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Aus der Ulmer Schule - taz.de
Aus der Ulmer Schule FILM Experimentelle Offenheit – ein Filmabend am Sonntag im Regenbogenkino in Gedenken an Michel Leiner Bekannt machen mit Michel Leiner kann man sich zum Beispiel mit einem Griff ins Bücherregal: Als Art Director von Stroemfeld war Leiner verantwortlich für das Gesicht des Verlags, in dem Klaus Theweleits „Männerphantasien“ und die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe erschienen sind. Nicht ganz so greifbar sind Leiners andere Arbeiten. Seine Arbeit als Filmemacher. Gelegenheit dazu bietet sich am Sonntag im Regenbogenkino, in dem zwei seiner gemeinsam mit Reinhard Kahn gedrehten Filme zu sehen sind, in Gedenken an Michel Leiner: Am 16. März dieses Jahres ist er in Frankfurt im Alter von 71 Jahren gestorben. Anfang der sechziger Jahre hat Leiner in der vom Bauhaus inspirierten Hochschule für Gestaltung Ulm in der dortigen Filmabteilung studiert, als Schüler von Alexander Kluge, Edgar Reitz und Detten Schleiermacher. Seine Filme zeichnen sich durch eine offene Herangehensweise aus. Was im Regenbogenkino beispielhaft mit „Mit dem Munde gefilmt“, einem Halbstünder, und dem Langfilm „Platzwunder“ zu sehen ist. Nach der Vorstellung wird der Filmkritiker Peter Nau (zuletzt ist von ihm im Verbrecher Verlag „Irgendwo in Berlin. Ostwestlicher Filmdiwan“ erschienen) aus seinem Buch „Die Film von Reinhard Kahn und Michel Leiner“ – aus dem auch die beiden Texte hier stammen – lesen. TM ■ Regenbogenkino, Lausitzer Straße 22. Sonntag, 19 Uhr
TM
FILM Experimentelle Offenheit – ein Filmabend am Sonntag im Regenbogenkino in Gedenken an Michel Leiner
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■ Das Portrait: Mr. Tagesschau - taz.de
■ Das Portrait: Mr. Tagesschau „Kopfkrebs“ hatte die Boulevardpresse in großen Lettern diagnostiziert, nachdem Werner Veigels Arzt einen Gehirntumor unter der rechten Schläfe des Nachrichtensprechers entdeckt hatte. Damals im Januar diesen Jahres, als der Chefsprecher der ARD-„Tagesschau“ seinen abrupten Rücktritt vom Bildschirm erklärt hatte, waren die Nachrichtenticker heißgelaufen. Die Agenturen beeilten sich, noch am gleichen Tag das Leben Werner Veigels in der endgültigen Rückschau Revue passieren zu lassen: Geboren 1928 in Den Haag als Sohn eines Deutschen Kaufmanns. Abitur, Sprecherausbildung bei „Radio Hilversum“. 1954 Wechsel zum NDR, wo er ab 1961 die „Tagesschau“- Nachrichten verlas und 1987 zum Chefsprecher ernannt wurde. Etwas voreilig hatte man Veigels Vita damals im Januar schon abgeschlossen. Denn etwas später wurde der dem Sterben journalistisch bereits Anheimgestellte noch einmal aufmachertauglich: Als sich Werner Veigel öffentlich zu seinem langjährigen Lebensgefährten Carlheinz bekannte. Seit vierzig Jahren lebten die beiden als Paar, in den Niederlanden ließen sie sich offiziell als „Lebenspartner“ registrieren, erklärte Veigel in seinem Abschiedsinterview gegenüber dem Stern. Werner Veigel Foto: AP Der stets seriöse „Mr. Tagesschau“ – ein Schwuler? Da erwachte die Boulevardgazetten ein zweitesmal. Der Kölner Express zollte großherzig „Respekt, Herr Veigel!“, und die Berliner B.Z. bot gar einen Soziologen auf, um dem Volke die unerwartete Wende im Bild des sattsam bekannten TV-Gesichts zu erklären. Er sei „völlig normal“, so diesmal die fachärztliche Diagnose, habe „gar nichts Tuntenhaftes“. Dann wurde es wieder still um den Mann, dessen „Nachrufe“ jetzt abrufbereit in den Schubladen der Redaktionen lagerten. In der Nacht zum Mittwoch ist Werner Veigel nun wirklich gestorben. Im Alter von 66 Jahren – viel zu früh also. Die Nachrichtenagenturen vermelden sein Ableben nun viel gelassener als den unerwarteten „Bildschirmtod“ vom Januar. Fast abgeklärt trudeln die Meldungen ein: „Erst im Januar bei der Tagesschau der ARD ausgeschieden“, titelt AP. Im Fernsehen stirbt man zweimal. Aber es macht einen auch unsterblich. In den „Tagesschau“-Wiederholungen der Dritten Programme aus den 70ern wird Werner Veigel weiter auf Sendung bleiben. Wenn nichts dazwischen kommt, noch zwanzig Jahre lang. Klaudia Brunst
Klaudia Brunst
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Bundeswehr raus aus Afghanistan?JA - taz.de
Bundeswehr raus aus Afghanistan?JA KRIEG In der kommenden Woche entscheidet der Bundestag über das neue Afghanistan-Mandat der Bundeswehr Hans-Christian Ströbele ist Vizevorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen. Wir brauchen eine Ausstiegsstrategie statt der Leugnung des Krieges oder gar Durchhalteparolen. Die militärische Lage wird Jahr für Jahr dramatisch schlechter. Mit mehr Soldaten und mehr Opfern an Menschenleben verstricken wir uns immer stärker in einen endlosen und sinnlosen Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist. Aufbauarbeit der Bundeswehr in Kundus ist eine Illusion, wenn sie nur in Konvois und Panzern das befestigte Lager verlässt. Auch Nato und Bündnistreue sind keine ausreichenden Gründe für die Beteiligung. Wir dürfen mit dem Abzug aus einem immer sinnloseren Abnutzungskrieg nicht warten bis irgendwann in vielen Jahren. Das ist unverantwortlich gegenüber den Tausenden von Menschen, die bis dahin noch getötet und verletzt werden. Sven Dittmann war bis 2004 Bundeswehrsoldat. Er hat seinen Beitrag auf taz.de eingestellt. Das ist ein Konflikt, den wir nicht verstehen werden und schon gar nicht lösen, geschweige gewinnen können. Afghanistan lebt im Mittelalter, und den Weg in die Neuzeit müssen die Afghanen selbst finden, wenn sie es wollen. Die westliche Idee, den Afghanen Demokratie „vorzuleben“, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es lag auch nie an der Zahl der Truppen, mehr Truppen zu früherer Zeit – das hätte bedeutet, früher in die heutige Lage zu geraten. Sicher eine Tragödie, wenn Menschen verhungern, nur: Das zu ändern, ist Sache der Afghanen. Die verdienen Hilfe, wenn sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Wir mussten auch lernen, uns in die Weltgemeinschaft einzugliedern. Unsere Volksvertreter fordere ich auf: Zieht Helm und Weste an – oder holt unsere Soldaten nach Hause. Gregor Gysi ist Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“. Mit Krieg, der höchsten Form des Terrors, kann man Terrorismus nicht wirksam bekämpfen. Die Bundeswehr ist somit Teil des Problems, nicht Teil seiner Lösung. Der Krieg der Nato in Afghanistan hat nicht zu Frieden, sondern zu mehr Gewalt und Terror geführt. Die Zahl der Opfer in der afghanischen Zivilbevölkerung steigt immer weiter an, was Hass und neuen Terrorismus provoziert. Nicht trotz, sondern wegen des erweiterten Militäreinsatzes der beteiligten Nato-Staaten sind die Ziele wie Wiederaufbau, Demokratie und Sicherheit in weite Ferne gerückt. Die Linke hat als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien den Einsatz von Anfang an abgelehnt. Sie fordert eine Verstärkung für den Aufbau ziviler und demokratischer Strukturen in Zusammenarbeit mit demokratischen Organisationen vor Ort. Jama Maqsudi ist Vorstand des Deutsch-Afghanischen Flüchtlingshilfe-Vereins. Ein geordneter Rückzug der Nato mit klaren Zeitangaben und Zielformulierungen ist eine Form, mit der alle Seiten zufrieden gestellt werden könnten. Der Rückzug darf aber auf gar keinen Fall überstürzt erfolgen. Die EU ist gut beraten, stattdessen den zivilen Aufbau mit Nachdruck zu forcieren und sich besonders für eine föderale Struktur des Landes einzusetzen, damit die vielen Völker Afghanistan politisch und wirtschaftlich partizipieren können. Das präsidiale System mit seiner zentralistischen Struktur hat gezeigt, dass es eher der Korruption dient als dem Volk. NEIN Franz Josef Jung ist seit 2005 Mitglied der Bundesregierung als Minister für Verteidigung. Wir haben leider in diesen Tagen im Einsatz für den Frieden in Afghanistan schmerzliche Verluste erlitten. Der Stabilisierungseinsatz bleibt im Interesse der Bürger richtig und notwendig. Die Terroristen versuchen, ihr Menschen verachtendes Regime wieder herzustellen. Die Terroranschläge in New York und anderen Teilen der Welt sind von Afghanistan ausgegangen. Wer uns angreift, muss aber wissen, dass er mit aller Härte bekämpft wird. Wir haben schon viel erreicht: Bei 840 Aufbauprojekten in unserem Verantwortungsbereich sehen die Menschen, dass es vorangeht. Wir dürfen nicht zulassen, dass Afghanistan zurückfällt unter die Taliban und diese erneut den Terror in die Welt tragen – damit sorgen wir unmittelbar für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung! Andrea Fleschenberg dos Ramos Pinéu ist Politikwissenschaftlerin in Hildesheim. Die internationale Gemeinschaft hat sich 2001 dafür entschieden, Afghanistan beim Aufbau einer stabilen, friedlichen islamischen Demokratie zu unterstützen – ein Projekt von zwanzig Jahren plus. Sicherheit, Infrastruktur und Arbeitsplätze zählen zu den Kernsorgen der afghanischen Bevölkerung, die für den Isaf-Einsatz ist – trotz Kritik an zivilen Opfern. Ein Abzug würde Taliban und al-Qaida das Feld überlassen, den Aufbau torpedieren, progressive Kräfte gefährden und eine bessere Zukunft für AfghanInnen für lange Zeit unmöglich machen. Britta Petersen ist Afghanistan-Spezialistin, Journalistin und Autorin mehrerer Bücher. Natürlich muss die Bundeswehr in Afghanistan bleiben. Die Probleme am Hindukusch lassen sich nur durch ein koordiniertes Vorgehen der internationalen Gemeinschaft lösen – militärisch und zivil. Ein Auseinanderbrechen der Koalition würde Afghanistan in den Bürgerkrieg zurückwerfen und al-Qaida zum Sieg verhelfen. Aber: In Nordafghanistan eingeigelt „auf die Ablösung zu warten“ ist keine Politik, es braucht eine neue Strategie. Um mit Washington auf Augenhöhe reden zu können, muss Berlin definieren, was es in Afghanistan will und wie dies erreicht werden soll. Notwendig ist ein größeres ziviles Engagement, und zwar wirtschaftlich und politisch. Die Unterstützung von Warlords und Kriegsverbrechern muss aufhören – nur dann wird der Westen seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Tom Koenigs war 2006/07 UN-Afghanistan-Beauftragter. Er will als Grüner in den Bundestag. Wenn Bundeswehr und Isaf Afghanistan verlassen, ohne starke demokratische Staats- und Sicherheitsstrukturen aufgebaut zu haben, wird dasselbe passieren wie 1989: Rivalisierende Mudschaheddin-Warlords werden grausige Massaker anrichten, es wird neue Flüchtlingswellen geben, und die Taliban werden alle Ansätze eines liberalen muslimischen Rechtsstaats ersticken. Auch Pakistan wird in den Strudel gezogen werden. Und was sagen wir dann unseren Freunden, den Aktivisten für Menschenrechte, den Schulkindern, den Frauen, den Demokraten, all jenen also, denen wir Schutz und Entwicklung versprochen haben, die auf uns, die Nato und die Vereinten Nationen gehofft und den Mandaten geglaubt haben? Sind wir dann wieder furchtbar betroffen und sagen wieder NIE WIEDER?
Hans-Christian Ströbele / Sven Dittmann / Gregor Gysi / Jama Maqsudi / Andrea Fleschenberg dos Ramos Pinéu / Britta Petersen / Franz Josef Jung / Tom Königs
KRIEG In der kommenden Woche entscheidet der Bundestag über das neue Afghanistan-Mandat der Bundeswehr
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Schandfleck oder Touristenattraktion: Der letzte Bahnhof - taz.de
Schandfleck oder Touristenattraktion: Der letzte Bahnhof Die einstige Kontrollstelle Probstzella ist der letzte verbliebene innerdeutsche Grenzbahnhof. Doch auch dieses Stück Erinnerung wird nun abgerissen. Bis zur Wiedervereinigung war der Bahnhof Probstzella im Thüringer Schiefergebirge Grenzübergangsstelle. Bild: dpa PROBSTZELLA taz Dieter Nagel erinnert sich daran, wie er zum ersten Mal den Grenzbahnhof Probstzella betrat. Es war 1987, als er zu einem Onkel nach Westfalen reisen durfte und die "GüSt", die "Grenzübergangsstelle" passierte, die nur zehn Minuten Fußweg von seinem Haus entfernt lag. Da war der unfreundliche Beamte am Eingang, das mulmige Gefühl, als er allein in einem abgeschlossenen Raum wartete, bis die Transitreisenden abgefertigt waren. Probstzella, ein Ort mit 1.500 Einwohnern am südlichen Rand Thüringens, war Sperrgebiet. Neben dem Bahnhof, durch den heute der ICE Berlin-München rast, steht der einzig verbliebene von ehemals sieben Kontrollposten, durch die die Zöllner und Passkontrolleinheiten der Stasi die Zugreisenden zwischen der DDR und der Bundesrepublik schleusten. Doch auch hier hat der Abriss begonnen. Was kann Dieter Nagel dagegen haben, dass der Gemeinderat dieses unbehagliche und inzwischen völlig verfallene Gebäude 19 Jahre nach dem Fall der Mauer beseitigen will? "Wir wollen Geschichte bewahren", sagt er, "ein Erinnerungs- und Demonstrationsobjekt schaffen, das die Zustände in der DDR dokumentiert und am authentischen Ort erfahrbar macht." Der 54-Jährige führt gemeinsam mit seiner Frau im Ort ein Unternehmen für Medizintechnik, in dem sie hundert Mitarbeiter beschäftigen. Ihnen gehört auch das größte Bauhaus-Ensemble Thüringens, das "Haus des Volkes", in dem sie ein Hotel bewirtschaften. Ihr Hotel, erzählt Nagel, sei vor der Sanierung in einem ähnlichen Zustand gewesen wie das Kontrollgebäude. Dessen schlechten Zustand lässt er daher nicht als Argument gelten. Wenn er aus den Fenstern seines Hotels zum einstigen Grenzbahnhof schaut, sieht er einen bedrohten Schatz. Darum engagiert er sich in einem Förderverein, der das Kontrollgebäude sanieren und dort ein Grenzmuseum einrichten will. Der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins ist der Bürgermeister Marko Wolfram, 35, Sozialdemokrat. Er kommt regelmäßig her, um zu sehen, wie das Gebäude Stück für Stück verschwindet. Das Paradoxe: Er selbst hat die Bauarbeiter mit dem Abriss beauftragt. "Aus Gemeindesicht war die Sachlage so, dass man nur für einen Abriss stimmen konnte." Man könnte auch sagen: Sie sind erst zu spät auf die Idee gekommen. Denn noch im Mai 2007, als die Gemeinde das Gebäude vom Bund erwarb, war man sich einig, dass der Schandfleck wegmüsse. Erst später entdeckte ein Touristikberater das Kontrollgebäude als mögliches touristisches Kleinod und schlug die Errichtung eines Museums vor. Doch da hatte das Land Thüringen längst Fördergelder für den Abriss bewilligt. Jetzt tragen Arbeiter weg, was von diesem Stück DDR-Geschichte übrig ist: Scheiben mit ovalen Öffnungen, durch die einmal Pässe gereicht worden sind, Linoleumböden, auf denen Wartende gestanden haben, Notstrombatterien. In den einstigen Schalterräumen liegen Steinhaufen, von der Decke tropft Wasser. "Der Roman kriegt die Krise, wenn er das sieht", sagt Wolfram. Der "Roman", das ist Roman Grafe, Publizist und Autor, der die Geschichte des Grenzabschnitts Probstzella aufgeschrieben und die Fluchtversuche, die tödlich verlaufenen wie die geglückten, dokumentiert hat. Durch die Tourismusstudie kam er auf die Idee, ein Konzept für ein Museum zu erstellen; zunächst für das ganze Gebäude, dann für den Kompromiss, nur einen Wartesaal und einen der beiden langen, an einen Bergwerksschacht erinnernden Kontrollgänge stehen zu lassen. Er wohnt nicht in Probstzella, aber sein Name taucht in jedem Gespräch über die "GüSt" auf. Auch am Wohnzimmertisch von Ursula und Manfred Escherich. Das Ehepaar ist 66 beziehungsweise 75 Jahre alt und wohnt in der Nähe von Nagels Hotel oben am Hang in einem der typischen Häuser mit Schieferfassade. Aus dem Wohnzimmerfenster blicken sie auf die ehemalige Grenze zur Bundesrepublik am Hang gegenüber. Die Laubbäume zwischen den Tannen zeigen ihren Verlauf. Die frühere Grenze heißt jetzt "Grünes Band" und ist Teil des Touristikkonzepts der Region. Bei Manfred Escherich wühlt der Kontrollbahnhof Erinnerungen an jene Zeit auf, die er nicht in Probstzella verbringen durfte. Er wurde 1961 aus dem Ort ausgewiesen. Wie 42 weitere Probstzellaer musste er eines Morgens seine Sachen in Laster packen und mit seiner damaligen Frau und den zwei Kindern umziehen. Seine Eltern blieben im Ort. Fast 20 Jahre lang durfte er nicht zurück. Er holt tief Luft, bevor er davon erzählt, seine Stimme bricht und seine Augen hinter der Brille mit dem dicken braunen Rand werden feucht: "Ich durfte noch nicht einmal meinen Vater aufsuchen, als er noch lebte." Das war 1975, als der Hausarzt ihm schrieb, dass sein Vater im Sterben liege. Zur Trauerfeier ließ man ihn ins Sperrgebiet, wo er seine jetzige Frau kennenlernte. Obwohl sie zwischenzeitig geheiratet hatten, konnten sie sich fünf Jahre lang nur wochenends sehen, erst dann durfte er zu ihr ziehen. Warum er ausgewiesen wurde, weiß er bis heute nicht. Den Kontrollbahnhof nennt er "Kasten". Er ist nicht sehr erpicht darauf, dass er stehen bleibt. "Es sei denn, es käme was raus, das für den Ort günstig wäre." Er schnäuzt in sein Taschentuch und Ursula Escherich spricht weiter: "Wenn dort unsere Empfindungen dokumentiert werden würden und was wir erlebt haben, das fände ich gut." Dass es dazu kommen wird, glaubt sie aber nicht. Es gebe kaum einen, der sich dafür engagieren würde. Wenn sie die Atmosphäre in Probstzella schildert, verwendet sie Worte wie "mutlos", "engstirnig" und "ausgeblutet". Der Ort habe sich nicht davon erholt, dass "diejenigen, die Intelligenz und Engagement hatten, damals ausgewiesen wurden. Jetzt ist da kein Leben drin." Im ehemaligen Kontrollgebäude sind Bürgermeister Wolfram und sein Gemeindemitarbeiter im dritten Stock unterwegs. An einer Wand steht in roten Buchstaben: "Unser Klassenauftrag wird in Ehren erfüllt." Sie diskutieren, wie man den Spruch von der Wand bekommen kann. Marko Wolfram glaubt nicht mehr daran, das Gebäudes erhalten zu können, und bezweifelt, dass auch nur ein Teil davon noch zu retten ist. Auf dem Spendenkonto des Fördervereins waren Mitte Oktober 400 Euro eingegangen; 40.000 Euro wären nötig, um einen Kontrollgang und den Wartesaal vor dem Abriss zu bewahren und über den Winter zu bringen. Noch mal 300.000 Euro würde die Einrichtung des Museums kosten, schätzt Wolfram. Das thüringische Kultusministerium hat eine Förderung abgelehnt, weil man die bestehenden Projekte besser fördern wolle. Wolframs Alternative lautet, wenigstens im benachbarten Bahnhofsgebäude eine ständige Dokumentation einzurichten. Damit könnte sich auch sein Gemeindemitarbeiter abfinden, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er war Mitarbeiter der Reichsbahn und damit einer der wenigen Probstzellaer, die wussten, wie es hinter der Mauer aussah, die den Grenzbahnhof umgab. Wenn die Sirene ertönte, die Hundeführer ihre Kontrolle beendet hatten und der Zug gen Westen ausfuhr, musste er den Bahnhofsbereich verlassen. Er hat als freiwilliger Grenzhelfer gearbeitet, wies die Bewohner des Sperrgebiets darauf hin, dass sie ihre Leitern anketten müssen. Verraten habe er keinen, sagt er. Jetzt will er, dass endlich Ruhe ist. Wolfram rüttelt an einer Schranktür. "Letztens war die noch offen", murmelt er. Hinter dem Metall verbirgt sich die Telefonanlage, die die Stasi-Mitarbeiter verwendet haben, um Gesprächen der Probstzellaer zu lauschen. Marko Wolfram kennt die Geschichten aus dem Sperrgebiet, duzt sich mit fast allen im Dorf. Seit zwei Jahren ist er Bürgermeister und kam für diesen Posten zurück in seinen Geburtsort. "Frischen Wind" habe er gebracht, sagen die Männer, die am Abend im einzigen geöffneten Gasthof in der Bahnhofsstraße am Stammtisch sitzen. Aber in Sachen "GüSt" sind sie anderer Meinung. Ein Schandfleck, der weg muss, das ist hier klar. Aus dem Fenster blicken sie auf ein flaches Gebäude, das dieselbe Farbe wie das Kontrollgebäude trägt. Es steht leer, ebenso wie die Backsteingebäude des alten Bahnhofs nebenan. Die vier Uhren auf den beiden Bahnsteigen funktionieren zwar, zeigen aber vier verschiedene Zeiten an. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind zu spät.
