfe der GIZ ausgebildet wurden. Eine nette Geste, die der TUI als Beitrag zur tunesischen Revolution und zur Förderung von Frauen gut ansteht. Dass das Deutsche Entwicklungsministerium in Person von Dirk Niebel dies als entwicklungspolitischen Beitrag in einer schwierigen Situation verkauft, ist allerdings peinlich. Das BMZ sowie TUI tragen zur Realisierung des Projekts jeweils eine halbe Million Euro bei. Die Initiative setzt sich aus drei miteinander verknüpften Projekten zusammen: In erster Linie sollen die Arbeitschancen und -bedingungen von Frauen im Hotelsektor verbessert werden. Das zweite Projekt kümmert sich um die Weiterbildung von jungen, vornehmlich weiblichen Hotelangestellten, so dass sie höherwertige Tätigkeiten übernehmen können. Einen etwas anderen Ansatz verfolgt das dritte Projekt: Frauen im Kunsthandwerk mit besonderem Potenzial werden ausgewählt und durch gezielte Produkt- und Marktentwicklung unterstützt. Zu lapidar wirken die Maßnahmen – tunesische Frauen sind auch ohne TUI und GIZ im Tourismus vertreten. Zu groß und marktschreierisch werden sie verkauft. Hätten der Minister und TUI angekündigt, die TUI werde All-Inclusive-Anlagen in Tunesien zurückfahren, um dann mit einer Million Euro gemeinsam mittelständische Strukturen im Gastgewerbe vor Ort zu stärken und so die Forderung der Revolution nach Arbeit zu stützen, wäre das ein echter Beitrag und keine Imagepflege. Aber seit die GIZ in einer Studie auch All-Inclusive-Anlagen als förderungswürdig zur Armutsbekämpfung einstuft, ist ja alles, wo überhaupt investiert wird, hilfreich und gut. Irgendwie. Und wenn Niebel im TUI-Center in Berlin sein Buch präsentiert und die FDP ihrer Klientel bei der Hotelsteuer entgegenkommt, so versteht man, was Niebel meinte, als er seinen entwicklungsspolitischen Kurs ankündigte: „Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist ausdrücklich interessenorientiert.“
Edith Kresta
Alles hilft. Irgendwie. Die TUI unterstützt zusammen mit dem BMZ ein Projekt für die Qualifizierung tunesischer Frauen im Tourismus.
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Silvio-Meier-Demo gibt es nicht mehr: Ein Ende ohne Schrecken - taz.de
Silvio-Meier-Demo gibt es nicht mehr: Ein Ende ohne Schrecken In diesem Jahr fand sich keine Gruppe mehr, die die Organisation der Gedenkdemonstration übernehmen wollte. Ein Wochenkommentar. Im Jahr 2017 gab es sie noch: die Silvio-Meier-Demonstration zieht durch Friedrichshain Foto: dpa Aus und vorbei: Die ­traditionsreiche antifaschistische Silvio-Meier-Demonstration gibt es nicht mehr, wie diese Woche bekannt wurde. 25 Jahre lang gedachten AntifaschistInnen mit dieser Demonstration des Berliner Hausbesetzers Silvio Meier, der am 21. November 1992 im U-Bahnhof Samariterstraße von Neonazis ermordet wurde. Die Teilnehmerzahl war bereits in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. In diesem Jahr fand sich schlicht keine Gruppe mehr, die die Organisation der Gedenkdemonstration übernehmen wollte. Das ist schade, einerseits. Jahrelang war die Silvio-Meier-Demo ein wichtiges Ereignis vor allem für jüngere DemonstrantInnen, die dafür aus ganz Deutschland nach Berlin anreisten. Antifaschistisches Gedenken und Nachwuchsarbeit gingen hier Hand in Hand. Menschen über die Szene hinaus zu mobilisieren war dabei nie das Ziel. Das merkte man der Demonstration auch an, ihre Berechtigung hatte sie lange dennoch. Zuletzt allerdings erstarrte sie zum selbstbezüglichen Ritual, auch die Bezugnahme auf aktuelle politische Entwicklungen und Ereignisse wollte nicht mehr recht gelingen. Dass es die Demo in dieser Form nicht mehr gibt, ist deswegen kein großer Verlust. Zumal es eine Fehlinterpretation wäre, vom Ende der Silvio-Meier-Demonstration auf einen grundsätzlichen Niedergang antifaschistischer Bewegung in Berlin zu schließen. Im Gegenteil: Nach einigen Jahren eher mauer Mobilisierungen zogen Proteste gegen rechts in diesem Jahr wieder mehr Menschen an. Um den Nachwuchs muss man sich nicht sorgen Und auch um den Nachwuchs muss man sich keine allzu großen Sorgen machen: Obwohl es in Berlin kaum Gruppen gibt, die sich die Nachwuchsarbeit auf ihre Fahne geschrieben haben, sind es auffällig viele sehr junge Leute, die in den letzten Monaten gegen die Bärgida-Kundgebungen, den Rudolf-Heß-Marsch oder die bundesweite AfD-Demonstration protestierten. Mit dem Ende der Silvio-Meier-Demo ist nun Platz für Neues Die Voraussetzungen für ein Wiedererstarken antifaschistischer Bewegung sind also gegeben. Jetzt müssen sie nur noch genutzt werden. Gedenken und lebendige Traditionen können dabei hilfreich sein, erstarrte Rituale eher nicht. Dass mit dem Ende der Silvio-Meier-Demons­tration nun Platz für Neues ist, ist deswegen auch eine gute Nachricht.
Malene Gürgen
In diesem Jahr fand sich keine Gruppe mehr, die die Organisation der Gedenkdemonstration übernehmen wollte. Ein Wochenkommentar.
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„In der CDU hat sich etwas bewegt“ - taz.de
„In der CDU hat sich etwas bewegt“ ■ Die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) sieht Chancen für eine Korrektur des Einbürgerungsrechtes CDU-Präsidiumsmitglied Johannes Gerster hat überraschend den Vorschlag gemacht, Kinder von in Deutschland lebenden Ausländern sollten mit der Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. In ihrem Koalitionsvertrag hatten CDU/CSU und FDP noch mit dem merkwürdigen Konstrukt einer Kinderstaatszugehörigkeit aufgewartet. Danach sollten ausländische Kinder Deutsche auf Zeit werden können, wenn ein Elternteil bereits in Deutschland geboren wurde und der andere mindestens schon 10 Jahre in Deutschland gelebt hat. Deutet der Vorschlag von Herrn Gerster einen Sinneswandel innerhalb der CDU an? Schmalz-Jacobsen: Es klingt ja so. Nur hätte ich mir gewünscht, daß sowohl Frau Süssmuth, die sich ja ähnlich zum Thema geäußert hat, als auch Herr Gerster vor den Koalitionsverhandlungen mit ihren Vorschlägen an die Öffentlichkeit gegangen wären und nicht erst jetzt. Halten Sie denn Gersters Vorschlag für mehrheitsfähig bei Ihrem Koalitionspartner? Es ist offenkundig, daß sich beim Partner CDU/CSU etwas bewegt, und da muß man jetzt noch einmal gründlich miteinander verhandeln. Worin liegen die Tücken dieses neuen Vorschlages, oder gehen Sie als Ausländerbeauftragte damit völlig d'accord? Ich gehe damit nicht völlig d'accord. Im Unterschied zu meinen Vorstellungen müssen sich die Jugendlichen mit 18 Jahren immer noch zwischen der eigenen und der deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden. Aber wenn sich die Grundidee – Kinder nicht-deutscher Eltern, die die Voraussetzungen erfüllen, werden mit der Geburt deutsche Staatsangehörige – durchsetzen würde, wären wir wirklich einen entscheidenden Schritt weiter. Ist das Thema doppelte Staatsbürgerschaft mit diesem Vorschlag, so er denn mehrheitsfähig sein sollte, vom Tisch? Das Thema, um das es hier geht, lautet: Erleichterung der Einbürgerung. Und diese läßt sich erreichen durch die Schaffung weiterer Rechtsansprüche auf Einbürgerung, durch die Ergänzung des Staatsangehörigkeitsrechts des ius soli oder aber durch die vermehrte Hinnahme von Doppelstaatsangehörigkeiten. Ich habe den Eindruck, in der letzten Zeit ist hier die Rangfolge etwas durcheinander geraten. Natürlich besteht weiterhin die Notwendigkeit, über die doppelte Staatsbürgerschaft zu diskutieren. Und wir waren ja an diesem Punkt in der letzten Legislaturperiode innerhalb der Koalition schon einmal weiter – so weit, daß man zum Beispiel Fälle präzisieren sollte, in denen eine doppelte Staatsbürgerschaft eingeräumt wird. Aber das wurde dann kurz vor der Wahl vom Koalitionspartner vom Tisch gezogen. Es bleibt aber weiter auf der Tagesordnung. Die SPD hat angekündigt, sie werde dazu genau den Gesetzesentwurf in den Bundestag einbringen, den Sie als Ausländerbeauftragte formuliert haben. Da könnten Ihre FDP-Kollegen in die Zwickmühle geraten. Das wollen wir erst einmal abwarten. Es ist ein schöner Brauch aller Oppositionsfraktionen, Koalitionen damit zu ärgern, daß man ihre eigenen Entwürfe wieder vorholt. Wir müssen jetzt sehen, ob es der Koalition gelingt, mit Hilfe solcher Stimmen wie von Rita Süssmuth oder Johannes Gerster dem etwas Eigenes entgegenzustellen. Es kann Ihnen aber passieren, daß Sie über Ihren eigenen Vorschlag abstimmen müssen. Das kann durchaus passieren. Und wie wird die Abgeordnete Schmalz-Jacobsen sich verhalten? Sie wird in keinem Fall dagegen stimmen. Interview: Vera Gaserow
Vera Gaserow
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Fußballklub Uerdingen ohne Geldgeber: Der hohe Preis des Investors - taz.de
Fußballklub Uerdingen ohne Geldgeber: Der hohe Preis des Investors Der Mäzen Mikhail Ponomarev kündigt seinen Rückzug beim Fußball-Drittligisten KFC Uerdingen an. Sein Erbe: ein kaputter Verein. „Emotional müde geworden“: Investor Ponomarev ist für seine Kurzschlussreaktionen bekannt Foto: Revierfoto/imago Als sich der Fußball-Drittligaverein KFC Uerdingen Ende November mit Kevin Großkreutz vor dem Krefelder Arbeitsgericht traf, war Mikhail Ponomarev nicht vor Ort. Was kaum jemanden wunderte, denn der Investor des Fußball-Drittligisten wird bei derlei unappetitlichen Terminen selten vorstellig. Diese Angelegenheiten erledigen seine Anwälte, die gut beschäftigt sind. Denn die Anzahl der Verfahren, die der KFC in den vergangenen Jahren allein gegen nicht mehr willkommene Spieler und Trainer führte, sind schon lange nicht mehr an zwei Händen abzählbar. Meistens verliert der KFC die Prozesse. Wie auch den gegen Großkreutz, den Weltmeister von 2014. Dem war Anfang Oktober fristlos gekündigt worden, gleichzeitig waren die Gehaltszahlungen eingestellt worden. Großkreutz hatte aber noch einen Vertrag bis Juni 2021. Und das Gericht entschied: Der KFC muss dem Spieler ausstehende Gehälter und eine Abfindung zahlen. Von insgesamt über 440.000 Euro war die Rede. Ähnlich gingen die Dinge jüngst bei den Aussortierten Patrick Pflücke, Alexander Bittrof, Tom Boere, Rene Vollath, Selim Gündüz und Dennis Daube aus. Überall musste der zahlungsunwillige Verein im Nachhinein das Portemonnaie doch noch öffnen. Auch der Ex-Kölner Dominik Maroh erstritt vor Gericht noch einmal 150.000 Euro. Welche enormen Summen beim KFC offenbar selbst in der Dritten Liga über den Tisch gehen, erscheint mitunter schwindelerregend. Doch der außerordentlich gute Verdienst in Krefeld könnte auch eine Art Schmerzensgeld für die Spieler sein, wie zuletzt der aussortierte Selim Gündüz in einem RevierSport-Interview erklärte: „Ich habe nirgendwo zuvor so eine fehlende Menschlichkeit erlebt wie beim KFC Uerdingen. Ich bin mir sicher, dass es das kein zweites Mal in Fußball-Deutschland gibt“, sagte der jetzige Profi des Ligarivalen Hallescher FC. „Ich habe in Siegen, Bochum, Darmstadt oder jetzt in Halle gespielt. Überall herrschen professionelle Bedingungen, Strukturen vor. Beim KFC ist das nicht der Fall. Ich würde niemandem raten, zum KFC Uerdingen zu wechseln – für kein Geld der Welt.“ Investition von vielen Millionen Euro Was man mit derlei Vereins­politik erreicht? Nun, zumindest keine Kontinuität. Spieler und Trainer geben sich ja gewissermaßen die Klinke in die Hand. Man verliert leicht den Überblick, wie viele Trainer der KFC allein seit 2016 geholt und wieder entlassen hat. Oder soll man besser sagen: den Ponomarev geholt und wieder entlassen hat? Seit seinem Einstieg 2016 als Investor hält er 97,5 Prozent an der aus dem Verein ausgegliederten KFC Uerdingen 05 Fußball GmbH. Und investierte seither viele Millionen Euro in das Team. Für sein finanzielles Engagement forderte Ponomarev allerdings Narrenfreiheit im Umgang mit seinem Personal ein. Der 46-Jährige entscheidet alles – und zwar ganz allein nach Gutsherrenart. Seine Wutausbrüche in der Mannschaftskabine sind legendär. Seine Rausschmisse nach Kurzschlussreaktionen ebenso. Seit 2016 wurden Spieler und Trainer – sehr gern einstige Bundesligahelden – zu Dutzenden geholt und wieder weggeschickt. Große Namen haben es dem Klubchef dabei angetan – sogar Stefan Effenberg war 2019 mal ein halbes Jahr lang als Manager dabei. Momentan sitzt mit Stefan Krämer seit März diesem Jahr ein Coach auf der Bank, den Ponomarev im Januar 2019 schon einmal geschasst hatte. Allein zwischen Krämers beiden Engagements, also zwischen Januar 2019 und März 2020, haben sechs verschiedene Trainer beim KFC das Sagen gehabt. Was das alles mit Fußball zu tun hat? Offensichtlich nur noch wenig, denn die sportlichen Schlagzeilen des Drittligisten waren in der Ponomarev-Ära vergleichsweise eher bescheiden. Zwar stieg der Verein nach Ponomarevs Einstieg als Investor im Sommer 2016 in der Folge zweimal nacheinander auf, danach stagnierte die Entwicklung aber. Für sein Geld forderte Ponomarev Narrenfreiheit in der Personalpolitik ein Angesichts dieser erneut miesen Aussicht scheint der KFC-Investor nun die Lust an seinem Engagement verloren zu haben. „Spätestens im Sommer 2021 steige ich aus, vielleicht schon früher“, kündigte Ponomarev am vergangenen Wochenende an. Er sei „emotional müde geworden“, ließ er wissen. Ein Szenario, das bei dem 46-Jährigen nicht unbedingt neu ist. Ponomarev investierte schon in den russischen Eishockeyverein Me­tallurg Magnitogorsk, den britischen Fußballverein AFC Bournemouth und seit seinem Umzug ins Rheinland in die Eishockeyklubs Düsseldorfer EG und Krefeld Pinguine. Wie Ponomarev zu Geld gekommen ist, bleibt nebulös. Einst in Moskau bei einem großen Mineralölkonzern engagiert, war er anschließend in der Geschäftsführung mehrerer Firmen aktiv, den Weg ins Rheinland soll er vor rund zehn Jahren über eine in Düsseldorf gegründete Unternehmensberatung gefunden haben. Die parallel gestarteten Engagements im Profisport endeten jeweils bald in Ärger, Streit und Trennung. Der Umgang mit dem Investor scheint nicht gerade leicht. Vor allem dann nicht, wenn der sportliche Erfolg ausbleibt. Wie jetzt in Uerdingen. Statt den mit viel Aufwand anvisierten Aufstieg in die Zweite Liga zu realisieren, blieb der KFC in der Dritten Liga hängen. Das scheint auch in der laufenden Saison nicht besser zu werden. Nach 14 Spielen rangiert der KFC mit 16 Zählern auf Rang zwölf der Tabelle. Der Abstand nach unten in die Abstiegszone ist kleiner als der zu den begehrten Aufstiegsrängen. Ponomarevs Anteile am KFC stehen nun zum Verkauf. Im Gespräch mit der Westdeutschen Zeitung deutete der Geldgeber am Wochenende an, neue interessierte Geschäftsleute kämen womöglich aus Armenien.
Olaf Jansen
Der Mäzen Mikhail Ponomarev kündigt seinen Rückzug beim Fußball-Drittligisten KFC Uerdingen an. Sein Erbe: ein kaputter Verein.
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Eskalation in Nahost: Zuspitzung in Nahost - taz.de
Eskalation in Nahost: Zuspitzung in Nahost Die Gewalt in Israel und den palästinensischen Gebieten eskaliert erneut. Vorausgegangen war eine tödliche Razzia im Westjordanland. Israelische Polizisten patrouillieren vor dem Haus des 21-jährigen palästinensischen Angreifers Foto: Ammar Awad/reuters taz | TEL AVIV Das Ganze werde niemals aufhören, sagt ein junger Israeli am Samstag in Ein Kerem, einem beliebten Ausflugsziel in Jerusalem, einige Kilometer vom Ostteil der Stadt entfernt, wo zuvor zwei Anschläge die Stadt und das Land erschüttert haben. „Frieden wird es hier nicht geben“, sagt er und schlägt die Kofferraumtür zu, „nicht, solange ich lebe.“ Die Ereignisse der letzten Tage haben die ohnehin schon verhärteten Fronten in Israel und den palästinensischen Gebieten weiter zementiert. Am Freitagabend hatte ein palästinensischer Angreifer in der Nähe einer Synagoge in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov auf Spaziergänger geschossen und dabei sieben Israelis getötet und drei verletzt. Der 21-jährige Ostjerusalemer wurde von der Polizei getötet. Kurz danach folgte der nächste Anschlag: Am Samstagvormittag zielte ein 13-jähriger Palästinenser in der Nähe der Jerusalemer Altstadt mit einer Waffe auf eine Gruppe jüdischer Israelis. Ein Vater und sein Sohn wurden schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Der Attentäter, der aus dem Ostjerusalemer Stadtteil Silwan stammen soll, wurde angeschossen und ebenfalls in eine Klinik gebracht. Medienberichten zufolge ist der Teenager mit Wadi Abu Ramoz verwandt, der am Mittwoch bei Zusammenstößen mit der Polizei in Silwan angeschossen worden war, nachdem er einen Molotowcocktail geworfen hatte. Freitagnacht war Ramoz im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzung gestorben. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu besuchte den Tatort in der Ostjerusalemer Siedlung Neve Yaakov und sprach den Familien der Toten sein Mitgefühl aus. Er rief die Israelis auf, keine Selbstjustiz zu üben. Auch Israels rechtsextremer Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, begab sich zum Schauplatz des Angriffs. Laut Medienberichten riefen ihm dabei einige zu: „Tod den Terroristen“. Hazem Qassem, Sprecher der militanten Organisation Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, der Anschlag vom Freitag sei eine „Antwort auf die Verbrechen der Besatzungskräfte“ in Dschenin. In der Stadt im Westjordanland hatte die israelische Armee am Donnerstag eine Razzia gegen militante Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durchgeführt, bei der neun Personen getötet wurden, darunter Zivilist*innen, auch eine ältere Frau. Mindestens 20 Personen wurden zudem verletzt. Israelische Regierung will Verfahren zum Erwerb von zivilen Waffenscheinen erleichtern Die Razzia rief unter Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen Entsetzen hervor. Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, nannte den Vorfall „ein Massaker der israelischen Besatzungsregierung“. Er rief eine dreitägige Trauer aus. Die Hamas feuerte Raketen auf Israel ab. Das israelische Militär flog Vergeltungsschläge. Eine weitere Eskalation zwischen der Hamas und Israel blieb bislang aber aus. Palästinensischen Medienberichten zufolge feierten Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen am Wochenende im Gazastreifen und im Westjordanland die Terroranschläge gegen Israelis. Innerhalb Israels sowie im Westjor­dan­land verschärft sich die Situation zusehends. Am Samstagabend beschloss die israelische Regierung als Antwort auf die Anschläge eine Reihe von Maßnahmen. Sie will das Verfahren zum Erwerb von zivilen Waffenscheinen verkürzen und erleichtern. Laut Berichten des Fernsehsenders Channel 11 gibt es sogar Pläne, den Erwerb von Waffen zu subventionieren. Netanjahu kündigte außerdem an, die Häuser der Attentäter unmittelbar nach dem Angriff zu versiegeln, noch bevor sie, wie auch bislang schon üblich, zerstört werden. Am Sonntag wurde im Ostjerusalemer Viertel Al-Tur das Haus des Attentäters von Neve Yaakov versiegelt. Bereits am Freitag wurden sämtliche Be­woh­ne­r*in­nen des Hauses von israelischen Sicherheitskräften dazu gebracht, das Haus zu verlassen. Als weitere geplante Maßnahmen sind eine Streichung von Sozialleistungen für die Familien von Attentätern im Gespräch. Auch sollen die Attentäter selbst des Landes verwiesen werden, wobei unklar blieb, wohin sie abgeschoben werden könnten. Zudem kündigte die Regierung am Sonntag an, den Bau von Siedlungen im Westjordanland zu verstärken. Damit wolle man „den Terroristen, die uns aus unserem Land entwurzeln wollen, klarmachen, dass wir hier bleiben“. Was das konkret bedeutet, blieb ebenfalls im Vagen. Damit geht Netanjahu auf Konfrontationskurs zu den USA. Außenminister Antony Blinken wird am Montag und Dienstag in Israel sowie im Westjor­dan­land erwartet. Anders als die Vorgänger-Administration unter Donald Trump, die der israelischen Siedlerbewegung nahestand, steht die US-Regierung unter Joe Biden der israelischen Siedlungspolitik im besetzten Westjordanland kritisch gegenüber. „Wir werden uns auch weiterhin unmissverständlich allen Handlungen entgegenstellen, die die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung untergraben“, hatte Blinken sich geäußert. Auch die Bundesregierung verurteilte die Terrorangriffe in Jerusalem Aus Europa kamen als Reaktion auf die jüngste Gewalteskalation mahnende Worte. Man „erkenne Israels legitime Sicherheitsbedenken, die von den jüngsten Terroranschlägen erneut gerechtfertigt werden, voll und ganz an, aber es muss betont werden, dass tödliche Gewalt nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, wenn sie zum Schutz von Leben absolut unvermeidlich ist“, erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Samstag. Zugleich setzte er die Eskalation in den Kontext der jüngsten Geschehnisse. Israelische Sicherheitskräfte hätten seit Beginn des Jahres 30 Palästinenser im Westjordanland getötet. Zudem seien im vergangenen Jahr mehr als 150 Menschen im Westjordanland von israelischen Einsatzkräften getötet worden, darunter 30 Kinder. Er sprach von einer „Spirale der Gewalt“ und forderte, die Friedensgespräche, die seit fast zehn Jahren auf Eis liegen, wieder in Gang zu bringen. Konkrete Vorschläge machte er allerdings nicht. Auch die Bundesregierung verurteile die Terrorangriffe in Jerusalem. Jetzt brauche es Zusammenarbeit und Dialog zwischen Israel und den palästinensischen Behörden, hieß es in einer Mitteilung des Auswärtigen Amts am Samstag. Die Palästinensische Autonomiebehörde hatte am Donnerstag erklärt, ihre Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen zu beenden. Allerdings hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas schon öfter mit diesem Schritt gedroht, ohne seinen Worten Taten folgen zu lassen. Die Sicherheitszusammenarbeit der palästinensischen Führung mit Israel ist einer der bemerkenswertesten Aspekte der komplexen Situation in Nahost. So arbeiten die palästinensischen Sicherheitskräfte – Polizei und Geheimdienst – mit ihren israelischen Kollegen zusammen, etwa um Terroranschläge zu verhindern und mittelfristig ein Erstarken der Hamas, die im Gazastreifen herrscht, im Westjordanland zu unterbinden. Die Kooperation geht zurück auf die Oslo-Verträge der neunziger Jahre, mit denen die Palästinensische Autonomiebehörde geschaffen wurde. Mahsen Abd Elhadi aus dem arabischen Dorf Iksal in Israel, in der Nähe von Nazareth, macht sich große Sorgen: „Die neue Regierung geht gegen uns palästinensische Israelis an, gegen unsere Interessen und unsere Identität. Und jeden Tag hört man von getöteten Palästinensern im Westjordanland oder einem Anschlag gegen jüdische Israelis.“ 2022 war das blutigste Jahr seit dem Ende der zweiten Intifada Die palästinensische Israelin ist bei der jüdisch-arabischen Graswurzelbewegung Standing Together aktiv und setzt sich für Koexistenz, für Frieden und Gleichheit ein. In ihren Augen hätten zwar sämtliche israelische Regierungen die mehr oder weniger gleiche Ideologie verfolgt. Doch mit der derzeitigen rechtsextremen Regierung steuere das Land auf kriegsähnliche Zustände zwischen Sied­le­r*in­nen und Palästinenser*innen, zwischen Ultraorthodoxen und Säkularen zu. 2022 war das blutigste Jahr seit dem Ende der zweiten Intifada – laut der Menschenrechtsorganisation B’Tselem wurden fast 150 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen im Westjordanland vom israelischen Militär getötet. Mit der neuen rechtsextremen Regierung, in der radikale Siedler wie Ben-Gvir und Bezalel Smotrich für die Politik im Westjordanland zentrale Ministerposten innehaben, deutet alles darauf hin, dass die Situation 2023 noch stärker eskalieren dürfte. Hoffnung hat Abd Elhadi kaum. Auf die Straße geht sie trotzdem. Gemeinsam mit den Zehntausenden überwiegend jüdischen Israelis, die in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und anderen Städten des Landes jeden Samstagabend auf die Straße gehen, zieht auch sie los. Die Demonstrationen richten sich in erster Linie gegen die geplante Justizreform der neuen Regierung und den Abbau der Demokratie. Die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen der Proteste geben sich Mühe, die Demonstrationen, an der Liberale von links bis rechts teilnehmen, nicht mit politischen Themen aufzuladen, die Spaltungspotenzial haben. Das heißt: Dinge wie die Besatzung des Westjordanlandes oder die aktuellen Maßnahmen der Regierung werden so weit wie möglich ausgeblendet. Es gibt dennoch Blöcke, die solche Themen aufgreifen, dazu gehört auch Abd Elhadis Block um Standing Together. Sie ist fest davon überzeugt, dass ein Ende der Besatzung zu Frieden führen kann. Die Eskalation der letzten Tage, so hört man von Netanjahu-Kritiker*innen, kommt dem Ministerpräsidenten zugute, denn sie lenkt ab von den Massenprotesten. Am Samstag zogen wieder Zehntausende auf die Straßen, doch an die Zahl der vergangenen Woche kam die Demonstration nicht heran. Die Stimmung war gedämpfter. Vereinzelt hörte man Medienberichten zufolge sogar aus dem Protestlager, dass in einem solchen Moment Netanjahu der Rücken gestärkt werden müsse. Der Kampf darum, wer Israel präsentiert – das Protestlager oder die Unterstützer der Regierung –, wird wohl noch eine Weile anhalten. So lange wird auch Abd Elhadi auf die Straße gehen. „Wir dürfen uns nicht spalten lassen“, sagt Abd Elhadi: „Wir müssen zusammen kämpfen. Jüdische und arabische Israelis. Wir haben keine andere Wahl.“
Judith Poppe
Die Gewalt in Israel und den palästinensischen Gebieten eskaliert erneut. Vorausgegangen war eine tödliche Razzia im Westjordanland.
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Internetitis Von Matthias Bröckers - taz.de
Internetitis Von Matthias Bröckers Die Ära des Personalcomputers wird vom Internet-Personalcomputer abgelöst. Auf Computermessen wie der CeBit geht deshalb die Faszination auch weniger von den Computern selbst aus, sondern von ihren Möglichkeiten der Kommunikation. Bisher war die Kiste stumm und dumm, jetzt erst, vernetzt, erwacht sie zum Leben. „Festplatte“, „Megabyte“ und „Floppy-Disk“ – die Zauberwörter, mit denen in den Achtzigern die schöne neue Computerzukunft beschworen wurde, sind vergessen, Online, Internet und WWW heißen die neuen magischen Formeln der Branche.„Wer jetzt keine Homepage hat, baut sich keine mehr“, die Torschlußpanik, mit der Medien und Werbung das Internet hochjubeln, ist grenzenlos. Und der Schwachsinn feiert fröhliche Urständ: Daß ein Gastwirt aus Duisburg „als erster die Idee“ hatte, für seine „Dorfschenke“ eine Homepage einzurichten, ist der Deutschen Presse Agentur schon einen 60-Zeilen-Bericht wert. Dabei handelt es sich natürlich um nichts anderes als um einen simplen Eintrag im elektronischen Branchenbuch und keineswegs, wie die Überschrift suggeriert, um eine „Kneipe im Internet“. Und doch kann es nicht mehr lange dauern, bis es auf schrillen Anzeigen heißt: „Besuchen Sie die tollsten Kneipen, treffen Sie die tollsten Partner, amüsieren Sie sich rund um die Uhr – online!“ Zwar ist nichts davon wahr und virtuelles Saufen genauso unmöglich wie Cybersex, doch um zahlendes Publikum auf den digitalen Rummmelplatz zu locken und es von wirklichen Kneipen, leibhaftigen Partnern und echtem Amüsement abzuhalten, scheint derzeit keine Lüge zu plump. „Lesen Sie Ihre Zeitung schon am Abend zuvor – online!“ Ja, und was soll ich am nächsten Morgen beim Frühstück machen – einen Monitor auf den Kaffeetisch stellen??? Beziehungsweise gleich vier, weil die anderen ja auch ein Stück Zeitung mitlesen wollen? Wenn Internetitis und Onlineismus weiter so seuchenartig um sich greifen, scheint das nur noch eine Frage der Zeit. Für Menschen, die beruflich Archive nutzen – Wissenschaftler, Studenten, Journalisten –, mögen vernetzte Computer und die Möglichkeit zur Abfrage von Datenbanken sehr nützlich sein. Was aber sollen Otto und Ottilie Normalverbraucher mit diesen Giga-Halden an Information anfangen, welche wichtige, unverzichtbare Information kommt dank des „Info-Zeitalters“ jetzt in ihre Wohnstuben? Sind es essentielle Spitzeninfos wie die oben erwähnte Kneipenannonce, sind es die wunderbaren Werbebotschaften, die die E-Mail-Box noch gnadenloser zumüllen als die Wurfsendungen den Briefkasten, sind es Rembrandts „Nachtwache“ und andere digitalisierte Meisterwerke, die eine Aura des Erhabenen auf den 14-Zoll-Flimmerkasten zaubern werden, oder die Preview der Pornos, die der Video- Shop an der Ecke erst übermorgen reinkriegt? Es ist bezeichnend, daß solche Fragen im Zuge des grassierenden Datenautowahns kaum gestellt werden. Wo es einen klaren Zweck gibt, muß das Mittel (Medium) nicht hochgejubelt werden. Die hysterische Propaganda für das neue Medium entlarvt sich selbst, ihre Lautstärke tönt nur darüber hinweg, daß ein Zweck nicht existiert. Außer für die Betreiber des ganzen Zirkus: Ihnen ist das Mittel Selbstzweck genug.