Dörthe Nath
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Kranke Stadt - taz.de
1947: Ein Jude zurück in Berlin Kranke Stadt DER EMIGRANT Im Herbst 1947 besuchte der Schriftsteller Herbert Friedenthal nach neun Jahren seine alte Heimatstadt Berlin. Sein Text erschien erstmals vor 68 Jahren in Tel Aviv Herbert Friedenthal■ geboren 1906 in Posen, begann nach dem Studium eine journalistische Karriere in Berlin, die mit der Machtübernahme der Nazis abrupt endete. Er arbeitete ab 1933 für zionistische Gruppen, die die Auswanderung nach Palästina propagierten, den Jüdischen Kulturbund und veröffentlichte erste Romane. Nach der Pogromnacht emigrierte Friedenthal 1939 nach Großbritannien, wo er seinen Namen in Freeden änderte. 1950 wanderte er nach Israel ein und arbeitete dort jahrzehntelang als Korrespondent für die Frankfurter Rundschau. Freeden starb 2003. VON HERBERT FRIEDENTHAL Es war Nachmittag. Das Auto brachte mich vom britischen Flugplatz Gatow zum Hotel „Am Zoo“. Die Straßen waren leer. Ein paar Militärwagen waren unterwegs. Ein paar Leute schoben ihre Karren mit gesammeltem Holz oder undefinierbaren Säcken. Eine unwirkliche Stille lag über der Stadt. Wir überholten Straßenbahnen, die Fenster mit schwarzer Pappe verkleidet wie schleichende Särge, vollgepfercht mit grauen, abgerissenen Menschen. Nach acht Jahren sah ich zum ersten Mal in die Gesichter von Deutschen. Ich glaube nicht an die Kollektivschuld eines Volkes. Aber die ich sah – waren das die Unschuldigen oder die Mörder? Hatten sie einmal die schwarze SS-Tracht getragen oder die braune SA-Uniform? Hatten die Frauen geschlagenen jüdischen Müttern die Pelze geraubt? Wie sehen die Schuldigen aus und die, die von nichts wussten? Man kann sie nicht unterscheiden. Das Misstrauen verließ mich nicht bis auf den letzten Tag. Ich trat aus dem Hotel auf den Kurfürstendamm und ging die altbekannten Straßen entlang. Ich habe lange inmitten jener Straßen, Plätze, Häuser gelebt. Ich wusste, wo man die Juden hingezerrt hatte und wo die neuen Herren triumphierend eingezogen waren. Ich ging an jenen Häusern entlang, die nun zu tausenden das makabre Spalier ausgebrannter Ruinen boten, schritt über die Trümmer und Scherben, die seit zwei Jahren auf den Bürgersteigen liegen, durch Stadtteile, die fortgefegt waren und einst vertraute Ecken in eine Landschaft des Todes umgewandelt hatten. Zwei widerstreitende Gefühle ergriffen mich: Traurigkeit und tiefe Genugtuung. Die Traurigkeit kam von dem Erlebnis eines Menschen, der eine Reise in seine eigene Vergangenheit macht und feststellen muss, dass jene Vergangenheit nicht mehr existiert, dass die Wirklichkeit nicht mehr mit seinen Erinnerungen übereinstimmt, dass das Gesicht jener Stadt, die er einmal geliebt hat, zu einer scheußlichen Fratze geworden ist. Wir dachten einst, dass Städte etwas Ewiges sind und Menschen vergänglich. Die wenigen Freunde, die ich in Berlin fand, hatten sich kaum verändert. Aber Berlin hatte ein Ende genommen. Die tiefe Genugtuung kam von einer beinahe religiösen Empfindung. Wir haben lange das Vertrauen an eine irdische Gerechtigkeit verloren. Aber wie niemals zuvor empfand ich groß und gewaltig die Idee des kosmischen Ausgleichs. Als ich Berlin 1939 verließ, klirrten die Straßen wider von Tritten einer größenwahnsinnig gewordenen Soldateska. Arroganz und Hochmut waren die alltägliche Uniform; Sinnbild des bestialischen Imperiums, die stolze Ost-West-Achse, die vom Brandenburger Tor bis über den Kaiserdamm hinausführte. Die Hand des Schicksals hat jene Monumentalität gestürzt und den Hochmut auf den Gesichtern ausgelöscht, hat die Burgen der neuen Herren niedergebrochen, dass sie sich ihres erstohlenen Besitzes nicht freuen konnten. Die Zahl der Krüppel und Blinden in Berlin ist Legion. Nicht einmal das Vogelgezwitscher im wilden Wein war geblieben. Es gibt keine Vögel in Berlin Meinekestraße 10, das zionistische Zentrum, steht unversehrt. Aber der Hof, der sonst von dem Lärm von Schreibmaschinen widerhallte und den Stimmen geschäftiger Menschen, war still und unwirklich wie die ganze Stadt. Nicht einmal das Vogelgezwitscher im wilden Wein an der Hauswand war geblieben. Es gibt keine Vögel in Berlin. Aber unter der Stille brodelt und zischt und kocht es. Die Energien jener einst vitalsten Stadt Europas reiben sich auf in Intrige, Hass, Korruption, Verbitterung und Zynismus. In Berlin sind die Weltkonflikte wie durch ein Vergrößerungsglas riesenhaft projiziert. Auf kleinstem Raum stoßen dort vier Großmächte in täglichen Reibereien zusammen. Die deutschen Parteien, von ihnen gefördert oder verboten, zerfleischen sich in gegenseitigem Kampf. Die Presse, mit der inflationistischen Zahl von vierzehn Tageszeitungen und einem Heer von Zeitschriften, fließt über von Eifer und Geifer und reflektiert wie in einem Zerrspiegel die vierfache Zerrissenheit der Stadt, Deutschlands, der Welt. Aufbau? Wozu? Morgen wieder Krieg, ist die Parole. In jener hysterisierten Atmosphäre wachsen lokale Differenzen zu Weltkonflikten. Und Krieg scheint vielen die einzige Möglichkeit, Deutschland aus der eisernen Umklammerung jener hadernden Giganten zu befreien. Aufbau und Demokratie sind Witzworte des politischen Kabaretts, das in jedem der vier Sektoren die anderen drei ironisiert. Aufbau? Das Einzige, was gebaut wird, sind Geschäfte für Geschenkartikel, Antiquitäten und Luxuswaren. Wie grelle Farbflecke stechen jene Läden zu Dutzenden aus dem morschen Grau zerfallener Fassaden hervor. Wer in Berlin reich ist, ist sehr reich, wer arm ist, sehr arm. Die Menschen bringen ihr Porzellan, ihre Stilmöbel, Bilder und Juwelen in jene Geschäfte, in denen sich Käufer finden, die nicht nur Amerikaner sind. Sonst handelt niemand mit dem, was er vorgibt. Friseure bieten Butter an, Drogerien Kleiderstoff, Schuhmacher Kartoffeln. Kellner flüstern den Gästen die letzten Notierungen von Zigaretten und Schokolade ins Ohr. In jenem Lande der zwei Währungen läuft die Wirtschaft Amok. Die eine Währung ist die offizielle, aber wer nicht verhungern oder erfrieren will, muss sich am Schwarzen Markt beteiligen, der die Zigarette als Valuta anerkennt. Mit Zigarettenvaluta kann man alles in Berlin kaufen – Menschen und Dinge, Lebensläufe und Karrieren. Niemand kann sich dem morbiden Rausch der Stadt entziehen; weder die Okkupationsmächte noch die deutsche Polizei; weder Christ noch Jude. Der Winter kommt – rette sich, wer kann. Keine Kohlen, keine Kartoffeln. Und was kommt nach dem Winter? Krieg? Und wer ist schuld? Die Russen oder die Amerikaner? Die Nazis oder die Juden? Die Kommunisten oder die Sozialdemokraten? Die anderen oder sie selbst? Immer die anderen. Das Bekenntnis zur eigenen Schuld ist genauso ausgeblieben wie die Umerziehung durch die Alliierten. Der Krieg hat eine neue, wenn auch unblutige Form angenommen – der Krieg aller gegen alle in einem Daseinskampf, dessen schärfte Waffe die Korruption ist. Berlin ist eine Stadt von Ruinen, die auf verfaultem Grund stehen – angefressen von moralischer Fäulnis, die genährt wird von den Intrigen und der Skrupellosigkeit einer irrsinnigen Welt. ■ Vorabdruck aus „Fremde im neuen Land. Deutsche Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945“ von taz-Redakteur Klaus Hillenbrand. Das Buch (416 Seiten) erscheint am 21. Mai bei S. Fischer und kostet 24,99 Euro.
HERBERT FRIEDENTHAL
DER EMIGRANT Im Herbst 1947 besuchte der Schriftsteller Herbert Friedenthal nach neun Jahren seine alte Heimatstadt Berlin. Sein Text erschien erstmals vor 68 Jahren in Tel Aviv
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Die Welt ist ein Flatscreen - taz.de
Die Welt ist ein Flatscreen Elektronische Spielzeuge jeder Größe und jeder Art beherrschen das Stadtbild von Tokio. In Japan muss die Technik nicht nur nützlich sein, wichtiger ist es, das neueste Modell zu besitzen von VERENA DAUERER Es kommt vor, wenn auch selten, dass hierzulande das Mobilnetz zusammenbricht. An Silvester etwa, oder lustigerweise am 1. Mai in Kreuzberg. Soweit lassen es die großen Netzbetreiber in Japan nicht kommen. Für die Fußball-WM hat der größte Anbieter NTT DoCoMo angekündigt, dass er zu den Hauptspielzeiten im Ballungszentrum Tokio und in den Gegenden rund um die Stadien seine Webdienste abspecken will (www.nttdocomo.com). Weniger ist eben mehr. Immerhin wohnen im WM-Krisengebiet 30 Millionen Menschen, ebenso viele wie in Japan mittlerweile ein I-mode-Handy besitzen. Das gibt es dort bereits seit 1999 und für die, so möchte es das Klischee, technikbegeisterten Japaner ist das aufklappbare Gerät mit dem bunten Riesendisplay ein Spielzeug, das man haben muss. Zu welchem Preis auch immer. Vor allem, wenn seit Ende des letzten Jahres die neueste Ausführung eine Minikamera auf der Rückseite eingebaut hat. Mit der lassen sich briefmarkengroße Bildchen es-em-essen und e-mailen und jetzt auch kleine Quicktimefilme, um den Partybericht auf den aktuellen Stand zu bringen. Java-Applikationen und 3-D-Grafiken beim Surfen sollen kein Problem mehr sein. Mit einer 64-MB-Memory Karte lässt sich auch das eine oder andere MP3-Liedchen speichern. Und als weiterer Schritt werden die nächsten Überhandys der neuen Generation, genannt 3 G, das weltweite Roamen einführen, da sie mit dem GSM-Netzwerk arbeiten und ebenso UMTS-fähig sind. Tatsächlich scheint in Tokios Straßen fast jeder mit einem dieser schick silbernen Klappteile herumzulaufen, und zwar weniger um zu telefonieren. Dauer-SMS ist beliebter, was an den Gebühren liegen mag: der monatliche Grundpreis liegt bei 26 Euro, und abgerechnet wird wirklich nach Entfernung. Eigentlich scheinen aber die Kosten niemanden zu kümmern, schließlich geht es um Trends, die über alle drüberschwappen. Und um das Haben-Wollen des heißesten Hightech-Schnickschnacks. Quatschen am Fon in der U-Bahn gilt als unschicklich, äußerst unhöflich und findet nur in Ausnahmefällen mauschelig unter vorgehaltener Hand statt. Als müsste man sich schämen, dass man der sowieso schon vom Overkill aus Lärm und Reklametafeln überforderten Umwelt noch mehr auf die Nerven geht – vorbildlich auch für ICE-Großraumwagen hierzulande. In den Tokioter Plätzen und S-Bahn-Stationen haben die Mehrzahl der Handybenutzer ein freundliches Glockenspiel als Klingelton gewählt, kein aus dem Netz geladenes Billiggefiepe, sondern einen selbst aufgenommenen Wohlklang für die Ohren. Allerdings benutzen sie oft den Vibrationsalarm: Pendler stellen sich die Weckfunktion bis zu ihrer Station und pennen durch, das Fon fest umklammert. Das können sie auch im Stehen, wenn es voll ist, wie meistens, fallen sie nicht um. Höflich in der U-Bahn Doch alles, wofür das Handy gut ist, wird unwichtig, wenn es keine Öse hat, um jede Menge Schleifchen, Bändchen und Püppchen dranzuhängen. Denn wenn nix dran baumelt, ist es kein ordentliches Fon. Zur Rushhour mit einer Horde leicht vom Reiswein angetrunkener Anzugträger in den 50ern und ihren schaukelnden Batterien an Handytierchen in die Bahn gestopft zu werden, ist ein eher irritierendes als amüsantes Erlebnis. Telefonieren geht aber auch prima in den öffentlichen Telefonzellen mit ISDN-Verbindung samt Anschluss, um den Laptop dranzustöpseln. Ich hab leider keinen Businessman gesehen, der auf diese Art surft. Aber wer weiß, vielleicht benutzen die schon alle das neue Funk-LAN. Denn Japaner scheinen sich mit einer Kombination aus lässiger Selbstverständlichkeit und kindlichem Spieltrieb auf Technikerrungenschaften zu stürzen, ohne ernsthaft nach dem Nutzen zu fragen. Zum eigenen Wohlergehen gehört unbedingt ein USB-Hub in Gestalt einer Hello-Kitty!-Mietzekatze aus Plastik. Elektronik gehört zum täglichen Leben wie die Computerkasse im 24-Stunden-Supermarkt, die einen schön großen Flatscreen aufgesetzt hat für Werbespots. Da guckt man verwundert drauf, wenn rechts unterm Clip der Preis angezeigt wird. Noch erstaunlicher ist es, wenn im Restaurant achselzuckend die Bedienung die Bestellungen über den Organizer aufnimmt. Für einen Grobüberblick vom Stand der Technik reicht ein Abstecher in den Tokioter Stadtteil Akihabara, genannt „Electric City“. Wie überall in der Millionenstadt ist das Stadtbild zur Flatscreenlandschaft umgestaltet. Überall hängen sie, die platten Dinger, selbst im Kleinformat von der Decke, beispielsweise in der edlen Kaufhauskette Isetan. Für die nächste Generation von noch dünneren, noch leichteren LCD-Schirmen möchte Sharp ab Sommer extra ein eigenes Werk bauen. Passend fürs Heim gibt es den Screen platzsparend auf die Tatamimatte an die Wand gestellt. Echte Plüschtiere Die allerdings müssen noch mit den Konsolen Vorlieb nehmen, die haufenweise in jedem zweiten Elektronikshop herumliegen. Zumindest da können sie die neuesten Games umsonst ausreizen und haben kein Problem damit, den Nachmittag an der Außenwand eines Ladens stehend mit Spielen zu verbringen. Oder sie gehen zum Sony Building im Designereinkaufsviertel Ginza. Am Eingang findet eine Promoaktion für das neue Aibo-Robotermodell statt, ein besonders knuffiger Pandabär mit schwarzweißem Plüschfell. Wie Sony gerade bekannt gegeben hat, soll er das neue Aushängeschild der Marke werden (www.aibo.com). Im Erdgeschoss des Towers ist das digitale Fernsehen angekommen. Matratzengroße Flatscreens, Plasmaschirme und Trinitrons an jeder Wand, die schon jeden Diaabend zum psychedelischen Trip aufmöbelten, wenn man sie nur zum Betrachten von Jpegs missbrauchte. DVD sollte es aber schon sein: Selbst das Hausprodukt, der Vaio, hat als Desktop-PC einen leinwandbreiten Bildschirm zum Filmeschauen. Nebenan liegen die neuen DV-Kameras aus. Sie haben nette Touchscreens und senden ihre Daten per Bluetooth ans Handy oder mit der Memory-Karte in einen handlichen, aufklappbaren Videoanschauer. Die Restaurantbedienung mit dem Organizer war nur der Anfang. Die nächste Stufe ist der persönliche Entertainment-Organizer, der Clié: Die Partyverwaltung mit Digitalkamera, MP3-Player, Tastatur und bequem drehbarem Bildschirm, um sich selbst beim Filmen anschauen zu können. Im nächsten Stockwerk wird der Net-MD-Walkman gezeigt, der aus dem Web geladene MP3-Files aufnehmen kann. Ganz oben ist die Playstation-Arena mit dem nächsten Level an superrealistischen 3-D-Grafiken – darunter ein Baseballgame für den japanischen Nationalsport und ein Fußballspiel mit authentischen Hooligans. Wer zum Daddeln unterwegs keinen Fernseher mitschleppen möchte, behilft sich mit der MiniStation PS one im Format einer Tupperware-Box mit aufdrehbarem Display. [email protected]
VERENA DAUERER
Elektronische Spielzeuge jeder Größe und jeder Art beherrschen das Stadtbild von Tokio. In Japan muss die Technik nicht nur nützlich sein, wichtiger ist es, das neueste Modell zu besitzen
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■ Jack Mapanje: Die hungrigen, störrischen Raben vom Mikuyu-Gefängnis - taz.de
■ Jack Mapanje: Die hungrigen, störrischen Raben vom Mikuyu-Gefängnis Das konnten Noahs Raben nicht sein, diese Krähenvögel am Mikuyu-Gefängnis, die von unseren Dächern ächzten jeden Tag; wohin die auch immer gewandert sind auf ihrer verpfuschten Pilgerreise am Ende jener ewigen Fluten, Noahs Raben konnten hier nicht gelandet sein (sie kehrten nie zurück zur Arche ihres Herrn). Das konnten auch Elias Raben nicht sein, denn wie störrisch dieses Land auch zum Kampfe fordert die Frösche des allmächtigen Gottes, die allesverschlingenden Heuschrecken, die endlosen Dürren und Plagen, heute gibt es keinen Propheten mehr, den Gott so liebte, daß er ihn retten will (mit Brot und Fleisch, gebracht von Raben!) Das können nur welche sein vom heidnischen Stamm der hungrigen Krähenvögel und Aasgeier, die man schickte um einzuhacken auf unsere von Schlaflosigkeit und Agonie blutunterlaufenen Augen, um den Frieden dieser verlassenen Zelle aufzupicken mit ihren harten, klopfenden Schäbeln. Und warum wählen sie keinen anderen Ort, keine andere Zeit? Warum müssen diese Krähen am Mikuyu-Gefängnis sein und immer zur Abenddämmerung, und gegen das geschmiedete Eisen dieser Zelle hämmern, uns das Mark aus den dünnen Knochen bohren und an den gestohlenen Fischgräten aus den Mülltonnen picken, die wir nach draußen schütteten? Aus dem Englischen von Uta Ruge Jack Mapanje ist einer der führenden Dichter Malawis. Ohne Anklage oder Prozeß wurde er am 25.September 1987 verhaftet und erst am 10.Mai 1991 aus dem Gefängnis entlassen. Er lebt jetzt mit seiner Familie in York (England). Ein Gedichtband mit dem Titel „Out of Bounds and Other Poems“ ist zur Zeit bei Heinemann in Vorbereitung. Jack Mapanje nimmt am 3. und 4.Juli 1992 an einer Konferenz in Potsdam teil, die sich mit den Beziehungen afrikanischer und europäischer Schriftsteller zueinander befaßt („Things Fell Apart — Das Alte ist gestürzt“, Potsdam, Club der Künstler und Architekten „Eduard Claudius“). Ihre Beteiligung haben ebenfalls zugesagt: Carmen Francesca Banciu (Rumänien), Biyi Bandele-Thomas (Nigeria), Syl Cheney-Coker (Sierra Leone), Mia Couto (Mosambik), György Dalos (Ungarn) und Werner Liersch (Ex-DDR). Der Afrika-Redakteur von 'Index on Censorship‘ (London), Adewale Maya-Pearce, und Peter Ripken von der „Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinameika e.V.“ (Frankfurt) moderieren die Veranstaltung, die von der Heinrich-Böll-Stiftung (Köln) unterstützt wird. Anmeldungen sind nicht notwendig, aber willkommen: Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V., Postfach 100116, 6000 Frankfurt/Main 1
jack mapanje
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Landesparteitag der Christdemokraten: Zu Gast beim Mario - taz.de
Landesparteitag der Christdemokraten: Zu Gast beim Mario Die Berliner CDU tagt in ihrer Bundeszentrale, wo der zuvor wenig gelittene Mario Czaja nun Generalsekretär ist. Inhaltlich geht es um Kinderarmut. Mario Czaja, zuvor im Clinch mit Landeschef Wegner, empfing als Generalsekretär die Berliner CDU Foto: dpa BERLIN taz | Jetzt stehen sie also eng zusammen, lächeln und plaudern Minuten lang für alle sichtbar. Kein Jahr ist es her, da lagen Abgründe zwischen CDU-Landeschef Kai Wegner und Mario Czaja. Wegner versagte Czaja eine sicheren Platz im Bundestag, Czaja wiederum sah die Partei unter Wegners Führung auf „riskantem Rechtskurs“. Noch am Tag nach der verlorenen Abgeordnetenhauswahl kritisierte Czaja, die CDU habe „keine Wechselstimmung in Berlin erzeugt“. An diesem Mittwochabend jedoch ist Landesparteitag in der Bundeszentrale der Partei, im Konrad-Adenauer-Haus. Hausherr ist dort aber inzwischen Czaja – der es trotz fehlender Unterstützung in den Bundestag schaffte und im Januar zum Generalsekretär aufstieg. „Ich muss jetzt mal den Mario begrüßen“, hat sich Wegner eingangs von einem kurzen Gespräch mit der taz verabschiedet. Nicht dass der Parteichef nicht sowieso gern Hände schüttelt – aber man braucht einander einfach. Denn gerade ein kleiner Landesverband wie Berlin kann sich keine belastete Beziehung in die Bundesspitze leisten. Czaja als Generalsekretär wiederum muss mit Wegner klarkommen, weil man auch auf Bundesebene darauf hofft, dass das Berliner Verfassungsgericht wegen des Wahlchaos im vergangenen Herbst die Abgeordnetenhauswahl wiederholen lässt. Bei einer solchen Wiederholung aber wäre Wegner automatisch erneut Spitzenkandidat. In ihren Reden gehen beide durchaus auf Differenzen ein. Er und Wegner seien wie ein altes Ehepaar – „man streitet sich zwar manchmal, aber es gibt viel mehr, was uns verbindet“, sagt Czaja. Wegner wiederum erzählt, man kenne sich über 30 Jahre. Beiderseits lobt man sich und bescheinigt einander, einen tollen Job zu machen. KinderarmutDie Berliner CDU hat bei ihrem mit „KinderChancenStadt“ überschriebenen Parteitag angesichts steigender Preise ein „Belastungsmoratorium“ gefordert: Der rot-grün-rote Senat soll nach ihrem Willen „bis auf Weiteres“ keine Maßnahmen oder Regelungen beschließen, die zu einer finanziellen Mehrbelastung der Bürger führen. Für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen soll es zudem leichter werden, Nachhilfe oder Musikunterricht zu nehmen oder ein Instrument zu lernen. Ein „Berliner Chancenpass“ soll alle Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabegesetz zusammen fassen und über eine App verfügbar machen. Darauf soll für arme Kinder monatlich ein Guthaben von mindestens 50 Euro für Freizeitaktivitäten und Bildungsleistungen sein. Nach Zahlen der CDU lebten 2021 in Berlin rund 156.000 Kinder in Familien, die staatliche Unterstützung bezogen. (sta) Im Mittelpunkt des Parteitags – es ist ein kleiner mit knapp 70 Teilnehmern statt den bei einem großen üblichen 300 – steht das Thema Kinderarmut. Czaja, der im Team von Bundeschef Friedrich Merz auch für ein sozialeres Profil der CDU sorgen soll, weist auf eine besondere Schieflage hin: Ein Drittel derer, die als arm gelten, haben einen Job und sind doch auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. „Wenn man von seiner Hände Arbeit nicht leben kann“, sagt Czaja, „ist das nicht die soziale Marktwirtschaft, die sich die CDU vorstellt.“ Wegner hingegen geht in seiner Rede weit weniger auf das Thema ein, unternimmt mehr eine Bestandsaufnahme zur Arbeit des rot-grün-roten Senats. Die aber besteht weithin aus bekannten Versatzstücken: Der Senat könne es nicht, die CDU müsse ran, Regierungschefin Franziska Giffey habe versprochen, aber nicht gehalten. Das sieht interessanterweise bei Weitem nicht die ganze Partei so. In einer später am Abend vorgestellten Mitgliederbefragung stimmen nur 71,3 Prozent der Aussage zu: „Der Senat tut zu wenig“. Im Umkehrschluss hieße das: Mehr als jeder vierte Berliner CDUler ist mit der Regierung zufrieden. Nebenher ist auch zu beobachten, dass sich einer im Landesverband etabliert hat, in dem manche nur ein Feigenblatt sahen, als er 2021 als erster Schwarzer für Berliner CDU bei der Bundestagswahl antrat. Joe Chialo, der Musikmanager, mit Laufschuhen und Polohemd in starkem Kontrast zu den vielen Anzugträgern im Raum, ist mit vielen im Gespräch, auch länger mit Czaja und Wegner. „Ich bin schon zum zweiten Mal heute hier“, erzählt er der taz. Früher am Tag sei schon Sitzung des Bundesvorstands gewesen, dem er seit Januar angehört – „da gab es ein paar gute Vibes“. Wovon wenig bis gar nichts zu hören ist: von einer Hoffnung, über einen Rückzug der Linkspartei wegen des Enteignungsstreits in den Senat zu kommen. Diesen Nachrückerplatz – das ist deutlich spürbar – belegt wohl auch in den Köpfen der CDUler allein die FDP.
Stefan Alberti
Die Berliner CDU tagt in ihrer Bundeszentrale, wo der zuvor wenig gelittene Mario Czaja nun Generalsekretär ist. Inhaltlich geht es um Kinderarmut.