Matthias Bröckers
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Debatte Neue Bürgerlichkeit: Bürgerliche Zombies - taz.de
Debatte Neue Bürgerlichkeit: Bürgerliche Zombies Die Grünen haben die Bürgerlichkeit entdeckt. Doch ist sie wirklich neu? Oder treibt da eine auferstandene alte Bildungsbürgerlichkeit ihr Unwesen? Können die Grünen ihre eigene Interessenlage transzendieren? Bild: prokop / photocase.com Die Grünen haben eine neues Zauberwort gefunden: „bürgerlich“. Ist „bürgerlich“ ein unverfängliches Wort? Meint es den Abschied von realitätsuntüchtigen Flausen, eine Orientierung am Gemeinwohl? Oder ein Anschmiegen an die selbst ernannten bürgerlichen Parteien Union und FDP? Das Wort „bürgerlich“ schillert. Es hat im Deutschen mindestens zwei Bedeutungen. Es kann den Staatsbürger meinen, also in einem egalitären Sinne bedeuten, dass sich die Grünen als Partei aller verstehen und stets das Gemeinwohl im Sinn haben. Allerdings ist „bürgerlich“ auch eine Klassenbezeichnung und wäre somit eine Geste der Distinktion, die die Grünen als Partei einer Gruppe inszeniert, die sich über einen bestimmten Habitus definiert. Die Grünen werden von gut verdienenden Beamten und Selbstständigen gewählt, Niedrigverdiener gibt es in der Partei kaum. Nur die FDP ist sozial so exklusiv wie die Grünen. Bei den Grünen nimmt die „neue Bürgerlichkeit“ eine seltsam changierende Gestalt an. Laut Cem Özdemir sind die Grünen konservativ, aber nicht im überkommenen Sinn. Andererseits wollen die Grünen auch links sein, wenngleich auch keine traditionelle Weltanschauungspartei. Die Grünen nähern sich mit ihrer Wertschätzung der Familie kirchlichen Positionen an, sind aber andererseits entschieden antikirchlich, was Abtreibungen und die Sexualmoral anlangt. Diese programmatischen Äußerungen sind gerade in ihrer Widersprüchlichkeit Ausdruck des postmaterialistisch-alternativen Milieus. DIE AUTORENStefan Reinecke ist Autor der taz und beschäftigt sich vor allem mit Partei- und Geschichtspolitik. Er wohnt in Berlin-Kreuzberg, das sich derzeit rasant verbürgerlicht.Christian Semler ist seit 1989 bei der taz. Zuletzt schrieb er über Menschenrechte und die Kritik an China. Was ist also neu an der „neuen Bürgerlichkeit“? In einer längst untergegangenen Welt firmierten Teile der akademisch gebildeten kleinbürgerlichen Schichten unter dem selbst gewählten Begriff des „Bildungsbürgertums“. Politisch abstinent, kompensierten sie ihre Machtlosigkeit durch den Anspruch, Bildungselite zu sein. Sie hatten Angst vor der Anonymität des modernen Kapitalismus und verachteten dessen Protagonisten. Gleichzeitig verabscheuten sie die „Plebejer“ und klammerten sich an ihre prekäre gesellschaftliche Stellung. Das Unwesen des alten Bildungsbürgertums Manchmal hat man den Eindruck, dass in der „neuen Bürgerlichkeit“ das alte Bildungsbürgertum gleich Untoten sein Unwesen treibt. Es gibt kein Revival privater Dichterlesungen, wo Jünglinge an den Lippen verehrter Meister hängen. Dennoch ist die Rückbesinnung auf die angeblichen Tugenden des Bildungsbürgertums wie eben die Wertschätzung von Bildung im weiten Sinn, von Höflichkeit und Anstand wichtig für das Selbstverständnis des grün-alternativen Milieus. Nicht als starre Tugendlehre, sondern eher im Sinn eines Werkzeugkastens, aus dem man sich nach Bedarf bedient. Für das grün-alternative Milieu steht Geborgenheit vor experimenteller Lebensführung. Es ist der ökonomische Druck, die Gefahr des Absturzes in die Unterklasse, die die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen befördert. Hier finden sich reale Anknüpfungspunkte an die Lage des „klassischen“ Bildungsbürgertums. Neu an der „neuen Bürgerlichkeit“ ist, dass die Konzentration auf Familie und Freundeskreis nicht gleichbedeutend ist mit dem Rückzug ins Private. Offenheit gegenüber der Welt und ihren ungelösten Problemen gehört zur Grundausstattung. Insofern gibt es einen universalistischen Grundzug im Denken. Neu ist auch das politische Selbstverständnis als Bürger. In ihm steckt der Anspruch, verantwortungsvoll dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Vorbild ist der „Citoyen“ der neuzeitlichen demokratischen Revolutionen. Wir bewegen uns hier im Bereich hoher Normativität. Aber auch der Citoyen von heute ist in die Lebenswirklichkeit verwickelt. Als Angehöriger des grün-alternativen Milieus teilt er die Interessen und Befürchtungen seiner Schicht, er ist bürger-lich. Distanz zum Unten Einiges spricht dafür, dass im neubürgerlichen Selbstverständnis der Grünen dieser Subtext stark mitschwingt. Als vor zehn Jahren in den Feuilletons und Soziologieseminaren das Neubürgerliche entdeckt wurde, ging dies nicht zufällig mit der Debatte über die Unterschicht einher. Die Hartz-IV-Klientel, so das Bild, zeigte sich resistent gegen alle pädagogischen Aufforderungen, sich aus dem Fernsehsessel zu erheben und Aufstiegswillen zu demonstrieren. Der leicht angeekelte Blick des Neobürgertums auf das RTL2 -Publikum war auch ein Abwehrreflex: die Selbstversicherung einer verunsicherten Mittelschicht, die ahnt, dass es auf der Rutsche Richtung Hartz IV ganz schnell gehen kann. Die grüne Bürgerlichkeit meint Werte und Gemeinwohl. Doch dabei schwingt etwas anderes mit: der Wunsch, Distanz zum sozialen Unten zu markieren. Die Frage ist, ob die Grünen in der Lage sind, über ihre eigenen Schichteninteressen hinaus für die Interessen der „Unterklasse“ einzutreten. Kann die Partei ihre eigene Interessenlage transzendieren? „Ideen“, schrieb Karl Marx, „blamieren sich stets vor Interessen“. Aber was, wenn mittelständische Interessengruppen so stark von der universalistischen Sendung ihrer Politik ausgehen, dass sie sich über die schichtenmäßige Begrenzung ihres politischen Horizonts wenigstens zeitweilig überheben? Das wäre eine produktive Selbsttäuschung, die sehr starke Überzeugungen voraussetzt. Die Grünen treten mit einem moderaten Umverteilungsprogramm an: Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent heben und eine zeitlich begrenzte Vermögensabgabe für sehr Reiche einführen; dafür soll Hartz IV auf 420 Euro steigen. Diese Forderungen belasten zielgenau die eigene Klientel: die obere Mittelschicht. Werden die Grünen an der Regierung dem ökoorientierten Hochschullehrer und der grünen Rechtsanwältin wirklich ein paar tausend Euro im Jahr abknöpfen? Dies wird die Probe aufs Exempel, was die Grünen mit „Bürgerlichkeit“ meinen: soziale Abgrenzung nach unten oder Gemeinwohlorientierung.
S. Reinecke
Die Grünen haben die Bürgerlichkeit entdeckt. Doch ist sie wirklich neu? Oder treibt da eine auferstandene alte Bildungsbürgerlichkeit ihr Unwesen?
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Buch „Nach trans“ von Elizabeth Duval: Ein Subjekt stößt auf Identität - taz.de
Buch „Nach trans“ von Elizabeth Duval: Ein Subjekt stößt auf Identität Grundlagentext für die „Trans Theory“: Elizabeth Duval räumt in „Nach Trans“ mit der Illusion der Wahlfreiheit des eigenen Geschlechts auf. Will sich in „Nach Trans“ ein letztes Mal zum Thema zu äußern: die Autorin Elizabeth Duval Foto: Christoph Hardt/imago Elizabeth Duval gilt als eine der interessantesten jungen Intellektuellen Spaniens. Taucht ihr Name in Besprechungen oder Fernsehdebatten auf, fällt meist schon im ersten Satz immer dasselbe Adjektiv: trans. Nun äußert sich die heute 22-Jährige seit ihrer Jugend zu Trans-Rechten, fragt aber dennoch: Was rechtfertigt ein Etikett wie cis oder trans, wenn beispielsweise zwei Menschen dem Äußeren nach klar als Frauen erkannt werden? Sollte man sich da nicht ehrlich machen und zugeben, dass die Frage in erster Linie um das, was ein Mensch zwischen den Beinen hat, kreist und darum, „was wir als abnormal, pervers oder monströs beurteilen“? Duval glaubt: Das Ende der menschlichen Zivilisation werden wir wohl eher erleben als das Ende der Geschlechter. Angesichts dieser Desillusioniertheit und angesichts des Hasses, den Trans-Debatten immer wieder offenbaren, überrascht die Versöhnlichkeit, die Duvals Buch „Nach Trans. Sex, Gender und die Linke“ zugrunde liegt. Sie wendet sich an diejenigen, die Bedenken haben, denen Veränderungen Angst machen, und arbeitet sich so an den Argumenten jener ab, die ihre Trans-Kritik als feministisch verstanden wissen wollen. So sei etwa oft zu hören, trans Menschen reproduzierten durch ihre Kleidung oder Verhaltensweisen Geschlechterstereotype. Kein Problem scheinen dieselben Fe­mi­nis­t:in­nen jedoch damit zu haben, „wenn andere Körper, wie die derjenigen, die sie als Frauen bezeichnen, Weiblichkeit ‚performen‘, sich schminken oder die Haare lang tragen, ohne offenkundig auf den Umsturz des patriarchalen Systems hinzuarbeiten“. Schimäre in der Umkleide Auch das Schreckgespenst des lüsternen Mannes in der Frauenumkleide, der sich durch ein Umtragen des Geschlechts im Passdokument Zugang zu geschützten Räumen verschafft und, statistisch eher selten auftretend, als Chimäre die Diskussionen über Personenstandsgesetze blockiert, greift Duval auf, wenn sie von der realen Diskriminierung schreibt, die Butch-Lesben in Frauentoiletten seit jeher entgegenschlägt. Den Fokus legt die Autorin jedoch auf den Umstand, dass Anti-trans-Aktivist:innen Wahlfreiheit in Bezug aufs eigene Geschlecht eine „übertriebene Macht“ zusprächen. Dabei besitze das Subjekt „nicht die Freiheit, zu sein, wer es sein will, sondern lediglich die Freiheit, sich selbst zu erkennen und zu finden“, schreibt Duval, die an der Pariser Sorbonne Philosophie und Literatur studiert und an eine Versöhnung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der These vom Geschlecht als soziokultureller Struktur glaubt. Geschlecht oder Geschlechterdifferenz würde „durch das Wiederholen bestimmter Muster und die Übernahme von Symbolen und Zeichen erworben, was dazu führt, dass ein Subjekt auf seine Identität stößt“. Grundlagentext, auf denen andere aufbauen Elizabeth Duval ist eigentlich Romanautorin. „Nach Trans“ schreibe sie, um sich ein letztes Mal zum Thema zu äußern. Sie ist weit entfernt von jeglichem Betroffenheitsjargon und nutzt die eigene Sprecherposition nur insofern es die identaristische Logik verlangt – die sie ebenfalls kritisiert. Etwas befremdlich wirkt lediglich die Theorie, wonach sie schreibe, weil sie nie biologische Mutter sein werde. Die Parallele zwischen der Erziehung eines Kindes und der Schaffung eines Werks lässt sich mit Rosa Mayreder infrage stellen, die 1905 kritisierte, dass Frauen „nichts selber sein und leisten, [sondern] vielmehr ihre Söhne zu dem ‚heranbilden‘ [sollen], was ihnen selbst zu werden versagt ist“. Dennoch kann „Nach Trans“ als Grundlagentext gezählt werden, auf den folgende Den­ke­r:in­nen der Trans-Theorie noch lange aufbauen werden.
Julia Hubernagel
Grundlagentext für die „Trans Theory“: Elizabeth Duval räumt in „Nach Trans“ mit der Illusion der Wahlfreiheit des eigenen Geschlechts auf.
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Verfassungsgericht über Betreuungsgeld: Herdprämie gekippt - taz.de
Verfassungsgericht über Betreuungsgeld: Herdprämie gekippt Das Bundesverfassungsgericht erachtet das Betreuungsgeld als unrechtmäßig. Die Bundesregierung habe mit der Einführung ihre Befugnisse überschritten. Ein Anreiz, zu Hause zu bleiben: das Betreuungsgeld. Foto: dpa BERLIN rtr/dpa/ap/afp/taz | Das umstrittene Betreuungsgeld verstößt in seiner bisherigen Form gegen das Grundgesetz. Das verkündete das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe. Nicht der Bund, sondern die Länder seien für die Leistung zuständig, entschied das Gericht. Die Regelung sei deshalb verfassungswidrig und nichtig. Eine Klage Hamburgs gegen die am 1. August 2013 eingeführte Familienleistung, die von Gegnern als „Herdprämie“ kritisiert wird, war damit erfolgreich. Laut dem Karlsruher Urteil hat der Bund im Bereich der „öffentlichen Fürsorge“ gegenüber den Ländern zwar eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit und darf daher Regelungen für Hilfen in individuellen oder existenziellen Notlagen erlassen. Doch dies gilt nur, wenn damit bundesweit gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden. Das Betreuungsgeld gleicht laut dem einstimmig ergangenen Urteil aber keine Missstände bei Kita-Angeboten aus, weil die Zahlung nicht davon abhängt, ob ein Betreuungsplatz vorhanden ist, sondern nur davon, dass Eltern ihn nicht in Anspruch nehmen. Auch aus dem vom Grundgesetz geschützten Elternrecht lässt sich den Richtern zufolge kein Anspruch auf Betreuungsgeld ableiten: „Das Angebot öffentlich geförderter Kinderbetreuung steht allen Eltern offen. Nehmen es Eltern nicht in Anspruch, verzichten sie freiwillig“. Es geben dann auch keine Pflicht, diesen Verzicht durch eine Prämie auszugleichen. Seit dem 1. August 2013 gültig Das Betreuungsgeld wird seit dem 1. August 2013 an Eltern gezahlt, die für ihre ein- und zweijährigen Kinder keine staatliche Kita-Betreuung in Angriff nehmen. Seit vergangenem Jahr beträgt es 150 Euro im Monat. Derzeit beziehen mehr als 455.000 Eltern das Betreuungsgeld. Die SPD hatte das Betreuungsgeld 2012 als damalige Oppositionspartei im Bundestag abgelehnt. Die Partei will es ersatzlos streichen und das freiwerdende Geld lieber in den Kita-Ausbau stecken. Die CSU hat die SPD hingegen aufgefordert, in dem Falle gemeinsam in der Koalition nach einer Alternative zu suchen. Gegner der Geldzahlung argumentieren, das Betreuungsgeld erschwere Frauen den Wiedereinstieg in den Beruf und halte gerade Kinder mit besonderem Förderbedarf vom Kita-Besuch fern. (Aktenzeichen 1 BvF 2/13)
taz. die tageszeitung
Das Bundesverfassungsgericht erachtet das Betreuungsgeld als unrechtmäßig. Die Bundesregierung habe mit der Einführung ihre Befugnisse überschritten.
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■ "Soldaten sind Mörder": Adieu, mein kleiner Gardeoffizier - taz.de
■ "Soldaten sind Mörder": Adieu, mein kleiner Gardeoffizier „Soldaten sind Mörder“ Adieu, mein kleiner Gardeoffizier Es besteht für mich nicht der geringste Zweifel: Als der sozialdemokratische, aufrührerische, ausgebürgerte und doch für immer deutsch gebliebene satirische Dichter Kurt Tucholsky seine etwas unfeine, keineswegs elegante Provokation „Soldaten sind Mörder“ in Umlauf brachte, wußte er genau, was er tat. Damit beabsichtigte er nicht, wie heute von vielen falsch vermutet, den patriotischen Nerv der wiedervereinten Nation aufzureizen, und gar nicht, einen Bundeswehrzweisternepanzergeneral verfassungswidrig auf die Palme zu mobilisieren. Nein, mit einer solchen unglücklichen Assertion maßte sich der unverbesserliche linke Melancholiker Tucholsky an, sich in eine strikt innere russische Angelegenheit einzumischen und ein zu pathetisches Urteil darüber zu fällen. Sicherlich hatte er – der Berliner Kriegsveteran – beim Anblick der Leichen von Kindern, Greisen, Frauen und anderen Zivilisten in den Straßen von Grosny (pünktlich zu unserem täglichen Abendbrot fernserviert) einfach die Contenance verloren. Womöglich jedoch ist diese Angelegenheit nicht so ausschließlich russisch, wie es einem scheint. Vielleicht ekelte ihn – den Freund von Kafka – die lakonische Zeitungsnachricht an über jene kanadische Elitesoldaten, die während ihrer afrikanischen „Friedensmission“ einen Somalier zu Tode prügelten. Wahrscheinlich erinnerte er – der Weltbühne-Redakteur – sich wieder an die wahrlich längst vergessene erste und letzte Begegnung zwischen dem südvietnamesischen Dorf My Lai und Lieutenant Calleys Platoon. Mit seiner brüsken Formulierung wollte Tucholsky – das am 10.Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz verbrannte Kind – vielleicht nichts anderes als die kastrativen Methoden der Légion Étrangère gegen die algerischen Rebellen in den fünfziger Jahren kommentieren. Vermutlich meinte er damit aber lediglich die bosnisch-serbischen Soldaten, die auf bosnisch-muslimische Kinder oder die bosnisch-muslimischen Soldaten, die auf bosnisch-serbische Kinder ab und zu versehentlich schießen. Ja, man sollte ihm – dem ewigen Querulanten – für seinen schroffen Ausbruch ein wenig historisches Verständnis entgegenbringen. Politische Soldaten und soldatische Politiker sollten Tucholskys bösartige Unterstellungen nicht allzu persönlich nehmen und sie nicht unbedingt auf die private Geschichte der eigenen Nation beziehen. Poeten, Pazifisten, Kriegsdienstverweigerer, Flower-power-Newcomer und ähnliche Friedensfetischisten sind nun mal zart besaitet und nicht in der Lage zu begreifen, daß es einen Krieg ohne Kriegsverbrecher genausowenig gibt wie ein Gewitter ohne Blitze und daß die Militärs, gleichgültig unter welcher Fahne, nicht ins Ehrenfeld ziehen, um etwa über die selbstzerstörerischen Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur zu philosophieren, sondern um diese am effektivsten und fraglos in die Praxis umzusetzen. In diesem Sinne: „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier, steh gerade, kerzengerade, lache in den Sonnentag, was immer auch geschehen mag! Für Trübsal sind andere da!“ Omar Saavedra Santis
Omar Saavedra Santis
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UN-Resolution gegen Uranmunition: Deutschland sind die Risiken egal - taz.de
UN-Resolution gegen Uranmunition: Deutschland sind die Risiken egal Ob Uranmunition Krankheiten verursacht, ist umstritten. Einer UN-Resolution, die neue Studien dazu fordert, stimmte Deutschland nicht zu. Proteste gegen Uranmunition beim Ostermarsch in Berlin Foto: imago/Christian Mang BERLIN taz | Die Resolution zur Uranmunition ging glatt durch den Abrüstungsausschuss der UN-Generalversammlung. 140 Länder stimmten Mitte November dem Antrag zu, der einen vorsichtigen Umgang mit der Munition anmahnt. Nur 4 Staaten stimmten dagegen: die USA, Großbritannien, Frankreich und Israel. Und 26 weitere enthielten sich, darunter Russland, die Türkei – und Deutschland. Ist das nicht ein bisschen schwach für eine Bundesregierung, die die Abrüstung im Koalitionsvertrag als „prioritäres Ziel deutscher Außenpolitik“ bezeichnet? Oder hatte sie für ihre Enthaltung vielleicht doch gute Gründe? Uranmunition eignet sich hervorragend zur Bekämpfung von gepanzerten Fahrzeugen. Das abgereicherte Uran, aus dem die Munition besteht, hat eine sehr hohe Dichte und kann schon deshalb tief in Panzerungen eindringen. Der Uranstaub, der sich dabei bildet, entzündet sich bei Kontakt mit der Luft automatisch, so dass die Ziele nach dem Einschuss oft explodieren. Die Bundeswehr hat keine Uranwaffenvorräte, 21 andere Staaten dagegen schon, darunter die USA, Russland und Ägypten. Eingesetzt wurde Uranmunition unter anderem im Kosovokrieg und im Irakkrieg. Auch im Kampf gegen den IS in Syrien haben die USA die Munition bereits eingesetzt. Dabei sind die Folgen für Umwelt und Menschen unklar. Viele Experten befürchten langfristige Gesundheitsschäden. Die Folgen für Umwelt und Menschen sind unklar Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger hat die Bundesregierung gefragt, warum sie die Resolution trotzdem nicht unterstützt hat. In der Antwort auf die parlamentarische Frage verweist das Auswärtige Amt jetzt auf den Forschungsstand: Studien unter anderem im Auftrag der UN, der Nato und der EU hätten keine Belege dafür erbracht, dass die Munition Krankheiten verursache. Sie hätten vielmehr ergeben, dass „Rückstände abgereicherten Urans in der Umwelt kein radiologisches Risiko für die Bevölkerung vor Ort darstellen“. Tatsächlich ist umstritten, wie riskant Uranmunition ist. Kritiker verweisen auf die Radioaktivität und die chemische Giftigkeit des Urans. Eine Studie zu Krankheiten unter britischen Golfkriegsveteranen nennt Uran­waffen als möglichen Auslöser. Eine andere Studie belegt, dass im irakischen Falludscha die Krebsrate stieg, nachdem in der Region Uranwaffen eingesetzt wurden. Eindeutige Beweise für den Zusammenhang zwischen Munition und Krankheiten gibt es aber nicht. In der UN-Resolution wird das aber auch gar nicht behauptet. In der Präambel wird sogar explizit auf den unsicheren Forschungsstand verwiesen. Anschließend werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, weitere Studien zum Thema zu fördern und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sie sollen beispielsweise mitteilen, wo genau sie in der Vergangenheit Uranmunition eingesetzt haben, damit mögliche Umweltbelastungen gemessen werden können. Dem wollte die Bundesregierung aber nicht zustimmen. Die Grünen-Abgeordnete Brugger kritisiert das. „Es ist eben nicht zweifelsfrei ausgeräumt, dass durch Uranmunition keine bleibenden Schäden für Mensch und Umwelt entstehen“, sagt sie. „Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollte die Bundesregierung mit der Mehrheit der anderen Staaten stimmen, um möglichen Risiken zu begegnen.“
Tobias Schulze
Ob Uranmunition Krankheiten verursacht, ist umstritten. Einer UN-Resolution, die neue Studien dazu fordert, stimmte Deutschland nicht zu.
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Aufstieg eines Farmers in Afrika: So besiegt man Armut und Hunger - taz.de
Aufstieg eines Farmers in Afrika: So besiegt man Armut und Hunger Wie ein Farmer in Ghana den Aufstieg schaffte: Gute Kontakte zum Weltmarkt, Kooperation mit Kleinbauern. Afrikas kleine Familienfarmen produzieren meist Grundnahrungsmittel für den Eigenbedarf. Bild: dpa ACCRA taz James Benjamin Cole steht mit einem breiten Lächeln vor seiner Farm, in den Händen einen Karton frischer Ananas. Der Ghanaer hat geschafft, wovon Millionen Kleinbauern in Afrika träumen: Er hat seinen Familienbauernhof zu einem erfolgreichen Agrarunternehmen ausgebaut, das biologische Ananas, Papayas und Mangos produziert. Cole ist eine Ausnahme, obwohl Ghana eines der wenigen Länder Afrikas ist, in denen der Hunger zurückgeht. Afrikas kleine Familienfarmen produzieren meist Grundnahrungsmittel für den Eigenbedarf. Es bleibt nur ein minimaler Überschuss zum Verkauf auf den lokalen Märkten übrig. Von den Regierungen wird diese kleinbäuerliche Ökonomie vernachlässigt. In einigen Ländern werden die Landwirte sogar gezwungen, ihre Ernten an staatliche Handelsgenossenschaften unter dem Marktpreis zu verkaufen. Afrikas Getreideernten liegen um 66 Prozent unter dem internationalen Durchschnitt. Auf keinem anderen Kontinent gibt es weniger landwirtschaftliche Maschinen. Nur ein Prozent der Anbauflächen sind in Afrika bewässert - in Asien sind es 40. Es mangelt an Kühlanlagen, an Konservierungsmethoden, an Silos und Speichern; Schädlinge vernichten Ernten, hinzu kommen politische Konflikte, unklare Besitzverhältnisse, Korruption und hohe innerafrikanische Zölle. Dabei ist kein anderer Kontinent so abhängig von der Landwirtschaft. Etwa 70 Prozent aller Afrikaner leben auf dem Land. Aber in Afrika werden jährlich 30 Millionen Tonnen mehr Lebensmittel verzehrt als produziert. Was ist Farmer Coles Geheimnis? Er konnte an der Cardiff Business School in Großbritannien studieren. Anschließend war er Manager in einem internationalen Nahrungsmittelkonzern. "In Europa sah ich das wachsende Interesse an biologischen Produkten", sagt Cole. "Ich war besorgt über die soziale Situation in meiner Heimat und sah gleichzeitig die Möglichkeiten, die der Exportmarkt für biologische Produkte bot." Coles Familienbetrieb Eloc-Farms arbeitet eng mit einem Kleinbauernverband zusammen. Eloc-Farms übernimmt den Export und schult die Bauern. "Wir nutzen unsere traditionelle Wirtschaftsweise und verbessern sie mit kommerziell sinnvollen biologischen Methoden. Das Ergebnis sind unsere ersten zertifizierten biologischen Ananas", freut sich Cole. Eine "grüne Revolution", mit Hightech-Saatgut, Düngern und neuen Anbaumethoden, wie sie die von der Rockefeller- und der Bill-Gates-Stiftung ins Leben gerufene "Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika" (AGRA) fordert, sei nicht der richtige Weg, meint Cole. Das würde Afrika zum Absatzmarkt für die internationalen Agrarchemiekonzerne machen und Bauern ihre Existenz rauben. Der Bedarf an Investitionen in Afrika zur Reduzierung des Hungers ist riesig. Die UN-Agrarorganisation FAO schätzt ihn auf 30 Milliarden Dollar jährlich. Aber vor allem müssen die Regierungen in Afrika ihre Planungen einhalten, bis 2010 die Agrarausgaben auf 10 Prozent der Staatshaushalte zu steigern. THOMAS NITZ
Thomas Nitz
Wie ein Farmer in Ghana den Aufstieg schaffte: Gute Kontakte zum Weltmarkt, Kooperation mit Kleinbauern.
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Brasilien nach der Wahl: Bolsonaros vage 2 Minuten - taz.de
Brasilien nach der Wahl: Bolsonaros vage 2 Minuten Brasiliens abgewählter Präsident Bolsonaro spicht davon, die Regierungsübergabe einzuleiten. Seine An­hän­ge­r*in­nen protestieren dennoch weiter. Jair Bolsonaro nach seiner wahlniederlage am 1. November in Brasilia Foto: Eraldo Peres/ap SãO PAULO taz | Brasilien diskutiert über eine zweiminütige Rede. 45 Stunden nach seiner Wahlniederlage trat Präsident Jair Bolsonaro am Dienstagnachmittag vor die Presse. Er gratulierte weder Luiz Inácio „Lula“ da Silva zum Wahlsieg, noch gestand er direkt seine Niederlage ein. Bolsonaro bekannte sich aber zur Verfassung und ließ über seinen Stabschef verlauten, die Amtsübergabe werde eingeleitet. Auf dem Twitter-Profil des Obersten Gerichtshofes hieß es, die Regierung habe mit dieser Ankündigung die Wahlergebnisse anerkannt. Laut Presseberichten soll Bolsonaro bei einem Treffen mit Rich­te­r*in­nen des Gerichtshofes gesagt haben: „Es ist vorbei.“ Am 1. Januar soll der am Sonntag gewählte Lula, der das Land bereits von 2003 bis 2011 regierte, in der Hauptstadt Brasília vereidigt werden. Bolsonaro wandte sich in seiner Rede auch direkt an seine An­hänger*innen, die derzeit im ganzen Land Straßen blockieren. Diese sollten keine Methoden „der Linken“ anwenden und nicht das „Recht auf Kommen und Gehen“ einschränken. Doch er sprach auch davon, dass die Blockaden Folge von „Wut und einem Gefühl von Ungerechtigkeit über den Wahlprozess“ seien. Für Matheus Leitão, Analyst der Wochenzeitung Veja, spielt Bolsonaro mit seiner Rede ein „doppeltes Spiel“. So sehen das auch viele andere Beobachter*innen. Auf der einen Seite hat er seine An­hän­ge­r*in­nen nicht vor den Kopf gestoßen, sie sogar bestätigt. In Telegram-Gruppen wird Bolsonaros Rede gefeiert und als Unterstützung ihrer Aktionen gedeutet. Auf der anderen Seite hat er seine Verfassungstreue betont und so eine allzu scharfe Gegenreaktion abgewendet. Etliche Verbündetet haben bereits Wahl anerkannt Dass Bolsonaro nicht den großen Bruch sucht, liegt auch am Druck von außen. Etliche Verbündete haben die Wahl bereits anerkannt, auch im Ausland setzen viele auf einen Machtwechsel. US-Präsident Joe Biden zählte am Sonntag zu den ersten Gratulanten Lulas. Bolsonaro könnte auch versuchen, sich Verhandlungsspielraum zu verschaffen – denn ­gegen den ultrarechten Politiker laufen mehrere Ermittlungsverfahren, die ihm ohne seine präsidentielle Immunität gefährlich werden könnten. Mehrere Bolsonaro-nahe Politiker sowie der prominente evangelikale Pastor Silas Malafaia riefen die rechten De­mons­tran­t*in­nen dazu auf, die Straßen freizumachen. Man solle sich nun auf die Wahl in vier Jahren konzentrieren. Am Mittwoch waren zwar weiterhin einige Straßen besetzt. Laut der Tageszeitung Folha de São Paulo waren es aber weniger als in den Tagen zuvor. Alexandre de Moraes, Richter am Obersten Gerichtshof und Präsident des Wahlgerichtes, hatte bereits am Montag angeordnet, die Straßen räumen zu lassen. In vielen Regionen ging die Polizei gegen die Blockaden vor, teils auch mit Tränengas. In São Paulo nahm sich eine ungewöhnliche Gruppe der Sache an: Ultras des Fußballklubs Corinthians vertrieben bei einer Blockade die dort versammelten Bolsonaristen.
Niklas Franzen
Brasiliens abgewählter Präsident Bolsonaro spicht davon, die Regierungsübergabe einzuleiten. Seine An­hän­ge­r*in­nen protestieren dennoch weiter.
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Krieg in Sudan: Humanitäre Krise verschärft sich - taz.de
Krieg in Sudan: Humanitäre Krise verschärft sich Eine neue Waffenruhe zwischen Regierungstruppen und RSF-Miliz wird schnell wieder gebrochen. Immer mehr Menschen in Sudan sind auf Hilfe angewiesen. Per Schiff evakuieren die USA weitere der rund 16.000 US-Staatsbürger aus Sudan Foto: rtr KHARTUM rtr | Auch nach der Verlängerung der Feuerpause flauen die Kämpfe in Sudan nicht ab. Am Montagmorgen waren in Khartum Kämpfe zu hören. Armee und paramilitärische RSF-Miliz beschuldigten sich erneut gegenseitig, die Vereinbarungen gebrochen zu haben. Die Verlängerung der Waffenruhe war in der Nacht zum Montag in Kraft getreten. Sie sollte von Mitternacht an für weitere 72 Stunden gelten. In der vergangenen Woche war eine Waffenruhe zwischen RSF und Militär bereits zweimal um je 72 Stunden verlängert worden. Bewohner meldeten zwar, dass in einigen Gegenden die Gefechte nachließen, berichten aber anderswo auch am Wochenende nach wie vor von Explosionen und Schusswechseln. Eine friedliche Lösung des Konflikts scheint in weiter Ferne. Armeechef Abdel Fattah al-Burhan lehnt direkte Gespräche mit dem RSF-Chef Mohamed Hamdan Dagalo, auch bekannt als Hemedti, kategorisch ab. Hemedti will erst dann mit Al-Burhan sprechen, wenn die Armee ihre Angriffe stoppt. UN-Koordinator: Beispiellose Entwicklung Der sudanesische Ärzteverband teilte am Sonntag mit, dass seit Beginn der Kämpfe vor zwei Wochen 425 Zivilisten getötet und mehr als 2.000 verletzt worden seien. Das sudanesische Gesundheitsministerium bezifferte die Zahl aller Toten – also Kämpfer und Zivilisten – am Samstag auf 528. Die humanitäre Krise in Sudan verschärfe sich, erklärte der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, Martin Griffiths. „Das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse in Sudan entwickeln, sind beispiellos. Wir sind äußerst besorgt über die unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen auf alle Menschen in Sudan und in der gesamten Region.“ Er sagte, dass es zu enormen Plünderungen von Hilfsvorräten gekommen sei, die eine Unterstützung für die Zivilisten schwieriger machten. Vielen von ihnen gingen Wasser, Essen und andere wichtige Dinge aus. Bereits vor Ausbruch der Kämpfe sei ein Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen gewesen. Am Sonntag kam ein Flug mit acht Tonnen medizinischen Hilfsgütern in der Küstenstadt Port Sudan am Roten Meer an. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz will sie von dort rund 840 Kilometer bis in die Hauptstadt und andere Gebiete schaffen. Die USA setzten ihre Bemühungen fort, vom Konflikt in Sudan betroffenen US-Amerikanern zu helfen. Am Sonntag sei ein zweiter von der US-Regierung organisierter Konvoi in Port Sudan eingetroffen, sagte Außenministeriumssprecher Matthew Miller. Die USA hälfen US-Bürgern und anderen, die „berechtigt“ seien, nach Saudi-Arabien auszureisen, sagte er. Wie viele Menschen dem Konvoi angehörten und welche Unterstützung die USA genau lieferten, sagte er nicht. Die meisten der schätzungsweise 16.000 US-Amerikaner, die derzeit in Sudan vermutet werden, sind US-sudanesische Doppelstaatler. Das US-Verteidigungsministerium teilte am Samstag mit, es verlege Marineeinheiten vor die sudanesische Küste, um bei weiteren Evakuierungen zu unterstützen.
taz. die tageszeitung
Eine neue Waffenruhe zwischen Regierungstruppen und RSF-Miliz wird schnell wieder gebrochen. Immer mehr Menschen in Sudan sind auf Hilfe angewiesen.
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Emissionen aus Kohlekraftwerken: Nicht nur dreckig, sondern auch giftig - taz.de
Emissionen aus Kohlekraftwerken: Nicht nur dreckig, sondern auch giftig Aus Kohlekraftwerken gerät Quecksilber in die Umgebung. Die EU verhandelt über neue Grenzwerte. Was wäre technisch machbar? Man will gar nicht wissen, was hier alles rauskommt. Sollte man aber, denn dazu gehört giftiges Schwermetall. Foto: dpa BERLIN taz | Die Zukunft der Stromproduktion in Kohlekraftwerken ist stark umstritten. Nun bringt die Umweltorganisation Greenpeace ein weiteres Argument ins Spiel: Die Anlagen seien verantwortlich für einen großen Teil der Emission schädlichen Quecksilbers – und die Bundesregierung unternehme zu wenig, um diese Gesundheitsbelastung zu verringern. Die Bundesregierung versucht derzeit, schärfere Bestimmungen für den Ausstoß klimaschädlicher Gase durchzusetzen. Gleichzeitig will die EU neue Grenzwerte für den Schadstoff aus Industrieanlagen, darunter auch fossilen Kraftwerken, festlegen. Der Beschluss wird Anfang Juni fallen. Neben Schwefeldioxid und Stickoxid gehört Quecksilber zu den Stoffen, die reduziert werden sollen. Weil die Industrie beispielsweise zusätzliche Filter einbauen muss, verteuert das die Produktionskosten auch für Strom, was Kohlekraftwerke zusätzlich unwirtschaftlicher macht. Risiko von Herzinfarkten, Krebs und Alzheimer Quecksilber ist in den Fokus geraten, weil das Schwermetall nach Einschätzung mancher MedizinerInnen Herzinfarkte, Krebs und Alzheimer begünstigen kann. „Jedes dritte in der EU geborene Baby kommt heute mit zu hohen Quecksilberwerten zur Welt – ihnen droht ein schleichender Intelligenzverlust“, sagt Mediziner Peter Jennrich, den Greenpeace mit einer Studie beauftragte. Deutsche Kohlekraftwerke, die in Betrieb sind, dürfen gegenwärtig im Tagesmittel 30 Mikrogramm Quecksilber pro Kubikmeter Rauch ausstoßen. Die EU schlägt vor, dass dieser Wert ab dem Jahr 2020 bei höchstens 10 Mikrogramm liegen soll. Die Bundesregierung unterstützt diesen Vorschlag. Doch Greenpeace-Energieexperte Andree Böhling kritisiert: „Moderne Filteranlagen könnten den Quecksilberausstoß schon jetzt bis auf ein Mikrogramm reduzieren.“ Die Bundesregierung unternehme nicht genug, um „die Menschen konsequent vor den Giftstoffen aus den Kohleschloten zu schützen“. Angst vor der eigenen Courage Das Bundesumweltministerium sieht die Sache anders. „10 Mikrogramm als maximal zulässiger Wert sind aus unserer Sicht bezogen auf die gesamte EU durchaus ambitioniert“, sagte ein Sprecher. Er wies darauf hin, dass es bislang keine europäischen Grenzwerte gebe. Wenn man zu scharf herangehe, werde sich das neue Limit möglicherweise nicht in allen Mitgliedstaaten durchsetzen. Das Ministerium räumt ein, dass „Quecksilber in bestimmten Konzentrationen gesundheits- und umweltschädlich sein kann“. Deshalb engagiere sich die Bundesregierung seit Jahren für eine internationale Minderungsstrategie. „Deutschland hat im Vergleich zu anderen EU-Ländern die geringsten Belastungen mit Quecksilber“, heißt es. Die Grenzwerte würden nicht überschritten, weshalb hierzulande „kein Grund zur Sorge“ bestehe.
Hannes Koch
Aus Kohlekraftwerken gerät Quecksilber in die Umgebung. Die EU verhandelt über neue Grenzwerte. Was wäre technisch machbar?
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Die Wahrheit: Summer in the Kreisstadt - taz.de
Die Wahrheit: Summer in the Kreisstadt Große Hits werden nur über Großstädte geschrieben. Wer aber besingt die mittlere City mit Fußgängerzone und all ihren touristischen Attraktionen? Der Sommer in der Kreisstadt muss beschwiegen werden, so verlangt es ein altes Gesetz. Schon The Lovin’ Spoonful kapitulierten und warfen ihren genialen Song „Summer in the Circle-City“ einfach in die Recycling-Tonne, obwohl vor Hitze halbtote Passanten gewiss auch in Städten mit fünfstelliger Einwohnerzahl zu beobachten waren. Aber für einen Nummer-eins-Hit mussten sie die Großstadt besingen, das war vorgeschrieben. Andernfalls wäre dem Gitarristen die Hand abgefault. Meine Kreisstadt wird derzeit geprägt von einer merkwürdigen Mischung aus Touristen-Aktivismus und Sommer-Agonie. Skandinavier fahren verkehrt herum durch Einbahnstraßen; wahrscheinlich, weil es solche freiheitseinschränkenden Verkehrsregelungen bei ihnen zu Hause nicht gibt, denn da ist ja alles besser. Asiatische Reisende kommen ohne Auto und scheinen ein Fotoverzeichnis aller Fachwerkhäuser anzulegen. Seit ich einmal zufällig auf einen japanischen Comic stieß, in dem das Bettengeschäft meiner Kreisstadt einen wichtigen Handlungsort darstellte, wundert mich das nicht mehr. Die Knipser sind bestimmt Manga-Locationscouts. Einheimische entspannen sich derweil lieber auf ihren Balkons als im Straßencafé, falls sie nicht den um diese Jahreszeit beliebten Verwandtschafts- oder Freundesbesuch erleiden. Dann stehen sie neben mir in der Fußgängerzone und sagen ratlos: „Wir könnten noch in den Park gehen. Oder mit der Rundfahrtbahn durch die Stadt fahren.“ Und der Besuch zuckt die Achseln, als habe er mehr erwartet als eine Altstadt, die man in einer halben Stunde komplett durchlaufen kann. Mein altmodisches Lieblingskino, von dem inzwischen nur noch die Fassade steht, hinter der sich Investorenquatsch abspielt, wird in der Regel den Auswärtigen nicht vorgeführt. Ein kunstloses Graffiti ziert es: „Kauft mehr.“ Um das zu tun, fliehe ich in die klimatisierte Buchhandlung, wo aber ein Schild behauptet: „Bücher sind Freunde.“ Ja, ich lese gern, aber Freunde? Sind sie nicht manchmal auch Feinde oder langweilige Onkels, und ist der Spruch nicht außerdem furchtbar öde, warum nicht mal: „Bücher sind jedenfalls kein Investorenquatsch“? Draußen laufe ich dann direkt in einen Stand beseligter Spinner, dessen Beschriftung mich anherrscht: „Wo wirst du einmal die Ewigkeit verbringen?“ Hier jedenfalls nicht, schon weil eine kaum noch erkennbare Akkordeonversion von „Rock Around the Clock“ mich hektisch durch die Pommesdünste treibt. Der Musikant schafft es, im Angesicht des drohenden Jenseits jegliche Time zu verlieren. Ebenfalls die Zeit verloren haben die letzten Querdullis auf dem großen Platz, die immer noch der Welt mitteilen müssen, dass wir in einer Diktatur leben. Offenbar fühlen sie sich ziemlich wohl damit. Gäbe es nicht vielleicht einmal ein neues Thema, mit dem man sich blamieren kann? Die Frage, wo sie die Ewigkeit verbringen werden, scheint jedenfalls geklärt. Die Wahrheit auf taz.de
Susanne Fischer
Große Hits werden nur über Großstädte geschrieben. Wer aber besingt die mittlere City mit Fußgängerzone und all ihren touristischen Attraktionen?
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Krieg in der Ukraine: Gegenangriff rückt näher - taz.de
Krieg in der Ukraine: Gegenangriff rückt näher Erneut hat Russland die Ukraine massiv beschossen. 21 Zivilisten starben dabei. Zugleich verdichten sich die Anzeichen einer Gegenoffensive Kyjiws. Der Schaden ist groß: Rauch und Flammen von explodiertem Treibstofftank auf der Krim am Samstag Foto: ap ODESSA taz | Die Reisenden aus dem Nachtzug aus Kyjiw sehen um 6.30 Uhr noch etwas zerknautscht aus. Besondere Eile scheint auf dem Bahnsteig in Odessa niemand zu haben. Es rollkoffert. Aus dem Bahnhofslautsprecher wird auf die nächsten Züge hingewiesen – und darauf, dass gerade wieder Luftalarm gilt. Man soll nicht auf den Bahnsteigen warten, sondern rasch weiter­gehen. Wenige Minuten später wird der Alarm aufgehoben. In der gesamten Ukraine bestand am Montagmorgen erneut Luftalarm. In Odessa dauert er gut drei Stunden. Das Oberkommando der Streitkräfte teilt später mit, 15 von 18 anfliegenden russischen Raketen abgeschossen zu haben. Doch die übrigen richteten Schäden an: In der Region Schitomir weiter nördlich wurde eine Fabrik von einer Rakete getroffen, so die staatliche Warn-App Trivoga. In der Region Dnipropetrowsk seien 34 Menschen bei einem Angriff verletzt worden, darunter fünf Kinder. Dort, in Paw­lohrad, sind demnach etwa zwei Dutzend Einfamilienhäuser zerstört worden. Fotos von Feuerwehrleuten in rauchenden Trümmern verbreiten sich über den Messengerdienst Telegram. Bereits vor dem Wochenende hatte Russland seinen neuerlichen Großangriff begonnen. Zwar ist der Umfang der Raketenangriffe geringer als noch im Winter, ihre tödliche Wirkung ist dennoch groß. Am Freitag hatte das russische Militär die Ukraine mit mehr als 20 Marschflugkörpern und zwei Drohnen angegriffen. Es war der erste Angriff auf Kyjiw seit fast zwei Monaten. Die Raketen schlugen unter anderem in einem Wohnhaus in Uman ein, einer Stadt gut 200 Kilometer südlich der ukrainischen Hauptstadt. 21 Menschen kamen ums Leben, darunter sechs Minderjährige. Die Aufräum­arbeiten dauerten bis Samstag an. Am Wochenende legten Menschen an dem von den Raketen beschädigten Wohnblock Blumen, Kuscheltiere und Fotos der Opfer nieder. Als Reaktion hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski neben der russischen Führung auch Soldaten für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. „Nicht nur die Befehlshaber, sondern ihr alle, ihr seid alle Terroristen und Mörder und ihr alle müsst bestraft werden“, erklärte er in seiner täglichen Videoansprache. Jeder, der Raketen steuere und abfeuere, der Flugzeuge und Schiffe für den Terror warte, sei mitschuldig an den Toten des Kriegs, sagte er. Drohnenangriff auf Treibstoffdepot Auch in Odessa warnen regelmäßig Sirenen vor anfliegenden Raketen. Seit Jahresbeginn allein 95-mal. Doch die letzten Einschläge sind schon Monate her. Manchmal erscheint der Krieg in der Schwarzmeerstadt weit weg. Man sieht weniger Soldaten im Stadtbild als in Kyjiw oder Lwiw. Am Montag füllt sich die Fußgängerzone in der Altstadt erst gegen Mittag. Auch hier ist der 1. Mai ein Feiertag. Menschen gehen spazieren und erledigen Einkäufe. Man sitzt im Café. Nur die von Touristen bevorzugten Lokale wirken leerer als in Vorkriegszeiten. Irgendwo in der Region Odessa sind am Samstag wohl auch jene Drohnen gestartet, die in Sewastopol auf der Krim ein Treibstoffdepot getroffen haben. Wie genau das Ganze ablief, gehört zu den Unklarheiten des Krieges. Das ukrainische Militär hat sich nicht direkt dazu bekannt, für das Feuer in der Krim-Hafenstadt verantwortlich zu sein. Angesichts der Bilder dürfte der Schaden groß sein. So wurden mehrere große Tanks komplett zerstört, andere durch die Hitze des Feuers beschädigt. Tote und Verletzte gab es russischen Angaben zufolge nicht. Auch zivile Objekte seien nicht zu Schaden gekommen. Militärisch ist der Angriff bemerkenswert, schließlich richtete er sich gegen eine der am besten gesicherten russischen Militäranlagen. Das Depot im Kriegshafen von Sewastopol ist sozusagen die Tankstelle der Schwarzmeerflotte. Von deren Schiffen aus werden immer wieder Raketen auf das ukrainische Festland abgefeuert. Angriffe wie dieser könnten auch der Vorbereitung der erwarteten ukrainischen Gegenoffensive dienen. Eine Sprecherin des südlichen Militärkommandos hatte am Sonntag gesagt, die Unterwanderung von Russlands Logistik sei dafür eines „der Elemente“. Passend dazu meldeten russische Behörden am Montag, dass im westrussischen Gebiet Brjansk unweit der Grenze zur Ukraine ein Güterzug entgleist sei – und zwar nach einer Schienensprengung. Der Zug soll mit Öl- und Holzprodukten beladen gewesen sein. Indes warnte der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, vor den Folgen einer solchen Gegenoffensive für Russland. Sie könnte für Moskau zur „Tragödie“ werden, sagte er in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit einem russischen Blogger. Zudem beklagte er sich erneut über eine unzureichende Versorgung seiner Kämpfer in der Ukraine mit Munition: „Wir haben nur 10 bis 15 Prozent der Granaten, die wir brauchen.“ Prigoschin ist ein Verbündeter von Präsident Wladimir Putin, liefert sich aber seit Längerem einen Machtkampf mit dem russischen Verteidigungsminister und der Armeespitze.
Marco Zschieck
Erneut hat Russland die Ukraine massiv beschossen. 21 Zivilisten starben dabei. Zugleich verdichten sich die Anzeichen einer Gegenoffensive Kyjiws.
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Umstrittenes Bauprojekt auf St. Pauli: Markisen plötzlich verschwunden - taz.de
Umstrittenes Bauprojekt auf St. Pauli: Markisen plötzlich verschwunden Das geplante „Paulihaus“ neben der Rindermarkthalle entspricht nicht dem St.-Pauli-Code, kritisieren Gegner*innen des Projekts. Sie vermuten Tricks. Der Siegerentwurf: Das St.Pauli-Haus rückt sehr nah an die Straße heran Foto: Bloomimages HAMBURG taz | Ist das geplante „Paulihaus“ vor der Rindermarkthalle ein Fremdkörper, der an der Öffentlichkeit vorbei in den Stadtteil gesetzt werden soll? Das jedenfalls behauptet die Initiative „St. Pauli Code jetzt!“. Seit Monaten mobilisieren Anwohner*innen gegen das geplante Bürogebäude in zentraler Lage, in das unter anderem das Immobilienunternehmen Hamburg-Team, die Stadtentwicklungsgesellschaft Steg, das Planungsbüro Argus und die Agentur Pahnke Markenmacherei einziehen wollen. Die Bauarbeiten sollen im nächsten Jahr beginnen, wenn die Baugenehmigung vom Bezirk Mitte da ist. Die Initiative hat eine Online-Petition gestartet, um das zu verhindern. Sie beruft sich dabei auf den so genannten St.-Pauli-Code, den die Stadtteil-Aktivist*innen der Planbude bei den Verhandlungen über die Esso-Häuser auf der Reeperbahn mit dem damaligen Bezirksamtsleiter Andy Grote (SPD) ausgehandelt hatten. Schlagworte waren: „Alt vor neu“, „Günstig statt teuer“, „Schmuddeliger Glamour statt Hochglanzfassade“ und „Unterschiedlichkeit statt Homogenität“. Keiner dieser Punkte werde von den Planungen für das „Paulihaus“ berücksichtigt, kritisiert die Initiative. Dabei habe Andy Grote, der heute Innensenator ist, den Code seinerzeit „als verbindliche Leitlinie für künftige große Bauprojekte im Stadtteil“ bezeichnet. Das Lebensgefühl von St. Pauli Für das Bezirksamt Mitte ist diese Absprache nicht ganz so wichtig. „Der St.-Pauli-Code beschreibt das ‚Lebensgefühl‘ von St. Pauli und soll für die Debatte um Veränderungen auf St. Pauli als Anhaltspunkt dienen“, sagt Sarah Kolland, Sprecherin des Bezirksamts. Der Code helfe festzustellen, was zu St. Pauli passe. Eine bindende Richtlinie sei er aber nicht. Die Gegner*innen des Bürogebäudes sehen sich von den Planern getäuscht. So seien den Anwohner*innen noch 2017 Skizzen des Gebäudes mit bunten Markisen präsentiert worden, die unter dem Motto „Built in St. Pauli“ ein „freundliches, luftig gezeichnetes Bild“ in die Welt gesetzt hätten, heißt es auf der Homepage der Stadtteilinitiative „Unser! Areal“, die sich seit Jahren mit den Entwicklungen auf dem Gelände der Rindermarkthalle auseinandersetzt. Der darauf folgende Architekturwettbewerb wurde nicht etwa vom Bezirksamt, sondern von dem Baukonsortium durchgeführt, und der Siegerentwurf des in der Nachbarschaft am Neuen Pferdemarkt ansässigen Architekturbüros Coido Architects hatte am Ende nichts mehr mit den ersten Skizzen zu tun. Er war zudem um ein Stockwerk gewachsen und sehr nahe an die Straße herangerückt. „Büroklotz“ nennen ihn die Gegner*innen. Die Sieger-Architekten bekamen den Zuschlag bereits im Januar 2018, doch erst im April 2019 wurden die neuen Pläne öffentlich. Mario Bloem von der Initiative „St. Pauli Code jetzt!“ kritisiert die Pläne als langweilig. „Es passt auch nicht in die Historie der Gegend und sieht eher aus wie ein schlechter Kompromiss“, sagt Bloem, der selbst als Stadtplaner arbeitet. Immerhin sei der Siegerentwurf der am wenigsten hässliche aus dem Architekten-Wettbewerb. Bemerkenswert findet Bloem auch, wie das Baukonsortium an das Grundstück kam: Die Kommission für Bodenordnung, ein nicht öffentliches, bei der Finanzbehörde angesiedeltes Gremium, hat das Projekt als einen „Wirtschaftsförderungsfall“ anerkannt. Die Begründung: Das Projekt bringe etwa 360 Arbeitsplätze, von denen mehr als die Hälfte auf die Agentur Pahnke Markenmacherei entfielen. Diese habe erwogen, nach Berlin umzusiedeln, weil ihr derzeitiger Mietvertrag in Hamburg auslaufe und sie keine geeigneten Büroräume gefunden habe. Thorsten Harms, Inhaber Max-Autowerkstatt„Die Elektrik ist veraltet, wir haben seit Jahren Probleme mit Rissen in den Wänden und selbst Statiker mussten kommen“ Bloem und die Initiative bezweifeln, dass das stimmt: Bei einem Infoabend mit dem Titel „Netter Nachbar oder Kieztrojaner?“ im Ballsaal des Millerntorstadions präsentierte er leer stehende Büro-Immobilien in nächster Nachbarschaft. Der Bau des „Paulihauses“ sei also nicht erforderlich. Derzeit steht an der Stelle, an der das „Paulihaus“ gebaut werden soll, die ehemalige Kantine der Rindermarkthalle – ein eingeschossiger Flachbau, in dem das Restaurant „Maharaja“, die Autowerkstatt Max und das Tonstudio Rekorder residieren. Die Autowerkstatt und das Tonstudio sollen in den Neubau einziehen, die Verhandlungen mit dem indischen Restaurant scheiterten. Die Inhaberin Kathrin Guthmann brach die Gespräche ab, nachdem sie sich nicht mit dem Baukonsortium über eine Ablösesumme einigen konnte. Guthmann hatte sich beklagt, dass sie bei der Vertragsunterzeichnung für ihr Restaurant 2015 nichts von den Neubauplänen gewusst habe. Zwar habe es den Vermerk gegeben, die Immobilie sei „planungsbetroffen“, sie habe damit aber nichts anfangen können. Bürgerbeteiligung gefordert Der Inhaber der Autowerkstatt Max, Thorsten Harms, begrüßt die Pläne für das „Paulihaus“. Das alte Gebäude sei baufällig, sagt er. „Die Elektrik ist veraltet, wir haben seit Jahren Probleme mit Rissen in den Wänden und selbst Statiker mussten kommen.“ Harms hofft, dass die Diskussion über den Neubau bald beendet sein wird. Sollte die Neueröffnung verschoben werde, befürchtet er Einbußen „in Höhe von 15.000 Euro monatlich“. In Harms Mietvertrag aus dem Jahr 2009 steht ebenfalls, dass das Grundstück „planungsbetroffen“ sei und dass die Vermieterin, die städtische Sprinkenhof GmbH, ein Sonderkündigungsrecht habe. „Deswegen habe ich mich nicht über die Baupläne gewundert“, sagt Harms. Die Initiative „St. Pauli Code jetzt!“ hat inzwischen ein Bürgerbegehren beim Bezirk Mitte eingereicht, um den Neubau doch noch zu verhindern. „So geht das nicht weiter auf St. Pauli“, schimpft Bloem. „Bürgerbeteiligung ist notwendig, damit hier nicht alles kaputtgetrampelt wird.“
Yasemin Fusco
Das geplante „Paulihaus“ neben der Rindermarkthalle entspricht nicht dem St.-Pauli-Code, kritisieren Gegner*innen des Projekts. Sie vermuten Tricks.
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Attraktiv wie eine Neonlampe - taz.de
Attraktiv wie eine Neonlampe ■ Von Weizsäckers neue Vorschläge zur Parteienfinanzierungs-Kommission Attraktiv wie eine Neonlampe Von Weizsäckers neue Vorschläge zur Parteienfinanzierungs-Kommission Die Zusammensetzung der vom Bundespräsidenten berufenen Kommission zur Neuregelung der Parteienfinanzierung ist ein schlechter Witz. Sie symbolisiert keineswegs den so dringend erforderlichen Neuanfang, sondern strahlt die Attraktivität einer Neonlampe aus. So wird die Kommission kaum in der Lage sein, die Parteienfinanzierung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Fünf peinliche Mängel: —Der Kommission gehören sieben Männer, aber keine einzige Frau an. Selbst wenn man dem Grundsatz einer angemessenen Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen nicht anhängt, so handelt es sich hier doch um ein geradezu katastrophales Mißverhältnis, das nicht hinnehmbar ist. —Der Kommission gehören überwiegend Sachverständige an, die sich im Umfeld der bundesdeutschen Parteien und Großorganisationen bewegen beziehungsweise bewegt haben. Sachverstand abseits des Zentrums des Parteienstaats — etwa von freien Initiativen — ist nicht vertreten. —Der Kommission gehören ausschließlich (ehemalige oder aktive) Spitzenverdiener mit überdurchschnittlicher Versorgung an. Dabei sind es doch gerade die finanziellen und wirtschaftlichen Maßstäbe, die in der bisherigen Praxis der Parteienfinanzierung verrutscht sind. In der Kommission müßte auch solcher Sachverstand versammelt werden, der sich nicht auf dem festen Sockel der Spitzenversorgung, sondern vor dem Hintergrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten bildete. —Der Kommission gehören ausschließlich Sachverständige aus den alten Bundesländern an. Angemessen und notwendig wäre es, auch Menschen aus den neuen Bundesländern zu berufen. —Der Kommission gehören fast ausnahmslos nur Juristen an. Um die Parteienfinanzierung solide neu zu regeln, ist juristische Kompetenz zwar notwendig, aber keineswegs hinreichend. Die Sicht der Rechtsgelehrten ist doch zu verengt, um alles gesellschaftlich Wesentliche zu bündeln. Ich bestreite nicht die Kompetenz der einzelnen Kommissionsmitglieder, aber ich bemängele deren uniforme Mischung, die der Sache keine Farbe gibt. Daß der Bundespräsident den ausgewiesenen Kritiker der Parteienselbstbedienung, Hans Herbert von Arnim, berufen hat, ist gewiß verdienstvoll, doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Parteienkritiker adelt noch keine Kommission. Michael Vesper MdL der Grünen in NRW
michael vesper
■ Von Weizsäckers neue Vorschläge zur Parteienfinanzierungs-Kommission
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SPD-Kandidat zur Schleswig-Holstein-Wahl: "Rechts, links oder Mitte? Mir egal!" - taz.de
SPD-Kandidat zur Schleswig-Holstein-Wahl: "Rechts, links oder Mitte? Mir egal!" Der Spitzenkandidat der SPD in Schleswig-Holstein, Torsten Albig, über den Erfolg der Piraten, Kritik an der Schuldenbremse und seine Unterschiede zum Landeschef Stegner. Wunschergebnis 40 Prozent: Wahlkampfmaterial der SPD. Bild: dpa taz: Herr Albig, haben Sie schon Albträume, in denen Piraten vorkommen? Torsten Albig: Nein. Ich träume nicht von Politik. Die Piraten in Schleswig-Holstein sind als Personen, von denen man schlecht träumen könnte, ja noch gar nicht in Erscheinung getreten. Sie sind bisher eher eine viele Menschen anziehende Idee … … die allerdings die Chancen von Rot-Grün stark verringert. Das stimmt. Die Piraten gefährden den rot-grünen Politikwechsel in Schleswig-Holstein. SPD und Grüne müssen das gemeinsam noch deutlicher machen. Nur so können wir deren Aufwärtstrend stoppen. Ansonsten wäre die Folge für Schleswig-Holstein: dass die große Koalition wahrscheinlicher wird. Wer Klein wählt, bekommt Groß. Das ist die Option? im Interview:TORSTEN ALBIGFoto: dapd48, ist SPD-Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein und Oberbürgermeister von Kiel. Er war Sprecher der Finanzminister Oskar Lafontaine, Hans Eichel und Peer Steinbrück. SPD und CDU werden sich dann unterhalten müssen, wenn es keine anderen Mehrheiten gibt. Aber das wollen wir nicht. In Schleswig-Holstein haben wir keine guten Erfahrungen mit der großen Koalition. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Piraten? Das ist schwer zu erklären. Politik ist wohl zu fern von dem, was viele Menschen erwarten. Wir müssen an unserer Glaubwürdigkeit arbeiten: uns stärker öffnen. Sie haben das Wahlziel 40 Prozent ausgegeben. 40 Prozent sind die Messlatte einer Volkspartei. Machen Sie sich so nicht vorab zum Wahlverlierer? Nein. Wenn ich mit 36 Prozent Ministerpräsident werde, ist es mir auch recht. Das Ziel der SPD muss bei Wahlen aber dennoch 40 Prozent sein. Sie müssen wegen der Schuldenbremse 125 Millionen Euro jährlich sparen. Wie wollen Sie das schaffen? Politik darf nicht auf das Einhalten der Schuldenbremse reduziert werden. Das wäre eine Bankrotterklärung. Wir brauchen den Gestaltungswillen, das Land zu stärken. Es macht unser Land doch nicht stärker, allein bei dem Landesblindengeld, der Frauenberatung oder der dänischen Minderheit zu kürzen, so wie das die schwarz-gelbe Regierung tut. Wir brauchen auch mehr Einnahmen. Mehr Wachstum. Sie setzen sich für Gemeinschaftsschulen ein. Die CDU wirft Ihnen nun vor, Sie wollten das Gymnasium abschaffen. Das ist ein absurder Vorwurf. Ich will starke Schule. In der Grundschule, im Gymnasium und in der Gemeinschaftsschule. Alles andere ist letztes Jahrhundert. Sie haben mehrere Jahre als Sprecher von Peer Steinbrück gearbeitet und teilen einige politische Einstellungen. Sind Sie in der SPD ein Rechter? Ich orientiere mich an der Realität, will sie verbessern. Der Realität ist unsere Parteiprogrammatik aber oft egal. Ob Sie das für rechts, links oder Mitte halten, ist mir egal. Das verbindet mich sicher mit Peer Steinbrück. Auf der anderen Seite im politischen Spektrum der SPD steht Ihr Landeschef Ralf Stegner. Wie funktioniert die Zusammenarbeit im ungleichen Duo? Sehr gut. Wir haben eine harte, aber faire Auseinandersetzung hinter uns. Jetzt arbeiten wir für das Ziel Wahlsieg zusammen. Also auf Zeit? Eine Zusammenarbeit ist in der Regel auf Zeit. Aber die kann durchaus lang sein. Wenn wir regieren, wird Ralf Stegner ein starker Fraktionsvorsitzender sein. Wo liegen die Unterschiede zwischen Ihnen? In der Wirkung auf Menschen. Das ist für politische Kommunikation und Wahlerfolge von Bedeutung. Da sind Sie besser? Ja. Ich kann leichter Brücken zu den Menschen bauen. Ralf Stegner wirkt distanzierter. Wünschen Sie sich mehr Rückenwind aus Berlin? Es wäre natürlich am besten, wenn wir überall schon bei über 40 Prozent stehen würden. Aber es ist nicht so leicht für die SPD gegen eine starke präsidiale Kanzlerin, die sich von der Schwäche ihrer Regierung entkoppelt. Daran kann auch Sigmar Gabriel nicht auf Zuruf etwas ändern. Muss sich die SPD für die FDP und eine Ampel öffnen? Mit Daniel Bahr oder Philipp Rösler wird die SPD nicht koalieren. Diese FDP ist nicht koalitionsfähig. Eine Partei, deren einziges Koalitionsinteresse eine Koalition ist, ist kein geeigneter Partner. Für 2013 schließen Sie die Ampel aus? Es werden bei der FDP wohl nicht völlig neue Leute auftauchen, die bisher noch im Keller des Thomas-Dehler-Hauses versteckt sind. Ich wüsste nicht, wo diese Leute herkommen sollen, wie diese Partei für uns interessant werden könnte.
E. Geisslinger
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Weltmeisterschaft im Footbag: Everybody is Kung Fu kicking - taz.de
Weltmeisterschaft im Footbag: Everybody is Kung Fu kicking Der Sport, der auf Schulhöfen gerne als "Hacky-Sack" bezeichnet wird, heißt offiziell Footbag. In den Disziplinen Freestyle und Netz wurden nun die Weltmeister gekürt. Am Netz gewinnen die Deutschen. Der Jubel war groß auf den Rängen und viele stürmten das Spielfeld der Netz-Disziplin im Footbag in der Arena Berlin. Der Berliner Patrick Schrickel und sein Doppelpartner aus Frankfurt Florian Götze haben die Titelverteidiger aus Kanada und Kalifornien geschlagen. Footbag, das ist ein kleiner genähter Ball mit Sand- oder Granulatfüllung. Häufig bekannt unter dem Markennamen Hacky-Sack, kommen Schüler damit in Berührung, die im Kreis stehen und versuchen mit abwechselnden Tritten den Ball in der Luft zu halten. Als Sport sieht das allerdings um einiges anspruchsvoller aus und ist entprechend spannender. Fast 2.000 Gäste kamen am Samstag zum Endspiel um die Weltmeisterschaft in die Arena. "Im Finale haben wir technisch nicht so anspruchsvoll wie in der Vorrunde gespielt," analysiert der dreißigjährige Florian Götze selbstkritisch. Aber für den Laien war es ein packendes Game, "weil die Ballwechsel extrem schnell waren." Gespielt wird nach der früheren Volleyballzählweise, mit zwei Gewinnsätzen bis fünfzehn Punkten auf einem Badmintonfeld. Der Ball darf nur unterhalb des Knies berührt werden. Das Netz ist auf 1,52 m gespannt. Hoch genug für spektakuläre Schmettertritte gegen den kleinen Ball, da werden Erinnerungen an Kung-Fu-Filme wach. Rückwärts und im Fallen wird der Ball getreten, Kicks, die spätestens als dritte Ballberührung den Spielzug abschließen müssen und meist einem nicht weniger spektakulär hochgereckten Fuß des Gegenspielers als Block gegenüberstehen. "Nach dem 9:9, im dritten und entscheidenden Satz, erinnere ich mich an nichts mehr." Patrick Schrickel beschreibt den Tunnelblick des Sportlers. Am Anfang hätte ihn die ungewohnte Kulisse, abgelenkt. "Aber das ist toll, dass die Leute sich hier begeistern lassen für etwas, das sie nicht kennen." Der große Publikumszuspruch ist ein Erfolg für die diesjährigen Veranstalter des FC Footbag Berlin e.V. "Footbag ist urban, eine kleine international verstreute Szene, kein Wald- und Wiesensport," meint Florian Götze. Die über 280 Athleten kommen aus 28 Ländern. Während im Netzspiel die Sportler um die dreißig und älter sind, ist im Freestyle kaum ein Akteur über 21. Die alte und neue Weltmeisterin aus der Schweiz, Tina Aeberli, ist gerade mal neunzehn. "Footbag-Freestyle ist extrem anspruchsvoll für die Gelenke," erklärt Götze. "Das ist so als würdest du die ganze Zeit Seilspringen und dabei tanzend einen Ball mit den Füßen hoch halten." Für den Freestyle wird die Bühne vorbereitet. Rico Loop, musikalischer Freestyler und Multi-Instrumentalist an der Loopstation leitet in den zweiten Höhepunkt des Events über. Das hat eine Menge vom Tanzen, wenn die einzelnen Sportler den Ball und die Füße um den Körper wirbeln. Sechs Kampfrichter bewerten auf einer Skala von 1.0 bis 6.0 die Performance in den Kategorien Technik und Ästhetik. Die Musik dabei ist vielseitig: Der amtierende Weltmeister aus Polen jongliert zu einer Klaviersonate, der neue Titelträger und mehrmalige Champion Vasek Klouda aus Tschechien, kickt sich zu elektronischen Klängen im Rhythmus von Computerspiel-Sounds zum Sieg. Auch die Moderation ist dem Freestyle verpflichtet. Es wird improvisiert gerappt, um das Publikum bei Laune zu halten bis die Kampfrichter ihre Entscheidung treffen. Mit dem Show-Charakter der Weltmeisterschaften möchte man den Sport bekannter machen. Zugunsten der aufwendigen Organisation wurde sogar auf ein Preisgeld verzichtet. Dafür haben Kameras und ein Kamerakran es dem Publikum und auch denen, die über Livestream die Finals im Internet sahen, wesentlich einfacher gemacht, dem Spektakel zu folgen. Die frischen Weltmeister sind mit dem Verzicht einverstanden. Man spiele für Ruhm und Ehre - und im Freestyle vor allem gegen sich selbst.