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ORTSTERMIN: NORDDEUTSCHE MATSCH-MEISTERSCHAFT: Spiel, Schmutz und Sieg - taz.de
ORTSTERMIN: NORDDEUTSCHE MATSCH-MEISTERSCHAFT: Spiel, Schmutz und Sieg Sie sind blond, sie sind neun Jahre alt, sie sind dreckig, und sie sind genervt. Die drei Mädels, nennen wir sie Leonie, Annemarie und Rebecca, sitzen am Spielfeldrand und essen Würstchen. Eben haben ihre Mütter ihnen mal wieder erklärt, dass es nur ums Mitmachen gehe und nicht um den Sieg oder die 7.500 Euro, die es zu gewinnen gibt – nein, allein um den Spaß, um Fairness und um Toleranz, und dass sie doch bitte nun die konkurrierenden Mannschaften auch anfeuern sollten. Ja, auch die anderen, wir sind alle Sieger. „Ich feuer’ die nicht an, sonst gewinnen die noch“, grummelt die eine, Leonie, hinter ihrem Würstchen hervor. „Ich hab solchen Bock, nach Köln zu fahren“, jammert die zweite, Annemarie, der vor lauter Gram schon der Appetit vergangen ist. Und die dritte, Rebecca, schaut besonders missmutig drein. „Woll’n wir mal die Daumen drücken, dass die ausrutschen“, sagt sie. So spaßig die Veranstaltung klingt: Die Teilnehmer nehmen sie durchaus ernst, die erste „Norddeutsche Matsch-Meisterschaft“ der Grundschul-Klassen, die heute auf dem Kinderhof in Kirchdorf statt findet. Inmitten von Ziegen, Enten und Miniatur-Bauernhöfen wurde ein Schlammfeld angelegt, und das Schönste dabei: Der Schlamm ist wirklich Schlamm, nicht nur ein schmieriger Untergrund, sondern mitunter knöcheltiefes Nass. Acht Teams treten gegeneinander an, um unter sich den Finalisten auszumachen, der dann im Oktober nach Köln fahren darf. Dort wird er sich mit drei anderen Mannschaften aus dem Westen, Osten und Süden Deutschlands messen. Die Disziplinen sind wohl gewählt: Unter anderem stehen Fußball, Tauziehen und Sackhüpfen auf dem Programm – Sportarten, bei denen man gerne mal hinfällt. Und weil Dreck nur am Anfang unangenehm ist und dann aber rasch auch Freude macht, rammen die Kleinen schon bald mit Muße ihre Füße in den Matsch. Sie schlittern, kreischen und spritzen, zuweilen rüpeln und schubsen sie aber auch. Kein Zweifel, es geht um was, und wenn’s schon nicht der Sieg sein darf, dann wenigstens um die Ehre. Warum sich all dies nun unbedingt im Schlamm abspielen muss, dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Die unromantische Antwort: Der Veranstalter ist eine Pflege-Marke und mit gleich mehreren Maskottchen rund ums Spielfeld vertreten, arme Studenten in zu warmen Duschgel-Kostümen, die übers Feld wackeln, Kinderköpfe tätscheln – und Kunden generieren. Es gibt aber vielleicht noch einen tieferen Sinn: Nach der letzten Disziplin schart sich eine Meute kleiner Athleten um den Juror der Veranstaltung, Ex-Fußball-Profi Sergej Barbarez. Betrugsvorwürfe werden laut. Die in den blauen Trikots behaupten, die in den schwarzen Trikots hätten kürzere Strecken zu laufen gehabt. Und für Barbarez wird’s schwer. Der Grund: Wer blau war oder wer schwarz, das ist nun nicht mehr so leicht zu klären. Dicke Schlammkrusten haben alle Unterschiede nivelliert, die Gegner sind im Schmutz vereint. Und so ging es, letztlich, vielleicht doch um Größeres. CARINA BRAUN
CARINA BRAUN
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Größtmöglicher Sicherheitsabstand - taz.de
Größtmöglicher Sicherheitsabstand Der SC Freiburg ist nach einem 3:2-Erfolg in Leverkusen Tabellenführer und sieht sich so vor Beginn der englischen Wochen optimal vor dem Abstiegssog geschützt. Effizienz, Spielglück und ein erstaunlich breiter Kader begünstigen die Entwicklung Aufrechter Freiburger und gebeugter Leverkusener: Wooyeong Jeong will sich von Jeremie Frimpong nicht aufhalten lassen Foto: Federico Gambarini/dpa Aus Leverkusen Daniel Theweleit Als der Schlusspfiff ertönte, hatte Maximilian Eggestein noch keine Ahnung von der historischen Bedeutung, die der 3:2-Sieg des SC Freiburg in Leverkusen für den rasant wachsenden Klub aus dem Schwarzwald besitzt. „Ich höre das jetzt zum ersten Mal“, sagte er, als ihm nach Spielende berichtet wurde, dass sein Klub an der Tabellenspitze steht. Das sei eine „schöne Momentaufnahme, mehr nicht“, untertrieb Eggestein, die Freiburger blieben auch auf einem zuvor noch nie erreichten Gipfel Spezialisten des Understatement. Nur einmal zuvor stand der Sportclub auf Platz eins der Liga, das war vor 22 Jahren nach einem 4:0 gegen den VfB Stuttgart zur Saisoneröffnung. Jetzt, nach fünf Partien, hat so eine Positionierung nicht nur mehr Aussagekraft, sondern auch eine größere Wirkung. Selbstverständlich träumt beim SC niemand von der Meisterschaft, auch wenn Kapitän Christian Günter zu einem Journalisten sagte: „Wenn mir am Vieredreißigschte da obe stehn, dann würdsch mich hier jetz wahrscheinlich ned sehen“, zu diesem Zeitpunkt könne die Mannschaft „das alles gut einordnen“. Und dennoch haben die zwölf Punkte einen Effekt, der die Freude über Platz eins weit übersteigt. Dieser Saisonstart verleiht den Freiburgern ein Gefühl der Leichtigkeit gegenüber einer Herausforderung, vor der die Verantwortlichen großen Respekt haben. Mit einem Spiel gegen den aserbeidschanischen Klub Qarabag Agdam beginnt am Donnerstag die Europa-League-Saison und eine Phase der Extrembelastung, wie sie der Klub seit 2013 nicht mehr verkraften musste. „Wir wollen in einem Jahr, in dem wir Europapokal spielen, in der Liga bleiben und gute Europacup-Spiele machen“, beschrieb Trainer Christian Streich die Ziele. Dank des erspielten Punktepolsters sind sie auch nach den Niederlagen im nationalen Wettbewerb ganz gut geschützt vor dem Abstiegskampfstrudel. Und die Festtage in der Europa League lassen sich auch anders genießen. Als Spitzenklub, der mit den Belastungen aus drei Wettbewerben lässig zurechtkommt, begreifen die Freiburger sich noch lange nicht, und dafür haben sie gute Argumente. „Wir machen einige Sachen gut und andere Sachen nicht so gut“Christian Streich, Trainer Zwar steht der Klub vor Borussia Dortmund und dem FC Bayern an der Tabellenspitze, konstant wie eine Spitzenmannschaft gespielt haben sie aber keineswegs. Das 4:0 in Augsburg hätte in der ersten Halbzeit eine andere Richtung nehmen können, bei den 1:0-Siegen gegen Bochum und in Stuttgart halfen günstige Spielverläufe, und die erste Halbzeit in Leverkusen war schwach. „Ich kann die Spiele einordnen, wir machen einige Sachen gut und andere Sachen nicht so gut“, sagte Streich. „Wir können heute auch vier Tore kriegen, hatten einen guten Torwart, gute Innenverteidiger und das Glück.“ Vor allem aber ist die Mannschaft sehr effizient und sie beherrscht weiterhin die Kunst der Standardsituationen. Leverkusen führte zur Pause durch Kerim Demirbay, doch Matthias Ginter glich nach einem Eckball aus (48.), bevor Michael Gregoritsch in Folge eines Abwehrfehlers von Edmond Tapsoba zum 1:2 traf. Auf das 2:2, das Patrik Schick nach einer schönen Flanke des Neuzugangs Cullum Hudson-Odoi köpfte (65.), reagierten die Freiburger mit einer weiteren Eckevariante, die Ritsu Doan veredelte (72.). Die Stärke bei Standards verdanken sie nicht zuletzt den Assistenztrainern Florian Bruns und Lars Voßler. „Die machen das überragend“, sagte Streich, wies aber auch auf die Rolle der Spieler hin: „Uns hilft, dass viele schon seit Jahren bei uns sind und eine gute Abstimmung haben. Die können einfach gute Entscheidungen im Stress auf dem Platz treffen.“ Neben der durch kluge Transferpolitik entstandenen individuellen Qualität der Profis ist ein Kadergerüst entstanden, das den Freiburger Fußball verinnerlicht hat. Die Integration neuer Leute fällt deshalb leicht. In Leverkusen trafen mit Ginter, Gregoritsch und Doan Spieler, die im vergangenen Jahr noch andernorts unter Vertrag standen. Der Kader ist derart breit, dass die zur Bundesligamannschaft gehörenden Lukas Kübler, Daniel Kofi-Kyereh und Merlin Röhl am Samstag mit der zweiten Mannschaft mit 1:0 gegen Ingolstadt gewannen und in die Aufstiegsränge der Dritten Liga kletterten. Auch das ist eine Rekordplatzierung.
Daniel Theweleit
Der SC Freiburg ist nach einem 3:2-Erfolg in Leverkusen Tabellenführer und sieht sich so vor Beginn der englischen Wochen optimal vor dem Abstiegssog geschützt. Effizienz, Spielglück und ein erstaunlich breiter Kader begünstigen die Entwicklung
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Neuropsychologin über Gehirne und Computer: Signale aus der Schaltzentrale - taz.de
Neuropsychologin über Gehirne und Computer: Signale aus der Schaltzentrale Schnittstellen zwischen Computern und Gehirnen sind möglich, aber kompliziert. Stefanie Enriquez-Geppert erklärt, wie das geht und wann es hilfreich ist. An der Bochumer Klinik Bergmannsheil lernen Patienten, ihren Rollstuhl durch Gedanken zu steuern Foto: Friedrich Stark/imago taz: Frau Enriquez-­Geppert, ein menschliches Gehirn und einen Computer zusammenzuschließen, das klingt nach Science-Fiction. Ist es das auch? Stefanie Enriquez-Geppert: Es ist natürlich extrem faszinierend, wenn man in Filmen und Büchern sieht oder liest, dass Menschen mit Gedanken etwas steuern können – zum Beispiel einen Computer oder eine Maschine. Die Frage ist, was ist Science und was Science-Fiction. Denn wissenschaftlich betrachtet ist das längst nicht so einfach, wie es häufig dargestellt wird. In der Praxis ist es schon eine Herausforderung, überhaupt ein Signal aus dem Gehirn zu detektieren. Und eine noch größere, wenn man diese in Echtzeit als Steuersignal gebrauchen möchte, zum Beispiel, um einen Rollstuhl zu lenken. Woran liegt das? Die Messgrößen der Signale sind sehr klein, es gibt Rauschsignale in der Umgebung, und die eigene Muskelaktivität wirkt störend auf die Messungen. Es ist also schwierig, direkt zu unterscheiden, ob es sich um eine bestimmte elektrische Aktivität des Gehirns handelt oder nur um Netzbrummen oder unbeabsichtigte Muskelaktivität, entstanden durchs Anspannen der Gesichtsmuskulatur. Der Kopf hat keinen USB-Anschluss. Wie verbindet man das Gehirn mit einem Computer? Wenn wir über Brain-Computer-Interfaces (BCI) sprechen, also Gehirn-Computer-Schnittstellen, dann gibt es zwei Methoden, eine invasive und eine nichtinvasive. Die nichtinvasive ist eine, die wir häufig auf Abbildungen sehen: Da haben Menschen etwas auf dem Kopf, das aussieht wie eine Badekappe, an der Kabel dranhängen. Das ist eine Kappe mit Elektroden für das Elektro-Enzephalogramm, kurz EEG. Der Vorteil ist, dass man es einfach und schnell anbringen kann. Der Nachteil ist die Signalqualität, weil man nicht direkt an den Gehirnzellen, sondern etwas weiter weg vom Gehirn misst. Bei der invasiven Methode werden Elektroden ins Gehirn eingesetzt, die Messungen werden damit genauer. Aber dafür braucht es eine Operation. Beide Methoden werden gerade vor allem im medizinischen Bereich erforscht, etwa bei Pa­ti­en­t:in­nen mit Schlaganfall. Welches Potenzial sehen Sie da? Aktuell sehen wir ein großes Potenzial im assistiven klinischen Bereich, zum Beispiel bei komplett gelähmten Pa­ti­en­t:in­nen. Mit einer Gehirn-Computer-Schnittstelle können sie mittels der Gehirnsignale kommunizieren, indem sie einen Cursor über ein Alphabet bewegen. Menschen, denen zum Beispiel eine Hand fehlt, können so eine Prothese steuern. Bei Schlaganfällen, die durch den Schaden im Gehirn meistens Lähmungen und Spracheinschränkungen zur Folge haben, hilft eine Gehirn-Computer-Schnittstelle bei der Rehabilitation. Die Betroffenen lernen mit der Verbindung von Gehirn und Computer etwa, gelähmte Körperteile wieder zu bewegen. Ein weiteres Beispiel ist das Neurofeedback. Das ist eine bestimmte Form von Computer-Gehirn-Schnittstellen, bei denen man die Gehirnaktivität selbst reguliert – und damit zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis oder die Aufmerksamkeit. Wie vielen Pa­ti­en­t:in­nen kann mit dieser Technik geholfen werden? Schlaganfälle sind weltweit die drittgrößte Ursache dafür, dass Menschen mit körperlichen Einschränkungen leben. Und in einer alternden Gesellschaft, in der es zunehmend darum geht, dass Menschen lange gesund und bewegungsfähig bleiben wollen, ist die Therapie von derartigen Erkrankungen ein wichtiges Thema. Auch psychische Erkrankungen sind ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem. Das Gehirn ist die Steuerzentrale von allem, was wir wissen und können, es bestimmt, wie wir denken und unseren Körper steuern. Je besser wir es verstehen, desto größer ist die Chance, verbesserte Therapien zu entwickeln und Prävention zu betreiben und damit Menschen besser helfen zu können. Können Sie einen konkreten Fall schildern, bei dem eine Ge­h­irn­­­-­Com­puter-Schnittstel­le geholfen hat? Infografik: Grafik: Lin Nowicki, Infotext Berlin Bei uns in den Niederlanden gibt es da zum Beispiel den spektakulären Fall einer Patientin mit Amyotropher Lateralsklerose, der vor einigen Jahren sehr bekannt geworden ist. ALS ist eine unheilbare Nervenerkrankung, die nach und nach den gesamten Körper befällt und lähmt. Die Patientin wusste daher sehr genau, dass sie irgendwann nicht einmal mehr in der Lage sein wird, über Augen­bewegungen zu kom­munizieren. Sie hat sich für ein Implantat im Gehirn entschieden. Also für eine Operation. Ja, für mich als Forscherin ist es überraschend, dass Patientinnen und Patienten das Implantat in Erwägung ziehen, statt einer nichtinvasiven Methode. Aber die Betroffenen sagen häufig: Ich sitze jetzt schon im Rollstuhl, dann will ich nicht etwas, das noch mehr Aufmerksamkeit auf mich lenkt. Jedenfalls: Die Operation ist gut verlaufen. Dann ging es erst einmal ans Lernen. wie man eine Gehirn-Computer-Schnittstelle bedient und die Buchstaben mit einer Buchstabiermaschine verlässlich und schnell für eine Unterhaltung auswählt. im Interview:Stefanie Enriquez-GeppertStefanie Enriquez-Geppert ist Neuropsychologin an der Universität Groningen. Sie forscht unter anderem zu Therapien zur Verbesserung der kognitiven Leistungs­fähigkeit. Wie funktioniert dieses ­Lernen? Ganz grob gibt es ­mindestens drei Schritte: Die Patientin musste zunächst erst einmal lernen, wie sie überhaupt ein Signal auslösen kann, das der Computer dekodieren kann, also quasi versteht. In ihrem Fall ging es darum, den Motorcortex zu aktivieren. Das ist der Teil des Gehirns, der ver­antwortlich dafür ist, Bewegungen zu steuern. Sie hat das mittels eines Computerspiels getan und versucht, die gelähmte Hand zu bewegen. Allein der Versuch, die Hand zu bewegen, führt zur ­Aktivität des Motorcortex und ist besonders ­geeignet, um von einem Computer erkannt zu werden. Vom Computer müssen die gemessenen Signale in Echtzeit vorverarbeitet werden und von Störsignalen getrennt werden. Erst dann können Algorithmen ­verlässlich lernen, wie ein Signal aussieht, das vom Motorcortex generiert wurde. Die Algorithmen können dabei mittels maschinellem Lernen, also einer Form der künstlichen Intelligenz, speziell auf die Gehirnsignale der Patientin trainiert werden. Denn bei jedem Menschen sehen diese Signale etwas unterschiedlich aus. Und dann? Nachdem ein Nutzer einer Gehirn-­Computer-Schnittstelle gelernt hat, eine bestimmte Gehirnaktivität auszulösen, nachdem das Signal vorverarbeitet und vom Computer erkannt wird, geht es daran, mit den Signalen gezielt Buchstaben von einem Computerdisplay auszuwählen. Am Ende des Trainings konnte die Patientin so mit ihrer Familie kommunizieren. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Wie lange hat das Training gedauert? Bei dem beschriebenen Beispiel 167 Tage. Entsteht damit eine dauerhafte Veränderung im Gehirn? Das ist eine der großen Fragen, auf die wir noch keine abschließende Antwort haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Neuroplastizität eine große Rolle spielt, also die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern und zum Beispiel neue Synapsen zu bilden. Kollegen aus Österreich haben in einer Studie zeigen können, dass ein Neurofeedback-Training mit einer nichtinvasiven Methode nicht nur dazu führt, dass Patienten mit Multipler Sklerose eine bestimmte Gehirnaktivität besser regulieren konnten. Es minderte auch kognitive Denkprobleme. Entsprechend veränderte sich auch die Mikrostruktur der Gehirnregionen, die diesen Denkleistungen unterliegen, sie zeigten eine erhöhte Verbindung untereinander. Was ist mit Anwendungen im nichtmedizinischen Bereich, die Unternehmen wie Elon Musks Neuralink im Blick haben? Das wird auf alle Fälle kommen – die Frage ist nur, in welcher Größenordnung. Solche Entwicklungen können als irrelevant im Sande verlaufen, für Computerspiele genutzt werden oder auch in der Anwendung in bestimmten Situationen tatsächlich helfen. Wir können abseits der Medizin weitere Bereiche unterscheiden: Der eine ist das Monitoring der Gehirnaktivität, da geht es beispielsweise darum, das Ausmaß der Konzentrationsfähigkeit oder die Ermüdungszustände einer Person in einem ganz bestimmten Moment zu bestimmen. So könnte es zum Beispiel beim Autofahren hilfreich sein, festzustellen, wenn das Gehirn so erschöpft ist, dass ein Sekundenschlaf bevorsteht. Wird so etwas schon erprobt? Ja. Mit Kol­le­g:in­nen aus ­Frankreich arbeiten wir gerade in einem Projekt, in dem es darum geht, die Denkprozesse bei einer Personengruppe zu verbessern, die eigentlich schon sehr fit ist: bei Pilotinnen und Piloten. Denn obwohl diese eigentlich eine überdurchschnittlich gute kognitive Fähigkeit haben, geht sie auch bei ihnen zurück, wenn sie zu wenig ­geschlafen haben oder es Stress gibt. Wir wollen also daran ­arbeiten, dass das Gehirn auch in solchen ­Situationen leistungsfähig bleibt. Was ist mit dem Lifestyle-Bereich? Klar, ich kann mir auch vorstellen, dass es hier eine Nachfrage geben wird – zum Beispiel beim Gaming. Wenn man also für die Steuerung von Figuren in Computerspielen keinen Controller mehr braucht, sondern das direkt im Gehirn machen kann. Im Entertainmentbereich könnten Gehirn-Computer-Schnittstellen dazu genutzt werden, die Gemütsstimmung eines Anwenders zu erfassen, um passende Musikvorschläge durch Audio-Streaming-Dienste zu geben. Da gibt es ja noch mehr Szenarien: Musik nicht mehr über Boxen hören, sondern direkt im Gehirn verarbeiten. Oder Smart-Home-Geräte steuern. Aber braucht man für solche Anwendungen tatsächlich eine EEG-Kappe auf dem Kopf oder will man sich etwas ins Gehirn implantieren lassen, wenn man sich eigentlich selbstständig bewegen kann? Abgesehen von den Risiken. Zum Beispiel? Gerade bei invasiven Methoden, also bei den Implantaten, kann man die Gefahren noch nicht gut einschätzen. Zum Beispiel zu Risiken der Infektion und von Einblutungen, die durch Implantate ausgelöst werden können. Es gibt auch ungelöste Fragen zur Biokompatibilität, wie Elektroden mit dem Gehirngewebe interagieren und wie es zur pathologischen Neuroplastizität kommen kann, also möglicherweise zu Krampfanfällen. Letztendlich müssen wir uns als Gesellschaft auch Gedanken zum Datenschutz machen, etwa darüber, wie ein Implantat vor Hacking geschützt wird oder ungewollte drahtlose Hirn­datenübetragung vermieden werden kann.
Svenja Bergt
Schnittstellen zwischen Computern und Gehirnen sind möglich, aber kompliziert. Stefanie Enriquez-Geppert erklärt, wie das geht und wann es hilfreich ist.
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Kanzlerkandidatur der Grünen: Baerbock macht es - taz.de
Kanzlerkandidatur der Grünen: Baerbock macht es Annalena Baerbock wird Grüne-Kanzlerkandidatin. In ihrer Rede betont sie, wie wichtig Klimaschutz sei, und zeichnet die Grünen als Kraft für Veränderung. Jetzt noch stärker im Fokus: Annalena Baerbock kandidiert für die Grünen Foto: Kay Nietfeld/dpa BERLIN taz/dpa/afp | Keine große Überraschung, kein langes Hin und Her und vor allem kein öffentliches Streiten: Annalena Baerbock wird für die Grünen bei der Bundestagswahl 2021 am Sonntag, 26. September als Kanzlerkandidatin antreten. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Land einen Neuanfang braucht“, sagte sie, nachdem die Entscheidung verkündet wurde. Spekuliert wurde bereits seit einigen Wochen, dass Baerbock kandidieren wird. Die endgültige Entscheidung für sie fällt dann auf dem Grünen-Parteitag vom 11. bis 13. Juni, die Zustimmung für ihre Person gilt aber als sicher. Baerbock sagte in ihrer Rede nach der Verkündung der Entscheidung: „Ich trete an für Veränderung. Für den Status quo stehen andere“ – ein Verweis darauf, dass sie über keine Regierungserfahrung verfügt. Die Grünen stünden für eine Politik für die Breite der Gesellschaft. Es seien Veränderungen nötig – für ein gerechtes Land, in dem Kitas und Schulen „die schönsten Orte sind“. Pflegekräfte müssten die Zeit und die Ressourcen haben, sich um die Menschen zu kümmern. Es gehe um einen Staat, der digital funktioniere und seinen Bür­ge­r:in­nen diene, um eine wehrhafte Demokratie im Herzen Europas. Es gehe um einen Klimaschutz, der auch Pend­le­r:in­nen auf dem Land, Alleinerziehende mit geringem Einkommen und In­dus­trie­ar­bei­te­r:in­nen mitnehme. „Klimaschutz ist die Aufgabe unserer Zeit, die Aufgabe meiner Generation“, sagte Baerbock weiter. Habeck kündigt Unterstützung an Co-Parteichef Robert Habeck sagte: „Wir beide wollten es, aber am Ende kann es nur eine machen.“ Er selbst wolle sich aber gleichfalls in den Wahlkampf werfen. Die Gemeinsamkeit habe die Grünen so erfolgreich gemacht. „In dieser Situation führt der gemeinsame Erfolg dazu, dass einer einen Schritt zurücktreten muss.“ Habeck beschrieb Baerbock als „kämpferische, fokussierte, willensstarke Frau“, die genau wisse, was sie wolle. Die Grünen haben sich angesichts der seit 2018 hohen Umfragewerte erstmals für eine Kanz­le­r*in­nen­kan­di­da­tur entschieden. Derzeit sind sie mit mehr als 20 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der CDU/CSU und vor der SPD. Anders als bei CDU und CSU hat es bei den Grünen keine größeren öffentlichen Diskussionen über die Kan­di­da­t*in­nen­kür gegeben. In Umfragen lag die 40-jährige Baerbock bei den Sympathiewerten in der Bevölkerung bisher hinter dem 51-jährigen Habeck, sie hat in den vergangenen Monaten aber aufgeholt. Habeck hat als Agrarminister und Vize-Ministerpräsident schon Regierungserfahrung in Schleswig-Holstein gesammelt. Das hat Baerbock nicht, sie gilt dafür als inhaltlich stärker. Regelmäßig hat sie sich in den letzten Wochen in politischen Talkshows positioniert und sich schlagfertig gezeigt. Baerbock ist bei der 20. Bundestagswahl seit 1949 erst die zweite Frau nach Angela Merkel, die sich für das höchste Regierungsamt bewirbt. Dieser Aspekt spielte in der öffentlichen Debatte von Seiten des Grünen-Führungsduos eine untergeordnete Rolle. Nur einmal sagte Robert Habeck in der Talkshow Anne Will am 14. März: „Wenn Annalena Baerbock als Frau sagen würde, ich mache es, weil ich eine Frau bin. Und die Frauen haben das erste Zugriffsrecht, dann hat sie's. Natürlich.“ Die SPD zieht mit Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz in die Wahl am 26. September, bei der Union streiten sich noch die Vorsitzenden von CDU und CSU: Armin Laschet und Markus Söder. Baerbock und Habeck waren am Samstag von ihren Heimatverbänden für die Bundestagswahl nominiert worden. Die Brandenburger Grünen machten Baerbock mit 106 von 109 Delegiertenstimmen auf einem Landesparteitag zu ihrer Spitzenkandidatin. Robert Habeck wurde von den Kreisverbänden Flensburg und Schleswig-Flensburg im Norden Schleswig-Holsteins mit 72 von 73 Stimmen als Direktkandidat nominiert. Auf der Landesliste tritt er auf Platz 2 an. Die Grünen waren nur einmal auf Bundesebene an der Macht: Zwischen 1998 und 2005 als Juniorpartner in einer rot-grünen Koalition unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner hat nun als Wahlziel ausgegeben, dass die Grünen das Kanzleramt erobern. „Wir wollen das Land in die Zukunft führen. Darum kämpfen wir für das historisch beste grüne Ergebnis aller Zeiten und die Führung der nächsten Bundesregierung.“ Ihr bisher bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielten die Grünen 2009 mit 10,7 Prozent, bei der letzten Wahl 2017 kamen sie nur auf 8,9 Prozent.
taz. die tageszeitung
Annalena Baerbock wird Grüne-Kanzlerkandidatin. In ihrer Rede betont sie, wie wichtig Klimaschutz sei, und zeichnet die Grünen als Kraft für Veränderung.