Robin Thiesmeyer
Der Sport, der auf Schulhöfen gerne als "Hacky-Sack" bezeichnet wird, heißt offiziell Footbag. In den Disziplinen Freestyle und Netz wurden nun die Weltmeister gekürt. Am Netz gewinnen die Deutschen.
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Kommentar Umweltskandal der Firma Envio: Es fehlen die unabhängigen Gutachter - taz.de
Kommentar Umweltskandal der Firma Envio: Es fehlen die unabhängigen Gutachter In einem der größten deutschen Umweltskandale sollen Arbeiter zu Schaden gekommen sein. Der Fall des Dortmunder Unternehmens Envio ist ein Lehrstück in krimineller Gier. Der Unternehmer aus Dortmund war offensichtlich ein Verbrecher ohne jede Skrupel. Er hat nach derzeitigem Wissensstand nicht nur hochgiftige Produkte illegal entsorgt, sondern dabei auch noch ein paar Euro für den Schutz seiner Angestellten gespart. Über das Lehrstück in krimineller Gier hinaus bringt der Fall einen Teil unserer Technik ans Licht, der dort überhaupt nicht hinmöchte: die gute alte Chemie am Arbeitsplatz und in der Umwelt – und den Umgang mit Schadensfällen vor Gerichten. Es gibt Hunderttausende nützliche chemische Verbindungen. Die meisten davon sind auch kaum gesundheitsschädlich. Einige tausend allerdings schon. Und auch mit den schädlichen wird Geld verdient, teilweise sehr viel Geld. Wenn nun jemand dadurch einen Schaden erleidet, hat er in Deutschland ein Problem, wenn er Schadenersatz erreichen will. Die Materie ist kompliziert. Viele Verbindungen, wie auch das PCB in diesem Fall, greifen auf das Nervensystem zu und verursachen zwar bekannte, aber eben etwas komplexere Krankheitsbilder. Die muss der behandelnde Arzt erst mal erkennen, dann muss er auch beweissichernde Maßnahmen einleiten. Kaum ein Richter oder Anwalt kennt sich damit aus. Also kommt es auf Fachleute an, die als Gutachter vor Gericht aussagen. Die Zahl der Gutachter aber ist beschränkt. Unabhängige, also nicht von der chemischen Industrie bezahlte Arbeits- und Umweltmediziner gibt es kaum noch. Denn wenn ein Institut in der heutigen Unilandschaft keine Drittmittel von der Industrie einwirbt, dann wird es dichtgemacht. Und warum sollte die chemische Industrie ihre eigenen Kritiker bezahlen? So schließt sich der Kreis, und am Schluss muss ein Kläger viel Glück haben, damit ihm ansatzweise Gerechtigkeit widerfährt. Der Dortmunder Fall einer klar illegalen Entsorgungspraxis ist ja noch einer der klarsten Fälle der vergangenen Jahre. Was wäre zu fordern? Maßnahmen, die wider den Zeitgeist gehen, die aber langfristig mehr Waffengleichheit in den Verfahren herstellten: zuerst eine staatliche Förderung der Umwelt- und Arbeitsmedizin. Ein klares Register, wer von wem bezahlt wird. Auch Fortbildungen für Juristen schaden sicher nicht. Dann endet vielleicht irgendwann die skandalöse Praxis, dass international gängiges Wissen über als giftig erkannte Stoffe und Vergiftungssymptome an deutschen Gerichten unberücksichtigt bleibt.
Reiner Metzger
In einem der größten deutschen Umweltskandale sollen Arbeiter zu Schaden gekommen sein. Der Fall des Dortmunder Unternehmens Envio ist ein Lehrstück in krimineller Gier.
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Raubkunstschenkung in Hannover: Zeugnisse der Verfolgung - taz.de
Raubkunstschenkung in Hannover: Zeugnisse der Verfolgung Lange standen von Nazis graubte Einrichtungsgegenstände im Kestner-Museum. Die jüdische Er­b*in­nen entschieden, dass sie dort bleiben sollen. Nachfahrin Gabriele Berliner betrachtet die geschenkte Stickarbeit im Museum August Kestner Foto: dpa HANNOVER taz | Es ist ja nicht einfach nur irgendein alter Schrank, etwas verspielt in seinen Formen, wie das halt im Rokoko so üblich war. Es ist Raubkunst, jedenfalls: „arisiertes Vermögen“. Und müsste also zurückgegeben werden, zumal ja jetzt klar ist, wem der Schrank all die Jahrzehnte gehörte. Wird er aber nicht! Der Schrank bleibt in Hannover, wo er eh schon ist. Das Möbel gehörte einst der jüdischen Fabrikantentochter Klara Berliner (1897–1943), deren Vater Joseph Berliner einstmals die erste europäische Telefonfabrik, aber auch die erste europäische Schallplatten- und Grammophonfabrik errichtete, die Deutsche Grammophon von 1898, die es bis heute gibt. Nur, dass sie nicht mehr in Hannover, sondern in Berlin sitzt. Joseph Berliner starb 1938, seine Tochter war die Al­lein­erbin – auch der um 1770 gefertigte Wäscheschrank aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern gehörte zum Nachlass. Doch schon wenige Monate später enteignete der NS-Staat Klara Berliner, Schritt für Schritt. Sie musste antisemitische Steuern und Abgaben zahlen, wie etwa die sogenannte Sühneleistung. Sie wurde gezwungen, ihren Schmuck bei der Städtischen Pfandleihstelle abzugeben, alle Einrichtungsgegenstände, alle ihre Besitztümer wurden beschlagnahmt. Sie lebte in bitterster Armut in verschiedenen „Judenhäusern“ Hannovers, ehe sie ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde, wo sie 1943 starb. Ihr Schrank stand da schon lange zur Versteigerung, fand aber zunächst keinen Käufer. 1942 gelangte er dank dessen Direktor in das örtliche Kestner-Museum. Der Kaufpreis wurde auf ein Sperrkonto überwiesen, auf das nur die Reichsfinanzverwaltung Zugriff hatte. Bürgermeister und Er­b*in­nen einigen sich auf Schenkung taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. 2014 landete der Schrank in der offiziellen deutschen Onlinedatenbank „Lost Art“ der damaligen Koordinierungsstelle für Kulturgüterverluste. Und die Provenienzforschung der Stadt Hannover bemühte sich, die rechtmäßigen Erben von Klara Berliner zu finden, um ihnen den Rokokoschrank zurückzugeben. Nun aber kommt es anders. Denn die Er­b*in­nen­ge­mein­schaft der Familie Berliner und Hannovers grüner Oberbürgermeister Belit Onay haben jetzt eine Vereinbarung zur Restitution und Schenkung unterzeichnet. Behalten darf Hannover nun auch einen kunstvollen Kopfkissenbezug, der auf eine Straminplatte gestickt worden ist. Klara Berliner hat ihn am Tag vor ihrer Deportation verschickt. Außerdem gehören zur Schenkung die gesamten deutschsprachigen Dokumente aus dem Manfred Berliner Trust, der die Er­b*in­nen­ge­mein­schaf­ten vertritt und in der Familie finanzielle Hilfen für Notlagen vermittelt. Der Schrank steht also weiterhin im kulturgeschichtlichen Museum August Kestner, das vor allem angewandte Kunst beherbergt. „Die wertvollen Objekte sind Zeugnisse der NS-Verfolgung von Klara Berliner, veranschaulichen symbolisch unterschiedliche Schritte ihrer Verfolgung und haben deshalb einen unermesslichen Wert für die Aufklärung über die NS-Verbrechen in unserer Stadt“, sagt Onay. „Das Museum ist der beste Ort für den Schrank“, sagte die eigens aus den USA angereiste Familiendelegierte Gabriele Berliner: „Hier können ihn viele Menschen sehen.“ 2018/19 stand er bereits im Mittelpunkt einer Sonderausstellung zu dem „Spuren der NS-Verfolgung“ im Kestner-Museum.
Jan Zier
Lange standen von Nazis graubte Einrichtungsgegenstände im Kestner-Museum. Die jüdische Er­b*in­nen entschieden, dass sie dort bleiben sollen.
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Regierungsumbildung in Norwegen: Den Nachwuchs fördern - taz.de
Regierungsumbildung in Norwegen: Den Nachwuchs fördern Ministerpräsident Jens Stoltenberg baut seine rot-rot-grüne Regierung um. Die 29-jährige Muslima Hadia Tajik wird überraschend Kultusministerin. Stellte sein Kabinett neu auf: Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Bild: dpa STOCKHOLM taz | 29 Jahre alt und mit pakistanischen Eltern: Hadia Tajik war eine der Überraschungen, als Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Freitag eine umfassende Regierungsumbildung bekannt gab. Die neue Kultusministerin ist nicht nur das jüngste norwegische Kabinettsmitglied aller Zeiten, sondern auch die erste Muslima in der Regierung. Die ausgebildete Juristin und Journalistin, erst seit drei Jahren im Parlament und ehemals Beraterin des Regierungschefs, wurde in den Medien aber schon seit einiger Zeit als großes Talent der sozialdemokratischen Arbeiterpartei gehandelt. Jetzt soll sie helfen, diese an der Regierung zu halten. Von dem Popularitätshoch, auf das Stoltenberg und seine rot-rot-grüne Regierung vor allem als Folge des Krisenmanagements nach den Terroranschlägen des vergangenen Sommers geklettert waren, ist nämlich nichts mehr übrig geblieben. Die Arbeiterpartei ist ebenso wie ihr grüner und ihr linker Koalitionspartner in ein solches Umfragetief abgesackt, dass dieser Konstellation derzeit keine Chance auf eine neue Mehrheit eingeräumt wird. Mit der jetzigen Regierungsumbildung ein Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen soll versucht werden, diese Entwicklung umzukehren. Von „neuen Kräften, neuen Ideen und neuen Menschen auf neuen Posten“ sprach Stoltenberg bei der Präsentation des neuen Kabinetts. Über Tajik sagte er: „Sie wird ein frischer Wind sein, und ich hatte schon lange vor, ihr einen Ministerposten zu geben.“ Ein Kronprinz für das Gesundheitswesen Der bisherige Außenminister Jonas Gahr Støre, der „starke Mann“ der Regierung, der auch als Kronprinz von Stoltenberg selbst – sowohl als Parteivorsitzender wie als möglicher Regierungschef – gilt, bekommt die Verantwortung für das aufgrund einer missglückten Organisationsreform krisengeschüttelte Gesundheitswesen des Landes. Während die bisherige Gesundheitsministerin Anne-Grethe Strøm-Erichsen an die Spitze des von ihr schon bis 2009 geführten Verteidigungsministeriums zurückkehrt und Verteidigungsminister Espen Barth-Eide neuer Außenminister wird. Das Arbeitsministerium wurde mit der bisherigen Kultusministerin Anniken Huitfeldt ebenfalls neu besetzt. Die wegen ihres Eingriffs in einen Ölarbeiterstreik von den Gewerkschaften heftig kritisierte bisherige Arbeitsministerin Hanne Bjurstrøm musste gehen. Was bleibt: Mit zehn Frauen und neun Männern steht Stoltenberg auch künftig einer mehrheitlich weiblichen Regierung vor.
Reinhard Wolff
Ministerpräsident Jens Stoltenberg baut seine rot-rot-grüne Regierung um. Die 29-jährige Muslima Hadia Tajik wird überraschend Kultusministerin.
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Spargelernte: Die letzte Brigade - taz.de
Spargelernte: Die letzte Brigade Am Johannistag endet die Spargelsaison, und tausende polnische Spargelstecher kehren nach Hause. Sie waren hier wohl das letzte Mal. Die Arbeit als Erntehelfer lohnt nicht mehr Bild: AP Manchmal spricht der Spargel. Dann zischt die Erde, wenn das Messer in sie hineinstößt und jäh innehält. Ein Druck aus dem Handgelenk nach unten, und dumpf knackend löst sich die weiße Stange von der Dunkelheit, wird von Zdzislaw Trzeszczows linker Hand ins Helle gezogen. Rote Streifen durchziehen den Horizont. Die Sonne geht auf, sie wirft ein blasses Licht auf die Männer auf dem Acker. Tief vornüber gebeugt, still und stetig: So sticht man den Spargel. Von weit her sind die Spargelstecher angereist ins brandenburgische Mötzow: aus Nowy Sacz, Warschau und Posen. Seit über hundert Jahren ist das so: Da halfen ihre Großeltern bei der Ernte von Zuckerrüben. Im Zweiten Weltkrieg wurden ihre Eltern als Zwangsarbeiter verschleppt. Und heute ernten sie Erdbeeren und Spargel; all jene Arbeit, die Deutschen zu mühselig und zu schlecht bezahlt ist. Zdzislaw Trzeszczow mustert den knapp 200 Meter langen Bifang, den Erdwall, in dem der Spargel schlummert. "Man muss ein Gefühl dafür haben, was man nicht sieht. Spargel wächst mal lang, mal kurz. Ob gerade oder krumm: Mit einem Schnitt muss er heraus." Die Stangenspitze muss der Stecher erahnen, bevor sie die Erde durchbricht. Am Ende der Erdenreihe steht eine Thermoskanne mit einem Gebräu aus Wasser und Vitamintabletten. Bis zum nächsten Schluck sind es für Zdzislaw noch fünf Minuten, in denen er 1 Kilo Spargel sticht. 50 Cent wird er dafür später erhalten. Nach zehn Stunden auf dem Feld kommt er auf 60 Euro. Spargelstechen ist Knochenarbeit. Gebückt stehen und immer wieder der kräftige Druck aus dem Handgelenk, "wer die ersten vier Tage übersteht, hält die ganze Saison durch", weiß Trzeszczow. Dann haben sich die Muskeln an die Dauerbelastung gewöhnt. In Polen entließ man den 48-jährigen Bergwerkssanitäter nach 25 Dienstjahren in den Ruhestand, das Geld aus der Erntehilfe braucht er für seine Tochter; die studiert Finanz- und Rechnungswesen in Krakau. Noch zwei Meter bis zum Ende des Bifangs. Trzeszczows Messer stößt im Sand auf einen Stein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht umfasst er das Handgelenk. "Hier", ruft Dariusz Drozdzynski - und wirft ihm eine Rolle Tapepflaster zu. Das dämmt den Schmerz ein. Drozdzynski, der Landwirt, baut auf seinem Hof in Wloszakowice selbst Spargel an. Die beste Qualität verkauft er nach Deutschland, der Rest bleibt in Polen, erzählt er. Den Spargel daheim stechen für ihn Nachbarn. Noch. "Nächstes Jahr werde ich wohl Ukrainer oder Weißrussen anheuern, für Polen lohnt sich der Job kaum noch." Spargel verlangt bei der Ernte Vorstellungskraft und Gefühl. Maschinen hierfür sind erst in der Entwicklung. Das bringt Heinrich Thiermann ins Grübeln. Keine zwei Kilometer vom Spargelfeld entfernt steht er vor dem weitläufigen alten Domstiftshaus, ist in Gedanken schon bei der Ernte im nächsten Jahr. 234 Hektar hat er hier mit Spargel bepflanzen lassen. In Niedersachsen sind es noch mehr, Thiermann ist Deutschlands größter Spargelbauer. "Woher wir die rund 1.000 Arbeiter zur Ernte im nächsten Jahr nehmen werden, weiß ich noch nicht", sagt er. Auf die Polen, weitaus die meisten seiner Helfer, wird er kaum noch hoffen können. Nur der unterbewertete Zloty verhalf in diesem Jahr noch zu einem Rekordzug aus Polen; bundesweit sind bis in den Mai 116.658 Männer und Frauen gekommen, um bei der Ernte von Spargel und Erdbeeren zu helfen. Experten sehen den Zloty im nächsten Jahr weit höher. Und nicht nur das. "Die EU-Fördergelder sorgen für bessere Löhne in Polen", sagt Thiermann. Die Folge: mehr und besser bezahlte Arbeit in Polen selbst. "Da erscheint Spargelstechen weniger attraktiv." Schon jetzt lässt sich mit Waldarbeit in Skandinavien und Gewächshausernte in den Niederlanden leichter und schneller Geld verdienen. Und wenn ab 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auch für Polen gilt, wird kaum einer von ihnen das Stechmesser auspacken wollen. Schon jetzt fordert daher der Deutsche Bauernverband von der Bundesregierung, zügig Abkommen mit der Ukraine und Weißrussland auszuhandeln. An deren Bürger werden die Polen den Erntestab wohl abgeben. Thiermann tut das leid. Eine jahrzehntelange Tradition breche weg, sagt der 67-Jährige, wenn die Polen nicht mehr kommen. "Wir kennen uns schon so lange. Jede Woche lasse ich 120 Schweine schlachten, um ihnen ein ordentliches Mittagessen zu servieren." Bis zur Pause um 12 ist es nur noch eine halbe Stunde. Aber die Zeit will einfach nicht voranschreiten. Auf Trzeszczows Ohren pellt sich die Haut. Ein Spargelstecher beendet die Saison braun gebrannt. "Ist wie Urlaub", scherzt Trzeszczow. Er muss sich beeilen, in der Mittagssonne errötet der Spargel und verliert an Wert. Müde schiebt er eine schwarze Plastikplane auf, wühlt mit Zeige- und Mittelfinger ein Loch um die weiße Stange. Der rasche Stich. Der Spargel landet in einer einrädrigen Metallkarre; ein Strichcode an ihr wird am Ende des Tages registrieren, wie viel Kilo Trzeszczow geerntet hat. Am Ende der Saison, nach zwei Monaten, wird er fast 1.000 Kilometer gelaufen sein. Acht Stunden später sind die ersten der Brigade angetrunken. Es ist 20 Uhr, die Busse mit den Erntehelfern sind von den Feldern zurückgekehrt, in die ehemalige Kaserne der DDR-Fallschirmspringer am Rande von Kloster Lehnin. Über 1.000 Polen leben hier während der Saison. Inmitten der Quartiere aus rohen Betonplatten steht eine Halle. Wind pfeift durch die Ritzen. Hinter einer wuchtigen Kasse sitzt eine kleine, schmale Frau. Ihren Namen möchte sie nicht nennen. 34 Jahre lang hatte ihre Familie einen Einkaufsladen. Doch dann entzogen ihr vier neue Discounter im 3.000-Seelen-Örtchen die Kundschaft. Nun verkauft sie zwei Monate im Jahr Alkohol, Nüsse, Vitamintabletten, Brot und Wurst an die polnischen Spargelstecher. Sparen auf ein Notebook Für Dariusz Drozdzynski war es ein guter Tag. "170 Kilo habe ich heute gemacht", sagt der 41-Jährige stolz, stippt genüsslich einen Keks in das Glas Cola. Im Zimmer 319 in Haus 42 sitzt er allein am Tisch. Seine anderen drei Schlafnachbarn im zwölf Quadratmeter großen Zimmer liegen in ihren Betten. Es ist 21 Uhr. Zbigniew Sieradzki, mit 48 Jahren der Älteste auf der Bude, schnarcht. Jacek Policht, 34, starrt stumm an die Decke, leise rauscht Musik aus seinem MP3. Zweimal hat Policht heute telefoniert mit seiner Liebsten und drei SMS verschickt. Die jüngste seiner zwei Töchter hat Angina. Gesehen hat er sie seit Wochen nicht. "Würde ich fürs Wochenende die 400 Kilometer fahren, ich käme nicht mehr zurück." Über Policht springt Tomasz Pobin aus dem Etagenbett. Das macht er alle zehn Minuten, heute ist Fußball, und unten im zweiten Stock hat einer ein Radio. Jacek Policht seufzt, setzt sich auf. Einen Notebook-Computer will er sich vom Lohn kaufen. "Ich bin in Polen gerade arbeitslos geworden. Sobald ich einen Job habe, komme ich nicht mehr hierhin." Pobin stürmt wieder herein, in der Hand ein Bier. "Stimmt, stimmt, stimmt", sagt der 20-Jährige: Auch er ist arbeitslos, spart für einen Laptop - und sieht sich im kommenden Jahr eher in einem Büro für Außenhandel statt auf dem Spargelfeld. Drozdzynski prostet mit der Cola zu: "Ich fälle dann Bäume in Schweden." Policht legt sich wieder hin. "Du wartest auf den Moment, das Herz schlägt wie verrückt, jetzt habe ich verstanden, wofür ich lebe", singt sein Lieblingssänger Seweryn Krajewski aus den Kopfhörern. Die Nächte in Kloster Lehnin sind kurz. Um vier in der Früh legt Trzeszczow einen Topf mit gehender Hefe unter die Bettdecke. Am Abend wird er wieder Brot backen. Deutsche Teigware gefällt ihm kaum, auch nicht die Wurst. "Zu viel Chemie." Seine Zimmergenossen schärfen ihre Messer am großen Schleifblock. Trzeszczow hat ihn mitgebracht und auch Bigos und Schmalz in Einmachgläsern - alles selbst gekocht. Noch ein Ruck am Nierengürtel. Draußen hupt schon der Bus. Wie auf einer Klassenfahrt geht es bei den 20 Kilometern zum Spargelfeld zu. Die 40 Männer lachen und scherzen. "Hey, Tommek", ruft einer von ihnen dem Fahrer zu, "fahr mich bitte zum Frühstücken ins Café de Paris und danach zum Louvre!" Auf den letzten zwei Kilometer verstummt die Reisegesellschaft. Schmerzgel wird herumgereicht für Ellenbogen und Handgelenk. Einer bandagiert seinen ganzen Unterarm mit einer Binde. Trzeszczow klebt Tapepflaster auf seinen rechten Handschuh. Die Männer laufen los. Zdzislaw Trzeszczow
Jan Rübel
Am Johannistag endet die Spargelsaison, und tausende polnische Spargelstecher kehren nach Hause. Sie waren hier wohl das letzte Mal.
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Denkmal für Laye Condé in Bremen: Rassismuserfahrung erwünscht - taz.de
Denkmal für Laye Condé in Bremen: Rassismuserfahrung erwünscht Die Bremer Kulturbehörde will an die schreckliche Zeit der Brechmittelfolter erinnern. Von Rassismus Betroffene sollen ein Kunstwerk dafür auswählen. Ein Foto und eine Trauerbekundung zum zehnjährigen Todestag von Laye Condé Foto: Carmen Jaspersen/dpa BREMEN taz | Die Bremer Kulturbehörde wünscht sich ein „Kunstwerk, das erinnert und mahnt“: an die schreckliche Zeit der Brechmittelfolter und den Tod von Laye-Alama Condé; und daran, dass das alles nicht vergessen werden darf. Sie sucht nun Bre­me­r:in­nen, die ehrenamtlich eine Auswahlkommission bilden, die über die Gestaltung des Gedenk­ortes entscheiden soll. „Haben Sie selbst Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung in Bremen – und damit einen Blick für die besondere Perspektive des Gedenk­orts? Machen Sie selbst die Erfahrung, als ‚fremd‘ angesehen zu werden?“ Diese und weitere Fragen stehen im Aufruf der Behörde. Auch wer selbst von Brechmittelfolter betroffen war und oder jemanden kennt, ist gefragt. Ende Dezember 2004 wurde der aus Sierra Leone geflüchtete Laye-Alama Condé verdächtigt, mit Drogen zu dealen. In Polizeigewahrsam fesselte man ihn und flößte ihm über eine Nasensonde zwangsweise Brechmittel und Wasser ein. Er fiel ins Koma und starb Anfang Januar. Er ertrank. 17 Jahre ist sein Tod nun her. Vor 16 Jahren stufte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Brechmittelvergabe als Verstoß gegen das Folterverbot ein. Und vor rund einem Jahr beschloss die Bremische Bürgerschaft, ein Mahnmal für die Opfer von Brechmittelfolter zu schaffen. Im vergangenen Jahr hat sich der Landesbeirat für Kunst im öffentlichem Raum mehrfach dazu getroffen. Der Ort soll neben dem Gerhard-Marcks-Haus in der Innenstadt entstehen, in Sichtweite der großen Polizeiwache. Brechmittelfolter als rassistische Maßnahme Was genau dort entstehen soll, möchte der Landesbeirat aber nicht alleine entscheiden: „Schon in diesem Schritt wollen wir Beteiligung schaffen von Menschen, die Expertise haben, die wir gar nicht mitbringen und ein Verständnis, das wir aus unserer privilegierten Perspektive gar nicht haben können“, sagte Kai Wargalla im Dezember der taz. Sie ist kulturpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Die Kulturbehörde, erklärt ein Sprecher, erhofft sich durch dieses Vorgehen zudem eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz und Identifikation mit dem Gedenkort. KundgebungGedenkkundgebung zum 17. Todestag von Laye-Alama Condé: 7. Januar, 17 Uhr, Langemarckstraße/Hochschule Bremen, u.a. mit einem Vertreter der Initiative in Gedenken an Achidi John aus Hamburg Nicht nur an Condé soll der Ort erinnern, sondern an alle Opfer der Brechmittelfolter. „Zwischen 1991 und 2004 sind in Bremen in über 1.000 Fällen Brechmittel an Menschen in Polizeigewahrsam verabreicht worden“, heißt es auf der Webseite brechmittelfolter-bremen.de, auf die auch die Kulturbehörde in ihrer Mitteilung verweist. In einem Text auf der Seite, in dem es um den Fall Condés, die Aufarbeitung und die jährlich durch die „Initiative in Gedenken an Laye-Alama Condé“ initiierten Gedenktage geht, wird betont, dass die Brechmittelfolter eine „rassistische Maßnahme“ war: 99 Prozent der Betroffenen „waren afrikanischer Herkunft“. Ein Gedenkort könne zum einen die Übernahme der politischen Verantwortung für den Tod Condés bedeuten. Zum anderen könne durch ihn der „Glauben an Gerechtigkeit“, die viele durch die Brechmittelfolter selbst sowie die Einstellung der Verfahren gegen mutmaßlich Verantwortliche verloren haben, zurückgewonnen werden. Gundula Oerter von der Ini­tiative in Gedenken an Laye- Alama Condé findet den Weg des Landesbeirats gut. „Die Praxis der Brechmittelvergabe war Ausdruck staatlicher Diskriminierung von Schwarzen Menschen“, sagt sie. „Struktureller Rassismus und alltägliche rassistische Angriffe sind nach wie vor aktuell. Daher müssen die Perspektiven derjenigen sichtbar gemacht werden, die davon betroffen und gefährdet sind.“ Bis Ende Februar können sich Interessierte bei der Kulturbehörde melden. Voraussetzung ist – neben dem Interesse an Thema und Gedenkort – genug Zeit, um sich über ein Jahr lang ehrenamtlich und regelmäßig mit der Auswahlkommission zu treffen. Steht die Kommission, bewerben sich Künst­le­r:in­nen mit ihren Entwürfen. Bei der Auswahl steht der Kommission eine „künstlerisch-fachliche Beratung“ zur Seite, heißt es in dem Aufruf der Behörde – Kunst­ex­per­t:in muss man demnach nicht sein, um mitent­scheiden zu können, welche Variante dann bis Ende 2023 umgesetzt wird.
Alina Götz
Die Bremer Kulturbehörde will an die schreckliche Zeit der Brechmittelfolter erinnern. Von Rassismus Betroffene sollen ein Kunstwerk dafür auswählen.
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Pläne der Luftfahrtbranche: Lobby will raus aus Emissionshandel - taz.de
Pläne der Luftfahrtbranche: Lobby will raus aus Emissionshandel Die Luftfahrt-Lobby hat Alternativ-Pläne zum europäischen Emissionshandel vorgestellt. Die Idee: Kompensation statt Zertifikate. Schöne Bilder, schmutzige Emissionen: Flugzeug über dem Flughafen Frankfurt Foto: dpa BERLIN taz | Die Luftfahrt-Lobby arbeitet mit Nachdruck daran, den Flugverkehr wieder aus dem europäischen Emissionshandel herauszulösen. Deswegen konkretisierte die internationale Luftfahrtorganisation Icao auf ihrer jüngsten Sitzung in Montreal ein Alternativmodell. Der Vorstoß zeigt, dass die Branche immer noch keinen Frieden damit gemacht hat, dass sie seit Anfang 2012 in den Emissionshandel einbezogen ist. Seither müssen die Flug­gesellschaften für innereuropäische Flüge für jede Tonne an ausgestoßenem Kohlendioxid (CO2) entsprechende Zertifikate vorweisen – was für Kraftwerke und die Industrie in der EU schon seit 2005 gilt. Stoßen die Airlines mehr als eine Freimenge aus, müssen sie die Papiere zukaufen. Durch diesen marktwirtschaftlichen Ansatz sollen die Unternehmen motiviert werden, möglichst treibstoffsparende Flugzeuge einzusetzen. Weil eine entsprechende globale Lösung für den Klimaschutz stets scheiterte, sind nur Flüge innerhalb der EU umfasst. Damit sind gerade ein Viertel der Emissionen des Flugverkehrs betroffen. Mit dem Ziel, selbst dieses bescheidene europäische System wieder abzuschießen, propagiert die Luftfahrt-Lobby nun ein eigenes Konzept. Unter dem Namen Corsia (Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation) sollen die Fluggesellschaften sich stattdessen durch Kompensationsmaßnahmen freikaufen können, die außerhalb des Luftverkehrs stattfinden. Nun könnte dies – entsprechend scharfe Kriterien vorausgesetzt – durchaus eine wirkungsvolle Option sein. Allerdings sollen nur für jenen Anteil der jährlichen Emissionen Auflagen greifen, die ab 2020 zusätzlich entstehen; ein Sockel entsprechend den Emissionen von 2020 soll auch künftig frei bleiben. Als klimaschonender Kraftstoff soll zudem alles gelten, was in seinem Lebenszyklus irgendwie mit erneuerbaren Energien in Kontakt kam – so zum Beispiel handelsübliches Kerosin, das in Raffinerien unter Einsatz erneuerbarer Energien hergestellt wurde. „Eigene Wege“ Entsprechend begrüßt der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) die jüngsten Vorstöße der Icao. „Mit der beschlossenen Ausgestaltung ist ein neuer Meilenstein erreicht“, sagt BDL-Präsident Klaus-Dieter Scheurle. Und dann weist er darauf hin, was die Motivation für das neue Konzept ist: Damit Corsia „nicht zur Doppelbelastung für die Fluggesellschaften wird“, müsse das System „die europäische Insellösung“, nämlich den Emissionshandel, „ab 2021 ablösen“. Die Grünen im Bundestag sehen den Vorstoß der Luftfahrt-Lobby „äußerst kritisch“. Es drohe eine Aufweichung, die „das ohnehin schwache Programm an die Grenze der Wirkungslosigkeit“ treibe, sagt Daniela Wagner, die für die Grünen im Verkehrsausschuss des Bundestags sitzt. Ihre Kollegin Tabea Rößner, zuständig unter anderem für Europarecht, ergänzt mit der Forderung, Deutschland und Europa müssten im Falle der von der Branche angestrebten Aufweichung „eigene Wege gehen und ein klares Signal setzen, um beim Klimaschutz im Luftverkehr endlich voranzukommen“. Als klimaschonend gilt alles, was mit erneuerbaren Energien in Kontakt kam Schließlich bestehe dringender Handlungsbedarf: Laut einer Studie für das EU-Parlament wird der Anteil des Luftverkehrs am CO2-Ausstoß im Jahr 2050 weltweit 22 Prozent betragen – sofern nicht massiv gegengesteuert wird.
Bernward Janzing
Die Luftfahrt-Lobby hat Alternativ-Pläne zum europäischen Emissionshandel vorgestellt. Die Idee: Kompensation statt Zertifikate.
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Beatrix dankt nach 33 Jahren ab: Lang leve de Koningin - taz.de
Beatrix dankt nach 33 Jahren ab: Lang leve de Koningin Nach 33 Jahren dankt Königin Beatrix ab. Was ist die Geschichte dieser Monarchin? Drei Versuche einer Annäherung. Der Handel mit Beatrix-Devotionalien läuft, seit die Königin ihr Abschiedswinken angekündigt hat. Bild: dapd Gefühlsduselei in Oranje Es war nur eine winzige, beinahe verschämte Randbemerkung im monarchietrunkenen Ausnahmezustand, in dem die Niederlande zurzeit verkehren: „Beatrix tritt ab“, meldete die Website der republikanischen Nieuw-Republikeinse Genootschap. Und folgerte: „Auf zur Republik! Vielleicht ist dies der richtige Moment, sich als Sympathisant der Republikaner zu registrieren.“ Mit Verlaub, werte Monarchiekritiker, Sie leiden an Realitätsverlust. Einen Tag nach der Ankündigung von Königin Beatrix, in Bälde von ihrem Thron zu steigen, überschlagen sich ihre Untertanen in ungekannter Loyalität. Premier Rutte, der noch im Herbst veranlasste, die politischen Befugnisse der Königin zu beschneiden, will die Thronübergabe zu einem „prächtigen Fest für alle Niederländer“ machen. Im Internet explodiert derweil der Handel mit Beatrix-Devotionalien. Selbst die liberale Partei D66 mit ihren republikanischen Tendenzen und der monarchiekritische Rechtspopulist Wilders danken der „Majestät“. Fazit: Einsamer als ein Republikaner in den Niederlanden kann man sich dieser Tage kaum fühlen. Bei rund 75 Prozent lag die Zustimmung zur Oranje-Dynastie, bevor Beatrix ihren Abschied verkündete. Man kann davon ausgehen, dass diese Zahl noch steigt. Wenn die Niederlande zuletzt überhaupt noch über die Monarchie debattierten, ging es um eine Beschneidung ihrer politischen Befugnisse. Die Situation am Tag nach Beatrix’ unerwarteter Rücktrittsankündigung entspricht dieser diskursiven Bankrotterklärung. Premier Rutte erklärte, das besagte Volksfest solle in Anbetracht der anhaltenden Finanzkrise zwar prächtig, aber nicht zu pompös sein – auf Wunsch der abtretenden Monarchin. Dies wiederum dürfte dann den oranje-bewegten Schulterschluss noch ein paar Prozentpunkte weiter tragen. Wenn es den letzten Republikanern ernst ist, bleibt ihnen anscheinend nur die Emigration. TOBIAS MÜLLER, AMSTERDAM Farbenfroh und tadellos Die Haare sitzen wie ein Helm – auch schon 1961. Bild: dpa Königin Beatrix hat keine Angst vor knallbuntem Lidschatten. Andere, man könnte sagen: gewöhnliche Frauen wirken mit blauen Puder über dem Auge wie eine schlecht kolorierte Schaufensterpuppe. Die niederländische Regentin aber schminkt sich, wie sie sich kleidet: farbenfroh, dennoch tadellos. Bei der Ankündigung ihrer Abdankung im niederländischen TV am Montagabend war wieder einmal die perfekte Beatrix zu sehen: Vor ihr auf dem aufgeräumten Schreibtisch steht ein geschmackvolles Blumenarrangement, die Haare sitzen wie ein Helm, der Schmuck am Handgelenk ist unter den (3)/4-Ärmeln sichtbar, funkelt aber nicht auffällig. Eine disziplinierte Frau, die drei Kinder großgezogen hat und trotzdem für ihr Land im Dienste stand. Von 1965 bis 2007 war Theresia Vreugdenhil aus Amsterdam für den Look der Königin verantwortlich. Mit ihr zusammen entwickelte sie Stücke, die niemals enganliegend, aber körpernah geschneidert sind. Trug Beatrix zu Beginn der Achtziger häufig noch rüschige, fließende, gar leicht transparente Outfits mit blumigem Muster, ähnelte ihre Kleidung mit der Zeit einem undurchdringlichen Panzer aus edlem, steifem Seidenstoff. Königin in 8 Daten31. Januar 1938: Geburt von Beatrix Wilhelmina Armgard von Oranien-Nassau und von Lippe-Biesterfeld auf Schloss Soestdijk - als älteste Tochter der späteren Königin Juliana und Prinz Bernhards1956-1961: Studium der Soziologie, Rechtswissenschaft und Staatsrecht an der Uni Leiden10. März 1966: Heirat mit dem Deutschen Claus von Amsberg27. April 1967: Geburt des Erbprinzen Willem-Alexander30. April 1980: Beatrix wird Königin der Niederlande6. Oktober 2002: Tod von Ehemann Claus, Prinz der Niederlande30. April 2009: Ein 38-jähriger Mann rast am Königinnentag bei der Parade der königlichen Familie in Apeldoorn mit seinem Auto in die Menschenmenge und verfehlt die Königsfamilie knapp30. April 2013: Nach 33 Jahren tritt Königin Beatrix ab und übergibt die Krone ihrem ältesten Sohn Willem-Alexander Beatrix Mann, der kränkliche Sympath Prinz Claus, wirkte neben seiner aufgerüsteten Frau furchtbar verletzlich. Seit seinem Tod puffern Schals und Capes in gedeckten Tönen diese Wirkung etwas ab. Aus der Working Mom, die ihre Kinder im Kleinwagen zur Schule schickte, wurde eine Working Granny, und die dürfen selbst in den farbverliebten Niederlanden zum Beige tendieren. Den kleinen Exzess im Schminktöpfchen kann sie sich trotzdem noch leisten. Auch heute würde sie zwar niemand als klassische Schönheit bezeichnen, doch sie wirkt niemals billig. Wie auch? Sie besitzt eine goldene Kutsche und Gold, das passt doch zu allem. NATALIE TENBERG Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenHape Kerkeling Beatrix - MyVideo Lecker Mittagsessen Manchmal ist die Kopie einfach besser als das Original - zumindest verhält es sich so mit dem Beatrix-Bild in Deutschland, das seit dem 21. April des Jahres 1991 völlig überlagert ist. Seitdem Hape Kerkeling die gesamte Sicherheitsmannschaft des Schlosses Bellevue in Berlin genarrt hatte und als Königin verkleidet vor laufender Kamera vorgefahren war - „Klaus und Ich wollten lecker Mittag essen“ - war es irgendwie vorbei mit der königlichen Würde. Kerkeling muss es schon vor über zwanzig Jahren unglaublich in den Fingern gejuckt haben ob dieser Steilvorlage: Die Klamotten, die Beton-Frisur, das Automatik-Winken nach dem Vorbild des Glühbirnen-Einschraubens, all das schrie förmlich nach einer Travestienummer - die dem damals noch nicht „geouteten“ Kerkeling bravourös gelang: Das Land lag auf dem Boden vor Lachen, die Bellevue-Nummer wurde zu Kerkelings wohl größtem Erfolg überhaupt. Und ein Fanal: Die Zeiten des deutschen Obrigkeitsstaates schienen knapp zwei Jahre nach Mauerfall endgültig vorbei. Staatsakt, Hymne, Monarchie? Ach was, das ganze Leben ist ein Quiz. Trotzdem ist Beatrix Abdankung nun ein kleines Trauerspiel für die Schwulen und Lesben dieser Welt, denn schon seit vielen Jahren gehört der 30. April, der Koninginnedag, zu einem der wichtigsten weltweiten „Pink Events“, wenn auch inoffiziell. Eigentlich wird an diesem Nationalfeiertag der Geburtstag der Königin gefeiert. Aber der Koninginnedag ist auch eine Art zweiter CSD, Schwule und Lesben aus aller Welt reisen nach Amsterdam, um Party zu machen. Besonders ausgelassen gefeiert wird entlang der Amstel zwischen dem Muntplein und dem Waterlooplein sowie auf dem Westermarkt beim Homomonument, aber auch an der Warmoesstraat und auf dem Zeedijk – aber wie soll das nun ohne Beatrix werden? Es ist ein Trauerspiel. Schlimmer ist nur, dass Hape Kerkeling auch aus dem Showgeschäft aussteigen möchte. MARTIN REICHERT
N. Tenberg
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Den Geist Gottes hören - taz.de
Den Geist Gottes hören JAZZ Vorher und nachher gab es im Jazz nichts Vergleichbares: Das Gesamtwerk des Trios Codona um den US-amerikanischen Trompeter Don Cherry ist wiederveröffentlicht Codona zelebriert das Spielerische im Umgang mit dem Material auf hohem improvisatorischen Niveau VON CHRISTIAN BROECKING Diese Musik ist wie ein langsamer Blues in der Steppe. Groß und widersprüchlich, etwas vorlaut und manchmal störrisch. Archaisch, entrückt, weit entfernt von den gewohnten Klängen. Und eingebettet in eine Umgebung, die am besten als leise charakterisiert werden könnte. Auch fast 30 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung wirken die Klänge seltsam zart; dass es vor und nach dem Projekt Codona im Jazz nichts Vergleichbares gab, wird mit der Wiederveröffentlichung des Gesamtwerks wieder deutlich: „The Codona Trilogy“ vereint nun alle zwischen 1978 und 1982 entstandenen Aufnahmen von Nana Vasconcelos, Don Cherry und Collin Walcott in einer unscheinbaren weißen Drei-CD-Box. Ihr Bandname leitete sich aus den Vornamen der drei Musiker ab. Der brasilianische Perkussionist Nana Vasconcelos empfand die Alltagskulisse seiner Heimat derart musikalisch durchdrungen, dass er selbst die Atmosphäre eines Straßencafes als Klang wahrnahm. „Que Faser“ ist eine Codona-Komposition aus der Feder des Brasilianers, in der er Vogelstimmen, Flügelschlagen und Wolkenbrüche – akustische Eindrücke aus der brasilianischen Natur – in Klänge umgesetzt hatte. Der Bandleader Don Cherry sagte, Codona würde grundsätzlich natürliche Musik machen, egal ob sein Trio in einer Konzerthalle, auf der Straße, in einem Tempel oder auf einer Bergspitze spiele. Als Trompeter war Cherry in den Bebop-Combos von Ornette Coleman und Sonny Rollins der Fünfziger- und Sechzigerjahre groß geworden und hatte dabei erfahren, dass es genuine Jazzmusiker auf ganz besondere Weise verstehen, spirituelle Tiefe auszudrücken. Als er in Europa dann den Saxofonisten Albert Ayler kennenlernte, meinte er gar aus dessen Spiel den Geist Gottes zu hören. Don Cherry pendelte zwischen den USA und Europa hin und her, bereiste die Welt, machte vor allem in Afrika und Asien Station und ließ sich musikalisch inspirieren; von südamerikanischen Traditionen, oder von arabischen. Cherry sei das musikalische Gedächtnis der Welt, er könne beliebige Idiome zu Klängen verwandeln, hatte sein Kollege, der Vibraphonist Karl Berger einmal über ihn gesagt. Cherrys Komposition „Malinye“ symbolisiert melodische Verzauberung, im bluesbetonten „Clicky Clacky“ spielt Cherry Kazoo. Das Spielerische im Umgang mit dem Material zelebrieren die drei Codona-Musiker auf einem hohen improvisatorischen Niveau. Man wollte offen sein für die verschiedensten Klänge und sie gebrauchen, in neue Zusammenhänge integrieren, mit ihnen experimentieren, sie verändern. Die Ermutigung, sich um das Überleben der jeweiligen musikalischen Traditionen zu kümmern, war den Musikern dabei wichtig. In den frühen Siebzigerjahren war Cherry mit seiner Familie auch als „Organic Music Theatre“ in einem Kleinbus durch Europa gereist, bevor sie sich in Südschweden niederließen, noch zu Zeiten des Vietnamkriegs. Cherry hatte es aus politischen und ethischen Gründen nicht mehr zu Hause ausgehalten. Außerdem wollte er lernen, in der Natur zu leben. Davon hatte er schon lange geträumt: Tiere um sich zu haben, Holz im Kamin und einen Garten, in dem er die Nahrung pflanzt und erntet. In Schweden erkundete Cherry seine indianischen Wurzeln, er wollte, dass seine Kinder anders aufwachsen als er, sie mit Geduld und Respekt erziehen. Auf musikalischer Ebene war der Jazz für Cherry die ästhetische Haltung, mit der er die verschiedenen Einflüsse kombinierte. Der Sitar- und Tabla-Spieler Collin Walcott arrangierte den afrikanischen Traditional „Godumaduma“ für das Trio wie eine Steve-Reich-Komposition. In dem Stück „Colemanwonder“ interpretierte das Trio Kompositionen von Stevie Wonder und Ornette Coleman mit Taschentrompete, Talking Drum und Sitar. Walcott kam 1984 nach einem Konzert in Berlin auf der Transitstrecke durch die DDR bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Cherry starb 1995 im Haus seiner Stieftochter Neneh. „Wir sitzen da und schauen zu, wie die Musik geschieht“, hatte Walcott einst beschrieben, was sich heute anhört wie ein große einsame Melodie, die aus der Stille dringt. ■ Don Cherry, Nana Vasconcelos, Collin Walcott: „The Codona Trilogy“ (ECM)
CHRISTIAN BROECKING
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Nino Haratischwili, Autorin: Lektorin in eigener Sache - taz.de
Nino Haratischwili, Autorin: Lektorin in eigener Sache Nino Haratischwili■ Jahrgang 1983, stammt aus Tiflis, ist Autorin und Regisseurin und lebt in Hamburg.Foto: dpa Obwohl noch nicht einmal dreißig Jahre jung, ist Nino Haratischwili schon eine alte Theaterhäsin. Bereits zehn ihrer Stücke sind uraufgeführt und das Deutsche Theater in Göttingen hat sie als Hausautorin engagiert. Am Wochenende war die Uraufführung ihres neuen Stücks „Das Leben der Fische“. Die Dramatikerin verwebt darin zwei vertrackte Liebesgeschichten miteinander. Regie hat sie selbst geführt. Nino Haratischwili, 1983 in der georgischen Hauptstadt Tiflis geboren, lernte früh als zweite Sprache Deutsch. Ihre Eltern schickten sie auf eine alternative, zweisprachige Schule. Nino begann schon als Mädchen zu schreiben: „Ich wollte Dinge verstehen … Und vor allem meine Gefühle zum Ausdruck bringen“, schreibt sie in einem E-Mail-Interview. Schon auf der Schule gründete sie „Das Fliedertheater“. Um professioneller inszenieren zu lernen, studierte sie nach dem Abi Filmregie – aber die Liebe zum Theater überwog. In Hamburg führte sie ihr Studium im Theaterfach weiter und debutierte 2006 mit ihrem Theaterstück „Z“. Eine Quelle ihrer Produktivität ist ihre Offenheit: „Es gibt unzählige Themen, die mich beschäftigen. Ich schreibe oft sehr schnell, rauschhaft und das Bearbeiten, Lektorieren dauert oft länger, als das Schreiben.“ Dieses Bearbeiten führt die Regisseurin Haratischwili fort, wenn sie ein Stück der Autorin Haratischwili inszeniert. Den Vorteil, ein eigenes Stück auf die Bühne zu schaufeln, sieht sie darin, „dass ich grobschlächtiger, freier mit meinen eigenen Texten umgehen kann; ich habe weniger Respekt vor eigenen Texten als vor fremden – das ermöglicht mir eine große Freiheit.“ Der Kritik, ihr neues Stück „Das Leben der Fische“ wirke in seiner Textfassung mit seinen Liebesgeschichten zu privat, zu wenig aktuell, hält sie entgegen: „Ich schreibe grundsätzlich nichts, um an irgendwelchen Moden, Aktualitäten, Tagesschauthemen anzuknüpfen. Ich suche das Persönliche am Schreiben.“ Als Hausautorin am Deutschen Theater fühlt sie sich wohl, sie hatte für die Inszenierung ihres neuen Stücks sechs Wochen Probenzeit – nicht schlecht. „Ich habe wunderbare Schauspieler“, schwärmt sie „und spüre ein großes Vertrauen vom Haus aus – was mir viel bedeutet.“ Zu ihrer Heimat Georgien habe sie ein gespaltenes Verhältnis, schreibt Nino Haratischwili: „Ich liebe meine Heimat und rege mich aber genauso leidenschaftlich über sie auf.“ Aller Voraussicht nach kann Haratischwili, die in Hamburg lebt und arbeitet, in diesem Jahr zum ersten Mal an einer professionellen georgischen Bühne inszenieren – was sie „sehr aufregend“ findet. ULRICH FISCHER nächste Aufführungen: 6., 17. und 20. Mai, jeweils 19:45 Uhr
ULRICH FISCHER
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GESAGT IST GESAGT - taz.de
GESAGT IST GESAGT „Ich bin ein Frau“ Bruce Jenner hatte 1976 als Zehnkämpfer Olympiagold geholt und ist Teil der Kardashian-Familie „Es wird vielleicht nicht immer einfach sein, aber wir werden dich unterstützen, egal was passiert!“ KIM KARDASHIAN ZU BRUCE JENNER
Bruce Jenner / Kim Kardashian
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Mangelnde Inklusion: Barriere Bayern - taz.de
Mangelnde Inklusion: Barriere Bayern Der Freistaat Bayern werde in zehn Jahren barrierefrei sein, verkündete Ministerpräsident Seehofer 2013. „Inkluencerin“ Evi Gerhard merkte: Alles heiße Luft. Zehn Jahre nach Seehofers Versprechen: Evi Gerhard zu Besuch im Bayrischen Landtag Foto: Maria Dismann MÜNCHEN taz | Am Morgen kurz vor der Abreise bittet mich Evi Gerhard noch einmal darum, ihre Haare zu kämmen. „Weißt du“, sagt sie, „bei Menschen mit Behinderung fällt ein verstrubbeltes Aussehen mehr ins Gewicht.“ Kurz darauf macht sie sich mit ihrem „Rolli“ und einer inklusiven Studiengruppe auf den Weg von Würzburg nach München. Evi Gerhard ist 48 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie trägt ein knallgrünes T-Shirt, auf dem der Schriftzug „#Inkluencerin“ und ein selbst designtes Logo zu sehen ist. Es besteht aus dem Piktogramm einer Rollstuhlfahrerin, deren Körper den Buchstaben A bildet. Im Reifen befinden sich viele bunte Punkte, die für Inklusion stehen. Ein horizontaler Strich unter dem Reifen symbolisiert Barrierefreiheit. „Aktiv mit Rolli“ ist die Botschaft. Auf ihrem gleichnamigen Instagram-Account nimmt Evi Gerhard regelmäßig Menschen mit in ihren Alltag. Dieses Mal begleite ich sie als ihre Assistentin. Schon 2013 verkündete Horst Seehofer, ehemaliger Ministerpräsident Bayerns (CSU), in seiner Regierungserklärung: „Bayern wird in zehn Jahren komplett barrierefrei – im gesamten öffentlichen Raum, im gesamten ÖPNV“. Doch was ist von dem Versprechen geblieben? Evi Gerhard will das überprüfen. Schließlich stehen am 8. Oktober die bayrischen Landtagswahlen an. In München wird sie Po­li­ti­ke­r:in­nen wie Holger Kiesel (SPD) treffen, den Beauftragten der Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung sowie Abgeordnete des Landtags. Am Hauptbahnhof in Würzburg begrüßt Evi Gerhard einen Servicemitarbeiter der Deutschen Bahn. Barrierefrei sieht anders aus. Während der Fahrt scannen wir gemeinsam die vorläufigen Wahlprogramme der unterschiedlichen Parteien nach Punkten zu Barrierefreiheit und Inklusion. Die CSU möchte beispielsweise „nicht alle gleichmachen, sondern jeden unterstützen, sein Leben zu gestalten“. Das Leitbild dafür nennt sich „solidarische Leistungsgesellschaft“. Ausbeutung von Menschen mit Behinderung Als ausgebildete Bürokauffrau treibt Evi dieser Aspekt um. Nach Abschluss ihrer Ausbildung konnte sie weder ein Praktikum noch einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Zwei Jahre war sie arbeitslos, über 20 Jahre arbeitete sie in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung und ist weiterhin voll erwerbsgemindert geblieben. Mittlerweile bezieht sie eine Erwerbsminderungsrente. Gleichzeitig „darf“ sie in der Jugendbildungsstätte Unterfranken in der Verwaltung mitarbeiten – für umgerechnet 2,67 Euro pro Stunde. Mit uns im Zug fährt Sibylle Brandt. Sie ist die Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv Bayern der SPD und betont, dass Barrierefreiheit kein Randthema sei, sondern mindestens 29 Millionen Menschen in Deutschland betreffe. Barrierefreiheit gehe eben nicht nur Menschen mit Behinderung etwas an, sondern genauso ältere und demenzkranke Menschen sowie solche mit einer psychischen Erkrankung oder Personen mit Kinderwagen. Menschen mit geringen Deutschkenntnissen könnten ebenfalls auf Barrieren stoßen. Als wir in München ankommen, können alle aus dem Zug aussteigen, außer Evi Gerhard. Die Ausrede: Der zuständige Servicemitarbeiter der Deutschen Bahn sei nicht darüber informiert worden, in welchem Wagen wir ihn erwarteten. Erst nach etwa zehn Minuten kann Evi Gerhard den Zug verlassen und in Richtung Landtag fahren. Dort angekommen, darf sie als einzige wie selbstverständlich die Sicherheitskontrolle überspringen. „Auch das ist Diskriminierung. Nur eben positive“, sagt sie. Denn geht von einer Person im Rollstuhl nicht dieselbe potenzielle Gefahr aus? Bayern schneidet schlecht ab Wir lauschen dem Fachgespräch „Bayern barrierefrei – wann ist endlich 2023?“ der SPD-Landtagsfraktion. Thomas Bannasch, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Bayern, sagt: „Behinderung entsteht erst in der Wechselwirkung zwischen den Barrieren und der Person mit einer Behinderung. Ein einfaches Beispiel: Sie haben irgendwo ein paar Stufen. Als Fußgänger kommt man einfach darüber, mit dem Rollstuhl nicht. Würde man eine Rampe hinbauen, könnten alle rüber und die Behinderung wäre kompensiert.“ Bayern weise hier starke Defizite auf. Laut einer Studie der Stiftung Gesundheit zu Barrierefreiheitsvorkehrungen in ambulanten Arztpraxen schneidet Bayern im Bundesländervergleich im Jahre 2023 am schlechtesten ab: Der Anteil der Praxen, die mindestens ein Kriterium der Barrierefreiheit erfüllen, liegt in Berlin bei 57 Prozent, in Bayern bei 38,8 Prozent. Am zweiten Tag in München fahren wir auch deswegen ins Bayerische Staatsministerium für Arbeit, Familie und Soziales, um mit dem bayrischen Behindertenbeauftragten Holger Kiesel zu sprechen. Die Teilnehmenden der Studienfahrt überreichen ihm eine im Vorfeld erarbeitete Checkliste zur Teilnahme an Wahlen. Sie umfasst barrierefreie Wahlbenachrichtigungen bis hin zu barrierefreien Wahllokalen: Die Türschwellenhöhe dürfe zum Beispiel maximal zwei Zentimeter betragen, damit der Zugang für alle möglich sei. Holger Kiesel sagt, ihm falle auf, dass Menschen mit Behinderung in den unterschiedlichsten Bereichen oft nicht mitgedacht würden. Das sei auch fehlender Repräsentation geschuldet: „Ich nenne die Zahl immer wieder, weil sie mich einfach erschreckt. Wir haben immer noch um die 7.000 Betriebe in Bayern, die keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen. Nicht einen einzigen.“ Kiesel erklärt das Verfehlen von Seehofers Ziel von vor zehn Jahren damit, dass es ein zu kurzer Zeitraum für ein solch ehrgeiziges Projekt sei. Außerdem scheitere es am Streit um Gelder und Zuständigkeiten. Ein Kugelschreiber ist zu wenig Darüber sprechen wir später im Landtag auch mit Abgeordneten. Auf die Wortmeldung eines Teilnehmers, der die fehlende Wertschätzung der Leistungen in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung thematisiert, antwortet Thomas Huber (CSU): Für ihn sei Wertschätzung nicht nur durch Geld, sondern auch auf anderem Wege möglich. Er persönlich habe zum Beispiel einen Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch liegen, der in einer dieser Werkstätten gefertigt worden sei. Evi Gerhard kann das nicht einfach so stehen lassen. Sie beschreibt ihre Erfahrung als ausgebildete Bürokauffrau und den verwehrten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Von Hubers Wertschätzung für den Kugelschreiber könne sie sich nichts kaufen. Huber erklärt das Verfehlen von Seehofers Ziel schließlich damit, dass Barrierefreiheit eine zukunftsweisende Daueraufgabe sei, mit der man niemals „fertig“ sein werde. Die Formulierung des Ziels habe zu einem Bewusstseinswandel beigetragen, für den barrierefreien Ausbau der Bahnhöfe und Haltepunkte der Deutschen Bahn sei aber beispielsweise der Bund zuständig und nicht das Land. Bayern, da sind sich Evi Gerhard und die anderen Teilnehmenden der Studienfahrt auf der Rückfahrt einig, habe noch einen langen Weg vor sich, um sich als barrierefrei bezeichnen zu können. Vielleicht, so die Hoffnung, führe die Checkliste zu barrierefreien Wahlen ja wenigstens zu mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung.
Maria Disman
Der Freistaat Bayern werde in zehn Jahren barrierefrei sein, verkündete Ministerpräsident Seehofer 2013. „Inkluencerin“ Evi Gerhard merkte: Alles heiße Luft.
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Rechtsextreme Demo in Fulda: Fackelmarsch der Neonazis - taz.de
Rechtsextreme Demo in Fulda: Fackelmarsch der Neonazis Rechtsextreme instrumentalisieren die Toten der alliierten Bombenangriffe in Fulda. Am 16. Februar ist ein weiterer Fackelmarsch geplant. Rechtsextreme greifen immer wieder gern zu den Fackeln (Archivbild, 2013) Foto: imago/Christian Mang FULDA taz | Kurz vor Jahresende gab es im osthessischen Fulda einen Großeinsatz der Polizei. Der Grund war ein als Spontandemonstration angemeldeter Aufmarsch der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ durch die Fuldaer Innenstadt am Sonntagabend. Etwa 20 Rechtsextreme aus dem gesamten Bundesgebiet trugen ein Transparent mit der Parole „Besatzer raus – damals wie heute“. Der Aufmarsch in Fulda war der Abschluss eines mehrtägigen Fackelmarsches der Neonazis unter dem Motto „Gedenktag für die Bombenopfer“. Damit wollen die Rechtsextremen die Toten der alliierten Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg für ihre rechte Propaganda instrumentalisieren. Allerdings untersagte die Polizei einen Teil der geplanten Route durch das Ausgehviertel von Fulda. „Der Weg an den ganzen Kneipen vorbei – das wäre zu gefährlich gewesen“, erklärte ein Sprecher der ­Fuldaer Polizei gegenüber der Fuldaer Zeitung. Für den 16. Februar ruft „Der III. Weg“ erneut zu einem Fackelmarsch nach Fulda und hat mit der Mobilisierung begonnen. In einem Aufruf wird Fulda neben Dresden als „Opfer des alliierten Bombenterrors“ bezeichnet. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Aufmärsche rechtsextremer Gruppen in Städten, die von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurden. Laut einer langjährigen Kennerin der linken Bewegung in Fulda, Karin M., die wegen Drohungen von rechts nicht ihren vollständigen Namen in der Zeitung lesen will, war es nicht das erste Mal, dass Neonazis in der ost­hessischen Region auftauchen. Bis 1989 gab es an Silvester in der Rhön Aufmärsche der später verbotenen Wikingjugend. 1993 verlegten die Neonazis den Gedenkmarsch zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Hess kurzfristig nach Fulda.
Peter Nowak
Rechtsextreme instrumentalisieren die Toten der alliierten Bombenangriffe in Fulda. Am 16. Februar ist ein weiterer Fackelmarsch geplant.
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Mitgliederschwund bei der FDP: Guidos Austrittswelle - taz.de
Mitgliederschwund bei der FDP: Guidos Austrittswelle Aus Frust über die liberale Regierungspolitik verlassen immer mehr FDP-Mitglieder ihre Partei. Manche Landesverbände sind dieses Jahr um bis zu fünf Prozent geschrumpft. Nur die Grünen wachsen. Noch nicht auf Halbmast, aber auch nicht im Wind: Die Fahnen der FDP. Bild: dapd BERLIN dapd/dpa | Die FDP steckt nicht nur in einem Umfragetief, sie erleidet auch einen massiven Mitgliederverlust. Immer mehr FDP-Mitglieder kehren offenbar aus Verärgerung über die liberale Regierungspolitik ihrer Partei den Rücken. Nach einer ersten Bilanz verloren die Freidemokraten seit Jahresbeginn mehr als 2000 Mitglieder und rutschten damit wohl unter die Marke von 70 000 - ein Minus von etwa drei Prozent. Trotzdem steht die FDP noch immer deutlich besser da als vor zwei Jahren: Damals gab es bundesweit lediglich 65 500 Freidemokraten, ehe die Partei rund um die Bundestagswahl eine ungeahnte Eintrittswelle erlebte. Nach Recherchen der Berliner Zeitung haben im zu Ende gehenden Jahr die großen FDP-Landesverbände zwischen vier und fünf Prozent ihrer Mitglieder verloren. Das sei der stärkste Einbruch seit zehn Jahren, berichtet das Blatt. Alleine im mitgliederstärksten Landesverband Nordrhein-Westfalen, der Ende 2009 noch 17.899 Mitglieder zählte, hätten seit Jahresbeginn 1.558 Frauen und Männer ihr Parteibuch zurückgegeben. Gleichzeitig seien nur 779 neu eingetreten. Damit sei die FDP der große Verlierer bei der diesjährigen Bilanz der im Bundestag vertretenen Parteien, schreibt die Zeitung. Die CDU beendet das Jahr zwar zum dritten Mal in Folge als größte deutsche Partei, aber mit 508 079 Mitgliedern reduzierte sich die Zahl der Christdemokraten im Vergleich zum Vorjahr um fast 15 000 (minus 2,5 Prozent auf 508.079). Die einzige Regierungspartei, die offenbar ungeschoren davonkam, ist die CSU. Gab es vor einem Jahr noch 159 198 Beitragszahler, ist derzeit bei den Christsozialen unverändert von rund 160 000 Parteigängern die Rede. Die Sozialdemokraten konnten ihren Rückstand auf die Merkel-Partei wieder verkürzen, auch wenn die Zahl der SPD-Mitglieder seit Jahresbeginn von 513 000 auf etwa 505 000 (minus 1,5 Prozent) sank. Genauere Zahlen kann die Partei derzeit allerdings nicht nennen, denn auch Monate nach der Umstellung der Mitgliederdatenbank kämpft man im Willy-Brandt-Haus mit technischen Problemen. Noch unklarer ist die Lage bei der Linken. Nachdem Ende 2009 exakt 78 046 Mitglieder gemeldet wurden, war im Sommer von etwa 78 500 die Rede. Offizielle Zahlen will die Partei derzeit allerdings nicht nennen. Hintergrund dürfte die sogenannte Karteileichen-Affäre in Bayern sein, wo der Landesverband die Mitgliederzahlen manipuliert haben soll. Eindeutiger Gewinner seien die Grünen, die ihre Mitgliedschaft um 9,2 Prozent auf den Rekordwert von 52.670 Frauen und Männer ausbauen konnten.
taz. die tageszeitung
Aus Frust über die liberale Regierungspolitik verlassen immer mehr FDP-Mitglieder ihre Partei. Manche Landesverbände sind dieses Jahr um bis zu fünf Prozent geschrumpft. Nur die Grünen wachsen.