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Obama und Hollande kommen: Klimagipfel ohne Merkel - taz.de
Obama und Hollande kommen: Klimagipfel ohne Merkel Gerne lässt sie sich als Klimakanzlerin feiern, doch eine Einladung des UN-Generalsekretärs schlägt die deutsche Regierungschefin aus. Klimakanzlerin? Proteste in Berlin 2009. Bild: reuters BERLIN taz | Angela Merkel wird im September nicht zum Klimagipfel nach New York reisen. Das bestätigte der taz ein Regierungssprecher. Eingeladen hat UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon Staats- und Regierungschefs der ganzen Welt. Er verknüpfte dies mit der Aufforderung, „mit Ehrgeiz und Verantwortung“ teilzunehmen. Andere Staatschefs werden, so heißt es aus Ban Ki-Moons Umfeld, der Einladung folgen. So wird US-Präsident Barack Obama zu dem Treffen erwartet. Frankreichs Präsident Francois Hollande auch. Obama und Hollande hatten im Februar in einem gemeinsamen Artikel, der in Washington Post und Le Monde erschienen ist, Unterstützung für ein „ehrgeiziges globales Abkommen“ mit „konkreten Maßnahmen“ zur Treibhausgasreduzierung gefordert. Der Klimagipfel im September, so schrieben die beiden, „gibt uns die Möglichkeit, unsere Ambitionen für die Klimakonferenz in Paris zu beteuern.“ Der Ban-Ki-Moon-Gipfel gilt als wichtiger Meilenstein für einen neuen UN-Klimavertrag, der im nächsten Jahr in Paris verabschiedet werden soll. Dieser soll ab dem Jahr 2020 gelten und das sogenannte Kyoto-Protokoll ablösen. Mit diesem hatten sich Industrieländer verpflichtet, ihre Co2-Emissionen zu mindern. Zuletzt gehörten dazu allerdings nur noch Europa und wenige andere Länder. Kanada ist beispielsweise ausgestiegen. Japan und Russland beteiligten sich auch nicht mehr. UN-Generalsekretär hofft auf "kräftige Zusagen" Geht es nach Ban Ki Moon, soll der Gipfel in New York ein „Katalysator“ für Klimaschutzmaßnahmen sein. Die Länder sollen Zahlen auf den Tisch legen und „kräftige Zusagen“ machen, die Treibhausgasemissionen zu mindern. In den Verhandlungen für eine neues Klimaregime sollen auch Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien oder Südafrika bewegt werden, erstmals verbindlich den Anstieg ihrer Treibhausgasemissionen zu bremsen. „Die Bundeskanzlerin begrüßt das große persönliche Engagement des VN-Generalsekretärs und und hat ihre volle politische Unterstützung versichert“, erklärte der Sprecher. Merkel, die sich auch gerne mal als Klimakanzlerin feiern läßt, sei „eine Teilnahme aus terminlichen Gründen nicht möglich“. Deutschland werde aber „hochrangig“ vertreten sein. Wer von der Bundesregierung komme, werde „rechtzeitig“ bekannt gegeben. Der Sprecher versuchte den Eindruck zu zerstreuen, Klimaschutz sei Merkel nicht wichtig: „Eine ambitionierte internationale Klimapolitik ist eine politische Priorität der Bundesregierung, für die sich die Bundeskanzlerin auch persönlich engagiert.“ Das zeige sich auch daran, dass sie den jährlichen Petersberger Klimadialog ins Leben gerufen habe. Das Treffen finde dieses Jahr im Juli in Berlin statt, 35 Minister und hochrangige politische Vertreter seien geladen. Die Kanzlerin werde kommen.
Hanna Gersmann
Gerne lässt sie sich als Klimakanzlerin feiern, doch eine Einladung des UN-Generalsekretärs schlägt die deutsche Regierungschefin aus.
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Tarifverhandlungen im öffentlichen Nahverkehr: Gesprächsstau bei der BVG - taz.de
Tarifverhandlungen im öffentlichen Nahverkehr: Gesprächsstau bei der BVG Im Tarifstreit bei den Verkehrsbetrieben vertagen die Gewerkschaft Ver.di und die Arbeitgeber ihre Gespräche. Ein Streik ist damit für die nächsten Tage vom Tisch Im Tarifstreit bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) gibt es weiter keine Einigung. Die Gespräche zwischen der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und dem Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) wurden am Mittwoch nach fünf Stunden vertagt. Am Donnerstag kommender Woche wollen sich die Tarifparteien erneut zusammensetzen. Ein neuer BVG-Streik vor diesem Termin ist deshalb unwahrscheinlich. Die große Tarifkommission von Ver.di will an diesem Donnerstag über das weitere Vorgehen entscheiden. An den Sondierungsgesprächen in der BVG-Zentrale haben Vertreter von Ver.di, der KAV und der BVG teilgenommen. "Die Gespräche waren konstruktiv, aber schwierig", berichtete KAV-Sprecherin Mona Finder. Es seien verschiedene Modelle von Lohnerhöhungen diskutiert und durchgerechnet worden. Diese werde die Arbeitgeberseite nun prüfen. Über die Ergebnisse der Gespräche sei jedoch von beiden Seiten Stillschweigen vereinbart worden. Finder wertete es als "positives Zeichen", dass die Gespräche am 3. April fortgesetzt werden sollen. Für Ver.di wird eine Einigung immer notwendiger. Vor Ostern hatte die Gewerkschaft den seit zehn Tagen laufenden Streik unterbrochen, obwohl kein neues Angebot der Arbeitgeberseite vorlag. "Wir sind verhalten optimistisch und hoffen auf eine baldige Einigung", sagte Ver.di- Sprecher Andreas Splanemann nach den Gesprächen am Mittwoch. Von einer Lösung sei man jedoch noch weit entfernt. Ziel der Gespräche zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern ist es, eine Basis für neue Tarifverhandlungen zu schaffen. Bisher hat die Arbeitgeberseite 20 Millionen Euro über einen Zeitraum von zwei Jahren für Gehaltserhöhungen angeboten. Von dem Angebot sollten aber lediglich die nach 2005 eingestellten Beschäftigten profitieren. Diese verdienen deutlich weniger als die Altbeschäftigten. Ver.di fordert zwischen 3 und 9 Prozent mehr Lohn für alle BVG-Beschäftigten und die Beschäftigten der Tochter Berlin Transport. Die Maximalforderungen entsprechen rund 38,5 Millionen Euro für zwei Jahre. Derzeit wollen beide Seiten offenbar auch abwarten, bis in der Schlichtung über die Tarife im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ein Ergebnis vorliegt. Diese Gespräche finden am kommenden Wochenende statt.
Lisa Thormählen
Im Tarifstreit bei den Verkehrsbetrieben vertagen die Gewerkschaft Ver.di und die Arbeitgeber ihre Gespräche. Ein Streik ist damit für die nächsten Tage vom Tisch
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Jahrestag Völkermord in Ruanda: Kabuga-Prozess rückt in weite Ferne - taz.de
Jahrestag Völkermord in Ruanda: Kabuga-Prozess rückt in weite Ferne Der langersehnte Prozess gegen Ruandas „Finanzier des Völkermordes“ droht zu scheitern. Grund sind Kabugas Gesundheitszustand – und Corona. Gerichtszeichnung von Félicien Kabuga (Mai 2020 vor dem Pariser Berufungsgericht) Foto: Benoit Peyrucq/afp/dpa BRÜSSEL taz | Félicien Kabuga ist der prominenteste Untersuchungshäftling, der noch auf seinen Prozess wegen Völkermordes in Ruanda wartet. Der „Finanzier des Genozids“ war vor dem Massenmord an bis zu einer Million Tutsi in Ruanda 1994 reicher Geschäftsmann und Schwager des damaligen Präsidenten Juvénal Habya­ri­ma­na. Er leitete den Hetzradiosender „Mille Collines“ als Vorstandsvorsitzender und war während des Völkermordes Präsident des „Nationalen Verteidigungsfonds“ zur finanziellen und logistischen Unterstützung der Interahamwe-Milizen. Erst im Mai 2020 wurde er nach 22 Jahren auf der Flucht gefasst – in Frankreich, wo er unbehelligt gelebt hatte. Am 26. Oktober 2020 wurde er in das UN-Untersuchungsgefängnis in Den Haag überstellt, um nach Arusha in Tansania gebracht werden zu können, wo der „Residualmechanismus“ des 2015 beendeten UN-Ruanda-Völkermordtribunals residiert, um ausstehende Fälle abzuarbeiten. Doch es wird immer unklarer, wann der mutmaßlich 86-Jährige je vor Gericht kommt. Der belgische Chefankläger des UN-Residualmechanismus, Serge Brammertz, erklärte am 15. März, es könne noch viele Monate dauern. Die Covid-19-Pandemie erschwert nicht nur Kabugas Überstellung nach Tansania, sondern auch die Vorbereitung des Prozesses: Jede Befragung möglicher Zeugen, sei es in Frankreich, Belgien oder Ruanda, unterliegt Reisebeschränkungen und Quarantänemaßnahmen. Um in Ruanda die pandemiebedingt abgeriegelte Hauptstadt Kigali zu verlassen oder Gefängnisse zu besuchen, brauchen Brammertz’ Ermittler Sondergenehmigungen. Schlechter Gesundheitszustand Bis zum 15. September soll Brammertz einen Zwischenstand abliefern. Aber er schließt nicht aus, dass die Richter den Beginn der Hauptverhandlung bis 2022 hinausschieben. Erschwerend kommt hinzu, dass zahlreiche relevante Dokumente mehr als zwei Jahrzehnte alt sind: Der erste UN-Haftbefehl gegen Kabuga datiert aus dem Jahr 1998. Viele Zeugen aus der Zeit müssten erst noch wiedergefunden werden. Auch der Zeugenschutz bleibt virulent, obwohl der Völkermord schon 27 Jahre her ist. Kabugas französisches Pflicht­ver­tei­di­gerteam wird von Emmanuel Altit geleitet, der gerade erst den Freispruch des ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste, Laurent Gbagbo, vor dem Internationalen Strafgerichtshof erstritten hat. Altit hat nun den Residualmechanismus aufgefordert, ihm sämtliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die auch den Anklägern vorliegen, auch vertrauliche Beweismittel. Dies sei für die „Waffengleichheit“ notwendig, schrieb er. Verwirrend ist, dass Kabuga und Altit sich zerstritten haben. Altit hat seine Entpflichtung beantragt mit der Begründung, er wolle keine Anweisungen von Kabugas Familienangehörigen annehmen oder diesen Akteneinsicht gewähren, wie Kabuga es gefordert habe – das verstoße gegen die anwaltliche Schweigepflicht. Die Richter des Residualmechanismus lehnten am 1. April die Entpflichtung ab. Letztendlich stellt sich aber die Frage, ob Kabuga sich je vor Gericht verantworten wird. Schon vor seiner Überstellung nach Den Haag hatten die Anwälte des damals 85-Jährigen seinen schlechten Gesundheitszustand geltend gemacht. Sollte die Kammer in Arusha einen Termin zur Eröffnung der Hauptverhandlung festsetzen, könnte die Verteidigung mangelnde Verhandlungsfähigkeit geltend machen und medizinische Gutachten anfordern – und damit alles immer weiter verzögern.
François Misser
Der langersehnte Prozess gegen Ruandas „Finanzier des Völkermordes“ droht zu scheitern. Grund sind Kabugas Gesundheitszustand – und Corona.
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Flüchtlinge im Mittelmeer: „Mare Nostrum“ ist Geschichte - taz.de
Flüchtlinge im Mittelmeer: „Mare Nostrum“ ist Geschichte Sie retteten Flüchtlinge aus Seenot: Die italienische Regierung stellt die Marineoperation „Mare Nostrum“ ein. Daran gibt es Kritik von Hilfsorganisationen. Angehörige der Opfer der Lampedusa-Katastrophe trauern ein Jahr danach, am 3. Oktober 2014. Bild: dpa ROM/BRÜSSEL/VATIKANSTADT dpa/kna | Hilfsorganisationen kritisieren die Pläne Italiens, den „Mare Nostrum“-Einsatz von Marine und Küstenwache zur Rettung von Bootsflüchtlingen einzustellen. Die tragischen Schiffbrüche mit mehr als 3.000 Toten seit Jahresbeginn zeigten, wie nötig eine Fortsetzung sei, heißt es in einer am Freitag veröffentlichten Anzeige der italienischen Vertretungen unter anderem von Amnesty International und Ärzte ohne Grenzen in der Tagezeitung La Repubblica. Innenminister Angelino Alfano wollte am Nachmittag gemeinsam mit Verteidigungsministerin Roberta Pinotti Einzelheiten zum weiteren Vorgehen erläutern. Nach dem Ende von „Mare Nostrum“ will die EU ab diesem Samstag mit dem Programm „Triton“ die Lücke füllen. Unter dem Dach der EU-Grenzschutzagentur Frontex soll „Triton“ Italien bei der Sicherung der Seegrenzen und der Rettung von Bootsflüchtlingen unterstützen. Allerdings kritisieren Flüchtlingsorganisationen, das Frontex-Mandat liege nur auf der Grenzschutzsicherung und nicht darauf, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Das Einsatzgebiet auf dem Meer für die Rettung sei zudem viel zu klein, auch reichten die finanziellen Mittel hinten und vorne nicht. Auch der päpstliche Migrantenrat blickt mit Sorge auf das geplante Ende der Operation „Mare Nostrum“. „Triton“ sei dafür kein Ersatz, sagte der Präsident des Rates, Kardinal Antonio Maria Veglio, am Freitag Radio Vatikan. Erinnerung an Lampedusa Veglio erinnerte an die Flüchtlingskatastrophe, bei der vor einem Jahr rund 390 Menschen ertranken, als ihr Boot vor der Mittelmeerinsel Lampedusa kenterte. Danach hatte die italienische Marine „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen, bei der seither 150.000 Menschen gerettet wurden. Die häufige Kritik, dadurch werde der Flüchtlingsstrom nur noch mehr angeheizt, nannte Veglio „bösartig“ und „gefühllos“. Die meisten der Menschen wollten großen Gefahren in ihren Heimatstaaten entkommen, „und die Liste dieser Länder hat ja kein Ende“. Der Kardinal kritisierte auch den Umgang Libyens mit den Flüchtlingen, die dort in Lagern mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen eingepfercht würden. Die Europäer könnten nicht einfach sagen: „Was geht mich das an?“.
taz. die tageszeitung
Sie retteten Flüchtlinge aus Seenot: Die italienische Regierung stellt die Marineoperation „Mare Nostrum“ ein. Daran gibt es Kritik von Hilfsorganisationen.
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Unwetter in Kalifornien: Biden erklärt Katastrophenzustand - taz.de
Unwetter in Kalifornien: Biden erklärt Katastrophenzustand Nach einer Reihe heftiger Stürme hat US-Präsident Biden im Bundesstaat Kalifornien den Katastrophenzustand ausgerufen. 16.000 Haushalte sind aktuell ohne Strom. Kalifornien am Samstag: Wassermassen im Los Angeles River Foto: dpa LOS ANGELES afp | Nach dem jüngsten in einer Reihe von heftigen Stürmen mit starken Regenfällen in Kalifornien hat US-Präsident Joe Biden den Katastrophenzustand für den US-Bundesstaat ausgerufen. Biden habe am späten Samstagabend (Ortszeit) zudem die Bewilligung von Bundesmitteln angeordnet, um die Hilfsarbeiten vor Ort zu unterstützen, erklärte das Weiße Haus. In den vergangenen drei Wochen kamen in Kalifornien mindestens 19 Menschen infolge der Stürme ums Leben. In dem seit Ende Dezember schwer geplagten Westküsten-Bundesstaat kam es in er Nacht zu Sonntag erneut zu Überschwemmungen. Felder und Straßen standen vielerorts unter Wasser, Stromleitungen waren beschädigt. Gegen Mitternacht (Ortszeit, 9 Uhr MEZ) hatten rund 16.000 Haushalte nach Angaben der Website poweroutage.us keinen Strom. „Wir sind noch nicht fertig“, warnte der Gouverneur des US-Bundesstaates, Gavin Newsom, am Samstag nach einem Besuch bei Betroffenen. Er mahnte an, „wachsam“ zu bleiben. Die Erklärung des Katastrophenzustands in Kalifornien macht Bundesmittel für die Hilfe betroffener Menschen frei, etwa für vorübergehende Unterkunft und Reparaturen. 26 Millionen Menschen betroffen Es wurde erwartet, dass die herrschende Wetterlage schweren Regen sowie starken Wind und in den Bergen Schnee bringen würde. Für Montag wird laut Nationalem Wetterdienst (NWS) weiter feuchtes Wetter vom Pazifik her erwartet. Der NWS sagte „katastrophale Überschwemmungen“ für das Salinastal südlich von San Francisco voraus. Der Fluss Salinas trat nach Beobachtung eines Journalisten der Nachrichtenagentur AFP bereits vielerorts über die Ufer und überschwemmte Felder. In den Bergen führten die Niederschläge zu starken Schneefällen. Die Behörden warnten vor Lawinengefahr. Fast 26 Millionen Kalifornier waren am Samstagabend nach Angaben des US-Wetterdienstes NWS weiterhin von Hochwasserwarnungen betroffen. Zehntausende Menschen waren zur Evakuierung ihres Zuhauses aufgerufen. Das von den Folgen einer jahrzehntelangen Dürre betroffene Kalifornien leidet seit Wochen unter Winterstürmen mit so heftigen Regen- und Schneefällen, wie es sie in einigen Gebieten seit 150 Jahren nicht mehr gegeben hat.
taz. die tageszeitung
Nach einer Reihe heftiger Stürme hat US-Präsident Biden im Bundesstaat Kalifornien den Katastrophenzustand ausgerufen. 16.000 Haushalte sind aktuell ohne Strom.
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Olympiaproteste in Paris: Citius, altius, fort damit! - taz.de
Olympiaproteste in Paris: Citius, altius, fort damit! Gegen die Sommerspiele 2024 in Paris gab es von Anfang an Widerstand. Nun wird auch der Streit um die französische Rentenreform sportpolitisch. Olympische Ringe vor dem Pariser Eiffelturm Foto: Ricardo Milani/imago Noch sind es 462 Tage bis zu den Olympischen Sommerspielen in Paris. Die Arbeiter am Fließband des sozialen Netzes „The Olympic Games“ dachten wohl, es wäre eine gute Idee, wenn sie auf dem Twitter-Kanal folgendes fragten: „Auf welchen Athleten bei @Paris2024 freut ihr euch am meisten?“ Der Kanal hat 15,8 Millionen Follower, doch die Antworten fielen nicht so aus, wie sich das die Promotoren Olympias erwartet hatten, denn der Tweet wurde förmlich von Trollen gekapert, wobei das Wörtchen Troll etwas despektierlich daherkommt. Man könnte auch sagen: Die Leute in Paris, ja in ganz Frankreich konnten mit der Frage nichts anfangen, weil sie grade anderes im Sinn haben als Unterhaltung und Sport. In Frankreich revoltiert das Volk gegen eine als ungerecht empfundene Rentenreform. Es gärt und brodelt. Und manchmal brennt es auch in den Straßen. Weil Bilder die stärkste Botschaft vermitteln, wurde zuerst ein Vermummter gepostet, der eine Tränengaskartusche mit einem Tennisschläger mutmaßlich in die Reihen der Polizei zurückschießt. Dann surfte ein nackter Mann über eine Menschenmenge, auch dies ein Akt der Insubordination, der die heile Welt der Ringe-Bewegung konterkarieren soll. In Plakat-Adaptionen der Paris-Spiele springen Hürdenläufer einmal über einen großen Müllhaufen, und ein andermal ist eine apokalyptische Szene mit brennenden Barrikaden zu sehen. Untermalt wird das mit dem Hashtag PasDeRetraitPasDeJO: kein Rückzug, keine Olympischen Spiele. Beliebt als Antwort auf den Tweet ist auch ein Video, das den ehemaligen Boxer Christophe Dettinger zeigt, wie er vor einigen Jahren Polizisten in voller Montur mit bloßen Fäusten bekämpfte. Dettinger wurde zu einem kleinen Helden der Gelbwesten-Bewegung. Angeklagt und verurteilt wurde der ehemalige französische Meister trotzdem. Kurzum: Der zivile Ungehorsam steht einem naiven Eventismus entgegen. Die im Grunde treudoofe Frage der Olympiafuzzis wird nach allen Regeln der Trollkunst auseinandergenommen. Die Basis hat offensichtlich die Lust an den Olympischen Spielen verloren. Das wurde von der Obrigkeit feinsinnig registriert, von Organisatoren, die Angst haben dürften vor einer Politisierung der Spiele. Im Sportministerium sprach man daher auch von einem „schwachen Signal“, das aktuell durch die Netze wabere. Vorsichtshalber erinnerte die französische Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra, eine ehemalige Tennisspielerin, daran, dass es die Spiele der Franzosen und der Sportler seien, „auf keinen Fall die Spiele des Staates oder der Regierung“. Die Gewerkschaften Confédération Générale du Travail (CGT) oder Fédération Syndicale Unitaire (FSU) hätten freilich nichts dagegen, wenn sich der Protest gegen die Rentenreform mit einem Widerstand gegen die Olympiaschen Spiele amalgamiert. So bekämen die Demos womöglich neuen Zulauf und eine neue Stoßrichtung. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, möchte denn auch nicht, dass die Spiele „als Geisel“ genommen werden. Die Pariser sollten mal schön runterkommen, als Nation zusammenstehen und das Sportfest als Sportfest begreifen. Es ist aber auch ein Kreuz mit dem Pöbel: Warum kann er sich nicht einfach freuen auf Fechter, Breakdancer oder Leichtathletinnen? Ihm wird die Rente gekürzt, er kämpft gegen Inflation? Oh mon Dieu, labe er sich am Wettstreit der Jugend der Welt. Et arrêtez maintenant!
Markus Völker
Gegen die Sommerspiele 2024 in Paris gab es von Anfang an Widerstand. Nun wird auch der Streit um die französische Rentenreform sportpolitisch.
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Buslinie M29: Geliebt und gehasst - taz.de
Buslinie M29: Geliebt und gehasst Der M29 polarisiert. Für viele Berliner von Roseneck bis Hermannplatz ist er ein tägliches Ärgernis, etwa wegen der auf dieser Linie erfundenen Busraupe. Er kommt tatsächlich Foto: Imago/Stefan Zeitz Der M29er ist eine Buslinie der Gegensätze. Wer die knapp 16 Kilometer lange Strecke von Anfang bis Ende fährt, vom Hermannplatz bis Roseneck oder umgekehrt, sieht viele Gesichter dieser Stadt. Görli und Ku’damm, Omis mit Rollator und Eltern mit Kinderwagen, Anwälte und Arbeitslose, Secondhandshops und Kadewe, Dreadlocks und Fönfrisuren, schicke Villen und schmuddelige Altbauten. Auch der M29er selbst polarisiert: Viele lieben ihn. Und viele hassen ihn. Rund 60.000 Fahrgäste sind laut BVG täglich in den gelben Doppeldeckern zwischen Kreuzberg und Schmargendorf unterwegs. Im Laufe eines Tages lenken insgesamt 71 FahrerInnen die Busse durch die Stadt. Ton Steine Scherben setzten der Linie ein akustisches Denkmal: „Mensch Meier kam sich vor wie ’ne Ölsardine. / Irgendjemand stand auf seinem rechten großen Zeh. / Das passierte ihm auch noch in aller Herrgottsfrühe / im 29er kurz vor Halensee …“ Dafür muss man wissen: Erst seit 2004 trägt der 29er das M im Namen – für Metrobus. Eingeführt wurde die Linie 29 bereits 1954, als Ersatz für die zuvor eingestellte Straßenbahn über den Kurfürstendamm. Zunächst war der 29er nur zwischen Roseneck und Anhalter Bahnhof unterwegs, später verlängerte man die Strecke bis zum Oranien- und dann bis zum Hermannplatz. Laut BVG sind tagsüber 23 Busse gleichzeitig auf der Linie unterwegs. Und weil der Verkehr mal besser, mal schlechter fließt, weil vor allem in Kreuzberg gerne mal Lieferwagen in der zweiten Reihe parken, kommt es zu Verspätungen – und damit zur „Pulkbildung“, wie die BVG mehrere direkt hintereinander fahrende Doppeldecker nennt. Ein aus Fahrgastsicht ärgerliches Phänomen: Erst kommt lange kein Bus. Und dann gleich drei auf einmal: die Busraupe. Die BVG erklärt das folgendermaßen: Wenn ein Bus Verspätung hat, warten mehr Menschen an der Haltestelle. Der Ein- und Ausstieg dauert bei vielen Fahrgästen länger. Also warten noch mehr Leute an der nächsten Haltestelle, es dauert noch länger, bis sie ein- und ausgestiegen sind. Verspätung führt also zu mehr Verspätung. Manchmal überholen leere Busse volle Busse. Manchmal wende ein Bus, der hinter einem anderen fahre, auch frühzeitig, so BVG-Sprecher Markus Falkner. Das geht aber nur, wenn keine Fahrgäste mehr an Bord sind. Falkner sagt: „Für die Leitstelle ist die Pulkbildung schwer bis gar nicht zu lösen.“ Kaum zu glauben: Die Pünktlichkeit der Linie lag laut BVG 2016 trotzdem bei 85 Prozent – und damit nur leicht unter dem Durchschnitt aller BVG-Busse. (Antje Lang-Lendorff) Nie ohne einen Coffee to go Am Hermannplatz geht es los morgens, der Bus ist noch leer, der Fahrer entspannt, weil er gerade Kaffee trinken durfte und rauchen. „Einmal AB bitte“, mit der rechten Hand das Wechselgeld und das Thermopapier-Ticket eingesackt, mit der linken den Coffee to go vom Café Süß balancierend, unter den linken Arm noch einen aufgebackenen Teigling geklemmt, geht es die Treppe hinauf zur Bus-Beletage. Der Platz, mein Platz, ist wie fast immer frei. Es ist der Platz direkt rechts von der Treppe, er hat etwas mehr Beinfreiheit als der Sitz am Notausgang im Flugzeug. Der Clou an diesem M29-Ritual ist, dass es so verlässlich ist wie der Wachwechsel am Buckingham-Palace, bis ins Detail: Im Oberdeck angelangt, drehe ich mich halb um die eigene Achse. Und genau in dem Moment, in dem ich mich vorsichtig setzen möchte, gibt der Fahrer Gas und ich werde mit einem Ruck so in das hässlich gemusterte Fauteuil geschleudert, dass der Kaffee ein wenig überschwappt. Solange das klappt, ist es egal, ob der Bus pünktlich kommt. (Martin Reichert) Drama an jeder Haltestelle Früher, als es noch der 129er war, fuhr ich den Bus M29 sogar aus Spaß: vorn oben im Doppeldecker von Kreuzberg zum Ku’damm – herrlich. Heute hasse ich diese Linie. Der Grund: Nie weiß man, wann der Bus kommt, weil er irgendwo feststeckt, etwa in der Oranienstraße. Und wenn er kommt, weiß man nie, wann er wirklich ankommt. Den Bus plagt zudem eine ausgesprochene Wetterfühligkeit: Bei Regen oder Schnee ist er häufig überfüllt, weil viele Radler, die ihm sonst im Weg sind, mitfahren wollen – und dann noch meckern, dass es voll ist. Du stehst nicht im überfüllten Bus, du bist der überfüllte Bus, denke ich dann. Das Schlimmste aber ist die Fehlkonstruktion der Bustüren: Steht nur ein Mensch im unsichtbaren Sicherheitsbereich der Tür, kann diese nicht schließen und der Bus fährt minutenlang nicht los – ein Drama, das sich an jeder Haltestelle wiederholt. Warum baut die BVG nicht Busse, deren Türen prompt schließen wie in U- und Straßenbahnen? (Richard Rother) Immer, immer und immer wieder M29, ick hasse dir. Du bist schuld, dass ich ungefähr alle zwei Wochen eine SMS an meinen Chef schicken muss: „Bin leider zu spät, Bus kommt seit 20 Minuten nicht …“ Ist schon ein Runninggag unter KollegInnen: „Na, warum so abgehetzt? Mal wieder mit dem Bus gefahren?“ Selbst schuld, höre ich im Subtext, warum fährst du auch nicht, wie jedeR anständige GroßstädterIn, selbst bei Regen, Sturm und Hagel mit dem Rad. Nun habe ich selbstredend vollstes Verständnis dafür, dass man im großstädtischen Verkehr mal zu spät kommen kann. Aber: Ich steige morgens an der Haltestelle Pannierstraße ein, das ist exakt zwei Stationen nach der Endhaltestelle Hermannplatz. Liebe BVG, wie kann es sein, dass ein Bus bereits zwei Haltestellen nach Beginn der Fahrt 15 Minuten Verspätung hat??? Zumal am Herrmannplatz in der Regel zwei, drei Busse rumstehen. Noch schlimmer ist die Rückfahrt am Nachmittag oder Abend: Immer, immer, immer fährt einem der Bus vor der Nase weg! Halb so wild, sagen Sie, in fünf Minuten kommt doch der nächste? Pustekuchen. Immer, immer, immer wartet man an der Charlottenstraße, der zugigsten Haltestelle der Welt (muss am GSG-Hochhaus liegen), garantiert 10 bis 15 Minuten – und dann kommen gleich drei Busse!!! Hektisch versuchen sich 100 durchgefrorene Wartende in den überfüllten Doppelstöcker zu quetschen, der schlecht gelaunte Busfahrer ruft: „Nicht drängeln! Da kommt doch schon der Nächste!“ Wer so blöd ist, darauf zu reagieren, und sich dem zweiten Bus zuwendet, guckt in die Röhre: Der braust einfach vorbei. Panisch winkt man dem dritten Bus: Dessen Fahrer ist immerhin so gnädig anzuhalten. Puh, Glück gehabt! (Susanne Memarnia) Deniz Yücel soll wieder M29 fahren Warum dieser Bus so ein Mythos ist, habe ich nie so ganz begriffen. Die Linie 1 – klar, da gab es das berühmte Musical und die fährt so schön hoch auf Stelzen durch die Stadt wie in Chicago, und auch noch von Ost nach West. Aber der M29? Ja mei, ein stinknormaler Bus halt, stickig und so voll, dass ich ihn meistens lieber mied, als wir noch an der Strecke wohnten. Nur an Regentagen stieg ich ein – und traf fast immer einen tazler oder eine tazlerin. Am häufigsten Christian Specht und Deniz Yücel. Vielleicht ist diese Buslinie ja nur für die taz eingerichtet worden und wird deshalb von uns zum Mythos erklärt. Aber das kann auch nicht sein, denn da wäre sie ja nicht so voll. Voll mit überzeugten Busfahrern wie Deniz, der Autos, Fahrräder, Halbmarathons und andere Korsos nur im Notfall braucht. Das Einzige, was ich mir vom M29 noch wünsche, ist also, dass Deniz wieder mitfährt. (Lukas Wallraff)
taz. die tageszeitung
Der M29 polarisiert. Für viele Berliner von Roseneck bis Hermannplatz ist er ein tägliches Ärgernis, etwa wegen der auf dieser Linie erfundenen Busraupe.
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Österreich diskutiert Konsequenzen: 2019 begann mit fünf Frauenmorden - taz.de
Österreich diskutiert Konsequenzen: 2019 begann mit fünf Frauenmorden Österreich debattiert über Gründe einer Verbrechensserie. Die Regierung hat ein klares Feindbild und spricht von einem rein importierten Problem. Konnte fünf Frauen 2019 nicht mehr retten: Polizei in Österreich Foto: dpa WIEN taz | Xhemajl M. rammte am Montag seiner Frau Zhemire vor einem Supermarkt in der niederösterreichischen Stadt Tulln einen Dolch mehrmals in den Hals. Sie starb noch auf dem Parkplatz. Das war in Österreich der fünfte Mord an einer Frau in nur drei Wochen. Die meisten wurden von ihrem Partner erstochen, eine von ihrem Freund erwürgt. Diese Serie hat die Österreicher erschüttert – und führt zu scharfen Diskussionen. Die Regierung aus ÖVP und FPÖ rührt sich mit einem Maßnahmenpaket – öffentlichkeitswirksam inszeniert. Frauenministerin Juliane Bogner-Strauß, Innenstaatssekretärin Karoline Edtstadler, beide ÖVP, und die auf FPÖ-Ticket amtierende Außenministerin Karin Kneissl traten gemeinsam auf, um höhere Strafen zu fordern und einen Frauennotruf anzukündigen. Außerdem wolle man mehr Geld in Beratungsstellen, Frauenhäuser und Interventionsstellen gegen Gewalt stecken. Allein: Zuvor war in diesen Bereichen gekürzt worden. Die konservative Kolumnistin Anneliese Rohrer kritisierte, die Ankündigungen bezögen sich auf „nämlich genau jene Maßnahmen, die Mitte des Vorjahres von der Reduzierung der Mittel um 700.000 Euro, von Einstellungen und Streichungen besonders betroffen waren“. Rohrer konnte sich in ihrer Kolumne in der Tageszeitung Die Presse den Hinweis nicht verkneifen, dass die Gewaltverbrechen gegen Frauen schon im ersten Halbjahr 2018 dramatisch angestiegen seien, als Frauenorganisationen noch fröhlich die Mittel gekürzt wurden. Hoher Frauenanteil an Mordopfern Besonders gut steht Österreich jedenfalls nicht da: Nach Angaben von Eurostat kann sich das Land zwar einer insgesamt niedrigen Mordrate rühmen, doch sei der Anteil der Frauen unter den Opfern höher als in fast allen anderen EU-Ländern. Die Idee des Notrufs wurde zwar allgemein begrüßt. Doch wies die Geschäftsführerin des Vereins Wiener Frauenhäuser, Andrea Brem, darauf hin, dass seit 20 Jahren bereits eine Hotline existiere. Heinz Patzelt, Amnesty„Die Forderung nach verschärften Abschiebungen für straffällig gewordene Asylberechtigte geht am Kern des Problems vorbei und ist ein klarer Bruch mit der Verfassung“ Für die ÖVP-FPÖ-Koalition ist jedenfalls eines klar: Es handelt sich ihnen zufolge bei den Gewalttaten gegen Frauen in erster Linie um ein Ausländer-, mehr noch ein Asylwerberproblem. Bei den letzten fünf Tätern handelt sich um Zugewanderte oder Flüchtlinge. Tatsächlich standen 2018 laut Innenministerium 29 einheimischen Mördern 47 ausländische gegenüber. FPÖ-Innenminister Herbert Kickl, der für seine heftige Linie in der Migrationspolitik bekannt ist, nimmt das zum Anlass, über die Aberkennung des Asylstatus für Straftäter und deren Abschiebung auch in Kriegsländer wie Syrien nachzudenken. „Die Forderung nach verschärften Abschiebungen für straffällig gewordene Asylberechtigte geht am Kern des Problems vorbei und ist ein klarer Bruch mit der Verfassung“, erklärte Heinz Patzelt von Amnesty International Österreich. „Kein Mensch darf in ein Land abgeschoben werden, wo ihm Folter oder Todesgefahr drohen.“ Staatssekretärin Karoline Edtstadler sagte am Sonntag in der TV-Diskussionssendung „Im Zentrum“ sogar, die Gewalt gegen Frauen sei ein rein importiertes Problem. Patriarchale Strukturen, die als Ursache ausgemacht wurden, seien in Österreich längst verschwunden. Österreichische Täter hätten sich vielmehr durch muslimische Gewalttäter motivieren lassen. An dieser Sichtweise regte sich heftige Kritik: Dass es in Österreich keine patriarchalen Strukturen mehr gäbe, hielten viele BeobachterInnen in den sozialen Medien für lachhaft.
Ralf Leonhard
Österreich debattiert über Gründe einer Verbrechensserie. Die Regierung hat ein klares Feindbild und spricht von einem rein importierten Problem.
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„Abbas ist ein Pragmatiker“ - taz.de
Nahost-Konflikt „Abbas ist ein Pragmatiker“ Die „Genfer Initiative“ zu den Verhandlungen Yonatan Touval■ 40 Jahre, politischer Analyst und Unterzeichner der „Genfer Initiative“, eines Zusammenschlusses bekannter Politiker beider Seiten, der sich für eine dauerhafte Lösung des Konflikts einsetzt. taz: Herr Touval, haben Sie Hoffnung, dass die bevorstehenden Friedensverhandlungen zu einem Ergebnis führen werden? Yonathan Touval: Die Hoffnung ist, dass in dem Moment, wo die beiden Seiten anfangen miteinander zu reden, eine Dynamik entsteht, aus der sich ernsthafte Verhandlungen entwickeln. Eine Lösung kann es nur geben, wenn Verhandlungen stattfinden. Die Tatsache, dass die beiden Parteien zusammensitzen, könnte Benjamin Netanjahu zu der Einsicht bringen, dass er es bei Palästinenserpräsident Mahmud Abbas mit einem Pragmatiker zu tun hat und sich ihm hier eine historische Gelegenheit bietet. Abbas steht unter dem Druck der eigenen Öffentlichkeit. Fürchten Sie, dass die Palästinenser die Verhandlungen verlassen werden? Es darf keine öffentlichen Erklärungen über ein Ende des Baustopps geben. Man kann den Palästinensern nicht den Finger ins Auge drücken. Wir von der Genfer Initiative sind im Übrigen sehr glücklich mit dem Baustopp und würden es befürworten, wenn die Regierung damit weitermacht. Ich hoffe, dass Netanjahu einen Weg findet, den Baustopp fortzusetzen, ohne seiner Koalition zu schaden. Ist die derzeitige Koalition stark genug, um Kompromisse gegenüber den Palästinensern durchzusetzen? Die Koalition ist eine der stärksten der vergangenen Jahre. Netanjahu hat seine Regierung erfolgreich zusammenhalten können, trotz der Drohungen des ein oder anderen Partners, die Koalition zu verlassen. Rechnen Sie mit weiterem Widerstand der Hamas und neuem Terror? Es ist schrecklich und es passiert fast immer, wenn ein politischer Annäherungsprozess beginnt. Das ist der Moment, in dem die Extremisten ihr Haupt erheben und versuchen, Fortschritte zu torpedieren. Gerade deshalb gilt es, so schnell wie möglich eine Einigung zu erreichen und damit die Gegner zu demotivieren. Angenommen, es zu kommt zu einem Friedensvertrag. Wie kann dieser in die Tat umgesetzt werden, solange der Gazastreifen von der Hamas kontrolliert wird? Die meisten Punkte des Friedensvertrags betreffen ohnehin das Westjordanland. Die Umsetzung einer Einigung findet nicht über Nacht statt, man kann im Westjordanland anfangen und den Transit nach Gaza, der Teil des Vertrags sein wird, auf später verschieben. Politik ist etwas Dynamisches. In dem Moment, wo es eine Einigung zwischen Israel und den Palästinensern gibt, wird sich die ganze Welt verändern, die moderaten Stimmen werden an Popularität gewinnen und die Hamas wird nicht länger relevant sein. INTERVIEW: SK
SK
Die „Genfer Initiative“ zu den Verhandlungen
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Bilderbücher zum Frühling - taz.de
Bilderbücher zum Frühling Es ist doch erstaunlich, was sich Autoren und Verlage so alles einfallen lassen,um dem traditionellen Osterfest jedes Jahr wieder etwas Neues abzugewinnen von PETER HUTH Die Sache hat eine lange Tradition, weshalb es logisch ist, ein Osterhasenlexikon herauszugeben. Wissenschaftlich von A bis Z geordnet, wird es für Osterhasen eine große Hilfestellung sein. Wer wusste es schon: Fehlleistungen wie dauerversteckte Ostereier sind nicht länger originell. Möhrenklau bei Schneemännern ist gefährlich, und Nasenpopel sind zwar gut versteckt, werden aber niemals angemalt. Wer sein Wissen vertiefen möchte, braucht:Grosche/Geisler: „Charly Hases Osterhasenlexikon“. dtv, München, 10,50 DM, ab 8 Kunsteier Vor der Eiersuche liegt immer die Eiermalerei. Die Kindern genauso viel Freude macht. Wer jahrelang immer dasselbe gemalt hat, hat sicher Lust, einmal neue Techniken auszuprobieren, Eier mit Krepppapier oder Wellpappe zu bekleben, zu gravieren, zu wachsen, zu tauchen. Die beste Idee: zerbrochene Eierschalen nicht mehr frustriert an die Wand schmeißen, sondern wie ein Mosaik auf ein anderes Ei kleben.Ingrid Moras: „Ostereier einfach schön“. Christopherus, 9,90 DM Ei, was sprießt denn da? Eier sprießen nicht, auch nicht zu Ostern. Ist alles eine Frage der Hormone? Hormone sind frech. Sie machen aus dem Kind, was sie wollen. Das ist witzig, frech gemalt, und unkompliziert erklärt. Babette Cole: „Ei, was sprießt denn da?“ Verlag Sauerländer, 26,80 DM, ab 6 Angsthase – Hasenangst Dieses Buch besticht durch seine wundersam verträumten Bilder. Angst hat das Häschen. Es sitzt allein am Feldrand und wartet auf die schützende Dunkelheit. Je länger es wartet und sich nach Hause sehnt, desto stärker wird seine Angst. Vor lauter Lauschen und Beobachten wird es immer kleiner, die Bäume und das Feld scheinen unendlich groß. Niemals kann es das allein schaffen. Aber das muss es auch nicht.Hagen/Düzakin: „Das weite Feld“. Gerstenberg, 24,80 DM, ab 6 Wer ist wo? Um mehr als Hasen geht es im nächsten großformatigen Suchbilderbuch. Spatz Tschilp macht seinen ersten großen Ausflug. Die Tiere im Wald sitzen versteckt unter Blättern und Büschen. Mit dem Buch kann man das Sehen trainieren. Hinter den Klappen wartet die Überraschung. Obwohl man sich schon denken kann, dass der Hase im Klee hockt.Lucht: „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Ravensburger, 29,80 DM, ab 3 Gackern ist Silber,legen ist Gold Am 15. April wäre Ida Bohatta hundert Jahre alt geworden. Der Verlag ars Edition hat seine erfolgreiche Bilderbuchklassikerin mit vielen Neuauflagen gefeiert. Die Frühlings- und Ostergeschichten sind nun in einem großformatigen Bilderbuch gesammelt. Mag Bohattas Anthropomorphisierung der Natur bei Erwachsenen auch auf Ablehnung stoßen, Kinder lieben ihren naiven Stil um so mehr.„Ostern mit Ida Bohatta, ars Edition, 19,90 DM, ab 3 Es grünt so grün Eine Kindheitserinnerung aus der Zeit, als es noch kein Hinterhofbegrünungsprogramm gab. Als kleiner Junge lebte der Schriftsteller in einem großen Haus einer kleinen Stadt mit gepflastertem Innenhof. Da hallen die Stimmen der Kinder, und die Bälle knallen wie Schüsse. Da schimpfen Erwachsener und wollen die Kinder vertreiben. Der Junge bekommt ein rotes Fahrrad geschenkt und sieht sich um in der Stadt. Dabei entdeckt er einen Garten und erkennt, was seinem Hinterhof fehlt. Er bearbeitet ihn, bis es grünt und blüht. Schließlich wollen alle helfen, und niemand schimpft mehr. Dieses großformatige Bilderbuch erinnert mit zarten Farben und Strichen an vergangene, aber gerne erinnerte Kindheitstage.T. Bognacki: „Ich, mein rotes Fahrrad und mein erster Garten“. Freies Geistesleben, 28 DM, ab 5 Frühlingsgefühle Der kleine Tistou darf nicht in die Schule gehen, weil er einschläft, sobald der Lehrer redet. Der Vater beschließt, seinen Unterricht selbst zu organisieren. Sie beginnen mit Gartenkunde, weil das so gut wie Erdkunde ist und damit ein Schulfach. Und schon zeigt sich Tistous besonderes Talent. Er hat einen grünen Daumen. Jeder Same, den er berührt, beginnt sofort zu wachsen. Und schon bald erkennt er seine ungeheuren Möglichkeiten. Blumen in Kanonen verhindern einen Krieg. Blumen in Gefängnissen, Krankenhäusern, Elendsvierteln stellen die Hierarchie der Stadt auf den Kopf. Und doch ist das Buch nicht das Spätwerk eines Althippies, sondern fast fünfzig Jahre alt. Maurice Druon: „Tistou mit dem grünen Daumen“. Patmos Verlag, 19,80 DM, ab 8 Gartenlüste Jedes Kind packt irgendwann die Gartenlust, und nur wenige große Gärtner haben dann die richtigen Ideen. Üben lässt sich schon mal in kleinen Kistchen, die man mit Frischhaltefolie zu Gewächshäusern umfunktionieren kann. Das verkürzt die Wartezeit erheblich. Und lustiger wird alles, wenn man noch ein paar andere Gestaltungsmöglichkeiten dazunimmt. Aus Kräuterkistchen können Schiffchen werden. Mit schnellkeimenden Kressesamen kann man wachsende Bilder herstellen. So kommt das praktische Büchlein denn auch zu seinem Titel.Steinmeyer: „In meinem Beet wächst ein Zwerg“. Christopherus Verlag, 14,90 DM, ab 4 Für ältere Kinder ist das Ravensburger Gartenbuch gedacht. Nach Jahreszeiten geordnet findet man hier von Säen bis Ernten auch einige Ideen für Dekoration und Weiterverarbeitung. Register, Ringlochung und verstärkte Seiten machen daraus ein Arbeitsbuch für den kleinen Profi.Kinder“. Markmann: „Gartenbuch für Kinder“. Ravensburger, 24,80 DM, ab 8
PETER HUTH
Es ist doch erstaunlich, was sich Autoren und Verlage so alles einfallen lassen,um dem traditionellen Osterfest jedes Jahr wieder etwas Neues abzugewinnen
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Militäreinsatz in Mali: Richtig oder falsch? - taz.de
Militäreinsatz in Mali: Richtig oder falsch? Frankreich kämpft gegen Islamisten in Mali, Deutschland schickt als logistische Unterstützung Flugzeuge. Ein Pro & Contra zur Intervention in Mali. Nächtliche Vorbereitung: Französischer Soldat vor dem Einsatz in Mali. Bild: dpa PRO Es ist höchste Zeit gewesen, dass jemand in Mali militärisch interveniert. Das monatelange Warten unter dem Vorwand, eine politische Lösung finden zu wollen, hat die Lage im Norden nur verschlimmert. Dabei war schon Mitte 2012 absehbar, dass eine Militärintervention der einzige Ausweg aus der Krise ist. Von Anfang an gab es keinerlei Grundlage, um mit den Islamisten von Ansar Dine (Verfechter des Glaubens) zu verhandeln. Über was hätte man diskutieren wollen? Ein bisschen Scharia einführen, sodass zum Beispiel bei Diebstahl statt der ganzen Hand nur zwei Finger abgehackt werden? Oder hätte die Scharia nur in einigen der eroberten Städte zum bindenden Gesetz gemacht werden sollen? Für solche Kompromissüberlegungen gibt es keinerlei Legitimation, denn die Besetzung des Nordens ist ein absolut undemokratischer Prozess gewesen. Außerdem sind die Islamisten bei der Bevölkerung verhasst. Die große Mehrheit der Malier will, obwohl sich mehr als 90 Prozent zum Islam bekennen, die islamische Gesetzgebung nicht. Sie fühlen sich von den Islamisten unterdrückt. Daher wäre es ein völlig falsches Signal, mit den Unterdrückern am Verhandlungstisch zu sitzen. Die AutorenKatrin Gänsler ist Westafrika-Korrespondentin der taz. Sie hat Mali vielfach besucht und von dort berichtet, zuletzt mit der Reportage „Jede ist mal an der Reihe“ aus Mopti.Andreas Zumach ist UN-und Schweiz-Korrespondent der taz mit Sitz in Genf. 2009 erhielt er den Göttinger Friedenspreis. 2005 schrieb er das Buch „Die kommenden Kriege“. Das gilt auch für die beiden Terrorgruppen, die Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika (Mujao) sowie die al-Qaida im islamischen Maghreb (Aqmi). Es sind Terroristen, die Kämpfer aus den Nachbarländern, aber auch Afghanistan und Pakistan anlocken, und die sich unter anderem mit Entführungen von Europäern und einem offenbar gut strukturierten Drogenhandel in der ganzen Region finanzieren. In einem Wüstengebiet wie im Norden Malis ist es völlig aussichtslos, diese Gruppierungen anders als mit einem groß angelegten Militäreinsatz zu bekämpfen. Die Region ist dünn besiedelt und für Fremde ein sandgelber Fleck. Es gibt nicht an jeder Ecke Polizeistationen oder Kasernen mit gut ausgebildetem Personal, das etwas gegen Terroristen unternehmen könnte. Daher ist die Entscheidung Frankreichs, militärisch zu intervenieren, richtig. Natürlich heißt es nun: Die einstige Kolonialmacht spielt sich wieder auf. Aber wer hätte es sonst getan? Niemand! Auf internationaler Ebene ist monatelang ergebnislos diskutiert worden. Viele Malier hat das wütend gemacht und verletzt: „In Libyen waren alle nach kurzer Zeit da. Aber für uns interessiert sich die Welt nicht“, hat es in Mali oft geheißen. Doch auf die Stimmung und die Befindlichkeiten im Land hört in Europa natürlich niemand. Positive Nebenwirkung: Zugzwang für andere Länder Nur Frankreich hat kapiert, dass es handeln muss, und in Mali wird das überwiegend begrüßt. Damit verbunden ist eine positive Nebenwirkung: Nun sind andere Länder im Zugzwang, sich an einem Einsatz in Westafrika zu beteiligen. Mehrere Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas haben schon Soldaten geschickt. Nun sollten europäische Länder nachziehen – auch Deutschland. Der Einsatz von deutschen Soldaten gemeinsam mit anderen europäischen Streitkräften würde Mali und der gesamten Region zeigen: Wir nehmen euch und eure Sorgen und Nöte ernst! Wir reden nicht mehr nur über Demokratie, hehre Ziele und politische Prozesse. Nein, wir sind bereit, uns die Finger schmutzig zu machen und ziehen den Kopf nicht ein, wenn es konkret wird. Außerdem würde der Einsatz Vertrauen schaffen. Was nach europäischer Überheblichkeit klingt, stellt sich im afrikanischen Alltag anders dar: Deutsche Soldaten gelten als solide ausgebildet. Anders als bei den Franzosen bestehen zudem weder historische Verflechtungen noch strategische Machtspielchen. Mit diesen Vorteilen können übrigens weder die malische Armee – die vielleicht noch über 6.000 Soldaten verfügt – noch die Streitkräfte der Ecowas punkten. Alleine könnten sie den Kampf gegen Islamisten und Terroristen nicht gewinnen. Krieg in MaliDas Land: Mali liegt in Westafrika am Niger. Bis 1960 war es französische Kolonie. Hauptstadt ist das im Südwesten gelegene Bamako. Im Nordosten liegt die Oasenstadt Timbuktu.Rebellion: Im März 2012 stürzten meuternde Soldaten den damaligen Präsidenten Amadou Toumani Touré. Im April nutzten Tuareg-Rebellen die unklare Lage, eroberten den Nordosten des Landes und riefen den Staat Azawad aus. Seither war Mali faktisch zweigeteilt. Später übernahmen Islamisten die Führung im Nordosten, zerstörten zum Weltkulturerbe gehörende Mausoleen und führten die islamische Rechtsprechung nach der Scharia ein. Anfang Januar rückten sie nach Süden vor und nahmen die strategisch wichtige Stadt Konna ein.Intervention: Nachdem Malis Präsident Boubacar Traoré um Hilfe gebeten hatte, schickte Frankreich am 11. Januar Soldaten, die die Rebellen zurückdrängen. Am Mittwoch starteten sie eine Bodenoffensive, um die Stadt Diabali zurückzuerobern. Daher ist es höchste Zeit, dass sich Deutschland an einem Militäreinsatz beteiligt. Denn in diesem Fall gilt die abgedroschene Floskel, besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende, tatsächlich mal. KATRIN GÄNSLER CONTRA „Terroristen und islamistische Rebellen bekämpfen“; „Sezession verhindern und die territoriale Integrität des Landes wiederherstellen“; „Drogenschmuggel und Bandenkriminalität unterbinden“: Mit diesen Zielen rechtfertigt die französische Regierung ihre eskalierende Militärintervention „Operation Serval“ in Mali. Sie wird dabei zumindest politisch unterstützt von den demokratischen Regierungen des Westens ebenso wie von den autoritären Regimen Russlands und Chinas, die auf ihren Staatsgebieten ebenfalls Probleme haben mit radikalislamischen und sezessionswilligen Gruppierungen. Mit ähnlichen und teilweise noch weiterreichenden Zielsetzungen (Stabilisierung, Frieden, Wiederaufbau, Demokratie Rechtsstaat, Menschen- und Frauenrechte) wurden fast alle Militärinterventionen und Kriege seit Ende des Ost-West-Konfliktes und insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Jahre begründet. Sei es in Tschetschenien, Afghanistan, Somalia, Irak oder anderswo. Doch in keinem einzigen Fall wurden die proklamierten Ziele erreicht. Und schon gar nicht eine nachhaltige Befriedung der jeweiligen Konflikte durch Überwindung ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder anderweitigen Ursachen. Auch der von den USA seit nun schon fast 30 Jahren geführte Krieg zur Bekämpfung des Drogenanbaus in Mittelamerika ist gescheitert. In einigen Fällen wirkten die militärischen Interventionen sogar kontraproduktiv und führten statt zur angestrebten Schwächung oder gar Vernichtung der jeweils bekämpften Gruppierungen zu ihrer Stärkung. Angesichts dieser Erfahrungen steht zu erwarten, dass sich auch im aktuellen Fall Mali die Militärintervention als untaugliches Mittel zur Durchsetzung der proklamierten Ziele erweisen oder gar kontraproduktiv auswirken wird. Zumal, wenn wesentliche Ursachen für die innenpolitische Krise in Mali sowie entscheidende Faktoren für die Stärkung der jetzt bekämpften islamistischen Gruppierungen weiter ausgeblendet bleiben: Mali war keineswegs der stabile demokratische Musterstaat, als der er in westlichen Medien häufig dargestellt wurde. Die Zentralregierung schürte durch jahrelange, systematische Benachteiligung des Nordens die Autonomie- bis Sezessionsbestrebungen der dortigen Tuareg. Doch stark genug, um im April 2012 ihren eigenen Staat auszurufen, wurden die Tuareg-Befreiungsbewegung MNLA und die mit ihnen zunächst noch verbündeten islamistischen Gruppen erst dank der vielen Waffen aus dem libyschen Bürgerkrieg sowie dank mehrerer tausend aus Libyen geflohener Kämpfer, die zuvor Gaddafi unterstützt hatten. Zweifel an Tauglichkeit der Intervention An der Kontrolle dieser Waffen zeigte die damals von Frankreich, Großbritannien und den USA geführte Kriegsallianz gegen Gaddafi nach dessen Sturz ebenso wenig Interesse wie an der Verhinderung von Racheakten gegen Sympathisanten des früheren Regimes. Bei den jetzt von Frankreich bekämpften radikalislamischen Gruppierungen, die der gemäßigten, sufistisch-islamischen Bevölkerung Malis die Scharia aufzwingen, handelt es sich um Wahhabiten. Finanziert werden sie - ähnlich wie einst die Attentäter von 11./9. - vom Ölstaat Saudi-Arabien, dem wichtigsten Verbündeten des Westens im Nahen und Mittleren Osten. Die Zweifel an der Tauglichkeit der militärischen Intervention in Mali zur Erreichung der proklamierten Ziele bestehen grundsätzlich - unabhängig davon, ob die Intervention allein von Frankreich geführt wird, oder von der EU, der Nato, der westafrikanischen Staatenallianz Ecowas oder einer UNO-Truppe. Doch die allein von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich begonnene „Intervention im klassischen neokolonialen Stil schmutziger Afrikakriege“ (Dominic Johnson, taz 14. 1.) ist das denkbar ungünstigste Szenario. Denn es enthält das größte Rekrutierungspotenzial für die radikalislamischen und potenziell terrorbereiten Gruppierungen in ganz Nordwestafrika. Die Intervention Frankreichs hat das größte Rekrutierungspotenzial für die radikalislamischen und potenziell terrorbereiten Gruppierungen in ganz Nordwestafrika. ANDREAS ZUMACH
K. Gänsler
Frankreich kämpft gegen Islamisten in Mali, Deutschland schickt als logistische Unterstützung Flugzeuge. Ein Pro & Contra zur Intervention in Mali.