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Kiel-„Tatort“ mit Lars Eidinger: Kai Korthals ist zurück - taz.de
Kiel-„Tatort“ mit Lars Eidinger: Kai Korthals ist zurück Der neue „Tatort“ ist der dritte Teil um den von Lars Eidinger gepielten Serienmörder. Es ist ein richtig guter Krimi – nicht nur der Dialoge wegen. Szene aus „Borowski und der gute Mensch“: Sabine Timoteo und Lars Eidinger – einander verfallen Foto: Thorsten Jander/NDR Kurzes Zögern, dann Stutzen, kurz auf „Pause“ drücken. Ja, doch, das Gefühl, das sich hier einstellt, ist fast fremd geworden übers Jahr: Dieser Sonntagskrimi ist richtig, richtig gut. Der Film„Tatort: Borowski und der gute Mensch“, Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Klar, Themen, Plot-Ansätze, Stereotypen-Umschiffung, all das war schon in anderen Folgen lobenswert seit Januar. Aber der Kieler „Tatort“ „Borowski und der gute Mensch“ verbreitet die wärmende vergnügte Laune eines rundum runden Fernsehfilms: super gespielt, herausragende Dialoge (Buch: Sascha Arango), großartig inszeniert von Regisseur Ilker Çatak und gefilmt (Kamera: Judith Kaufmann). Und wie Çatak Songs platziert, ist der Hammer. Als wäre das nicht genug, ist dies der dritte Teil einer Reihe: Serienmörder „Kai Korthals“ ist wieder da. Und damit der bestausgezogene deutsche Schauspieler, der x-fach prämierte Lars Eidinger. Keine Sorge, dieser Teil funktioniert, ohne die Vorgänger mit dem „Stillen Gast“ zu kennen. (Wer den Grundkurs absolvieren will: Die beiden ersten Korthals-Folgen von 2012 und 2015 stehen in der Mediathek.) Mit sich hadern Einzige Notiz: In der ersten Folge knebelte Korthals Borowskis damalige Kollegin (Sibel Kekilli), in der zweiten entführte er Borowskis frische Verlobte (Maren Eggert). Allein die Präsenz des Serienmörders, der sich trickreich aus dem Gefängnis gestohlen hat, lastet daher diesmal noch schwerer auf Borowskis Gemüt. Der bringt unterwegs Menschen um, entführt andere, schleicht sich beim Kommissar ein. Und hadert mit sich. Derweil ermittelt sich das Duo Borowski und Mila Sahin (Almila Bagriacik) immer näher an ihn ran. Von der Liste der Dinge, die so vergnüglich stimmen: Schon allein Borowskis Wohnung, die Tischtennisplatte quer ins Arbeitszimmer gequetscht, seine Ex-Verlobte als kleines Ölpor­trät an der Wand. Dazu die neue Figur, die wundervolle Victoria Trauttmansdorff als Borowskis Putzfrau, wie ein Versprechen, dass sie nun fest im Ensemble ist (nur ihr – logo – osteuropäischer Akzent nervt). Die beiläufigen, brillanten Dialoge der beiden. Natürlich auch: Wie Sabine Timoteo die blinde Korthals-Verehrerin spielt, die Szenen, die sie und Eidinger zusammen hinlegen, als machten sie nichts anderes. Dass Korthals durch eine Polizeisperre radelt und dabei das „Peter“-Motiv aus „Peter und der Wolf“ pfeift. Nur eines passt nicht: In der Eingangssequenz probt das Gefängnislaienspiel Schillers „Räuber“. Korthals ist als Schauspieler viel zu gut. Unverkennbar: Hier gibt Eidinger Eidinger. Könnte schlimmer sein.
Anne Haeming
Der neue „Tatort“ ist der dritte Teil um den von Lars Eidinger gepielten Serienmörder. Es ist ein richtig guter Krimi – nicht nur der Dialoge wegen.
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Wohnungsbau in Deutschland: Abriss als Chance - taz.de
Wohnungsbau in Deutschland: Abriss als Chance Wie kann neuer Wohnraum geschaffen werden? Ein Bündnis der Bauwirtschaft fordert: Alte Häuser abreißen und neubauen statt sanieren. Abreißen? Neubauen? Wer‘s zahlen soll, ist unklar Foto: dpa BERLIN taz | Über eine Milliarde Euro will die Bundesregierung künftig zur Verfügung stellen, um den Wohnungsbau vor allem in Großstädten und Ballungsräumen anzukurbeln. Es liegt auf der Hand, dass diese Größenordnung Begehrlichkeiten weckt. Am Dienstag präsentierte ein Bündnis für „Abriss und Neubau als Chance“ seine Pläne. Es tritt dafür ein, dass in den kommenden Jahren 1,8 Millionen Wohngebäude abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Hinter dem Bündnis stehen die Spitzenverbänden der deutschen Bauwirtschaft, der privaten Immobilienunternehmen und die Gewerkschaft IG BAU. Sie berufen sich mit ihrer Forderung auf eine Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (Arge) und des Pestel-Instituts. Laut der Studie wäre insbesondere der Ersatz von Wohnungen aus den 1960er und 1970er Jahren ein geeignetes Mittel, um den Wohnungsbestand schnell und nachhaltig an die Standards für Energieeffizienz heranzuführen und den rasant steigenden Bedarf an altersgerechten und barrierefreien Wohnungen zu decken. In diesem Segment werden bis zum Jahr 2030 zusätzlich rund 2,9 Millionen Wohnungen gebraucht. Das Programm solle sich daher auf Gebäude „mit nicht veränderlichen negativen Merkmalen wie niedrigen Raumhöhen, ungünstigen Schnitten und zu kleinen Bädern fokussieren“, so Arge-Studienleiter Dietmar Walberg. Bei rund zehn Prozent des gesamten Wohnungsbestandes könne man zudem davon ausgehen, dass ein Neubau wesentlich kostengünstiger sei als eine umfassende energetische Modernisierung oder gar eine barrierefreie Ausgestaltung. Wohin mit den Mietern nach dem Abriss? Auch Martin Mathes, Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der IG BAU, will entsprechende Projekte für die betroffenen Mieter sozial abfedern. Denkbar wären eine „gerechte Aufteilung der Kosten zwischen Mietern, Vermietern und dem Bund sowie eine Deckelung der Warmmieten nach dem Bezug der neu gebauten Wohnungen“. Felix Klapetta, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Baugewerbes, nennt das Programm einen „wichtigen Baustein für die bedarfsgerechte Entwicklung des Wohnungsmarktes“. Man wolle „ein Ende der Diskriminierung des Abrisses gegenüber der Modernisierung“. Konkret soll das Baugesetz geändert werden, das den Bestandsschutz für Gebäude regelt. Abriss und Neubau vernichten preis­werten Wohnraum Nebulös blieben die Antworten auf die Frage, wie man denn angesichts der Wohnungsknappheit in vielen Großstädten die Unterbringung der von Abriss betroffenen Mieter bewerkstelligen will. Günther verwies auf „ bewährte Instrumente des Mietermanagements“, wie sie schon jetzt bei der blockweisen Modernisierung eingesetzt würden. Er räumte allerdings ein, dass dies in Städten wie Berlin, wo schon jetzt Tausende von Flüchtlingen in Turnhallen und anderen Notunterkünften mehr campieren als wohnen und derzeit massenhaft Containersiedlungen gebaut werden müssen, „schwierig“ sei. Wenig begeistert von der Initiative zeigt sich der Deutsche Mieterbund (DMB). „Abriss und Neubau bedeuteten in der Regel die Vernichtung vergleichsweise preiswerten Wohnraums“, sagte ein DMB-Sprecher der taz. Man könne sich allenfalls vorstellen, bereits leerstehende Gebäude, die aufgrund ihres Zustandes faktisch nicht bewohnbar und auch nicht mit vertretbarem Aufwand zu sanieren seien, durch Neubauten zu ersetzen.
Rainer Balcerowiak
Wie kann neuer Wohnraum geschaffen werden? Ein Bündnis der Bauwirtschaft fordert: Alte Häuser abreißen und neubauen statt sanieren.
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Sachbuch über Süd-Nord-Weltordnung: So finster, so hell - taz.de
Sachbuch über Süd-Nord-Weltordnung: So finster, so hell Die Wirtschaft zwischen China und Afrika floriert, der Westen kommt kaum noch vor. Andrea Böhm stellt die westliche Weltordnung auf den Kopf. Unser Weltbild ist eine Konstruktion, die zu schwinden beginnt Foto: reuters Der venezianischen Kartograph Frater Mauro entwarf 1459 eine Karte, die die Welt kühl und empirisch wiedergab – so wie man sie nun sah, also nicht mit Jerusalem oder dem Paradies im Zentrum. Diese mappa mundi ist, wie damals üblich, gesüdet: Afrika oben, Europa unten. Der heutige Blick auf diese Karte führt vor Augen, dass unser Bild des Globus – wir oben, Peripherie unten – nur eine Konvention ist. Mauro versah zudem die Orte mit Geschichten – von der Ostsee bis zum sagenhaften Abessinien, wo Milch und Honig flossen und Städten in China, in denen es 6.000 Brücken gab. Am Beginn der modernen Kartographie leuchtete das Bewusstsein, dass Geographie eine Erzählung ist, die Geschichte und Machtverhältnisse abbildet. Dass die Bilder der Welt die Weltbilder ihrer Zeichner spiegeln. Die Publizistin Andrea Böhm nutzt diese mappa mundi als Reiseführer, um die Krise des Westens mit gesüdetem Blick in Augenschein zu nehmen. Also nicht von Brüssel und Washington aus, sondern von den Rändern, dem von Warlords beherrschten Somalia und Libyen, dem vom Krieg zerfressenen Bagdad, dem aufstrebenden China. Sie trifft einen 25-Jährigen in Bagdad, der von Kindesbeinen an nur Saddams Gewaltregime und Bombenterror kennt, und unverdrossen Marathonläufe organisiert. Ein Menschenrechtsaktivist in Gaza veröffentlicht, was weder Hamas noch Israel passt. Eine Achtzigjährige betreibt in Ostafrika ein Kinderkrankenhaus. Die Figuren sind meist mit robuster Zivilcourage ausgestattet. Keine Opfer, die beifälliges Mitleid verdienen, eher Charaktere, neben denen unsereins eher mutlos wirken würde. Unser Weltbild – mit dem Westen als Zentrum von Moral, Macht und Geschichte – ist eine Konstruktion, deren Selbstverständlichkeit zu verschwinden beginnt Eine der schillerndsten Figuren ist der Senegalese Pape Mass, der seit zehn Jahren in der chinesischen Messemetropole Guanzhong schwunghaften Handel mit Billigwaren betreibt. „Er exportiert in alle Welt, hauptsächlich aber nach Afrika. Journalisten wie ich sehen dort vor allem Kriege und Krisen. Pape Mass sieht eine wachsende Mittelschicht und Kenianer, die ihr Badezimmer fliesen wollen, Ivorer, die Mischbatterien bestellen“, so Böhm. Ein paar zehntausend Afrikaner leben in „Little Africa“ in Guanzhong, kalt verachtet von den Chinesen. Sie verkaufen und ordern. Das Geschäft wächst. Der Westen kommt in dieser Weltwirtschaft von unten kaum mehr vor. All das wird lakonisch berichtet, nichts soll bewiesen oder widerlegt werden. In den besten Moment klingt der Text fast wie eine Erzählung von Raymond Carver. Die Welt ist finster und hell. Debakel in Somalia Das Zentralstück dieses Textes, der leichthändig Reportage und historische Reflexion verwebt, beleuchtet Somalia. In der Hauptstadt Mogadischu verüben Islamisten Terroranschläge, Klans bekriegen sich. In Krankenhäusern sterben Kinder an Hunger. „Ich hasse solche Inspektionen des Elends, hasse mein hilfloses Starren auf geschwollene Kinderbäuche und marschiere hinter dem Doktor her wie hinter einem Schutzschild“, notiert die Autorin. Anteil an dem endlosen Zirkel von Gewalt, Korruption, Hunger haben die USA, die im Dezember 1992 mit Marines in dem failed state für Ordnung sorgen wollten. Es sollte ein gut gemeintes Fanal der militärischen und moralischen Überlegenheit des Westens werden und wurde ein Debakel. US-Militär und UN-Bürokratie agierten mit jener Mixtur von Hybris und Ahnungslosigkeit, die alles schlimmer machte. Am Ende verließen USA und UN ein noch mehr von Gewalt zerfurchtes Land. Somalia war die Blaupause für die Kriege in Irak und Afghanistan. Von dort führt die Reise in den Norden. Somaliland, groß wie Griechenland, ist von keinem Staat weltweit anerkannt, aber trotzdem ein halbwegs funktionierendes Gemeinwesen. Warum? „Anders als Somalia erfuhr Somaliland so gut wie keine internationale Hilfe und Einmischung“, sagt Böhm. Ohne Kredite, Marines und vom Westen unterstützte Machtgruppen fiel die Einigung auf eine paar Basisregeln offenbar leichter. Diese seltsame, auf keiner Karte verzeichnete Republik entspricht nicht dem Kanon westlicher Demokratien, mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Die Verfassung ist islamisch geprägt, die Justiz eine Mixtur aus modernem Recht und örtlichen Traditionen. Das für defizitär zu halten, für die Abweichung von der westlichen Norm, ist womöglich das verblassende Dogma von gestern. „Vielleicht“, schreibt Böhm, „stehe ich in Hargeisa mitten in einem Zukunftsentwurf: Ein Kollektiv von Menschen mit ausgeprägter nationaler und Klan-Identität. Flexibel, an Schocks von außen und Umbrüche von innen gewöhnt, bestens vertraut mit neuesten Kommunikationstechnologien. Ein hybrides Gebilde in Zeiten, da sich die Macht über Geld- und Warenströme immer weiter von der Politik traditioneller Nationalstaaten entfernt. Das funktioniert seit über 20 Jahren erstaunlich gut.“ Das Ende der westlichen WeltordnungAndrea Böhm: Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Erkundung auf vier Kontinenten. Pantheon Verlag, München 2017. 272 S., 17 Euro Zu den Zeiten des Frater Mauro war Mogadischu eine vitale, multikulturelle, reiche Handelsmetropole, das Pendant zu Venedig. Der Rückgriff auf dessen fast 500 Jahre alte Texte öffnet einen historischen Echoraum, der die Grundmelodie des Textes verstärkt. Nichts bleibt, wie es war. Die Karten werden neu justiert, übermalt, gedreht. Unser Weltbild – mit dem Westen als Zentrum von Moral, Macht und Geschichte – ist eine Konstruktion, deren Selbstverständlichkeit zu verschwinden beginnt. Das sieht man von den Marktplätzen in Hargeisa in Somaliland oder den Exportläden in Little Africa schärfer als von anderswo.
Stefan Reinecke
Die Wirtschaft zwischen China und Afrika floriert, der Westen kommt kaum noch vor. Andrea Böhm stellt die westliche Weltordnung auf den Kopf.
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MÖGLICHER ANSCHLAG: Autos brennen - taz.de
MÖGLICHER ANSCHLAG: Autos brennen In der Nacht von Freitag auf Samstag brannten in Rudow und in Adlershof zwei Autos. „Der Polizeiliche Staatsschutz prüft, ob die Taten politisch motiviert waren“, teilte die Polizei mit. Laut Tagesspiegel sollen die Autos dem Neuköllner SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Scharmberg sowie einem Pressefotografen gehören. Das Auto des Fotografen soll vor zwei Monaten schon einmal angezündet worden sein, Neonazis hätten ihn im Visier. Auf verschiedenen Seiten im Internet waren Steckbriefe von Fotografen aufgetaucht, die auf Neonazi-Demonstrationen fotografieren. (hei)
hei
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Fridays for Future in Berlin: Fridays in der Schule - taz.de
Fridays for Future in Berlin: Fridays in der Schule Die Fridays-for-Future-Bewegung will mit der Bildungsverwaltung zusammenarbeiten. Ein Ziel sind „Klimaverträge“ mit Schulen. Protestmalerei auf der wöchentlichen FFF-Demo im Invalidenpark Die Berliner Fridays-for-Future-Bewegung wagt den Gang in die Institutionen und kooperiert in Zukunft mit der Senatsverwaltung für Bildung. Es reiche nicht aus, „Demokratie nur einmal die Woche zu leben“, sagte Fridays-Sprecher Quang Paasch am Mittwoch mit Blick auf die wöchentlich stattfindenden Freitags­demos. Deshalb, so Paasch auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD), freue man sich nun auf die Zusammenarbeit mit der Bildungsverwaltung: Durch die Kooperation wolle man „unsere Anliegen noch stärker in die Schulen einbringen“. Senatorin Scheeres freute sich. Das eine seien die Worte, die FFF bei den Kundgebungen finde. „Das andere sind die Taten.“ Und da frage sie sich als Politikerin natürlich: „Wie können wir die Klimabewegung in politische Projekte umsetzen?“ Ein konkretes Ziel seien „Klimaverträge“, die man „am liebsten natürlich mit jeder Berliner Schule“ abschließen möchte, sagte Scheeres. Wie diese Vereinbarungen genau aussehen, sollen die SchülerInnen für ihre Schulen jeweils individuell ausarbeiten. Helfen soll ihnen dabei ein zentrales Klimabüro in der Senatsbildungsverwaltung. Ab März werde es dafür eine Stelle in ihrer Verwaltung ­geben, die auch im Haushalt finanziert sei. Hannah Blitz von FFF sagte, an ihrer Schule habe es zum Beispiel eine Initiative gegeben, Plastikverpackungen in der Schulcafeteria abzuschaffen. Scheeres sagte, die Kursfahrt nach Paris mit der Bahn statt mit dem Flugzeug zu planen könne ebenfalls Teil eines solchen ­Klimavertrags sein. Fridays-Sprecher Paasch sagte, es sei der Bewegung bewusst, dass ein meist teureres Bahn­ticket für SchülerInnen aus ärmeren Familien finanziell schwierig sein könnte. Ihr gehe es um „Beteiligung der Kinder und Jugendlichen und die Frage, wie wir das Thema Nachhaltigkeit in die Schulen bringen“, sagte Scheeres. Finanziert werden die Kooperationsprojekte deshalb auch aus dem Etat für politische Bildung. Rund 3.000 Euro hat jede Schule dafür im Jahr zur Verfügung. Ob es darüber hinaus noch zusätzliche Mittel gibt, zum Beispiel für einen Härtefallfonds für teurere Bahntickets auf Klassenfahrten, ist offenbar noch nicht abschließend geklärt. Weitere Ideen, die FFF gemeinsam mit der Bildungsverwaltung umsetzen will, sind eine jährliche Klimakonferenz im Herbst, bei der sich WissenschaftlerInnen mit SchülerInnen vernetzen und gemeinsam Projekte an Schulen planen. Einen ersten Auftakt gab es bereits im November im Zeiss-Planetarium in Prenzlauer Berg. Schneller als die Schulbuchverlage Ein drittes Projekt, das der Biologe Gregor Hagedorn von Scientists for Future am Mittwoch vorstellte: eine umfangreiche Materialsammlung, aus der sich SchülerInnen und LehrerInnen bedienen können sollen, um das Thema Nachhaltigkeit – inzwischen ein Querschnittsfach im Berliner Rahmenlehrplan – tatsächlich auch in den Unterricht zu integrieren. „So sind wir schneller, als die Lehrbuchverlage es sein können“, sagte Hagedorn. Die Berliner FFF-Bewegung hatte Anfang des Jahres angekündigt, ihre Strategie zu ändern. Man setze weniger auf die Mobilisation für wöchentliche Großdemos und wolle vielmehr „spezifischer und klarer werden“, wie es Sprecher Paasch am Mittwoch ausdrückte. „Wir müssen landespolitisch agieren und wollen konkrete Projekte anstoßen.“ Der „Schritt von der Straße“ dahin, „aktiv mit EntscheidungsträgerInnen zu reden, ist enorm groß.“ Zugleich betonte der Student, dass man sich selbstverständlich nicht von der Politik vereinnahmen lasse. „Wir bleiben AktivistInnen.“
Anna Klöpper
Die Fridays-for-Future-Bewegung will mit der Bildungsverwaltung zusammenarbeiten. Ein Ziel sind „Klimaverträge“ mit Schulen.
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■ Neuer Innenminister nach Massaker in Chiapas: Symbolische Gesten nutzen nichts mehr - taz.de
■ Neuer Innenminister nach Massaker in Chiapas: Symbolische Gesten nutzen nichts mehr Vor der „Politisierung“ der „Tragödie von Acteal“ hatte die mexikanische Regierung in den letzten Tagen unermüdlich gewarnt. Nun wurde niemand geringerer als der zweite Mann im Staate geopfert. Politischer geht's wohl nimmer. Symbolisch ist die Absetzung des Innenministers durchaus von Bedeutung, als – zumindest indirektes – Eingeständnis politischer Verantwortung für den Massenmord an 45 unbewaffneten Indigenas. Symbolische Gesten aber sind vergleichsweise billig. Zur Erinnerung: Vor ziemlich genau vier Jahren mußte schon einmal ein Innenminister aus ähnlichen Gründen seinen Hut nehmen. Ein grundlegender Kurswechsel wurde damit nicht eingeleitet. So kann das symbolische Zugeständnis heute zweierlei nicht ersetzen: die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und von Glaubwürdigkeit. Also zum einen die juristische Aufarbeitung des Skandals um die offizielle Verstrickung in die mörderische Paramilitarisierung des Bundesstaats. Wie weit Mitglieder der Landes- oder Zentralregierung sich für Acteal auch rechtlich zu verantworten haben werden – sei es für sträfliche Nachlässigkeit, sei es durch kriminelle Komplizität –, wird abzuwarten sein. Zum zweiten ist die von Zedillo angekündigte „neue Strategie“ in Sachen Chiapas angesichts der jüngsten Eskalation tatsächlich unabdingbar. Worin die bestehen soll, bleibt hingegen rätselhaft. Die einzige Strategie, durch die die Regierung ein wenig Vertrauen gewinnen könnte, wäre die schnellstmögliche Verabschiedung der Gesetzesinitiative über indigene Rechte, die schon vor eineinhalb Jahren als Kompromißvorschlag auf Basis des ersten Friedensabkommens erarbeitet worden war – und seither ihrer Umsetzung harrt. Bislang jedoch scheint diese auf die gewohnte Doppelstrategie zu setzen: politische Zugeständnisse, gepaart mit militärischen Drohgebärden. Während es in den letzten Monaten offenbar zu einer infamen Arbeitsteilung zwischen Armee und den „unsichtbaren“ Todesschwadronen gekommen war, treten heute wieder verstärkt die institutionellen Streitkräfte auf den Plan. Unter dem Vorwand der Waffensuche wird der Belagerungsring um die verschanzten Zapatistas enger gezogen – alles andere als eine vertrauensbildende Maßnahme. Zu hoffen ist beim neuen Innenminister, wenn schon nicht auf Selbstkritik, so doch wenigstens auf jenen Realitätssinn und Pragmatismus, der das offizielle Krisenmanagement in seinen besten Momenten ausgezeichnet hat. Anne Hufschmidt
Anne Hufschmidt
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Warnung vor extremem Hurrikan: „Ida“ nähert sich US-Küste - taz.de
Warnung vor extremem Hurrikan: „Ida“ nähert sich US-Küste Ein extremer Wirbelsturm bedroht den Bundesstaat Louisiana. Küstennahe Krankenhäuser können wegen zu vieler Corona-Patienten nicht evakuiert werden. Hurrikan „Ida“ (oben rechts) soll bald auf die US-Küste treffen. Mittig links: Hurrikan „Nora“ Foto: picture alliance/dpa/NOAA/AP NEW ORLEANS dpa | Ein extrem gefährlicher Hurrikan zieht auf die US-Golfküste zu. Die Behörden im Bundesstaat Louisiana warnen vor schweren Schäden und Überschwemmungen. Gouverneur John Bel Edwards aktivierte die Nationalgarde mit bis zu 5.000 Soldaten und forderte alle Menschen auf, sich vor der Ankunft des Sturms in Sicherheit zu bringen. Das Nationale Hurrikanzentrum (NHC) warnte, der Bundesstaat und auch die Stadt New Orleans müssten mit heftigem Regen, einer „lebensgefährlichen Sturmflut“, katastrophalen Windböen und lang anhaltenden Stromausfällen rechnen. Am frühen Sonntagmorgen (Ortszeit) gewann „Ida“ über dem Meer weiter an Kraft. Wie das NHC mitteilte, habe sich der Sturm zu einem „starken Hurrikan“ entwickelt. Die Experten berichteten von geschätzten Windgeschwindigkeiten von bis zu 215 Kilometern pro Stunde. Dies entspricht der Kategorie vier von fünf. Ein solcher Wirbelsturm löst in der Regel „katastrophale Zerstörung“ aus. „Ida“ soll den Prognosen zufolge noch am Sonntag in Louisiana auf Land treffen. Das wäre auf den Tag genau 16 Jahre nach der Ankunft des verheerenden Hurrikans „Katrina“, der in und um New Orleans katastrophale Schäden und Überschwemmungen verursacht hatte. Damals kamen rund 1.800 Menschen ums Leben. Seither wurden in der Region Milliarden in den Hochwasserschutz investiert. Einer der stärksten Stürme seit 1850 Gouverneur Edwards warnte am Samstag, „Ida“ werde beim Auftreffen auf Louisiana einer der stärksten Stürme seit 1850 sein. Alle Bürger müssten bis zum Abend (Ortszeit) an einem sicheren Ort sein. Ab Sonntagmorgen sei mit den ersten Sturmausläufern zu rechnen. US-Präsident Joe Biden ließ sich am Samstag von der Katastrophenschutzbehörde Fema zu dem Sturm unterrichten. Die Fema habe bereits 500 Einsatzkräfte sowie 1,6 Millionen Liter Trinkwasser, eine Million Mahlzeiten und Generatoren in die Region gebracht, erklärte das Weiße Haus. Die Küstenwache brachte für Rettungseinsätze 18 Hubschrauber und zahlreiche Boote in Stellung. Der Flughafen New Orleans strich für Sonntag alle geplanten Flüge. Der öffentliche Nahverkehr in der Stadt wurde schon am Samstagabend eingestellt. „Hurrikan ‚Ida‘ stellt eine direkte Bedrohung für die Menschen in New Orleans dar“, warnte Bürgermeisterin LaToya Cantrell. Wegen des schnell herannahenden Sturms habe es keine Zeit mehr gegeben, eine Pflicht-Evakuierung der ganzen Stadt anzuordnen. Sie ordnete daher nur die Evakuierung besonders gefährdeter Gebiete an, die außerhalb der Dämme liegen. Neben direkter Sturmschäden fürchtet die Jazz-Metropole auch Überschwemmungen durch heftigen Regen und Sturmfluten. New Orleans ist fast gänzlich von Wasser umgeben – im Norden liegt Lake Pontchartrain, im Osten Lake Borgne, im Süden gibt es die Feuchtgebiete entlang der Mississippi-Mündung. An Teilen der Küste Louisianas, westlich von New Orleans, sei mit einer „lebensgefährlichen“ Sturmflut von bis zu 4,5 Metern Höhe zu rechnen, warnte das NHC. Am Lake Borgne sei mit gut drei Metern zu rechnen, am Lake Pontchartrain mit gut zwei Metern. Auch für den Westen des Nachbarstaats Mississippi galten Flutwarnungen. Keine Kapazitäten für zusätzliche Patienten Gouverneur Edwards erklärte, küstennahe Krankenhäuser könnten trotz des Hurrikans nicht evakuiert werden, weil es zu viele Corona-Patienten gebe. Derzeit würden in dem Staat mit 4,6 Millionen Einwohnern 2.450 Patienten wegen Covid-19 stationär behandelt, sagte er. Es gebe in Louisiana und den angrenzenden Bundesstaaten keine Kapazitäten mehr, um zusätzliche Patienten aufzunehmen. Für die Einrichtungen seien trotz Generatoren lang anhaltende Stromausfälle infolge des Hurrikans eine große Gefahr. Der Staat habe rund 10.000 Arbeiter mobilisiert, um die Stromversorgung schnell wieder herzustellen, so Edwards. Louisiana und die benachbarten Bundesstaaten befinden sich inmitten einer dramatischen Corona-Welle. „Ida“ sollte sich erst über Land abschwächen und am Montag nordöstlich nach Mississippi und Tennessee weiterziehen. Der Wirbelsturm war am Freitag als Hurrikan der Stufe eins über den Westen Kubas hinweggezogen. Dort verursachte „Ida“ nach Berichten staatlicher Medien Stromausfälle und Schäden. Im Pazifik traf unterdessen Hurrikan „Nora“ auf Land in Mexiko und verursachte dort Überschwemmungen und Schäden. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 140 Kilometern pro Stunde zog er über die Küste des Bundesstaats Jalisco. Einige Gemeinden waren zuvor bereits evakuiert worden. Das NHC sagte schweren Regen für einen mehr als 1.500 Kilometer langen Abschnitt der mexikanischen Westküste sowie auf der Halbinsel Baja California voraus. Dieser werde wahrscheinlich lebensbedrohliche Sturzfluten und Erdrutsche verursachen. Der Prognose zufolge sollte „Nora“ in den kommenden Tagen, zunächst weiterhin als Hurrikan der Stufe eins, Richtung Norden parallel zur Küste über den Golf von Kalifornien ziehen.
taz. die tageszeitung
Ein extremer Wirbelsturm bedroht den Bundesstaat Louisiana. Küstennahe Krankenhäuser können wegen zu vieler Corona-Patienten nicht evakuiert werden.
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Reden gegen rechts – unter Anleitung - taz.de
Reden gegen rechts – unter Anleitung Guben wurde bekannt, weil Rechte Omar Ben Noui zu Tode hetzten. Jetzt denken die Bürger unter Anleitung öffentlich über Rechtsradikalismus nach GUBEN taz ■ Die Frage ist berechtigt. „Ist Guben wirklich braun?“, fragt Lea Rosh an diesem Donnerstagabend die 200 Bürger, die im Volkshaus sitzen. Freilich haben die meisten der Angesprochenen die 30 weit hinter sich gelassen. Aber zumindest drei waschechte Jungmänner mit Topfschnitt und Bomberjacke sitzen im Saal und etwa zwei Dutzend andere Jugendliche. Es ist eine klirrende Frage, die Lea Rosh da an Gottfried Hain, den Bürgermeister von Guben, hat. Warum haben sich die Stadtverordneten nur mit einer Stimme Mehrheit dafür entschieden, den Gedenkstein für Omar Ben Noui in der Nähe des Plattenbaus Hugo-Jentsch-Straße 14 zu belassen? Weil viele es nicht länger ertragen, dass die Grenzstadt zu Polen als braune Hochburg stigmatisiert werde, antwortet Hain. In der Stadt gibt es viele, die sehen in dem Stein einen „Katalysator, einen Beschleuniger für die rechte Szene“, sagt Hain. Das Denkmal im Freien erweise den Rechten einen „Götzendienst“. Der Findling liegt in unmittelbarer Nähe des Hauses, in dem der Algerier nach einer Hetzjagd 1999 verblutete. Wieder und wieder wird der Stein beschmiert, zerkratzt und angepinkelt. Deswegen wollte ein Teil der Stadtverordneten ihn wegschaffen und statt seiner eine Tafel im Rathaus aufhängen. Nach langer Diskussion setzten sich die Aktivisten für das Mahnmal durch. Wäre der Stein verschwunden, hätten die Rechten dies als „Sieg“ gefeiert. Nun bleibt der Stein, wo er ist. Hain ist das recht. Der leidenschaftlich ausgetragene Streit im Rathaus verwandelt sich in Engagement. Nun bewachen Freiwillige den Stein. Der Zank der vergangenen Wochen hat manchen Kopf geklärt. Jetzt will man reden über rechte Platzhirsche und deren Hegemonie, über Verantwortung und Zivilcourage – gerne auch öffentlich und unter Anleitung einer TV-Moderatorin. Es gibt viel zu erklären. Als Richter der 3. Großen Strafkammer am Landgericht Cottbus verteidigt Joachim Dönitz die Urteile gegen Omar Ben Nouis Verfolger. Die Kammer habe die Rädelsführer wegen fahrlässiger Tötung zwischen zwei und drei Jahren bestraft, weil sie ihre Jagd 200 Meter vor der Glashaustür abbrachen, durch die Ben Noui in Todesangst sprang. Die Kammer habe keinen Tötungsvorsatz erkennen können. Diese Erklärung und eine rasche Einführung in das Strafrecht leuchten dem Publikum ein. Die Unfähigkeit sich auseinanderzusetzen, scheint für diesen Abend überwunden. Mütter gestehen, dass sie nicht in der Lage sind zu erkennen, ob ihre Kinder nach rechts driften. Schüler klagen über mangelhafte Geschichtsstunden. Lehrerinnen berichten von 12- und 13-Jährigen, die von ihren Mitschülern über den Schulhof geprügelt werden, weil sie im Unterricht eine andere Meinung vertreten. Und die drei Rechten bitten um ein eigenes Jugendhaus und erfreuen sich auch schon der Symphatie von Polizeichef Lüth, als jemand aufsteht und einen von ihnen als Schänder des jüdischen Friedhofs outet. Das kostet. Der Polizeichef distanziert sich und Lea Rosh verweigert das Mikro. Sie weiß, wie man Zeichen setzt. ANNETTE ROGALLA Thema: Frieden schaffen nur mit Waffen? Lehren aus dem Balkankrieg. Sa., 28. 4., 12 Uhr
ANNETTE ROGALLA
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Big Max McWeber als „global player“ - taz.de
Big Max McWeber als „global player“ ■ Irrational, superfordistisch und auch noch ineffizient: das Fastfood-Prinzip Was würde Max Weber zum BigMac sagen? George Ritzer verrät es uns – als his master's voice, sozusagen. Was der deutsche Soziologe im Rahmen seiner Rationalisierungstheorie über die Bürokratie feststellte, demonstriert der amerikanische Professor am Hamburger- Multi McDonald's und seiner real vegetierenden Klientel. Die Diagnose lautet in beiden Fällen: Der „eiserne Käfig der Rationalität“ ist unmenschlich. Vor allem haben immer mehr von uns in ihm Platz: Derzeit gibt es weltweit 15.000 McDonald's. McDonalds ist außerdem weltweit stilprägend. Drive-in-Praxen für Behandlungen auf die Schnelle heißen „McDentists“ und „McDoctors“, Kindertagesstätten „McChild“, Kurzfutterzeitungen wie USA Today „McPaper“. Die McDonaldisierung als alle Lebensbereiche im globalen Maßstab durchwirkendes Prinzip stellt laut Ritzer eine große Gefahr dar, denn rationale Systeme bringen oft Irrationales hervor. Nehmen wir die Mutter aller Beispiele: Über die Menschen, die sich in die Welt von McDonald's begeben, wird massive Kontrolle ausgeübt. Hyperfordistisch werden die Angestellten gedrillt, Manager und Inspektoren führen ein unerbittliches Regime. Die Konsumenten werden eher unterschwellig manipuliert: Warteschlangen, eine begrenzte Speisekarte und unbequeme Stühle veranlassen sie, genau das zu tun, was die Firma wünscht: schnell zu essen und dann wieder zu verschwinden. Offenkundigster Ausdruck der Irrationalität der Rationalität ist aber die Ineffizienz der Fastfood-Restaurants: Wegen der chronisch langen Schlangen vor der Theke erwägt McDonald's derzeit, für die täglich 15 Millionen Kunden ein privates Fernsehnetz zu installieren – ein Eingeständnis, daß das Schnellrestaurant so schnell gar nicht ist. Zudem, rechnet uns der Organisationssoziologe Ritzer vor, kostet ein Essen bei McDonald's im geschlossenen Kleinfamilienverband leicht 20 Dollar – eine Summe, mit der man sich fast schon fürstlich selber bekochen könnte. Uns Radikalkonstruktivisten läßt das allerdings kalt: „Wie es wirklich ist, spielt kaum eine Rolle, solange wir glauben, Fastfood-Restaurants seien effizient und billig.“ Ritzer spendet der McDonaldisierung aber auch gelegentlich Beifall, schließlich ist er Sozialwissenschaftler und nicht echauffierter Gastronomiekritiker. Der BigMac schmeckt immer gleich – gestern, heute, morgen; in New York, San Salvador oder Peking. Das nennt Ritzer „tröstlich“ für Menschen, die „lieber in einer Welt leben, in der nichts Unerwartetes geschieht“ – McDonald's als Anker gegen die Unbill moderner Entwurzelung. Auch weist der Autor auf demokratisierende Tendenzen hin: Noch nie hatten so viele Menschen Zugang zu Gerichten italienischer, mexikanischer, chinesischer oder indischer Herkunft („indianisch“ heißt es in der deutschen Übersetzung – der Irrtum des Columbus mit umgekehrten Vorzeichen). Der Prozeß der McDonaldisierung, daran läßt Ritzer keinen Zweifel, ist unausweichlich. Es wird immer unmöglicher, den für Gourmets und kulinarische Regionalisten demütigenden Gang durch den goldenen Doppelboden zu gehen – McCanossa. „Der Bevölkerungszuwachs, der immer schnellere technische Wandel, das zunehmende Tempo des Lebens – all das macht es mehr und mehr unmöglich, in eine nicht rationalisierte Welt zurückzukehren – falls es sie irgendwann einmal gegeben haben sollte, jene Welt mit selbstgekochtem Essen, Besuchen in herkömmlichen Restaurants, hochwertigen Lebensmitteln, Mahlzeiten voller Überraschungen und Restaurantangestellten, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnten.“ Vielleicht bedeutete deren Lächeln ja schon immer das, was es heute bei McDonald's bedeutet: „Raus mit dir!“ Aufrüttelnde Lächerlichkeit Das Buch, obwohl ein Katalog der vielfältigen Verheerungen, endet nicht resignativ. Im Gegenteil: das letzte Kapitel ist – o herrlicher US- Pragmatismus! – eine Fibel für den Konsumkampf. Die Vorschläge sind zumeist sinnvoll: „Organisieren Sie Bürgerinitiativen zum Protest gegen den Mißbrauch durch McDonaldisierte Systeme. Diese reagieren auf solche Proteste. Wenn sie in einem solchen System arbeiten, tun Sie sich mit den Kollegen zusammen, um menschlichere Arbeitsbedingungen zu schaffen.“ Abstürze auf dem heutzutage schmalen Grat zwischen aufrüttelndem Engagement und rührender Lächerlichkeit finden sich ebenfalls. Zum Beispiel folgender Ratschlag: „Vermeiden Sie es, in Appartements oder Reihenhäusern zu wohnen.“ Sollen wir etwa zelten? Und wo kochen wir dann? Allerdings, richtig!, gibt es ja sicher in der Nähe einen... Simon Heusser George Ritzer: „Die McDonaldisierung der Gesellschaft“. Fischer Verlag, Frankfurt 1995, 363 Seiten, 32 DM.
Simon Heusser
■ Irrational, superfordistisch und auch noch ineffizient: das Fastfood-Prinzip
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Arbeitskampf bei Hagenbecks Tierpark: „Führung nach Gutsherrenart“ - taz.de
Arbeitskampf bei Hagenbecks Tierpark: „Führung nach Gutsherrenart“ Nach der Kündigung von neun MitarbeiterInnen will der neue Geschäftsführer nicht mit dem Betriebsrat verhandeln – und kündigt dem Betriebsratschef. Ungemütliche Zeiten in Hagenbecks Tierpark – nicht nur für die Tiere Foto: dpa / Malte Christians HAMBURG taz | Gern pflegt Hagenbecks Tierpark in Lokstedt das Image des familienfreundlichen Idylls. Unterstützt wird diese Außendarstellung von Heile-Welt-Reportagen über die rund 1.850 Tiere und die PflegerInnen des Zoos, etwa im NDR-Fernsehen in der Sendung „Leopard, Seebär & Co“, die beinahe täglich über die Bildschirme flimmert. Doch hinter den Kulissen des 1907 gegründeten Tierparks herrscht zurzeit eine raue Atmosphäre. Die Industriegewerkschaft Bauen-­Agrar-Umwelt (IG Bau) spricht von einer „Führung nach Gutsherrenart“, MitarbeiterInnen von einem „Klima der Angst“. Konkret geht es um die Einführung von Kurzarbeit während der Schließung des Parks im Lockdown und die Auswirkungen auf die Beschäftigten. Darüber wollten ArbeitnehmervertreterInnen und die Geschäftsführung des Zoos eigentlich verhandeln und eine Betriebsvereinbarung schließen. Eskaliert sei die Situation überraschend kurz vor Weihnachten, sagt IG-Bau-Vize-Regionalleiter Dirk Johne. Da die Arbeit des Gros der TierpflegerInnen auch in Coronazeiten unverzichtbar ist – bestenfalls fallen die publikumsträchtigen öffentlichen Fütterungen weg –, beträfe die Kurzarbeit vor allem MitarbeiterInnen des Empfangs, des Service, der Gastronomie und der Verwaltung. Insgesamt arbeiten 160 Menschen in dem Zoo. Beim ersten Corona-Lockdown im Frühjahr hatte der Tierpark für alle Betroffenen das Kurzarbeitergeld der Bundesagentur für Arbeit auf 100 Prozent des bisherigen Gehalts aufgestockt. Doch inzwischen hat es einen Wechsel in der Geschäftsführung des Zoos gegeben – und der neue Chef Dirk Albrecht änderte den Umgangston. Schon vor dem ersten Treffen am 21. Dezember sei neun MitarbeiterInnen gekündigt worden – „offenbar, um den Betriebsrat einzuschüchtern“, sagt Gewerkschafter Johne. Beim letzten Treffen habe sich Albrecht geweigert, mit dem Betriebsrat zu verhandeln, wenn auch VertreterInnen der IG Bau mit am Tisch sitzen würden. Doch die BetriebsrätInnen hätten darauf beharrt, dass die Gewerkschaft bleibe – und die Geschäftsführung darauf hingewiesen, dass der Betriebsrat während der Betriebsratssitzung Inhaber des Hausrechts sei, sagt Johne. Kurz vor Weihnachten eskalierte die Situation im Tierpark Daraufhin habe Albrecht die Verhandlungen abgebrochen, die Verantwortung für das Scheitern jedoch nachträglich der Arbeitnehmerseite zugeschoben. „In einer Demokratie ist es selbstverständlich und gesetzlich klar geregelt, dass sich Betriebsrat und Gewerkschaft austauschen – auch wenn das Herrn Albrecht ein Dorn im Auge ist“, kritisiert Johne. Darüber hinaus seien den Betriebsratsmitgliedern Informationen zur wirtschaftlichen Lage des Zoos und der gemeinnützigen GmbH vorenthalten worden, die aber die Grundlage für Verhandlungen zur Kurzarbeit seien. Bei einem Rundgang im Zoo im Anschluss an die abgebrochenen Verhandlungen habe sich die Lage dann noch weiter zugespitzt – Geschäftsführer Albrecht rief sogar die Polizei. Die GewerkschafterInnen und der Betriebsrat hatten eigentlich einen Rundgang durch 16 Gehege geplant, um die Belegschaft zu informieren. Albrecht habe ihnen dies untersagt und die Polizei informiert. Der Betriebsrat habe dann den Rundgang abgebrochen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Die anwesenden Betriebsratsmitglieder hätten dafür Abmahnungen kassiert. Geschäftsführer Albrecht macht auch gegenüber der taz seinen Standpunkt, nicht mit der Gewerkschaft verhandeln zu wollen, deutlich. Da nicht alle Beschäftigten Mitglied der IG BAU seien, sei es „unzulässig“, wenn die Gewerkschaft eine Vereinbarung für alle 160 Beschäftigten mitverhandeln wolle. „Die Vertretung ist ausschließlich Aufgabe des Betriebsrates“, sagt Albrecht. Die Gewerkschaft könne nur beratend tätig werden. Da nicht nur Corona, sondern auch Schweinepest und Vogelgrippe die Tiere gefährdeten, gebe es strenge Seuchenauflagen, sodass betriebsfremden Personen der Zutritt zum Tierpark nur mit Genehmigung der Geschäftsführung gestattet sei. „Diese Vorgaben haben Betriebsrat und die Vertreter der Gewerkschaft missachtet“, sagt Albrecht. Er habe daher polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen. Inzwischen hat Albrecht auch den Betriebsratsvorsitzenden Thomas Günther beurlaubt und dessen Kündigung beantragt. Johne sieht darin einen weiteren Einschüchterungsversuch. Das Betriebsratsgremium habe mittlerweile allen Kündigungsanträgen widersprochen, sodass Albrecht wegen Günthers Kündigung nun beim Arbeitsgericht ein Amtsenthebungs- und Kündigungsersatzverfahren einleiten muss. Gegenüber der taz sagte der Geschäftsführer: „Die arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Vorsitzenden des Betriebsrates haben mit der Kurzarbeitvereinbarung nichts zu tun.“ Er wolle das Verfahren aus „rechtlichen Gründen“ aber nicht weiter kommentieren. Der Konflikt dauert also an. Auch die geplante Betriebsvereinbarung landet nun vor der nächsthöheren Instanz. Johne kritisiert, dass ihnen durch den Abbruch der Verhandlungen keine andere Möglichkeit geblieben sei, als eine Einsetzung einer Einigungsstelle durch das Arbeitsgericht zu beantragen. Es sei bedauerlich, dass sich durch dieses Procedere die Einführung von Kurzarbeit verzögere und durch die Einigungsstelle Kosten verursacht würden, sagt Johne. „Dieses Geld und die verbundene Arbeitszeit hätte sinnvoller in den Tierpark investiert werden können.“ Eigentlich war Geschäftsführer Albrecht von den zerstrittenen Familienteilen der Hagenbecks im April 2020 eingestellt worden, um den Tierpark zu befrieden. Jahrelang standen sich Patriarch Claus Hagenbeck sowie sein Widersacher und angeheirateter Neffe Joachim Weinlig-Hagenbeck unversöhnlich gegenüber. In einem Brandbrief an eben diese beiden fordert die IG BAU nun, „dafür Sorge zu tragen, dass Herr Albrecht die Geschäfte des Tierparks so führt, wie es unserer rechtsstaatlichen Grundordnung gebührt“. Denn nicht nur Tiere, sondern auch Menschen müssten gut behandelt werden. In der SPD-Fraktion der Bürgerschaft ist der Vorgang bekannt. Eine „Einflussnahme sei schwer“, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Sozialdemokraten, Jan Koltze. Sollte Hagenbeck aber auf die Idee kommen, staatliche Corona­hilfen in Anspruch nehmen zu wollen, setze dies natürlich einen ordentlichen Umgang mit seinen Beschäftigten und der Mitbestimmung voraus.
Kai von Appen
Nach der Kündigung von neun MitarbeiterInnen will der neue Geschäftsführer nicht mit dem Betriebsrat verhandeln – und kündigt dem Betriebsratschef.
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Neuer Roman von Alejandro Zambra: Ein chilenischer Poet - taz.de
Neuer Roman von Alejandro Zambra: Ein chilenischer Poet „Fast ein Vater“ erzählt von Liebe, Dichtung und Vaterschaft. Zambra verknüpft darin individuelles Handeln mit der Realität in Chile. Ein Microbus fährt durch den Stadtteil Providencia, Santiago de Chile Foto: Eva-Christina Meier In seinem jüngsten Roman „Fast ein Vater“ setzt der chilenische Schriftsteller Alejandro Zambra seine virtuose Auseinandersetzung mit Literatur und den biografisch inspirierten Erfahrungen der Postdiktatur in die Gegenwart fort. Carla und Gonzalo lernen sich um 1990 nach einem Konzert der chilenischen Band Electrodomésticos in Santiago kennen. Den herrschenden sozialen Widrigkeiten zum Trotz – sie wohnt im bürgerlichen Stadtteil La Reina und besucht eine private Mädchenschule, er lebt in Maipú und geht auf eine staatliche Schule im Zentrum – werden die beiden Teenager ein Paar. Während sie die winterlichen Nachmittage vor dem Fernsehprogramm im Wohnzimmer der Eltern verbringen, erkunden sie, gemeinsam unter einem schweren Wollponcho aus Chiloé sitzend, heimlich ihre Körper. Nach diesem lustvollen Spiel ist der erste Geschlechtsverkehr besonders für Carla eine riesige Enttäuschung. Bald darauf trennt sie sich von Gonzalo. Erfolglos versucht er, seine Freundin mit eigenen Gedichten zurückzugewinnen oder zumindest zu beeindrucken. In „Frühwerk“, diesem ersten Teil des 459-seitigen Romans, gelingt es Zambra überzeugend, die Stimmungslage jugendlichen Erlebens seiner Generation in den Jahren des zögerlichen Übergangs zur Demokratie festzuhalten. Thematisch knüpft der 1975 in Santiago de Chile geborene Autor damit an frühere Veröffentlichungen wie „Bonsai“ oder „Ferngespräch“ an. Wiedersehen nach neun Jahren Neun Jahre später begegnen sich Gonzalo und Carla zufällig wieder beim Tanzen in einem in Santiagos Nachtleben beliebten Gay-Club. Sie gehen danach zu ihm. Dieses Mal können beide den Sex ungezwungen und ausdauernd genießen. Interessiert findet Gonzalo heraus, dass Carla alleinerziehende Mutter des sechsjährigen Vicente ist und notgedrungen in der Anwaltskanzlei ihres Vaters als Sekretärin arbeitet. Mit ihrem Sohn lebt sie wieder in dem Haus, das Gonzalo bereits aus seiner Jugend kennt. Das BuchAlejandro Zambra: „Fast ein Vater“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. Gebunden, 459 Seiten, 24 Euro. Leidenschaftlich verliebt, zieht er bei ihnen ein. Er will immer noch Dichter werden und unterrichtet in einem Vorkurs für die Universität. Für Vicente ist Gonzalo mal der große Bruder, mal der nachsichtige Onkel und irgendwann in der Patchworkfamilie auch fast ein Vater. Zambra erzählt diese Geschichte mit Humor und lässt sie unvermittelt in Tragik umschlagen. Unbedacht entgleitet dem Paar das gemeinsame Glück. Allein geht Gonzalo mit einem Promotionsstipendium nach New York. Vicente ist inzwischen achtzehn Jahre alt und kann sich an das Zusammenleben mit Gonzalo kaum noch erinnern. Doch träumt auch er, wie einst sein Stiefvater, davon, Dichter zu werden. Dem Drängen seines leiblichen Vaters, sich für ein Studium zu entscheiden, will er nicht nachgeben und liefert überzeugende Argumente: „Es hat keinen Sinn, dass du dich verschuldest, um mir die Universität zu bezahlen. Ich habe gesagt, ich studiere, sobald die Universität gratis ist.“ Musterland des Neoliberalismus Bemerkenswert nebensächlich lässt Zambra gesellschaftliche Konditionen und die realen Debatten darüber im Roman durchscheinen. Die umfassende Privatisierung der Bildung im Musterland des Neoliberalismus hatte in Chile bereits vor zehn Jahren zu massiven Studentenprotesten geführt. Doch erst Ende 2019, ausgelöst durch die Erhöhung der Metropreise, formierte sich ein so breiter sozialer Widerstand, der das historisch längst überfällige Verfassungsreferendum durchsetzte. Auch wenn der chilenische Schriftsteller, der seit einigen Jahren in Mexiko-Stadt lebt, diese überraschenden Ereignisse nicht vorhersehen konnte, gelingt ihm doch eine präzise Beschreibung jenes Spannungsverhältnisses zwischen dem individuellen Handeln seiner Protagonisten und der sie prägenden kollektiven Verhältnissen. Vicente verliebt sich in die etwa zehn Jahre ältere New Yorker Journalistin Pru, die nach persönlicher Krise und Odyssee in Santiago gelandet ist, um für einen Magazinbeitrag über chilenische Lyriker zu recherchieren. (Im Original erschien der Roman unter dem Titel „Poeta chileno“). Bereitwillig bietet sich Vicente an, Prus Vorhaben als ihr Dolmetscher zu begleiten. Diese Episode nutzt der Autor für eine genauso provokante wie liebevolle Annäherung an die Dichtung seines Landes. Mit spürbarem Vergnügen lässt Zambra in diesem dritten Teil bekannte oder weniger bekannte real existierende Personen der lokalen Literaturszene zu Wort kommen und dabei die Grenzen zwischen Doku und Fiktion ineinanderfließen. Fiktives Treffen mit Nicanor Parra In der Erzählung gelingt es Pru sogar, ein Treffen mit dem hundertjährigen, 2018 verstorbenen Lyriker Nicanor Parra zu arrangieren. Und Vicente lernt nach einer turbulenten Dichterparty den Poeten und Bohemien Sergio Parra kennen, der im Roman wie in der Realität eine Szenebuchhandlung in Santiago betreibt. Dort beginnt der Junge bald darauf auszuhelfen. Auch Gonzalo und Vicente treffen am Ende wieder aufeinander – nicht als Ex-Stiefvater und -sohn, sondern als gleichgesinnte Bewohner „eines literarischen Landes, in dem die Lyrik auf kuriose, irrationale Weise Bedeutung hat“.
Eva-Christina Meier
„Fast ein Vater“ erzählt von Liebe, Dichtung und Vaterschaft. Zambra verknüpft darin individuelles Handeln mit der Realität in Chile.
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Marian Offman über Antisemitismus: „Ich stehe auf ihren Todeslisten“ - taz.de
Marian Offman über Antisemitismus: „Ich stehe auf ihren Todeslisten“ Deutsch zu sein und zugleich jüdisch, kann das gutgehen? Das fragt sich Marian Offman, früherer jüdischer Stadtrat in München, in seinem ersten Roman. Der Autor und Politiker Marian Offman Foto: Matthias Balk/dpa/picture alliance taz: Herr Offman, wie lebt es sich als Jude fast 80 Jahre nach dem Holocaust in der Stadt, die sich mal rühmte, die „Hauptstadt der Bewegung“ zu sein? Marian Offman: Ambivalent. Solange das Gegenüber, mit dem man es zu tun hat, nicht weiß, dass man jüdisch ist, scheint alles ganz normal. Aber es ist nicht normal. Sobald klar ist, dass ich Jude bin, fühle ich geradezu, wenn ich jemandem gegenüber sitze oder stehe, dass diese Person nur noch den Juden in mir sieht – zunächst mal ganz wertfrei, das kann positiv oder auch negativ sein; aber ich bin auf mein Judentum reduziert. Daran hat sich nichts geändert. Sehen Sie sich persönlich oft mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert? Da muss man unterscheiden: Seit ich mich vor 20 Jahren entschieden habe, in die Politik zu gehen und meine jüdische Herkunft offensiv zu thematisieren, bin ich natürlich eine der liebsten Zielscheiben der Rechtsradikalen. Ich stehe sogar auf ihren Todeslisten. In meinem beruflichen Umfeld ist es ganz anders. Ich bin ja Hausverwalter und mache fast jeden zweiten Tag eine Eigentümerversammlung. Die Leute wissen da alle, dass ich jüdisch bin, angegangen wurde ich aber fast nie. Fast? im Interview:Marian OffmanMarian Offman, Münchner, Jahrgang 1948, war über 30 Jahre im Vorstand der jüdischen Gemeinde und von 2002 bis 2019 im Stadtrat seiner Heimatstadt. Der Sozialpolitiker engagierte sich im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus und setzte sich für Flüchtlinge ein. Er ist der erste interreligiöse Beauftragte der Stadt München. Sein Roman „Mandelbaum“ erschien in diesem Jahr im Volk-Verlag. Es gibt einzelne Ausnahmen: Wir haben eine Eigentümerin, die regelmäßig gegen die eigene Eigentümergemeinschaft klagt. Die hat bei einem Gerichtstermin gesagt, dass für sie Juden und Rechtsanwälte keine Menschenrechte hätten. Das hat sie auch mehrfach wiederholt. Und die Richterin stand dabei, ohne sich dazu zu äußern. Wie kommt es, dass der Antisemitismus noch heute so stark ist? Es gibt ja diese Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Da wird der Anteil der Antisemiten in Deutschland immer so mit 15 bis 20 Prozent angegeben. Die typische Frage ist in den Befragungen: Würden Sie neben einer jüdischen Familie wohnen wollen? Und da sagen eben 15 bis 20 Prozent: lieber nicht. Da gibt es kaum Veränderungen. Bei Muslimen ist die Zahl übrigens viel höher, so bei 50 Prozent. Und neben einer Familie von Sinti oder Roma würden 70 Prozent nicht wohnen wollen. Aber woher kommt es, dass 80 Jahre nach dem Holocaust immer noch Leute so denken? Dazu gibt es Hunderte von Büchern. Wirklich schlüssig hat es mir trotzdem noch niemand erklären können. Die Deutschen leiden meiner Meinung nach noch immer an einer kollektiven Psychose wegen des Holocausts: Die Diskrepanz zwischen den eigenen Werten, die man in einer christlich geprägten Gesellschaft vermittelt bekommen hat, und den Verbrechen, die das eigene Volk begangen hat, ist einfach zu groß. Die meisten Menschen können damit irgendwie umgehen, aber manche kommen damit nicht klar. Aber eine Erklärung ist das natürlich auch nicht. Sie waren fast 20 Jahre lang Stadtrat in München, bei den Wahlen 2020 haben Sie es nicht mehr in das Gremium geschafft. Jetzt ist Ihr Roman „Mandelbaum“ erschienen. Haben Sie vor lauter Langeweile mit dem Schreiben begonnen? Nein, langweilig war mir nicht. Aber ich hatte schon etwas mehr Zeit, bin auch beruflich etwas kürzer getreten, und eigentlich wollte ich schon immer ein Buch schreiben. Und nun hatte ich plötzlich die innere Ruhe dazu. Deshalb habe ich mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Und es lief sehr gut. Für mich ist das Schreiben ein wirklich beglückender Moment. Ich war selbst erstaunt, wie gut das funktioniert hat. Nach einem Vierteljahr war das Buch fertig. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der Ihr Alter Ego eine Nacht in einer Polizeizelle verbringen muss, weil er einen prominenten Neonazi ins Koma geschlagen haben soll, findet sich in Ihrem Buch eine Mischung zwischen Entwicklungsroman und Autobiografie. Ja, der Felix Mandelbaum ist ein jüdischer Stadtrat, den sein Mut ins Gefängnis bringt. Das Buch ist zur Hälfte wahr, zur Hälfte Fiktion. Haben Sie selbst schon mal eine Nacht auf der Polizei verbracht? Nein, aber die Vorgeschichte der Festnahme des Felix Mandelbaum ist auch mir so passiert. Da war ich als Gegendemonstrant bei einer rechten Demo am Odeonsplatz, und plötzlich war ich umringt von lauter Polizeibeamten, die mir gesagt haben, es habe jemand gegen mich Strafanzeige wegen schwerer Körperverletzung gestellt und ich müsste jetzt mitkommen. Dann haben sie mich in eine Seitenstraße abgeführt und dort in einem Polizeibus verhört. Was hatten Sie denn gemacht? Ich hatte den Arm einen Pegida-Aktivisten weggeschoben, der mit einem Flugblatt vor meiner Nase rumgefuchtelt hat, und ihm gesagt, er solle verschwinden. Die Polizisten standen übrigens daneben. In Ihrem Roman kommt die Münchner Polizei auch sonst nicht sehr gut weg, da sieht man Beamte, die im Zweifel eher Neonazis beschützen, als gegen Antisemitismus einzuschreiten. Es gab auch Situationen, in denen ich mich von der Polizei beschützt gefühlt habe. Öfter aber waren Momente wie die bei der Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums. Da hatten sich 200 Meter weiter Nazis aufgestellt, die sehr laut die erste Strophe des Deutschlandslieds abspielten. „Deutschland über alles“ – während die Holocaust-Überlebenden zur Eröffnungsfeier kamen. Als ich einen Polizeibeamten darauf aufmerksam machte und ihn bat, dagegen einzuschreiten, schickte er mich nur weg und meinte, das gehe mich überhaupt nichts an. In solchen Fällen ist mein Vertrauen in die Polizei dann doch erschüttert. Sie hätten eine richtige Autobiografie schreiben können, auch einen sehr fiktiven Roman mit autobiografischen Anleihen, warum haben Sie sich für dieses etwas schillernde Mischform entschieden? Das hat sich so ergeben. Ich bin die Sache ganz ohne Konzept angegangen. Ich habe mich hingesetzt und angefangen zu schreiben. Die Rahmenhandlung hatte ich mir schon früher mal während einer langweiligen Stadtratssitzung überlegt. Der Rest hat sich so entwickelt. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Wenn man 74 Jahre alt ist, hat man so viel erlebt, gesehen, gefühlt, geweint und gelacht. Und das kommt dann beim Schreiben halt irgendwie raus. Im Klappentext heißt es, der Roman gehe „der Frage nach, ob eine deutsch-jüdische Existenz überhaupt gelingen kann“. Und? Es ist schwierig. An manchen Tagen denke ich mir, ich habe wirklich innerhalb meiner bescheidenen Möglichkeiten alles getan für ein gutes Miteinander miteinander zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und Muslimen, aber es hat sich nichts verändert. Da erinnere ich mich dann an den Satz, den Ignatz Bubis, der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, kurz vor seinem Tod gesagt hat: „Ich habe nichts erreicht.“ Und dann wieder gibt es Tage, an denen alles vergessen ist, ich gehe auf die Straße, spaziere durch mein München und denke mir: Alles ist gut. München ist die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Aber man hat den Eindruck, dass ein Großteil des jüdischen Lebens in München hinter verschlossenen Türen stattfindet. Viele haben Angst. Und mich halten manche für verrückt. Wie kann ein Jude zu einer Nazidemo gehen und sich offen gegen die Nazis stellen? Sie fragen sich: Wieso soll ich den Kopf hinhalten? In der Beschreibung der Schulzeit des Felix Mandelbaum erzählen Sie, wie er aus einem Referat eines Mitschüler vom Horror des Holocausts erfährt, nicht von seinen Eltern. Es wurde in den meisten jüdischen Familien nicht über den Holocaust gesprochen. Nicht nur weil die Eltern nicht über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen wollten, sondern auch aus einer jüdischen Tradition heraus: Kinder sollen sich nicht mit dem Tod befassen müssen, man will sie mit dieser dunklen Seite des Lebens nicht konfrontieren. Deshalb werden Sie auf einem jüdischen Friedhof auch keine Kinder finden. Sie sind 2002 für die CSU in den Stadtrat eingezogen. In Ihrem letzten Jahr, 2019, sind Sie in die SPD gewechselt und haben inzwischen auch durchblicken lassen, sich anfangs aus opportunistischen Gründen für die CSU entschieden zu haben – nicht zuletzt, weil die Israelitische Kultusgemeinde die Beziehungen zu dieser Partei verbessern wollte. Wie hält man das aus: 17 Jahre in der falschen Partei? Weil man Freunde in dieser Partei hat. Und weil man Ziele vor Augen hat, für die man sich einsetzt – der Bau des jüdischen Gemeindezentrums, des NS-Dokumentationszentrums. Und die CSU ließ mich ja gewähren. Ich musste mich nie verbiegen, habe nie eine Politik gemacht, die gegen meine innere Überzeugung gewesen wäre. Und wie ist das Leben als Schriftsteller so? Kann man sich daran gewöhnen? Durchaus. Ich habe bereits das nächste Buch in der Schublade. Gestern habe ich die letzte Seite geschrieben. Diesmal ist es allerdings etwas völlig anderes, eine Art Roadstory in Folge des Judenpogroms 1285 in München.
Dominik Baur
Deutsch zu sein und zugleich jüdisch, kann das gutgehen? Das fragt sich Marian Offman, früherer jüdischer Stadtrat in München, in seinem ersten Roman.