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Die Mängel des Schily-Papiers - taz.de
Die Mängel des Schily-Papiers Ein etwas genauerer Blick auf die Vorstellungen des Bundesinnenministers zeigt: Seine „akzeptierende Einwanderungspolitik“ bedarf noch einer erheblichen Nachbesserung „Wer erwünschtoder unerwünscht ist, richtet sich strikt nach Nutzenerwägungen“ Mitten in der Sommerpause präsentierte der Bundesinnenminister seinen Entwurf für ein neues Zuwanderungsgesetz im Stil eines Illusionskünstlers, der ein Kaninchen aus dem Hut zieht. Auch für den grünen Koalitionspartner handelte es sich um einen Überraschungscoup – eine inhaltliche Vorabstimmung hat es nicht gegeben. Nach dem ersten öffentlichen Applaus für den angekündigten „Paradigmenwechsel“ von der bisherigen Abschreckungslogik hin zu einer akzeptierenden Zuwanderungspolitik sind inzwischen auch kritische Stimmen zu hören. Denn hinter den wohlklingenden großen Botschaften verbergen sich eine Reihe von kleinlichen Regelungen vor allem im Bereich des humanitären Flüchtlingsrechts und des Aufenthaltsrechts, die dem Ganzen einen zwiespältigen Charakter verleihen. Unbestritten enthält der ambitionierte Entwurf eine Reihe rechtssystematischer und praktischer Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Stand der Dinge. Das gilt insbesondere für die rechtliche Situation von EU-Bürgern, von Flüchtlingen im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention und von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen. Für hoch qualifizierte ExpertInnen werden die Türen geöffnet. Auch die Einführung des von der Süssmuth-Kommission vorgeschlagenen Punktesystems für Einwanderer sowie der Rechtsanspruch auf Sprach- und Integrationskurse für dauerhaft hier lebende Migranten ist positiv zu bewerten. Allerdings hängt die finanzielle Absicherung dieses Angebots noch völlig in der Luft. Ebenso unstreitig fällt Schilys Gesetz in einer Vielzahl von Punkten hinter die Empfehlungen der „Unabhängigen Kommission Zuwanderung“ unter Vorsitz von Frau Süssmuth zurück, auch wenn sich der Innenminister lobend auf deren Vorarbeit bezieht. Beispiele: – Das Nachzugalter für Kinder soll von bisher 16 Jahren in der Regel auf 12 Jahre gesenkt werden. Die Kommission hatte im Einklang mit der vorherrschenden europäischen Praxis und dem Vorrang der Familie eine Erhöhung auf 18 Jahre empfohlen. Diesen Vorschlag macht sich das Innenministerium nur für die Kinder der „Hochqualifizierten“ zu eigen. Damit wird ein nach sozialen Grenzlinien verlaufendes Zwei-Klassen-Recht in der Migrationspolitik eingeführt. – Diese soziale Selektion wird auch im Aufenthaltsrecht fortgeführt: Hochqualifizierte können ein sofortiges (unbefristetes) Niederlassungsrecht erhalten, während das Fußvolk der Arbeitsmigranten auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis verwiesen bleibt, die sogar bei einer Änderung der Arbeitsmarktlage vorzeitig widerrufen werden kann. – In Deutschland aufgewachsene Jugendliche mit einem ausländischen Pass sollen weiterhin abgeschoben werden können, wenn sie straffällig geworden sind. – Dem Vorschlag, hier lebenden ausländischen Jugendlichen unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status den Zugang zu schulischer und beruflicher Ausbildung zu öffnen, wird nicht gefolgt. – Ebenso wenig gibt es Verbesserungen für die Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung. – Auch die Abschaffung des bisherigen prekären Duldungsstatus für Flüchtlinge, die nicht Asyl erhalten oder auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, ist zwiespältig, da ihr kein garantierter Schutzstatus für alle Flüchtlinge, die in ihrem Herkunftsland Gefahren für Leben und Freiheit ausgesetzt sind, entspricht. Hier bleibt es bei einer großen Grauzone des Ermessens statt mehr Rechtssicherheit. – Die Schutzlücken im Flüchtlingsrecht können auch nicht durch das Angebot an Kirchen und humanitäre Organisationen kompensiert werden, ein zahlenmäßig noch zu fixierendes Kontingent von „Härtefallen“ auf eigene Kosten im Land halten zu können, zumal der aufenthalts- und arbeitsrechtliche Status dieser Flüchtlinge offen bleibt. – Soziale und humanitäre Verbesserungen für „Illegale“ bleiben ein Tabu, obwohl vor allem im Bereich der Arbeitsmigration Migranten ohne legalen Status zu einer hunderttausendfachen Realität geworden sind. Ganz im Gegenteil schürt der Gesetzentwurf die Illusion, als könnte mit der Verschärfung repressiver Maßnahmen Zuwanderung komplett gesteuert und alle „Unerwünschten“ aus dem Land entfernt werden. – Der Gesetzentwurf senkt zwar die Wartezeiten für den Übergang in den unbefristeten Aufenthaltsstatus, erhöht aber die faktischen Hürden auf ein Niveau, das andere Einwanderungsländer nicht einmal beim Erwerb der Staatsbürgerschaft verlangen (kontinuierliche Erwerbstätigkeit, schriftliche Sprachkenntnisse plus staatsbürgerschaftliche Grundkenntnisse). Auch diese Anforderungen werden die soziale Selektion zwischen Oberklasse- und Unterklasse-Migranten verstärken. „Der Gesetzentwurf schürt die Illusion, als könnten alle ‚Unerwünschten‘ aus dem Land entfernt werden“ – Die Möglichkeiten regulärer Zuwanderung bleiben eng an den aktuellen Arbeitskräftebedarf gekoppelt, statt einen Korridor qualifizierter, auf Dauer angelegter Zuwanderung zu öffnen, der bereits heute dem langfristigen Bevölkerungsrückgang und der damit verbundenen Überalterung entgegenwirkt. – Schließlich verlagert der Gesetzentwurf die Entscheidungskompetenzen in der Migrationspolitik stark in die exekutiven Organe, namentlich das neu zu schaffende Bundesamt für Migration und die Arbeitsverwaltung. Dort sollen auch die jährlichen, regional differenzierten Zuwanderungskontingente festgelegt werden – ohne Beteiligung des Bundestags und des Bundesrats. Unter dem Strich bleibt eine scharfe Differenzierung zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Zuwanderern, die strikt nach ökonomischen und fiskalischen Nutzenerwägungen vorgenommen wird. Vorsichtigen Öffnungen für die erste Gruppe (vor allem für die viel beschworenen „Hochqualifizierten“) steht eine ausgeprägt restriktive Grundhaltung gegenüber den „Ungewollten“ gegenüber. Das ist offenbar die Generallinie, auf der ein Kompromiss mit der Union gesucht werden soll. Wie die Reaktion von Stoiber & Co gezeigt hat, ist nicht einmal das sicher – in der Union gibt es nach wie vor einen Flügel, der unter einer Reform des Zuwanderungsrechts nur eine perfektionierte Abwehr von Zuwanderung verstehen will. Wer sich allerdings von dem neuen Gesetz auch deutliche Verbesserungen im humanitären Flüchtlingsrecht erwartet hat, wird gründlich enttäuscht. Die Gefahr liegt auf der Hand, dass im Zuge der Konsensverhandlungen mit den unionsgeführten Bundesländern hier die Schraube noch weiter angedreht wird. Ob es dagegen gelingt, Nachbesserungen bei den humanitären und rechtsstaatlichen Regelungen durchzusetzen, hängt nicht nur vom politischen Geschick der Grünen ab, sondern vor allem von den Reaktionen der kritischen Öffentlichkeit. RALF FÜCKS
RALF FÜCKS
Ein etwas genauerer Blick auf die Vorstellungen des Bundesinnenministers zeigt: Seine „akzeptierende Einwanderungspolitik“ bedarf noch einer erheblichen Nachbesserung
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Debatte Kriegsrhetorik: Krieg ist Pop - taz.de
Debatte Kriegsrhetorik: Krieg ist Pop Um Soldaten ins Gefecht zu schicken, braucht es in Demokratien Zustimmung. Die ist leicht zu haben, wenn die Begründung nur eingängig genug ist. Ernste, betroffene Gesichter gehören unbedingt zum Spiel – Pressekonferenz zum Kosovokrieg, 1999. Bild: imago/dieter bauer Es gibt den Krieg – und es gibt das Sprechen vom Krieg. In einer Demokratie ist das Sprechen vom Krieg Moden unterworfen. Wenn es um Einsätze gegen einsame Herrscher geht, die ein Volk unterdrücken und massakrieren, Herrscher wie der syrische Präsident Baschar al-Assad, dann gibt es klare Worte von Angela Merkel, zum Beispiel diese: „Jeder, der einen Militäreinsatz als letztes Mittel ablehnt, schwächt den Druck, den es auf Diktatoren aufrechtzuerhalten gilt.“ Man muss nach diesen Worten nur etwas suchen – sie gelten nicht Assad. Sie sind nachzulesen in der Washington Post vom 20. Februar 2003, in einem Gastbeitrag von Angela Merkel – damals CDU-Vorsitzende und Oppositionsführerin. Der amerikanische Präsident, George W. Bush, bereitete gerade einen Einmarsch in den Irak vor. Einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, an dem sich die rot-grüne Bundesregierung nicht beteiligen wollte. Anders als Angela Merkel, sie signalisierte dem amerikanischen Präsidenten: Mit mir als Bundeskanzlerin wäre Deutschland dabei. Merkel wollte diesen Krieg. Und sie wollte, dass sich deutsche Soldaten daran beteiligen. Zumindest sprach sie davon. Die Erinnerung an diesen Umstand ist seltsam verblichen, vergessen und verdrängt in einem kollektiven Kurzzeitgedächtnis. Gewichen dem Bild einer Kanzlerin, die bei möglichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr wartet oder, um es in der Sprache der Befürworter eines Syrien-Einsatzes zu sagen: zaudert. Merkels Sprechen vom Krieg hat sich gewandelt, seit ihr Sprechen vom Krieg Konsequenzen hat: Sie ist nun vorsichtiger. Es waren unsere Kriege taz am WochenendeWarum der Berliner Senat in den 70ern Straßenkinder von Pädophilen betreuen ließ, lesen Sie in der Titelgeschichte „Die Väter vom Bahnhof Zoo“ in der taz.am wochenende vom 14./15. September 2013. Außerdem: Eine Profilerin über Fehler beim Morden. Und: Die goldenen Zitronen über die Times-Squareisierung Sankt Paulis und linke Ghettos. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Der Irakkrieg hat gezeigt, dass Angela Merkel theoretisch bereit ist, an der Seite der USA einen Krieg zu führen, der nicht von einem UN-Mandat gedeckt ist. Syrien aber beweist, dass sie als Kanzlerin, an den Hebeln der Macht angelangt, davor zurückschreckt. Was nicht an grundsätzlichen, moralischen, gar pazifistischen Erwägungen liegen mag. Ihre Regierung ist gleichzeitig bereit, Panzer an Saudi-Arabien zu liefern, ein autoritäres Regime, das im Nachbarland Bahrain Proteste niederwalzt. Es ist also nicht unbedingt die Moral, die bremst. Merkel überträgt schlicht jenes Defensivspiel, jenen politischen Catenaccio – abwarten, beobachten, moderieren –, den sie in der Innenpolitik betreibt, auch auf die Außenpolitik. Sie meidet den Krieg, weil er ein strategisches Risiko ist – und weil sie Unberechenbares generell meidet. Ihre Motive sind nicht edel. Aber das Ergebnis ist gut: Deutschland ist seit Angela Merkel friedlicher. Die Kriege haben andere geführt: Schröder, Fischer, Rot-Grün. Auch das verschwimmt im kollektiven Kurzzeitgedächtnis. Jene Fähigkeit zum Vergessen machte es möglich, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer Deutschland 1999 erst in den Kosovokrieg führten, einem Einsatz ohne UN-Mandat, mit der Begründung, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Um sich dann, drei Jahre später, wegen ihrer Ablehnung des Irakkriegs als Friedensfürsten zu inszenieren. Vergessen jene Übertreibungen und Falschaussagen, mit denen Verteidigungsminister Rudolf Scharping, SPD, den Kosovokrieg rechtfertigte. Aufgeschlitzte Bäuche Als der Krieg länger dauerte als geplant und die Zustimmung in der Bevölkerung nachließ, präsentierte Scharping Bilder eines angeblichen Massakers der serbischen Armee an Zivilisten: tote Albaner im Ort Rugovo, leblos aufgereiht. Später bezeugte ein deutscher Beobachter der OSZE, der den Tatort inspiziert hatte, die Toten seien Kämpfer der albanischen UÇK, der „Befreiungsarmee des Kosovo“, die im Gefecht gestorben waren. Man habe sie nach ihrem Tod in Rugovo aufgereiht. In einem Interview erzählte Scharping, wie Serben schwangeren Albanerinnen den Bauch aufschlitzten und die Föten grillten. Gar einen Geheimplan der serbischen Regierung zur ethnischen Säuberung des Kosovos enthüllte Scharping auf einer Pressekonferenz: den sogenannten Hufeisen-Plan. Später sagte der deutsche General a. D. Heinz Loquai, dass der Plan nicht der Realität entsprochen hatte, er war der Fantasie des Verteidigungsministeriums entsprungen. So machte Rot-Grün Deutschland zu einem Land, das wieder Krieg führte – auch wenn man diese neuen Kriege nicht als „Kriege“ bezeichnen wollte: Man kaschierte sie rhetorisch. Aber es waren nicht nur die Kriege von Rot-Grün. Es waren unsere Kriege. Deutschland wollte sie mehrheitlich, die Umfragen waren deutlich. Und Umfragen bestimmen in Demokratien Regierungshandeln. Umfragen können in Demokratien Kriege auslösen – und beenden. Nur ein Drittel der Deutschen lehnte, laut Infratest dimap, im April 1999 die Angriffe auf Serbien ab. Es gab keine größeren Demonstrationen gegen den Einsatz der Bundeswehr. Im November 2001 lehnte ebenfalls nur ein Drittel der Deutschen den Afghanistankrieg ab. Auch gegen diesen Einsatz wurde kaum protestiert. Wir vergessen unsere Haltungen Im März 2003 sprachen sich jedoch 85 Prozent gegen den Angriff der USA auf den Irak aus. Hunderttausende Menschen protestierten in Deutschland gegen den heraufziehenden Krieg. Vor dem Hintergrund der stillschweigenden Akzeptanz von Kosovo- und Afghanistankrieg wirkten die Massenproteste gegen den Irakkrieg hysterisch. War denn das Eingreifen im Kosovo und in Afghanistan so viel besser gewesen? Aber hier ging es nicht um das bessere Argument – nicht um die Qualität der Begründung. Nicht Ratio entschied, sondern Emotion. Ein Krieg wird in einer Demokratie nach den gleichen Regeln populär gemacht wie die Ablehnung eines Kriegs. Es gilt das Prinzip der Eingängigkeit: Claim, Melodie, Refrain. Kriegsbegründungen werden komponiert wie ein Sommerhit, der so einfach sein muss, dass ihn jeder nachsummt. Das Sprechen vom Krieg ist etwas anderes als der Krieg selbst: Die Bevölkerung einer Demokratie stimmt nicht einem Krieg zu, wenn sie einem Krieg zustimmt – er ist zu abstrakt. Sie stimmt dem Sprechen vom Krieg zu; sie wiederholt Claim, Melodie, Refrain. Sie stimmt Joschka Fischer zu, dass es im Kosovo ein zweites Auschwitz zu verhindern gelte: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“ Sie stimmt Peter Strucks Satz zu, dass am Hindukusch Deutschlands Sicherheit verteidigt wird. Sie einigt sich darauf, dass man keinen Krieg für Öl führen sollte. Und wie ein Radiohit den hohen Wellen der Mode und des Vergessens unterworfen ist, so werden die jüngsten Kriege – und unsere Haltung zu ihnen – im Kurzzeitgedächtnis gespeichert, verdrängt, vergessen. So vergessen wir den Kosovokrieg, den Afghanistankrieg. Aber vielleicht ist das präpotente Land von Fischer und Schröder, das lieber einen Krieg zu viel führte als einen zu wenig, ja nur ein kurzes Kapitel geblieben. Und vielleicht haben wir aus diesem Kapitel sogar etwas gelernt. Hat Merkels Stil, das Zugucken und Abwarten, ihr Ausweichen und Lavieren nur ein Gutes, dann ist es, dass Deutschland nun vorsichtiger ist beim Einsatz militärischer Gewalt. Hat die Kanzlerin dieses Land tatsächlich friedlicher gemacht? Es würde sie eine Spur erträglicher machen. Und dieses Land auch.
Felix Dachsel
Um Soldaten ins Gefecht zu schicken, braucht es in Demokratien Zustimmung. Die ist leicht zu haben, wenn die Begründung nur eingängig genug ist.
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Ein Tunnel für Kreuzberg: Unterm Pflaster die Bahn - taz.de
Ein Tunnel für Kreuzberg: Unterm Pflaster die Bahn Die „S21“ – der Anschluss des Hauptbahnhofs an den Ring – kommt nur mühsam voran. Der Fahrgastverband IGEB hat die Linie jetzt visionär weitergedacht. Unters Fernbahnviadukt gequetscht: S21 zwischen Wedding und Hauptbahnhof Foto: imago images / STPP Eisenbahnplaner und Försterinnen haben etwas gemeinsam: Sie denken in sehr langen Zeiträumen. Bäume wachsen bekanntlich langsam, und Brücken oder Tunnel müssen manchmal schon mitgedacht oder prophylaktisch gebaut werden, wenn noch jahrzehntelang keine Züge rollen. Sonst kann der Gang der Stadtentwicklung auch dem sinnvollsten Verkehrsprojekt ein vorzeitiges Ende bereiten. Eines, das schon Anfang der 90er erdacht, beschlossen, zu den Akten gelegt, reanimiert und schließlich in Teilen umgesetzt wurde, ist die sogenannte City-S-Bahn, auch S21 genannt – wobei ein ähnlich klingendes Projekt in Stuttgart mittlerweile das Kürzel kompromittiert hat. Dieser zweite Nord-Süd-Tunnel (mit dem Fernbahntunnel sogar der dritte) soll den vergleichsweise schlecht angeschlossenen Berliner Hauptbahnhof mit der Ringbahn verbinden. Im Sommer 2021, also in gerade einmal anderthalb Jahren, wird der erste Abschnitt in Betrieb gehen: Dann wird der „westliche Nordring“, namentlich der S-Bahnhof Wedding, mit dem Hauptbahnhof kurzgeschlossen. Das abenteuerlich anmutende Viadukt oberhalb des Nordhafens lässt sich schon seit Längerem bestaunen. Den nordwestlichen Abzweig zum S-Bahnhof Westhafen haben Bund und Berlin, die das Milliardenprojekt kofinanzieren, dagegen noch nicht umgesetzt. Allerdings wurde erst vor Kurzem nach langen Verhandlungen mit der Bundestagverwaltung entschieden, wie der weitere Streckenverlauf vom Hauptbahnhof zum Potsdamer Platz aussehen wird. Dazu muss sich der neue Tunnel nämlich unter dem sicherheitsrelevanten Bereich rund um den Reichstag entlangschlängeln. Bis hier tatsächlich gebaut wird, werden aber wohl noch etliche Jahre ins Land gehen. In ganz weiter Ferne liegt der letzte Abschnitt: via Gleisdreieck zu den Yorckstraßen-Bahnhöfen. Neue „Durchmesserlinie“ Auftritt Berliner Fahrgastverband IGEB: Sein Vorsitzender Christfried Tschepe, von dem auch der Vergleich mit der Forstwirtschaft stammt, stellte am Donnerstag zusammen mit Stellvertreter Jens Wieseke eine kühne Weiterentwicklung der S21-Projekts vor, unter dem Motto „Pragmatisch handeln und visionär denken“: Die City-S-Bahn soll dabei zu einer stadtdurchquerenden „Durchmesserlinie“ erweitert werden, über die man umsteigefrei vom künftigen Siemens-Campus zur Wissenschaftsstadt Adlershof rollen kann. Von Siemensstadt bis Schönefeld: So stellt sich der IGEB die neue S6 vor Foto: IGEB Wie das? Der Anschluss an die stillgelegte Siemensbahn, die der Senat ohnehin reaktivieren will, ist das kleinste Problem. Dazu braucht es laut IGEB „nur“ eine weitere Bahnsteigkante auf der Bahnhof Jungfernheide – anders lasse sich ein stabiler Fahrplan auf der Ringbahn nicht sicherstellen. Ebenso wichtig und ohne Weiteres machbar (aber eben noch nicht in Angriff genommen) ist der bereits erwähnte Nordwestanschluss des Hauptbahnhofs und der Bau eines S-Bahnhofs „Perleberger Brücke“. Jens Wieseke: „Den fordern wir seit Jahren gebetsmühlenartig. Man kann nicht die Europa-City an der Heidestraße bauen, ohne für angemessenen Anschluss zu sorgen.“ Aber jetzt kommt's: Der IGEB schlägt vor, einen Tunnel vom Potsdamer Platz abzweigen zu lassen, der erst an der Treptower Kiefholzstraße wieder ans Licht kommt und dort an die Trasse nach Schönefeld anschließt. Genau: Dazu muss Kreuzberg in voller Breite unterquert werden. Ein paar neue S-Bahnhöfe gäbe es zwischendrin auch: Kochstraße, Moritzplatz, Görlitzer Bahnhof und Glogauer Straße. Für alle, die sich heute mühsam im M29-Konvoi durch die Stadt quälen, paradiesische Zustände. Freilich ist das Projekt ist ein verkehrspolitisches Utopia, und die – fachlich sehr versierten – IGEB-Experten sagen selbst: Es würde sehr, sehr teuer. Nur finden Tschepe und Co., dass man schon mitdenken muss, was vielleicht jetzt noch nach fiebrigen Visionen à la Helmut Schmidt klingt. Denn verbauen kann man sich so etwas ganz schnell. Schon die bereits erfolgte Verlängerung der A100 nach Treptow macht das Ganze viel komplizierter als unbedingt nötig. „Es ist gewissermaßen ein Prüfauftrag an die Politik“, so Tschepe. „Auch wenn es erst in 50 Jahren realisiert werden sollte.“ Zumindest bei den Grünen gibt es dafür gewisse Sympathien: „Eine interessante Idee“, findet Matthias Dittmer, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Mobilität. Für absolut vordringlich hält er es jedoch, den zweiten Nord-Süd-Tunnel „mit Hochdruck“ voranzutreiben. Alle S-Bahn-Linien müssten in der Innenstadt künftig im 5-Minuten-Takt fahren. Für seine Utopie einer Kreuzberg-S-Bahn hat sich der Fahrgastverband übrigens schon einen Namen ausgedacht: „S6“ soll die Zukunftslinie ganz prosaisch heißen. Die Nummer ist derzeit nämlich nicht belegt.
Claudius Prößer
Die „S21“ – der Anschluss des Hauptbahnhofs an den Ring – kommt nur mühsam voran. Der Fahrgastverband IGEB hat die Linie jetzt visionär weitergedacht.
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Nach der Wahl in Hamburg: Linke stehen am Pranger - taz.de
Nach der Wahl in Hamburg: Linke stehen am Pranger Nach dem Fraktionsaustritt von Dora Heyenn steht die Hamburger Linken–Fraktion unter Beschuss. Im Netz kursieren „Verräter“-Listen. Für ein soziales Hamburg warb die Linke mit „Mehr Menschlichkeit“. Welche Ironie. Bild: dpa HAMBURG taz | Die neue Bürgerschaftsfraktion der Hamburger Linken steht, kaum hat sie sich konstituiert, gewaltig unter Druck. Nachdem die elf Abgeordneten Dora Heyenn nicht als Fraktionschefin bestätigten und Heyenn daraufhin der Fraktion den Rücken kehrte, geht über diese eine vernichtende Medienberichterstattung und ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken nieder. Worte wie „niederträchtig“, „bösartig“ und „hinterhältig“ sind noch die harmlosesten Begriffe, von „Wahlbetrug“ und „Königsmord“ ist die Rede. Im Internet kursieren Listen mit den Namen der sechs „VerräterInnen“, die nicht für Heyenn, die Spitzenkandidatin im Bürgerschaftswahlkampf, gestimmt haben sollen. Um dem Druck zu entgehen machen einzelne Abgeordnete, die in der geheimen Wahl für Heyenn gestimmt haben, ihr Votum inzwischen öffentlich. Die Fraktion war von Heyenns Abgang völlig überrascht worden. „Wir sind schockiert über diesen Schritt“, so die spontane Reaktion von Cansu Özdemir, eine der beiden neuen Fraktionsvorsitzenden. Und auch innerhalb der Partei hagelt es deutliche Kritik: Der Hamburger Landesvorstand der Linken spricht von einem „verheerenden politischen Signal“ und appelliert dringend, „den Umgang in der Partei und in der Fraktion miteinander zu ändern“. Seine Analyse: „Der Schaden, der durch die neue Fraktion angerichtet wurde, wird die Linke Hamburg auf Jahre hinweg beschäftigen.“ Die Fraktion solle jetzt öffentlich Rede und Antwort stehen. Auch Dora Heyenn, die sich die Rückkehr in die Fraktionsgemeinschaft zu einem späteren Zeitpunkt offen hält, legte verbal noch einmal nach. „Die Grenzen dessen, was die Links–Fraktion mit mir gemacht hat, sind überschritten!“, begründete die 65–Jährige, die über Jahre das Aushängeschild der Hamburger Linken war, ihren Abgang. Sie wolle als fraktionslose Abgeordnete in der Bürgerschaft arbeiten, „bis Menschlichkeit in diese Fraktion zurückkehrt“. Noch vor wenigen Wochen hatte die Linke im Wahlkampf mit Großplakaten geworben, auf denen Dora Heyenn mit dem Ausspruch zu sehen war: „Mehr Menschlichkeit, das muss drin sein“. Was auf die Gesellschaft gemünzt war, gilt nun zu allererst einmal für die Linke selbst.
Marco Carini
Nach dem Fraktionsaustritt von Dora Heyenn steht die Hamburger Linken–Fraktion unter Beschuss. Im Netz kursieren „Verräter“-Listen.
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KUNST - taz.de
KUNST KunstNatalie Mayrothschaut sich in Berlins Galerien um Eine Zukunft, die mehr an die Vergangenheit erinnert, zeigen Stine Omar Midtsæter und Max Boss in der Galerie Koal. Musikalisch sind sie als Easter seit fünf Jahren ein Paar. In der Ausstellung „Sadness is an Evil Gas Inside of Me“ beweisen sie, dass sie mehr als ästhetischen Sound und Musikvideos produzieren können. Mit einem VHS-Camcorder gedreht, stehen sich Midtsæter und Boss als „Yung Corn“ und „Holiday Bossi“, die nicht so recht zueinanderfinden, zwischen Shoppingcenterwüste und wüster Stadtlandschaft, gegenüber. Merkwürdige zwischenmenschliche Momente sind das verbindende Element ihrer Soap Opera. In den drei kurzfilmartigen Folgen sind neben den Hauptprotagonisten auch die Me­dien­küns­tlerin Britta Thie oder der Schauspieler Lars Eidinger zu entdecken. Der 43-minütige ­Loop steht im Dialog mit einzelnen Filmstills, die von Charlie Roberts in Gouachemalereien umgesetzt worden sind (bis 5. 12, Leipziger Str. 47, Mi.–Sa. 12–18 Uhr). Fast wie gemalt glänzt der zartrosa Rest eines Korpus von Ivana Bašić in der Galerie Gillmeier Rech. „Duo Presentation“ zeigt düstere Arbeiten von zwei sehr unterschiedlichen jungen Künstlern. Die in Belgrad geborene Bašić überformt Stahl, Federn und Baumwolle mit Öl, Wachs und Silikon: Helle fleischfarbene Artefakte wie die Kissenserie „Fantasy Vanishes in Flesh“, die an Skulpturen von Beuys erinnern, entstehen dadurch. Der in Berlin lebende Franzose Antoine Renard experimentiert hingegen mit 3D-Druck. Unter seinen vier Modellen aus dem Kunststoff Polylactid ist ein Junge, der auf dem Boden sitzt und aussieht als würde er meditieren – hätte er keine Spielkonsole in der Hand – und die Skulptur „2840178_holding-my-Aka47“, die aufgrund des Stromausfalls nach dem Paris-Attentat unfertig geblieben ist (bis 9. 1., Körnerstr. 17, Fr.–Sa. 13–18 Uhr). Untot ist Mariechen Danz’ „Womb Tomb“ – ein fast zwei Meter großes Menschenabbild aus Fiberglas mit freigelegten Organen – nicht. Wie zur medizinischen Obduktion aufgebahrt, liegt es auf einem Podest, doch innerlich pulsiert es. Darauf deuten die lila bis orangeroten thermischen Verfärbungen auf seinem Körper hin. Die kältesten Stellen, Nasenspitze und Finger, sind am dunkelsten. Das gesamte Innenleben der Galerie Tanja Wagner ist in ein Rotlicht getaucht. Neben zwei Modellen des menschlichen Verdauungsapparats aus pigmentiertem Kunstharz, das von einer Metallkonstruktion gehalten wird, hängen an Haken bedruckte Ganzkörperhäute aus Seide und Masken, die einen Querschnitt des Kopfs darstellen. Für die Gehirnskulptur gab es sogar den Fensterplatz (bis 16. 1, Pohlstr. 64, Di.–Sa. 11–18 Uhr).
Natalie Mayroth
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Skepsis nach Riads Eingeständnis - taz.de
Skepsis nach Riads Eingeständnis Die neue Version von dem Mord an Jamal Kashoggi kaufen viele Staaten den Saudis nicht ab Von Inga Rogg, Istanbul Die Türkei will sich mit der saudischen Erklärung, wonach Journalist Jamal Kashoggi während eines Handgemenges im königlichen Konsulat ums Leben gekommen ist, nicht zufriedengeben. Die Türkei werde niemals zulassen, dass das „scheußliche, grauenerregende, unmenschliche“ Verbrechen vertuscht werde, erklärte Numan Kurtulmuş, Vizechef der Regierungspartei AKP, am Samstag. Ankara wirft Riad vor, Kashoggi am 2. Oktober im Konsulat brutal ermordet und seine Leiche zerstückelt zu haben. Nachdem das Königshaus zweieinhalb Wochen lang bestritten hatte, etwas mit dem Verschwinden des prominenten Journalisten zu tun haben, bestätigte Riad am Samstagmorgen seinen Tod. Erste Ermittlungen hätten ergeben, dass Kashoggi während eines Handgemenges starb, teilte der saudische Oberstaatsanwalt mit. Später hieß es aus dem Umfeld des Hofs, er sei stranguliert worden. König Salman feuerte fünf hochrangige Beamte und ordnete eine Reorganisation des Geheimdienstes an, 18 Verdächtige wurden festgenommen. Den mächtigen Kronprinz tastete er aber zunächst nicht an. Auch die neuen Erklärungen aus Riad wurden international in Zweifel gezogen. Die vorliegenden Angaben zu dem Hergang im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul seien „nicht ausreichend“, erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Sie verurteilten die Tötung des Journalisten „in aller Schärfe“. Von Saudi-Arabien erwarteten sie „Transparenz im Hinblick auf die Todesumstände und die Hintergründe“. Die vorliegenden Angaben zu den Ereignissen im Konsulat seien „nicht ausreichend“. Maas forderte am Sonntag im Onlinedienst Twitter „eine geschlossene Antwort“ der Staatengemeinschaft. „Mit Frankreich und Großbritannien, der EU und den G7-Staaten sind wir in enger Abstimmung.“ Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forderte derweil „umfassende, glaubwürdige und transparente Ermittlungen“ zu Kashoggis Tod. Die EU bestehe darauf, dass „alle dafür Verantwortlichen uneingeschränkt zur Rechenschaft“ gezogen werden. Auch Großbritannien äußerte Zweifel an der offiziellen Version. „Ich denke nicht, dass sie glaubwürdig ist“, sagte Brexit-Minister Dominic Raab der BBC. Aus Kanada hieß es, der Bericht aus Saudi-Arabien sei widersprüchlich und nicht glaubhaft. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian verlangte eine „vollständige und zügige Untersuchung“. Zahlreiche Fragen seien unbeantwortet. Rückendeckung erhielt Saudi-Arabien von seinen Verbündeten in der Region – den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Oman sowie Ägypten. Türkische Ermittler hatten in den vergangenen Tagen das Konsulat und die Residenz des Konsuls in Istanbul untersucht. Nach der Erklärung aus Riad versprach Ankara eine vollständige Klärung von Kashoggis Tod. „Die Türkei wird alles enthüllen, was hier vorgefallen ist“, sagte der Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Celik. Die türkischen Behörden verhörten einem Bericht zufolge am Sonntag weitere Zeugen, um den Tod des saudischen Journalisten Jamal Kashoggi aufzuklären. Fünfundzwanzig Personen seien zur Aussage vorgeladen worden, berichtete der Nachrichtensender NTV am Sonntag. Kashoggi, dessen Leiche bislang nicht gefunden wurde, war am 2. Oktober in das Konsulat gegangen, um ein Dokument für seine Hochzeit abzuholen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur. Türkische und US-Medien hatten berichtet, der Journalist sei von einem saudi-arabischen Killerkommando in dem Konsulat gefoltert und ermordet worden. Sie beriefen sich auf Tonaufnahmen, die türkischen Sicherheitskräften vorliegen sollen. (mit dpa, afp)
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Die neue Version von dem Mord an Jamal Kashoggi kaufen viele Staaten den Saudis nicht ab
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Semesterticket kommt und kommt und kommt - taz.de
Semesterticket kommt und kommt und kommt ■ Studenten sollen über HVV-Fahrkarte abstimmen / Sechs Monate fahren für 178 Mark / Begleitende Verkehrsberuhigung gefordert abstimmen / Sechs Monate fahren für 178 Mark / Begleitende Verkehrsberuhigung gefordert Hamburgs StudentInnen werden Ende Juni wieder einmal zu den Urnen gerufen. Zur Abstimmung steht diesmal ein Verkehrskonzept, das der neu gewählte grüne Asta ausgeknobelt hat: so schnell wie möglich ein HVV-Semester-Ticket für alle Studierenden zum Selbstkostenpreis von 178 Mark. Im Gegenzug soll die Stadt im Uni-Viertel verkehrsberuhigende Maßnahmen umsetzen und der HVV zusätzliche 1Haltestellen und eine Ringbuslinie installieren. Doch der Streit um dieses Ticket, das obligatorisch mit dem Semesterbeitrag abkassiert werden soll, ist zwei Jahre alt. Die Sache hat mindestens einen Haken: Das Angebot des HVV, der einfach die Einnahmen der jetzigen studentischen HVV-Nutzer durch die Zahl der Studenten teilte, sei viel zu teuer, befand der alte Asta. 84 1Mark, nicht 178 Mark, seien akzeptabel, ergab eine frühere Umfrage unter den Hamburger Kommilitonen. Die Verhandlungen zwischen Baubehörde, Wissenschaftsbehörde, HVV und Asta drehten sich im Kreis. Der HVV darf die Karte nicht billiger machen. Einzig durch ein Sponsoring der Stadt wäre ein niedrigeres Angebot denkbar. „Wir sagen, wir verzichten auf eine staatliche Subventionierung, 1dafür fordern wir ein Maßnahmepaket“, sagt Asta-Öko-Referent Falk Hocquel. Studenten, die nur Fahrrad oder Füße benutzen (laut Umfrage 30 Prozent), sollen sich per Antrag vom Ticketzwang befreien können. Vorschlag des Asta: Sie müssen nachweisen, daß sie im Monat nach Abzug von Miete, Krankenkasse und anderen Verpflichtungen weniger als 400 Mark übrig haben. Die so beim HVV entstehenden Defizite sollen durch einen Sozialfonds gedeckt werden, den wiederum die Stadt finanziert. Doch da wäre noch ein zweiter Haken: Von Fahrpreiserhöhungen bleibt natürlich die studentische Klientel nicht verschont. Während an der Uni gestritten wurde, sind die Fahrpreise um 5,8 Prozent geklettert. Inzwischen, so erklärte HVV-Vizechef Leopold dem Asta beim jüngsten Verhandlungsgespräch am Mittwoch, müßte das Ticket 188 Mark kosten. Haken Nummer drei: Schon jetzt hagelt es Kritik seitens der Fachschaftsräte. Die Verkehrswende im Uni-Viertel dürfe nicht durch Zwangsbeiträge von Studierenden finanziert werden. Nicht alle seien in der Lage, mal eben 229 Mark hinzublättern (Ticket plus 51 Mark Semesterbeitrag). 178 Mark seien „kein Kompromiß, sondern schlicht Unterwerfung“. Was sind dann erst 188 Mark? Doch die grünen Hochschulpolitiker werden nicht umsonst Realos geschimpft. Mit einer Million, so rechnete Hocquel nach, könnte die Stadt für ein Jahr das 178-Mark- Ticket subventionieren. Plus je einer halben Million für Sozialfonds und Verkehrsberuhigung wäre Hamburg mit rund zwei Millionen Mark dabei. Die Bürgerschaft hatte bereits im April dem Ticket zugestimmt. Ein Ergänzungsantrag vielleicht noch vor der Sommerpause? Da wäre Haken Nummer vier: Die Immatrikulationsunterlagen für das Wintersemester sind bereits versendet. Das Studentenwerk weigert sich, die 60 000fache Verschickung zu wiederholen. Wenn es das Ticket zum Sommersemester '94 geben soll, müssen Studenten, HVV und Bürgerschaft (welche?) sich bis Oktober einigen. Falk Hocquel ist optimistisch, daß das Gros der Studenten die Kritik der Fachschaftsräte nicht teilt: „30 Mark im Monat, das ist einfach so günstig. Da ist bestimmt nur eine Minderheit wirklich dagegen.“ Kaija Kutter
kaija kutter
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Teuer wie kaum zuvor - taz.de
Teuer wie kaum zuvor Die vergangene Heizperiode wird mutmaßlich alle Preisrekorde brechen. Mieter sollten wissen, wie sie die Heizkostenabrechnung lesen. Ohne verbrauchsabhängige Abrechnung Kürzung um 15 Prozent VON ANDREAS LOHSE Das Ende der Heizperiode ist sichtbar nah. Wir merken das nicht nur am Wetter, sondern auch daran, dass derzeit wieder die Mitarbeiter von Messdienstfirmen zumindest durch die zentralbeheizten Wohnungen streifen, um die kleinen Striche an den Heizkostenverteilern der Heizkörper abzulesen. Die thermometerähnlichen Verdunstungsröhrchen messen allerdings nicht die tatsächlich physikalisch verbrauchte Wärmemenge. Deshalb lässt sich nicht sagen, wie viel „ein Strich Verdunstung“ kostet. Das Rechenzentrum der Messdienstfirma stellt die Menge verdunsteter Flüssigkeit aus den Ampullen in ein bestimmtes Verhältnis zu den im Jahresverlauf entstandenen Kosten, beispielsweise für Brennstoffe und Wartung. Wenige Wochen später flattert dann den Mietern die Heizkostenabrechnung ins Haus. Dabei werden Verbraucher in dieser Heizperiode mutmaßlich deutlich mehr für Wärme bezahlen müssen als je zuvor. Preistreiber sind die flüssigen Brennstoffe, also insbesondere Heizöl, mit einer Erhöhung von 34,2 Prozent (nach 11,4 Prozent im vergangenen Jahr). Hinzu kommt Gas mit einer Erhöhung um 10,4 Prozent. Seit 2000 haben sich die Gaspreise sogar um 34,0 Prozent erhöht und liegen damit an der Spitze noch vor den flüssigen Brennstoffen (32,6 Prozent). Nach Angaben von Experten der Wohnungswirtschaft müssen sich Mieter auf erhebliche Nachzahlungen bei den Nebenkostenabrechnungen einstellen. „Die Verbraucher in Deutschland müssen für 2005 mehr als 8 Milliarden Euro mehr für Heizung und warmes Wasser zahlen als noch vor zwei Jahren“, meint Franz-Georg Rips, Direktor des Deutschen Mieterbundes. Das sei eine zusätzliche Belastung von durchschnittlich 300 Euro bei einer ölbeheizten 90-Quadratmeter-Wohnung. Bei Gas seien es durchschnittlich 100 Euro, wobei sich die Gaspreiserhöhungen der letzten Wochen erst in der nächsten Saison voll auswirken dürften. Deshalb sollten Mieter wissen, worauf sie bei einer Heizkostenabrechnung zu achten haben. Heizkosten müssen grundsätzlich verbrauchsabhängig abgerechnet werden, laut Heizkostenverordnung (HeizkostenV) zu mindestens 50, höchstens zu 70 Prozent der Gesamtkosten. Die restlichen 30 bis 50 Prozent werden nach einem festen Maßstab – meist nach Größe der Wohnung – auf die Mieter verteilt. Das bedeutet: Jeder Mieter ist immer auch anteilig an den unter Umständen hohen Kosten beteiligt, die beispielsweise jener Nachbar verursacht, der meint, selbst bei tiefstem Frost in seiner Wohnung nur leicht bekleidet herumlaufen zu müssen, und infolgedessen die Heizung auf Hochtouren laufen lässt. Doch was darf der Vermieter als „Heizkosten“ abrechnen? Grundsätzlich handelt es sich dabei um all jene Kosten, die dem Vermieter selbst auch tatsächlich entstanden sind: für Brennstoffe und deren Lieferung, Betriebsstrom, Kosten für Bedienung, Überwachung und Pflege der Anlage, Wartung, Reinigung, Messungen nach dem Immissionsschutzgesetz, Kosten für Erfassungsgeräte und Messdienstfirma sowie für den Schornsteinfeger. Die einzelnen Posten müssen eindeutig erkennbar sein. „Eine Heizkostenabrechnung ist unwirksam, wenn sämtliche Kosten in einem Gesamtbetrag angegeben sind, ohne sie entsprechend den in der Heizkostenverordnung aufgeführten Kostenarten aufzugliedern“, entschied dazu das Landgericht Berlin (Az. 64 S 257/00). Die Abrechnung muss ferner Angaben zum Abrechnungszeitraum enthalten, den Umlageschlüssel, beheizte Fläche der Wohnung, den gemessenen Verbrauchsanteil, die geleistete Vorauszahlung sowie die fällige Rück- oder Nachzahlung. Weitere Kosten wie Reparaturen gehören nicht dazu, Instandhaltung ist Sache des Eigentümers. Wer an der Höhe oder gar daran zweifelt, dass die umgelegten Kosten entstanden sind, darf die Originalrechnungen beim Vermieter einsehen. Dazu gehören auch die Ablesebelege der übrigen Mieter. Denn erst dadurch lässt sich klären, ob die Einzelberechnung richtig ist. „Der Vermieter kann dem Mieter die Einsichtnahme in die Abrechnungsunterlagen zur Heizkostenabrechnung des Gebäudes nicht aus Gründen des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung der weiteren Nutzer im Gebäude verweigern“ (AG Münster, Az. 3 C 2015/98). Ausnahmen von der verbrauchsabhängigen Abrechnung sind nur erlaubt, wenn die Verbrauchserfassung technisch nicht möglich oder unwirtschaftlich wäre, beispielsweise bei einer ohnehin geplanten Modernisierung des Hauses. Ebenfalls ausgenommen sind Studenten-, Pflege- und andere Heime sowie solche Wohnungen, in denen die Mieter den Wärmeverbrauch nicht beeinflussen können. Greifen die Ausnahmen nicht und wird trotzdem entgegen der Heizkostenverordnung nicht verbrauchsabhängig abgerechnet, darf der Mieter „den auf ihn entfallenden Anteil“ pauschal um 15 Prozent kürzen (§ 12 HeizkostenV). Die vom Mieter gezahlten monatlichen Vorauszahlungen hat der Vermieter jährlich abzurechnen. Er muss dem Mieter innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf der Heizperiode die Abrechnung übermitteln (§ 556 BGB). Später ist eine etwaige Nachforderung ausgeschlossen, es sei denn, der Vermieter hat dies nicht zu vertreten, wenn er beispielsweise selbst erst verspätet eine umlagefähige Rechnung erhält. Der Mieter kann Einwendungen gegen die Abrechnung wiederum innerhalb von zwölf Monaten nach ihrem Zugang geltend machen. Reklamationen zur Heizkostenabrechnung müssen grundsätzlich an den Vermieter gerichtet werden. Er ist der Vertragspartner, der seinerseits die Messdienstfirma beauftragt: „Eine Heizkostenabrechnung muss vom Vermieter stammen und an den Mieter gerichtet sein“ (LG Berlin, Az. 63 S 562/99). Im Zweifel gilt immer: Lassen Sie sich mietrechtlich beraten.