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Sınır hattından izlenimler: Bombaların altında yaşam - taz.de
Sınır hattından izlenimler: Bombaların altında yaşam Suriye sınırında yaşayan insanlar, Barış Pınarı harekatı nedeniyle köylere ve şehir merkezine göç ediyor. Sınırda bulunan iki ilçeyi ziyaret ettik. Kamışlı’dan atılan havan topları sonucu Nusaybin'de dokuz kişi hayatını kaybetti Foto: Altan Sancar Şanlıurfa'nın Akçakale ilçesine isabet eden havan topları nedeniyle esnaflar kepenk indirmiş; okullar ise tatil edilmiş durumda. Birçok aile, sınırdan uzak köylere ya da şehir merkezine yerleşmiş. Sokaklarda motosiklet üzerinde gezen gençler bozkurt işareti yaparak gazetecilere poz veriyor. Askeri araçlar ile birlikte ÖSO birliklerine ait pikap ve otobüsler geçerken Akçakale halkı alkışlarla Türkiye’nin Suriye’de başlattığı operasyona destek veriyor. Sınırın hemen karşısında yer alan Tel Abyad'dan siyah dumanlar yükseliyor. Türk Silahlı Kuvvetleri (TSK) ile Özgür Suriye Ordusu’nun (ÖSO), Kuzey Suriye’de Suriye Demokratik Güçleri’ne (SDG) karşı başlattığı “Barış Pınarı Harekatı“ sekiz gündür devam ediyor. Milli Savunma Bakanlığı tarafından açıklanan resmi sayılara göre, Fırat'ın doğusundan Irak sınırına kadar uzanan bir güvenli bölge oluşturma iddiasıyla başlatılan operasyonda bugüne kadar 637 SDG'li öldürüldü. SDG'ye göre ise bu sayı 80. Suriye İnsan Hakları Gözlemevi Suriye'de hayatını kaybeden sivil sayısının 71 olduğunu söylerken, Türkiye'de de 19 sivil hayatını kaybetti. Harekat, sınıra yakınlığı nedeniyle Urfa’nın Ceylanpınar ve Akçakale ilçe merkezlerinin yanı sıra, Suruç ilçesine bağlı sınır köylerini ve Mardin’in Nusaybin ilçesini derinden etkiliyor. AKP yönetimindeki Akçakale'de Milli Eğitim Müdürlüğü’nün karşısında elindeki hortum ile caddeyi sulayan İbrahim Nadir’in çay bahçesi Suriye sınırına 400 metre uzaklıkta. Burası Akçakale’de kepenkleri indirilmeyen nadir yerlerden biri. Çay bahçesinde üç masada toplam yedi müşteri oturuyor. Çay servisi yapan Nadir, “Müşterinin masa bulamadığı günler var, ama karşıdan havan topu atılınca herkes gitti, masalar da boş kaldı,“ ifadesini kullanıyor. Sözlerinin “Operasyon nedeniyle iş yapamaz olduk“ şeklinde algılanmasından endişe duyan Nadir, “Mehmetçiğe desteğimiz tam. Karşısı temizlensin de, biz iş yapmasak da olur,“ sözleriyle kendini açıklıyor. Tel Abyad’a atış gerçekleştiren fırtına obüslerinin gürültüsü tüm şehirden duyuluyor. İbrahim Nadir obüs atışlarının sesi yükseldikçe “Vur, Allahına kurban“ diyor. 100 binden kalabalık bir nüfusu olan Akçakale’nin neredeyse dörtte üçünün boşaldığını tahmin ettiğini belirten Nadir, havan toplarının düşmesiyle özellikle Suriyelilerin ilçeyi terk ettiğini anlatıyor. Akçakale halkının harekata destek verdiğini ve kendilerinin de cepheye gitmek istediklerini söyleyen Nadir, cep telefonunu açarak kendisine cepheden gelen videoları gösteriyor. ÖSO militanlarının çatışma esnasında kaydettiği görüntülerin telefonuna nasıl ulaştığı sorusuna “Aralarında akrabam, arkadaşlarım var; sınırın hemen ötesinde de akrabalarımız var, ama şimdi ulaşamıyoruz“ diye cevap veriyor. Nusaybin'in bitmeyen savaş travması Akçakale’nin 220 kilometre doğusunda yer alan sınır ilçesi Nusaybin de savaşın gölgesi altında. SDG'nin kontrolünde olan Kamışlı, Nusaybin’in birkaç yüz metre karşısına düşüyor. İlçedeki dükkanların neredeyse tamamı kapalı. Caddelerde zırhlı araçlar devriye geziyor. Çarşıya yakın bir noktada oturan ve mesleğinin kuyumculuk olduğunu söyleyen yurttaş, eşyalarını arabaya yüklerken Nusaybin'i terk edip köyüne yerleşeceğini söylüyor. Savaşa rağmen Nusaybin'de kalmaya devam eden yurttaşlar hava kararınca bodrum katlarda ya da zemin katlarda uyuyarak isabet edebilecek havan toplarından korunmaya çalışıyorlar. Nusaybin, 2015 yılında çözüm sürecinin sona ermesi ile birlikte başlayan çatışmalar ve ardından gelen sokağa çıkma yasakları sürecinde büyük yıkım yaşanan bölgelerden biriydi. Sokağa çıkma yasağı sürecinde yaşanan çatışmalarda sivil, asker ve militanların hayatını kaybettiği Nusaybin’de yıkıntılar kısa süre önce kaldırılırken, hayat yeni yeni normal akışına dönmeye başlamıştı. Ancak operasyonun başlamasıyla sınırın diğer tarafındaki Kamışlı’dan atılan havanlar sonucu dokuz kişi hayatını kaybedince, çatışmalı dönemin travması ilçede yeniden uyandı. Çarşıda kapalı bir dükkanın kepengine sırtını yaslamış duran Nuri Akgun, gazetecilere şüpheyle bakıyor. Nusaybin’e isabet eden ve dokuz kişinin hayatını kaybetmesine neden olan havan topu sonrası çekim yapan bir muhabir, ilçede yaşayan yurttaşların tepkisiyle karşılaşmıştı. Akgun de bu haberleri hatırlatıyor: “Savaşı çıkaran medya, kanımız kurumadan bir de reklam yapıyorlar.“ Fazlasıyla öfkeli olduğu görülen Akgun, “Nusaybin sokağa çıkma yasaklarında yıkıldı, şimdi de boşaltıldı, artık yeter biz barış istiyoruz,“ diye devam ediyor. Büyük oranda HDP seçmeninin yaşadığı ilçenin sokaklarda Akçakale’nin aksine büyük bir sessizlik hakim. Sokaklarda ÖSO güçlerinin görünmediği Nusaybin’de yaşayanların da sınırın karşısında yer alan ve Kürt nüfusun ağırlıkta olduğu Kamışlı’da akrabaları bulunuyor. „Biz sınırın karşısından farklı değiliz, artık çok yorulduk“ diyen Akgun, sözlerini şu şekilde bitiriyor: „Barış dediğimiz için yazmıyorlar, bari siz yazın.“
Altan Sancar
Suriye sınırında yaşayan insanlar, Barış Pınarı harekatı nedeniyle köylere ve şehir merkezine göç ediyor. Sınırda bulunan iki ilçeyi ziyaret ettik.
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Debatte Schule: Lernt eure Geschichte - taz.de
Debatte Schule: Lernt eure Geschichte Die Schule soll vor allem mehr Spaß machen? Das Wissen um das Vergangene soll sie erhalten – und das Mittelmaß optimieren. Zur Vergangenheit aufschauen, von ihr lernen. Bild: dpa Es ist nun schon über eine Woche her, dass der neue Fernsehphilosoph Richard David Precht den bereits legendären Satz sprach: „Wir überhäufen die Kinder mit einem Wissen, das aus der Vergangenheit stammt.“ Es ist mir noch immer nicht gelungen, diesen Satz zu vergessen. Die erste „Precht“-Folge hieß Bild-Zeitungs-kompatibel „Skandal Schule – Macht Lernen dumm?“ Es ist mutig, als Philosoph bereits in den allerersten Minuten seiner ersten Sendung zum Anwärter auf den einfältigsten Satz des Jahres zu werden. Und trotzdem, seit über einer Woche schaue ich mir die Dinge, Menschen und Verhältnisse unter diesem Aspekt viel genauer an: Woher stammen sie eigentlich? Das Deutsche Theater in Berlin begann die neue Spielzeit mit einem Paukenschlag: Stephan Kimmigs „Ödipus Stadt“, das bedeutete vier Stücke an einem Abend, zuerst „Ödipus“ von Sophokles, gefolgt von „Sieben gegen Theben“ von Aischylos, „Die Phönizierinnen“ von Euripides und Sophokles’ „Antigone“. Woher stammen diese Stücke? Gewissermaßen aus der Vorvergangenheit. Ginge alles mit rechten Precht’schen Dingen zu, müssten die Autoren ungefähr 2.500 Jahre dümmer sein als wir. Oder sind sie 2.500 Jahre klüger? Geschichte heißt Verhängnis Lange hat das Deutsche Theater keinen so großen Abend mehr erlebt – mit Ulrich Matthes als Ödipus, Sven Lehmann als blindem Seher Teiresias und Susanne Wolff als Kreon – , und die Faszination hat einen Namen: gefühlte, gedachte Zeitgenossenschaft über mehrere tausend Jahre hinweg. Die Antike kannte keine Heilsgeschichte, nicht die Vorstellung, dass es immer besser werden könnte mit uns, im Gegenteil: Kein Handeln ist ohne Schuld, Geschichte ist ein anderes Wort für Verhängnis. Wer hätte wachere Sinne für solche Botschaften als wir? Wer dem, was dem Zuschauer an diesem Theaterabend geschehen ist, einen möglichst abschreckenden Namen finden wollte, dürfte auch von einem Bildungserlebnis sprechen. Und um Bildung ging es, als der Nachfolger von Sloterdijk und Safranski Richard David Precht sich mit dem Neurobiologen und Hirnforscher Gerald Hüther über den „Skandal Schule“ unterhielt. Hüther findet, dass die Schule Begeisterung fördern statt mit Wissen traktieren soll. Die Synapsen, weiß der Hirnforscher, arbeiten euphorisiert besser. Darum werde die Schule der Zukunft auch keine Lehrer mehr kennen, sondern nur „Potenzialentfaltungscoaches“. Welch Wort des reinen Schreckens! Aber Precht wiederholte die Zeitgeistvokabel mit kindlichem Wohlgefallen. Ein seltsamer Philosoph. Einer, dem die Tatsache, dass Erwachsene das meiste von dem, was sie in der Schule noch wussten, schon wieder vergessen haben, als kardinaler Einwand gegen die Schule gilt. Einer, der mit keinem Gedanken die eigentlich philosophische Dimension des Themas Schule streift: Sie ist nicht unbedingt der Ort, an dem Kinder so viel Spaß wie möglich haben müssen, sondern sie ist die Hüterin eines kulturellen Zusammenhangs. Und jetzt zu Nietzsche Nur wer eine Vergangenheit hat, wird auch eine Zukunft haben. Nur wer weiß, woher er kommt, wird auch sagen können, wohin er will. Es ist ein höchst gefährdetes Gewebe. Die Zahl derjenigen, die selbst mit Abitur die Schule gleichsam als leeres Blatt verlassen – fast unbeschriftet, ohne jedes Herkunftswissen – , nimmt dramatisch zu. Im Frühjahr 1871 brannte Paris, und eine Nachricht lief durch Europa: Die Kommunisten haben den Louvre angezündet. Friedrich Nietzsche in Basel war, „aufgelöst in Thränen und Zweifeln“, keiner Bewegung mehr fähig. Der Philosoph Precht kann mit dem Philosophen Nietzsche nicht viel anfangen, aber Nietzsche ginge das wohl genauso: „Was ist man, solchen Erdbeben der Cultur gegenüber? Sein ganzes Leben und seine beste Kraft benutzt man, eine Periode der Cultur besser zu verstehen und besser zu erklären; wie erscheint dieser Beruf, wenn ein einziger unseliger Tag die kostbarsten Documente solcher Perioden zu Asche verbrennt! Es ist der schlimmste Tag meines Lebens.“ Ja, fühlte er denn gar nicht so etwas wie Befreiung, wenn das Wissen und die Schönheit von vorgestern endlich weg sind? Er sagte doch selbst, dass die Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde gesunkene umgefallene Statue des griechischen Altertums wiederaufzurichten, und „immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie wieder zurück und zertrümmert die Menschen unter ihr“. Wie tragisch! Und minderte der Brand des Louvre nicht aufs Erfreulichste die Gefahr, von einer griechischen Statue erschlagen zu werden? Friedrich Nietzsche zu verstehen heißt zu verstehen, dass er eben so nicht dachte. Schule optimiert das Mittelmaß Mag es uns kulturellen Spätlingen als Inbegriff eines tragischen Endes erscheinen, von einer griechischen Statue oder auch nur von einem Blumentopf erschlagen zu werden. Friedrich Nietzsche sind die zertrümmerten Philologen egal. Außerdem handelt es sich nach Aristoteles ausdrücklich um einen nicht tragischen Tod, von einer Bildsäule erschlagen zu werden. Was dem Professor Sorgen machte, war die Statue. Was, wenn sie beim ewigen Umfallen Schaden nimmt: „Wer steht uns dafür, daß dabei die Statue selbst nicht in Stücke bricht? Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde: das wäre zu verschmerzen. Aber das Alterthum bricht unter den Händen der Philologen in Stücke!“ Das Deutsche Theater zu Berlin hat sich soeben bleibende Verdienste um die Statue erworben. Vielleicht müssen wir unseren Bildungsbegriff noch einmal überdenken. Es kann auch Terror bedeuten, wenn Kinder unablässig ihre eigene Kreativität entdecken müssen, selbst die Schule noch zum Labor der Selbstfindung werden soll. Nichts hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten so gewandelt wie sie. Vielleicht sollten wir innehalten. Schule optimiert Mittelmaß. Es kommt darauf an, das zu bejahen. Wir vergessen vieles, was wir in der Schule lernen. Aber das ist etwas anderes, als nie davon gehört zu haben. Einmal davon gehört zu haben – vielleicht ist das die Basis jeder Kultur.
Kerstin Decker
Die Schule soll vor allem mehr Spaß machen? Das Wissen um das Vergangene soll sie erhalten – und das Mittelmaß optimieren.
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Doppelhaushalt 2008/2009: Opposition moniert schlechte Buchführung - taz.de
Doppelhaushalt 2008/2009: Opposition moniert schlechte Buchführung Grüne, FDP und CDU halten den Nachtragshaushalt 2007 für verfassungswidrig, da Einnahmen aus dem Verkauf der Landesbank noch nicht verbucht wurden. Die Opposition im Abgeordnetenhaus hält den Nachtragshaushalt 2007 für verfassungswidrig. Er verstoße gegen das Haushaltsrecht, sagte der Finanzexperte der Grünen, Jochen Esser. Dabei stützt er sich auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes (WPD), das von der Opposition Ende September in Auftrag gegeben worden war. Die Opposition kritisiert, dass die 5,32 Milliarden Euro, die durch den Verkauf der Landesbank Berlin (LBB) eingenommen wurden, nicht im Nachtragshaushalt als Summe aufgeführt werden. Das verfehle den Grundsatz der Haushaltsklarheit des Finanzverfassungsrechts, so Esser. Noch schwerer wiegt der Vorwurf, der Senat wolle einen Anteil aus dem Bankverkauf in Höhe von 723 Millionen Euro erst im Haushalt 2008 buchen, obwohl die Summe bereits im August auf ein landeseigenes Konto überwiesen wurde. Diese stille Einlage bei der LBB sei ursprünglich dazu gedacht, nach dem Bankverkauf Geldansprüche an das Land abzudecken, sollten diese denn auftauchen, so Esser. Indem der Senat die stille Einlage am Haushalt 2007 vorbeischleuse, könne er im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Etat vorlegen. Nur durch den "rechtswidrigen Buchungstrick" komme so der geplante Haushaltsüberschuss 2008 zustande. Das verletze den Grundsatz der Vollständigkeit, sagte Esser. Der haushaltspolitische Sprecher der FDP, Christoph Meyer, kritisierte, einmalige Vermögensverkäufe würden die Schulden nicht nachhaltig senken. "Die Konsolidierungsbemühungen sind nur Makulatur, es gibt keine gerade Linie", sagte Meyer der taz. Grünen-Politiker Esser kann allerdings nicht ausschließen, dass der Senat mehr Geld bekommen wird als geplant und mit diesen "verdeckten Mehreinnahmen" einen ausgeglichenen Haushalt 2008 erreichen kann, auch ohne auf die 723 Millionen Euro aus dem Bankverkauf zurückgreifen zu müssen. Ein Gang vor das Landesverfassungsgericht könne so zwar die Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushalts bestätigen, letztlich aber folgenlos für den Haushalt bleiben. "Ich will kein Recht bekommen, nur um recht zu haben, sondern politisch etwas erreichen", sagte Esser. Grüne, FDP und CDU haben sich noch nicht entschieden, ob sie rechtlich gegen den Nachtragshaushalt 2007 vorgehen werden. Meyer sagte, man werde sich mit der Grünen- und CDU-Fraktion in den nächsten Wochen beraten und wohl in der Winterpause entscheiden. Bereits im Jahr 2003 hatte die Opposition vor dem Landesverfassungsgericht gegen den Haushalt 2002/2003 geklagt - und war erfolgreich. Damals plante der Senat, mehr Schulden aufzunehmen, als für Investitionen auszugeben. Da die Verfassung des Landes Berlin das nicht erlaubt, wurde eine Haushaltssperre verhängt. BENJAMIN VON BRACKEL
Benjamin von Brackel
Grüne, FDP und CDU halten den Nachtragshaushalt 2007 für verfassungswidrig, da Einnahmen aus dem Verkauf der Landesbank noch nicht verbucht wurden.
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Kolumne Sternenflimmern: Ein europäisches Trauma - taz.de
Kolumne Sternenflimmern: Ein europäisches Trauma Zu Europas Zukunft gehört auch seine Vergangenheit. Erinnerungen ans Jahr 2015, in dem der ganze Kontinent auf Griechenland blickte. 2015 stimmten über 60 Prozent der griechischen Bevölkerung gegen das Spardiktat der Troika Foto: dpa Wer über die Zukunft Europas sprechen will, der muss sich an seine Vergangenheit erinnern. Diejenigen, die sich an Kriege auf dem Kontinent erinnern, sprechen vom „Friedensprojekt EU“. Ich habe zum Glück keinen Krieg erlebt. Ich erinnere mich an den Sommer 2015. Ganz Europa blickte auf Griechenland. Die Nerven der Mächtigen Europas lagen blank. Seit 2010 stützten sie das krisengeschüttelte südeuropäische Land – und ihre eigenen Banken. Dafür verlangten sie von Griechenland einen hohen Preis. Gefordert wurden unter anderem Kürzungen bei Renten, im öffentlichen Sektor, höhere Mehrwertsteuern, Privatisierungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten. Die „Troika“, eine Kontrollinstanz aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, wachte darüber. Dann, Anfang 2015, kam das Linksbündnis Syriza an die Regierung, weil es versprochen hatte, dem sozial verheerenden Spardiktat ein Ende zu setzen. Die Neuen legten sich mit den Mächtigen an. Die Syriza-Regierung rief ein Referendum aus. Die Bevölkerung sollte entscheiden, ob Auflagen angenommen werden, das „Hilfs“-Programm fortgesetzt wird. Ich erinnere mich an einen heißen Wiener Sonntag, an den 5. Juli 2015. Gerade hatte ich eine Konferenz besucht, bei der auch über Griechenland nachgedacht wurde. Konferenztitel: „Kämpfe – Alternativen – Zukunft: Brückenjahr 2015?“. Als sie zu Ende diskutiert hatten, machten sich Studierende, Professoren und Dozenten auf den Weg zum Uni-Campus. Ein europäischer Neubeginn? Eine Studierendengruppe hatte eine Leinwand aufgestellt, Public Viewing zum Referendum. Zwischen Athen und Wien liegen 1.283,24 Kilometer Luftlinie. Aber an diesem Tag haben wir um Europa gebangt, für Europa gefühlt. Die Griechen haben gegen das Spardiktat gestimmt, mit über 60 Prozent. Ein europäischer Neubeginn? Die Mächtigen Europas ignorierten das Votum der griechischen Bevölkerung. Acht Tage später musste Premier Tsipras vor den unnachgiebigen Gläubigern kapitulieren. Am 13. Juli 2015 kam es zur „Einigung“ – das Spardiktat ging weiter. Der griechische Finanzminister Varoufakis zog sich zurück. Was übrig blieb, ist ein europäisches Trauma. Ich erinnere mich an einen erbarmungslosen, mit dem Grexit drohenden deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, mediale Kampagnen gegen die vermeintlich faulen „Pleite-Griechen“ (Bild), auch an die Verachtung des damaligen sozialdemokratischen Europaparlamentspräsidenten Martin Schulz gegenüber den Griechen. Was bleibt, ist eine Skepsis gegenüber Europa beim gleichzeitigen Wissen darüber, dass es ohne Europa nicht geht. Und es bleiben Fragen: Definieren wir Frieden allein durch die Abwesenheit von Krieg? Oder ist da noch mehr?
Volkan Ağar
Zu Europas Zukunft gehört auch seine Vergangenheit. Erinnerungen ans Jahr 2015, in dem der ganze Kontinent auf Griechenland blickte.
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Gesetzesentwurf im generischen Femininum: „Gläubigerin“ und „Schuldnerinnen“ - taz.de
Gesetzesentwurf im generischen Femininum: „Gläubigerin“ und „Schuldnerinnen“ Ein Gesetzentwurf zum Insolvenzrecht treibt Seehofers Innenministerium auf die Barrikaden. Denn der Text ist im generischen Femininum verfasst. Justizministerin Lambrecht und Innenminister Seehofer bei einer Pressekonferenz 2020 Foto: M. Popow/imago KARLSRUHE taz | Das Innenministerium hat einen Gesetzentwurf des Justizministeriums beanstandet, in dem fast durchgängig weibliche Sprachformen benutzt wurden. Anders als die Verwendung ausschließlich männlicher Formen sei dies unzulässig. Konkret geht es um den 247-seitigen „Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts“, mit dem eine EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden soll. Der Entwurf liegt bereits seit dem 19. September vor, wird aber erst seit dem Wochenende außerhalb von Fachkreisen diskutiert. Bekanntheit erlangte der Entwurf erst seit das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtet hat, dass der Gesetzentwurf fast durchgängig weibliche Bezeichnungen verwende. Mehr als 600 Mal heiße es „Gläubigerin“, „Schuldnerin“ oder „Geschäftsleiterin“, hat RND nachgezählt. Das Justizministerium begründete dies damit, dass es im Insolvenzrecht vor allem um Unternehmen gehe, die in der deutschen Sprache überwiegend weiblichen Geschlechts sind, etwa die Aktiengesellschaft oder die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Allerdings sind im Gesetzentwurf auch Menschen wie „Verbraucherinnen“ erwähnt, die ein reales Geschlecht haben und nicht nur ein grammatikalisches Geschlecht. Orientierungshilfe von 2008 Das Bundesinnenministerium hat inzwischen gegen den Gesetzentwurf Widerspruch eingelegt. Bei rein männlichen Sprachformen – dem generischen Maskulinum – sei anerkannt, dass sie für Menschen von männlichem und weiblichem Geschlecht gelten. Dagegen sei das generische Femininum zur Verwendung für weibliche und männliche Personen „bislang sprachwissenschaftlich nicht anerkannt“. Dies habe dann zur Folge, dass „bei formaler Betrachtung“ das Gesetz zum Insolvenzrecht „nur für Frauen oder für Menschen weiblichen Geschlechts“ gelten würde. Es wäre „damit höchstwahrscheinlich verfassungswidrig“, so das Bundesinnenministerium. Das Justizministerium von Christine Lambrecht (SPD) hat auf diesen Widerspruch bisher nur sehr zurückhaltend reagiert. Zu Vorgängen im Rahmen der Ressortabstimmung über kommende Gesetzentwurfe nehme man grundsätzlich nicht Stellung. Allerdings sei die Rechts- und Sprachprüfung, die das Justizministerium für alle Gesetzentwürfe der Bundesregierung vornimmt, bei diesem Entwurf des eigenen Hauses noch nicht abgeschlossen. Der Entwurf werde noch einmal überarbeitet, bevor er dem Kabinett zur Beschlussfassung zugeleitet wird. Bisher orientiert sich die Rechtsprache von Gesetzen am „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“. Dort heißt es, dass Männer und Frauen nach Möglichkeit direkt anzusprechen sind, um deutlich zu machen, dass beide Geschlechter gemeint sind. Das generische Maskulinum sei vor allem dann noch angemessen, wenn auch Unternehmen mitgemeint sind. Vom generischen Feminum ist dort nicht die Rede. Allerdings stammt das Handbuch von 2008 und soll schon länger modernisiert werden.
Christian Rath
Ein Gesetzentwurf zum Insolvenzrecht treibt Seehofers Innenministerium auf die Barrikaden. Denn der Text ist im generischen Femininum verfasst.
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Niedrige Arbeitskosten: Ökonomen kritisieren deutsche Löhne - taz.de
Niedrige Arbeitskosten: Ökonomen kritisieren deutsche Löhne Im europäischen Vergleich sind die Arbeitskosten in Deutschland geringer gestiegen. Das ist gut für die Konkurrenzfähigkeit, aber schlecht für die Binnennachfrage. Schraubt preiswerter als viele seiner europäischen Kollegen: Autobauer in Eisenach. Bild: AP BERLIN taz | Die deutschen Arbeitskosten sind 2008 um 2,5 Prozent gestiegen - und damit weniger schnell als im europäischen Durchschnitt, wo die Steigerung 3,5 Prozent betrug. Dadurch stärkt Deutschland seine Exportwirtschaft, bleibt aber zugleich in hohem Maße von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängig. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für MaKroökonomie und Konjukturforschung (IMK) in der Hans Böckler Stiftung, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach gab ein privater Arbeitgeber im Jahr 2008 in Deutschland im Schnitt 28,50 Euro für eine geleistete Arbeitsstunde aus. Damit liegt Deutschland an achter Stelle in Europa und am unteren Land der Hochlohnländergruppe, die von Dänemark (36 Euro) angeführt wird. Auffallend ist der Unterschied zwischen dem verarbeitenden Gewerbe mit Arbeitskosten von 32,50 Euro, womit Deutschland in der oberen Hälfte des Euroraums liegt, und dem Bereich der privaten Dienstleistungen (26 Euro), wo gerade der Durchschnitt der europäischen Länder erreicht wird. Die aktuellen Zahlen fügen sich in eine Entwicklung, die seit zehn Jahren anhält. Damals stand Deutschland mit den Arbeitskosten europaweit noch an vierter Stelle. Seither haben Lohnzurückhaltung und ein größer werdender Niedriglohnsektor die deutschen Arbeitskosten jedoch langsamer wachsen lassen als im europäischen Ausland, so die Forscher. Deutschland stärkt durch diese Entwicklung zwar seine Position auf dem Weltmarkt, bezahlt dafür aber mit einer schwachen Binnennachfrage und einem relativ geringen gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Gustav Horn, wissenschaftlicher Direktor des IMK, wieß darauf hin, dass die Wachstumsgewinne des Exports die Verluste der Binnennachfrage in Deutschland nicht auffangen könnten. Er forderte daher, eine "Grundsatzdebatte" über die Zukunft des deutschen Arbeitsmarktes zu führen. Denn die Lohnzurückhaltung wirke sich nachteilig auf den privaten Konsum aus, so Horn. Die niedrigen Löhne haben sich laut IMK weder zu mehr Beschäftigung geführt, noch hätten sie sich für die Unternehmen ausgezahlt. Schließlich belaste die schwache Binnennachfrage die Gewinne jener Unternehmen, die auf den Inlandsabsatz angewiesen sind. Horn forderte daher einen Anstieg der Löhne. Noch drastischer fällt die Entwicklung bei den Lohnstückkosten aus, welche die Arbeitskosten in Relation zur Produktivitätsentwicklung setzten. Während sie in Ländern wie den Niederlanden, Spanien oder Polen um 20 bis 35 Prozent gestiegen sind, stagnierten sie in der Bundesrepublik zwischen 1998 und Mitte 2008. Ab dem vierten Quartal 2008 und im ersten Quartal 2009 sind die Lohnstückkosten stark gestiegen, was laut dem IMK jedoch auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen sei. "Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Quartalen teilweise von selbst korrigieren", schreiben die Ökonomen. Gefahr sieht Horn durch diese Entwicklung aber auch über die Landesgrenzen hinweg: "Deutschland drückt die anderen EU-Länder an die Wand." Die niedrigen Arbeitskosten böten den Anreiz, Produktion nach Deutschland auszulagern. Camille Logeay, eine Autorin der Studie, fasst ihre Meinung über die Entwicklung in Deutschland in einem Satz zusammen: "Der Lohnverzicht war für die Katz!"
Manuel Bogner
Im europäischen Vergleich sind die Arbeitskosten in Deutschland geringer gestiegen. Das ist gut für die Konkurrenzfähigkeit, aber schlecht für die Binnennachfrage.
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Ein Jahr Prostituiertenschutzgesetz: Angst vor Datenlecks - taz.de
Ein Jahr Prostituiertenschutzgesetz: Angst vor Datenlecks Ein Jahr nach Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes ist nur ein Bruchteil aller Hamburger Sexarbeiter*innen angemeldet. Branchenkenner sehen vor allem Nachteile. So sieht die gesundheitliche Beratung für Prostituierte in Hamburg aus (gestellte Szene) Foto: dpa HAMBURG taz | Tina Jung* ist seit fünf Jahren im Escortbusiness – aus Leidenschaft. Ihr Nebenberuf ist ihr kleines Geheimnis und so soll es auch bleiben. Deshalb hat die 30-Jährige sich nicht behördlich gemeldet, obwohl das Pros­tituiertenschutzgesetz das seit dem 1. Juli 2017 vorschreibt. Ihre Kunden findet die Sexarbeiterin über ein Onlineportal, das gesetzlich bislang nicht verpflichtet ist, Nutzer*innen auf ihre Anmeldebescheinigungen hin zu überprüfen. Viele Prostituierte wurden durch das neue Gesetz in die Illegalität gedrängt. Knapp ein Jahr nach Einführung des Gesetzes, dessen Ziel es offiziell ist, Prostituierte besser zu schützen, wurden laut Sozialbehörde bisher nur 479 Anmeldebescheinigungen ausgestellt. Dabei geht die Polizei von 2.200 bis 2.500 in Hamburg tätigen Sexarbeiter*innen aus. Diese Differenz erklärt Fabio Casagrande von der Sozialbehörde auch damit, dass es aktuell noch an Personal mangele. Weitere Sachbearbeiter*innen sollen in den nächsten Wochen eingestellt werden. Dadurch solle sich die aktuelle Wartezeit für Sexarbeiter*innen von etwa drei Wochen verkürzen, sagt er. Viele Frauen vermieden die behördliche Anmeldung und die vorhergehende verpflichtende Gesundheitsberatung aus Angst und Unwissenheit, meint Mehmet Simsit. In seiner Kneipe „Hansa-Treff“ am Hansaplatz in St. Georg hilft er Sexarbeiterinnen bei allerlei Fragen oder dem Wunsch, aus ihrem Beruf auszusteigen. „Viele Prostituierte aus den neuen EU-Ländern verstehen nicht genau, worum es geht. Sie haben Angst davor, dass ihre Daten an die Behörden ihrer Länder weitergeleitet werden, doch in ihrer Heimat darf niemand von ihrem Beruf erfahren“, sagt er. Klartext im Gewerbeschein Dass ihre Daten weitergegeben werden, fürchtet auch Tina Jung. „Mir ist unwohl bei dem Gedanken, mich zu registrieren, der potentielle Schaden ist einfach zu groß. Wenn mein Job herauskommt, kann das sehr gut zu Mobbing und Stigmatisierung führen.“ Das Fachamt Beratungen, Erlaubnisse und Anmeldung ist nach dem Prostituiertenschutzgesetz dazu verpflichtet, Name, Geburtstag und -ort und Adresse der Sexarbeiter*innen an das Finanzamt weiterzuleiten. Konnten selbstständige Prostituierte im Bereich Escort zuvor auf dem Gewerbeschein ihre Situation noch mit dem Wort „Begleitservice“ umschreiben, ist nun eindeutig, in welchem Bereich sie tätig sind. Casagrande betont, die Sozialbehörde lösche die Daten spätestens drei Monate nach Abmeldung. Jede Anmelder*in wird darüber aufgeklärt, was mit ihren Daten geschehe. Kontrolliert werden die Anmeldebescheinigungen zurzeit noch nicht. Laut Casagrande seien einige Bundesländer noch in der Vorbereitung und man müsse zunächst warten, bis alle Länder auf dem gleichen Stand seien. Falsche Kontrolleure Doch auch ohne behördliche Kontrollen wirkt sich das Gesetz auf den Alltag vieler Sexarbeiter*innen aus. „Es kam schon vor, dass Männer sich als Kontrolleure ausgaben und Strafen verlangten, wenn die Damen keinen Pass vorzeigen konnten“, sagt Gudrun Greb, Geschäftsführerin von Ragazza, einer Anlaufstelle für drogenabhängige und sich prostituierende Frauen. Außerdem lehnten Vermieter von Wohnungen und Bordellen die betroffenen Frauen entweder ab oder verlangten mehr Geld von ihnen. Dadurch verstärke sich der Druck auf die Frauen, schnell Geschäfte mit ihren Freiern abzuschließen und der Kreislauf aus Kriminalisierung und Verelendung beschleunige sich. Tina Jung sagt, sie schließe sich derzeit selbst aus vielen Studios aus, da die Agenturen aus Angst vor finanziellen Sanktionen eine Anmeldebescheinigung verlangten. „Mein nächster Schritt wäre es gewesen, mich im Dominabereich auszuprobieren. Doch eben mal reinschnuppern ist jetzt nicht mehr.“ Selbst die Polizei habe schon Frauen kontrolliert, obwohl dies nicht ihre Aufgabe sei, sagt Mehmet Simsit. Er sieht vor allem negative Auswirkungen des Prostituiertenschutzgesetzes. Viele Frauen hätten wegen anderer Delikte schon Schulden beim Staat. „Sie sagen mir, wenn das jetzt auch noch hinzukommt, dann sind wir wirklich Zwangsprostituierte. Sie arbeiten dann für die Stadt Hamburg, um die Bußgelder abzubezahlen.“ Effekt unklar Casagrande von der Sozialbehörde erwidert darauf, immerhin seien in Hamburg – im Gegensatz zu anderen Ländern – die gesundheitliche Beratung und die Anmeldung kostenfrei. Ob das Gesetz wie beabsichtigt zu einem Rückgang von Menschenhandel und Gewalt gegen Prostituierte geführt hat, können bisher weder Sozialbehörde noch Polizei sagen. Auf die Frage, wie sich erkennen lasse, ob eine Frau unter Zwang arbeite, antwortet Casagrande: „Sie muss sich schon im Gespräch offenbaren. In dem Fall bieten wir Instrumente wie ein intensives Angebot und Vermittlung an.“ Bisher sei aber noch niemandem eine Anmeldebescheinigung verweigert worden. Tina Jung beeindruckt das wenig. Beratungsgespräche und Gesundheitstests nehme sie ohnehin alle drei Monate wahr, im Casa Blanca, einem Zentrum für sexuell übertragbare Krankheiten. Die seien anonym und kostenlos. „Wozu soll ich dann noch zur Anmeldebehörde?“ *Name geändert
Mareen Butter
Ein Jahr nach Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetzes ist nur ein Bruchteil aller Hamburger Sexarbeiter*innen angemeldet. Branchenkenner sehen vor allem Nachteile.
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