ANDREAS LOHSE
Die vergangene Heizperiode wird mutmaßlich alle Preisrekorde brechen. Mieter sollten wissen, wie sie die Heizkostenabrechnung lesen. Ohne verbrauchsabhängige Abrechnung Kürzung um 15 Prozent
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Regionalparlamentswahl in Katalonien: Absolute Mehrheit für die Separatisten - taz.de
Regionalparlamentswahl in Katalonien: Absolute Mehrheit für die Separatisten Die Unabhängigkeitsparteien stellen nach der Wahl 70 der 135 Abgeordneten im Parlament. Mehren sich jetzt die Zweifel an Ministerpräsident Rajoys Krisenpolitik? Fast komplett ausgezählt: die Stimmen bei der Regionalwahl in Katalonien Foto: ap BARCELONA rtr/dpa | Bei der Regionalwahl in Katalonien haben die Separatisten ihre absolute Mehrheit im Parlament in Barcelona verteidigt. Die Parteien könnten 70 der insgesamt 135 Abgeordneten stellen, wie am Donnerstagabend aus offiziellen Zahlen nach Auszählung fast aller Stimmen hervorging. Dies wäre ein schwerer Rückschlag für den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Er hatte gehofft, dass die Separatisten aus der Neuwahl geschwächt hervorgehen und der Konflikt mit der wohlhabenden Region entschärft wird. „Entweder ändert Rajoy sein Rezept, oder wir ändern das Land“, sagte Ex-Regierungschef Carles Puigdemont im Fernsehen, begleitet von vier ehemaligen Ministern. Puigdemont war nach seiner Entmachtung Ende Oktober nach Belgien geflüchtet. Ein Sprecher erklärte per Textnachricht: „Wir sind die Comeback-Jungs.“ Den Teilergebnissen zufolge dürfte Puigdemonts Partei Junts per Catalunya das Lager der Separatisten mit 34 Parlamentssitzen anführen. Bei einer Rückkehr nach Spanien würde Puigdemont allerdings wohl festgenommen. Er hatte die Unabhängigkeit der Region ausgerufen und damit das Eingreifen der Zentralregierung ausgelöst. Bereits das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober war von der spanischen Justiz als illegal kassiert worden. Die Verfassung Spaniens von 1978 sieht eine Abspaltung einer Region nicht vor. Zuletzt hat es vonseiten der Unabhängigkeitsbefürworter Signale der Entspannung gegeben. Rajoy hoffte daher auf eine Rückkehr der Region zur Normalität. Ein Sieg der Separatisten könnte dagegen mehr Zweifel an seiner Krisenpolitik aufkommen lassen. Ciudadanos kann keine Koalition bilden Die Gegner der Unabhängigkeit verpassten die absolute Mehrheit überraschend deutlich. Umfragen hatten zuvor lange ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Separatisten prognostiziert. Dennoch ging die liberale Partei Ciudadanos der Spitzenkandidatin Inés Arrimadas als eigentlicher Gewinner aus der Wahl hervor. Ciudadanos ist strikt gegen eine Loslösung der Region von Spanien und erzielte 37 Sitze – jedoch gab es wegen des schlechten Abschneidens der möglichen Koalitionspartner keine Chance auf eine Regierungsbildung. Katalonien ist etwa so groß wie Belgien und liegt im Nordosten des Landes an der Grenze zu Frankreich. Die Region hat eine eigene Sprache und Kultur und ist vergleichsweise wohlhabend. Die Wirtschaftsleistung ist höher als die Portugals und trägt maßgeblich zum spanischen Wachstum bei. Der Konflikt um die Unabhängigkeit hat jedoch zur Verunsicherung geführt: Zahlreiche Firmen in der Region haben ihren Sitz in andere Regionen verlegt.
taz. die tageszeitung
Die Unabhängigkeitsparteien stellen nach der Wahl 70 der 135 Abgeordneten im Parlament. Mehren sich jetzt die Zweifel an Ministerpräsident Rajoys Krisenpolitik?
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Für immer sechzehn - taz.de
Für immer sechzehn Punk‘s not dead? Buzzcocks und Trashmonkeys live Es hätte ein unbeschwerter Nostalgie-Abend im Tower werden können. Die 70er-Punk-Legende The Buzzcocks aus Manchester mit den Bremer Neo-Beatniks The Trashmonkeys als Vorband: Zweimal Musick nach alter Väter Sitte. Schade nur, wenn eine von beiden Bands die Sache falsch anpackt. Mit Schlips, Kragen und unverkrampfter Leichtigkeit inszenieren die Trashmonkeys ein Stück Musikgeschichte, das sie selbst nur aus zweiter Hand kennen. Statt Authentizitäts-Bemühen: originalgetreuer 60s-Garagen-Pop bis zum Abwinken. Die Buzzcocks haben die schwere Aufgabe, das jugendliche Gefühls-Chaos von Liebe und Hass im reifen Mannesalter noch glaubwürdig zu vermitteln. Lustlos schrammeln sie ihre alten Hits herunter und grinsen ab und zu verschmitzt, als wollten sie sich entschuldigen. Tobias, 28, seit 13 Jahren Buzzcocks-Fan, sieht darin eine ironische Distanzierung vom Frühwerk: Man könne mit 50 nicht mehr ohne weiteres Songs spielen, die man mit 20 geschrieben habe. Stimmt. Aber warum lässt man es dann nicht gleich bleiben? till stoppenhagen
till stoppenhagen
Punk‘s not dead? Buzzcocks und Trashmonkeys live
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Bleiberecht für gut integrierte Menschen: Hamburg bleibt hart - taz.de
Bleiberecht für gut integrierte Menschen: Hamburg bleibt hart Hamburg will dem Bundesgesetz, das ein Bleiberecht für geduldete Menschen ermöglichen wird, nicht vorgreifen – und steht damit im Norden alleine da. Mehr als 7.000 Menschen in Hamburg haben nur eine Duldung Foto: Wolfgang Kumm / dpa HAMBURG taz | Sie könnten vielleicht bleiben, dürfen aber nicht: In Hamburg werden Personen, die unter einer neuen Regelung Aussicht auf einen Aufenthalt hätten, weiterhin abgeschoben. Während andere Bundesländer im Norden Vorgriffsregelungen getroffen haben, um das zu verhindern, will Hamburg bis zum Inkrafttreten der Regelung warten. Die Linken-Fraktion und zivil-gesellschaftliche Organisationen kritisieren die Haltung des Senats. Das Bundesinnenministerium brachte vor einem halben Jahr einen Gesetzentwurf heraus, der gut integrierten Menschen ein Bleiberecht in Deutschland ermöglichen soll. Das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht ist darin ein zentrales Element. Die Regelung würde Personen, die seit dem 1. Januar 2022 fünf Jahre in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“, ein Bleiberecht auf Probe ermöglichen. Am 2. Juni 2022 gab es in Hamburg 7.494 Personen mit einer Duldung. Viele von ihnen könnten vom kommenden Gesetz profitieren. Doch bis eine verbindliche Regelung auf Bundesebene greift, dürfen die Länder über die Umsetzung von Übergangsmaßnahmen entscheiden. Die Hamburger Innenbehörde bezieht dabei eine klare Haltung: Veränderungen des Verwaltungshandelns könnten sich nur nach aktuellem Recht richten. Es müsse daher bis zum Gesetzgebungsverfahren abgewartet werden. Auch dass der Gesetzentwurf im Koalitionsvertrag steht, spiele dabei keine Rolle, weil der nicht rechtlich bindend sei. In Niedersachsen erhalten Betroffene eine Ermessens­duldung Bereits Anfang des Jahres stellte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Carola Ensslen, einen Antrag. Darin forderte die Partei den Senat auf, in Anlehnung an das zukünftige Gesetz in Fällen, die unter die neue Regelung fallen würden, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. In der Antwort auf den Antrag beharrte der Senat auf seiner Position: Was nicht Bundesgesetz ist, dürfe nicht umgesetzt werden. Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei Pro Asyl, hält den Starrsinn des Senats für unbegründet. Auch andere Bundesländer würden ihre Zurückhaltung damit untermauern, dass im Gesetz nichts davon stehe. „Aber jetzt gibt es einen Gesetzentwurf, und somit steht fest, dass sich etwas ändern wird“, so von Auer. Ähnlich äußerte sich auch der Flüchtlingsrat Hamburg dazu. Eine vorzeitige Abschiebung würde den Betroffenen die ihnen zugedachte Chance auf einen legalisierten Aufenthalt nehmen. Daher sei es wichtig, eine baldige Übergangslösung zu erlassen. Im Vergleich zur Hamburg haben andere Bundesländer im Norden Maßnahmen eingeführt, um die Ausweisungen Betroffener vorläufig auszusetzen. Bremen und Schleswig-Holstein haben Empfehlungen erlassen, die den Behörden erlauben, in Einzelfällen von Abschiebungen abzusehen. In beiden Ländern ziehen diese Maßnahmen aber keine konkreten Verpflichtungen nach sich. Niedersachsen hat dagegen verbindliche Regelungen erlassen. Dort erhalten Betroffene bis zur endgültigen Gesetzesänderung eine Ermessensduldung. Für Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen, ist das ein positives Zeichen. Trotzdem sieht er das größte Problem darin, dass es kein einheitliches Vorgehen in den einzelnen Bundesländern gibt. So könnten sich Weber zufolge Länder ihrer Verantwortung weiter entziehen und sich weigern, der Intention des Gesetzgebers zu folgen und den Vollzug von Abschiebungen des begünstigten Personenkreises erst einmal auszusetzen, solange das Chancen-Aufenthaltsrecht kein Gesetz ist. „Aus der Perspektive der Betroffenen ist dies natürlich eine Katastrophe“, sagt Weber.
Valeria Bajaña Bilbao
Hamburg will dem Bundesgesetz, das ein Bleiberecht für geduldete Menschen ermöglichen wird, nicht vorgreifen – und steht damit im Norden alleine da.
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Leider gar nicht übertrieben - taz.de
Leider gar nicht übertrieben Kommentar von Ines Kappert Aktion „Flüchtlinge fressen“ „Wer sich Kampagnen wie ‚Flüchtlinge fressen‘ ausdenkt, der hat sich von der Verrohung der Flüchtlingspolitik anstecken lassen“, schrieb Christian Jakob an dieser Stelle zur neuesten Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS). Das ZPS kündigt an, ein Flugzeug zu chartern, das Menschen ohne Visum sicher nach Deutschland bringt. Das habe Sinn, so Jakob – jedoch gleichzeitig eine Arena mit vier Tigern zu bestücken und bei Nichtgelingen der illegalen Passage verzweifelte Geflüchtete zum Suizid einzuladen, sei zu viel der Menschenverachtung. Doch nicht das ZPS speist den Zynismus in die Mitte der bürgerliche Gesellschaft ein, es macht die Normalisierung der Menschenverachtung sichtbar, leider ohne zu übertreiben. Bilder von Ertrunkenen Der Innenminister griff dieser Tage ohne Faktengrundlage Ärzte in Deutschland an, weil sie vermehrt Atteste ausstellen würden, um Abschiebungen zu verhindern. Diese Verleumdung kostet Menschenleben. Doch genau daran sollte sich die Gesellschaft gewöhnen. Und wir halten die Bilder von Ertrunkenen und entsetzten Überlebenden, die auf der Balkanroute in Internierungslager gesteckt werden, ja schon ganz gut aus. Im Rahmen der Kunstaktion werden nationale Grenzen als Verbrechen gewertet, Kunst und Aktivismus vermischt, wird guter Geschmack mit schlechtem verbunden und die richtige politische Forderung gestellt. So soll Gauck die EU-Richtlinie aussetzen, die festlegt, dass Fluggesellschaften, die Menschen ohne Visum mitnehmen, hohe Geldstrafen zahlen müssen. Das ZPS weist damit auch den Kritiker_innen der Flüchtlingspolitik eine zweifelhafte Rolle zu. Wenn Menschen vor laufender Kamera und ganz legal das Recht auf Leben entzogen wird, ohne dass die Gesellschaft kopfsteht, dann hat die Menschenverachtung den Alltag der Mehrheitsgesellschaft gekapert. Längst haben wir uns zum Teil des brutalen Spektakels machen lassen. Langversion sowie Kommentar von C. Jakob auf taz.de/berlin
Ines Kappert
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Eumann darf doch nach Düsseldorf - taz.de
Eumann darf doch nach Düsseldorf KÖLN taz ■ Marc Jan Eumann darf wieder „Spitze“ sein. Der Politiker aus dem Kölner Stadtteil Mülheim wurde überraschend als Vize-Chef der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag wieder gewählt. Seine Chancen waren nach der Wahlniederlage gesunken, weil manche Ex-Minister auf einen Sitz in der Fraktionsführung spekuliert hatten. Außerdem wurde die Zahl der Stellvertreter reduziert. Eumann wird fortan für die SPD-Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik zuständig sein. FÜB
FÜB
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Verteilung von Flüchtlingen aus Moria: Das Problem heißt Lager - taz.de
Verteilung von Flüchtlingen aus Moria: Das Problem heißt Lager Deutschland will mehr Menschen aus Moria aufnehmen. Doch Griechenland lässt sie nicht ausreisen. Das Kalkül dahinter: Abschreckung. Ehemalige Bewohner des zerstörten Lagers Moria in einem neu errichteten Lager heute auf Lesbos Foto: Alkis Konstantinidis/reuters Seit Monaten wird darum gestritten, ob Deutschland mehr Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen soll. Nun will die Bundesregierung 1.500 Menschen mehr aufnehmen als die bisher zugesagten 1.000. Und dann das: Griechenland will die Menschen aus Moria nicht ausreisen lassen. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis machte klar, dass nur anerkannte Flüchtlinge in andere EU-Staaten ausreisen dürfen sollen. Das ist aber nur eine Minderheit der Insassen von Moria. Für viele hierzulande klang diese Weigerung infam und unverständlich. Infam ist sie, aber erklären lässt sie sich. Bislang wollte Griechenland immer, dass möglichst viele Flüchtlinge von anderen EU-Staaten aufgenommen werden. Das hat sich grundsätzlich nicht geändert. Nach dem Brand in Moria fürchtet die Regierung ­jedoch, dass die Insassen anderer EU-„Hotspots“ auf den Ägäis-Inseln – auch diese sind völlig überfüllt und teils von Corona-Ausbrüchen geplagt – ebenfalls ihre Lager anzünden, um ausreisen zu dürfen. An dieser Befürchtung könnte etwas dran sein. Das liegt aber keineswegs daran, dass es sich bei den Insassen um „Kriminelle“ handelt, die den Staat erpressen wollen, wie in den vergangenen Tagen vielfach zu lesen war. Es liegt vielmehr daran, dass es diese Lager so gar nicht geben dürfte. Was dort geschieht, verletzt praktisch alle Grundrechte der dort untergebrachten Menschen. Daran ist Griechenland keineswegs unschuldig: Das Land hat seit 2015 enorme Summen von der EU bekommen, um die Flüchtlinge auf seinem Territorium angemessen zu versorgen. Es hat aber aus strategischen Gründen erhebliche Anteile dieser Gelder nicht abgerufen, um mit Bildern vom Elend in den Lagern eine andere EU-Asylpolitik zu erzwingen und andere Flüchtlinge abzuschrecken. Das Paradox, dass ausgerechnet Athen jetzt auf die Umverteilungsbremse drückt, zeigt: Das Problem heißt nicht Moria, es heißt Lager. Solange Menschen systematisch entrechtet werden, um andere abzuschrecken, ist mit punktuellen Ak­tionen keine Gerechtigkeit herstellbar.
Christian Jakob
Deutschland will mehr Menschen aus Moria aufnehmen. Doch Griechenland lässt sie nicht ausreisen. Das Kalkül dahinter: Abschreckung.
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Autorin Inge Deutschkron: Die couragierte Aufklärerin - taz.de
Autorin Inge Deutschkron: Die couragierte Aufklärerin Inge Deutschkron ist eine leidenschaftliche Journalistin. Nun sind ihre Artikel über den Auschwitz-Prozess in sorgsam editierter Buchform erschienen. Die deutsch-israelische Journalistin und Autorin Inge Deutschkron während einer Gedenkfeier 2015 Foto: dpa Sie trug den gelben Stern und auch den Zwangsnamen Sara. Sie überlebte die Judenverfolgung in Berlin, mehr als zwei Jahre versteckt in der Illegalität, ständig von Denunziation und Deportation bedroht: Die Rede ist von der 96-jährigen Journalistin und Autorin Inge Deutschkron. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, ab 1946 in England lebend, nach Reisen auf dem indischen Subkontinent und Asien entschloss sie sich Mitte der fünfziger Jahre, nach Westdeutschland zurückzukehren und als Journalistin über und aus der Bonner Republik zu berichten. Jenem verstockten deutschen Obrigkeitsstaat, in dem die Forderung nach einem „Schlussstrich“ bereits als Fanfare einer breiten Öffentlichkeit erscholl, die sich ihrer verbrecherischen NS-Vergangenheit nicht zu stellen bereit war und wo Nazis erneut in führenden Positionen saßen. Kann es erstaunen, dass Inge Deutschkron, die ausgegrenzte und verfolgte Jüdin, Hans Globke, den Mitverfasser und Kommentator der „Nürnberger Rassengesetze“, späteres CDU-Mitglied und damaligen Staatssekretär von Bundeskanzler Konrad Adenauer, öffentlich einen „Schweinehund“ nannte? Deutschkrons Rückkehr nach Bonn war, wie sie es selbst ausdrückte, eine „Reise zu meinem Beruf“. Zuerst als freie Journalistin arbeitend, schrieb sie bald auch als Korrespondentin der israelischen Zeitung Ma’ariv. Präzise Reportagen Für diese Tageszeitung berichtete sie von Oktober 1963 bis zum August 1965 vom Frankfurter Auschwitz-Prozess. Kontinuierlich nahm sie als Prozessbeobachterin an dem „Strafverfahren gegen Mulka u. a.“ teil, benannt nach dem Hamburger Export-Kaufmann Robert Mulka, Adjutant des Lager­kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß.Gebannt folgte sie den Verhandlungen, stenografierte ihre Beobachtungen, tippte ihre Texte in englischer Sprache in die Schreibmaschine, um sie nach Tel Aviv zu telegrafieren, wo sie ins Hebräische übersetzt wurden. Diese belastenden, unter enormem Zeitdruck verfassten Berichte erscheinen nun erstmals, aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von der Historikerin Beate Kosmala, in Buchform. Das BuchInge Deutschkron: „Auschwitz war nur ein Wort. Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965“. Metropol Verlag, Berlin 2019, 328 S., 24 Euro Präzise und fast emotionslos versuchte Inge Deutschkron durch ihre Gerichtsreportagen einer israelischen Leserschaft die Geschehnisse in Auschwitz zu schildern. Erfüllt von der Hoffnung, dass der Frankfurter Prozess der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen in Auschwitz und der Bestrafung der Täter dienen werde, beschrieb sie detailliert das Verhalten der Verteidiger, allen voran deren Hauptprotagonisten Hans Laternser, den sie wegen seines Verhaltens gegenüber den Zeugen wiederholt und unverhohlen als „Nazi-Anwalt“ oder „Nazi-Juristen“ bezeichnete. Auch wenn ihre Aufzeichnungen kein Wortprotokoll darstellen, versuchte Inge Deutschkron, den Verlauf der Verhandlungstage durch dialogische Sequenzen wie szenische Skizzierung wiederzugeben. Mit den wissenschaftlichen Gutachten der Historiker vom Institut für Zeitgeschichte in München war sie ebenso unzufrieden wie der Korrespondent des Norddeutschen Rundfunks, Axel Eggebrecht; beide bemängelten, dass nur unzureichend die Bedeutung der IG Farben, die Rolle anderer deutscher Firmen und Profiteure bei der Ausbeutung der Auschwitz-Häftlinge aufgedeckt wurde. Deutschkrons ganze Sympathie gilt den Hunderten Zeugen, die aus verschiedenen europäischen Ländern wie auch aus Israel ins Land ihrer Mörder und Peiniger gereist waren, um trotz aller Traumata und psychischen Belastungen vor Gericht auszusagen. Auch mit dem zeitlichen Abstand von mehr als 50 Jahren erschüttern diese Zeugenaussagen, versagt die Vorstellungskraft angesichts der immer und immer wieder geschilderten unmenschlichen Grausamkeiten im Lageralltag. Wichtige Zeitdokumente Eine besondere Würdigung in ihren Berichten erfuhr der Vertreter der Nebenkläger, der aus Kassel stammende Henry Ormond, dessen Initiative es zu verdanken war, dass das Gericht im Dezember 1964 in Auschwitz eine Ortsbesichtigung vornahm, an der dann auch Inge Deutschkron teilnahm. Das Urteil des Frankfurter Gerichts vom August 1965 kommentierte sie mit Enttäuschung und kritisierte „die Unzulänglichkeit des deutschen Strafrechts, um Verbrechen, wie sie in Auschwitz verübt worden waren, adäquat zu bestrafen.“ Noch im selben Jahr veröffentlichte Inge Deutschkron ihr Buch „… denn ihrer war die Hölle“ über Kinder in Gettos und Lagern. Im Vorwort schrieb sie: „Keiner von uns Journalisten, der über einen längeren Zeitraum hinweg im Gerichtssaal von Frankfurt zugegen war, dürfte am Ende des Prozesses der gleiche Mensch geblieben … sein.“ Ihre jetzt von Beate Kosmala sorgsam edierten Prozessberichte stellen wichtige Zeitdokumente dar, geschrieben von einer couragierten Frau und leidenschaftlichen Aufklärerin.
Wilfried Weinke
Inge Deutschkron ist eine leidenschaftliche Journalistin. Nun sind ihre Artikel über den Auschwitz-Prozess in sorgsam editierter Buchform erschienen.
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Mangelware durch Corona und Rückrufe: Babymilch in den USA knapp - taz.de
Mangelware durch Corona und Rückrufe: Babymilch in den USA knapp Ein Mangel an Babymilch empört Eltern in den USA. Das Verständnis schwindet, Präsident Joe Biden gerät unter Druck und will nun mehr Importe zulassen. Dieses Baby aus Utah hat Glück: Seine Mutter konnte noch Babymilch auftreiben Foto: WASHINGTON afp | Mütter in den USA sind in Sorge: Ein Mangel an Babymilch sorgt in den Vereinigten Staaten für Aufregung, Eltern suchen zunehmend verzweifelt in Drogeriemärkten nach Säuglingsnahrung, und längst schon wird das Thema auch politisch heiß debattiert. Für die Krise gibt es eine Reihe von Gründen – unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die vorübergehende Schließung einer großen Produktionsstätte wegen einer vermuteten Bakterienbelastung. Eltern aber haben schon längst kein Verständnis mehr. Sara Khan, deren jüngstes von drei Kindern sechs Monate alt ist, berichtet frustriert von leeren Regalen in Drogerien und Supermärkten in der Hauptstadt Washington und Umgebung. Freunde schicken ihr inzwischen Babymilchpulver aus Boston oder New York, wenn sie welches finden. Sogar in Deutschland hat sie das Pulver schon bestellt. „Das ist absurd“, sagt Khan. Hauptgrund für die Knappheit ist eine große Rückrufaktion des Herstellers Abbott nach dem Tod von zwei Babys. Vermutet wurde zwischenzeitlich eine Belastung durch Bakterien in einem Werk im Bundesstaat Michigan. Der Verdacht wurde ausgeräumt, die Produktion wurde aber noch nicht wieder aufgenommen. Betroffen ist unter anderem die bekannte Marke Similac, auf die in den USA Millionen Familien setzen. Schon zuvor hatten eine stark schwankende Nachfrage, Lieferkettenprobleme und ein Arbeitskräftemangel im Zuge der Corona-Pandemie für Probleme gesorgt. Zuletzt gab es laut dem Marktbeobachter Datasembly in den Lagerbeständen eine Lücke von mehr als 40 Prozent. Der Babymilch-Mangel wird zur nationalen Krise „Das ist nicht über Nacht passiert“, sagt Sara Khan. „Ich weiß seit fast sieben Monaten von diesem Problem.“ Auch die Familie Espinosa aus San Diego im Westküstenstaat Kalifornien klagt über die Engpässe. „Es gibt nichts in den Regalen“, sagt Olivia Espinosa. Besonders problematisch ist, dass ihr drei Wochen altes Baby Maya eine Laktose-Intoleranz hat. Die Eltern würden gerne verschiedene Produkte ausprobieren, die sind aber schlicht nicht erhältlich. Das sei „extrem frustrierend“, ärgert sich Olivia Espinosa. Das Magazin The Atlantic schreibt schon, der Babymilch-Mangel sei von einer anfänglichen Kuriosität zu einer „nationalen Krise angewachsen“. Die Opposition nutzt das für Angriffe auf Präsident Joe Biden und dessen Regierung. Der Anführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, sagte am Donnertag, Biden und die US-Lebensmittelaufsicht FDA hätten von dem Problem gewusst, während es sich ausgeweitet habe, aber nichts unternommen. „Sie haben geschlafen.“ „Das ist kein Dritte-Welt-Land“, empört sich die konservative Abgeordnete Elise Stefanik. „Das sollte nie in den Vereinigten Staaten passieren.“ Das Weiße Haus beteuert, es arbeite „rund um die Uhr“ daran, das Problem zu beheben. Am Donnerstag sprach Biden mit Vertretern von Herstellern und Handelsketten und kündigte in der Folge eine Reihe von Maßnahmen an. Unter anderem sollen mehr Babymilch-Importe zugelassen werden – derzeit stammen nach offiziellen Angaben 98 Prozent des US-Konsums aus der heimischen Produktion – außerdem sollen bürokratische Hürden abgebaut und möglicher Marktmissbrauch untersucht werden. Der Präsident steht unter großem Druck: Seine Umfragewerte sind angesichts der andauernden Corona-Pandemie, außenpolitischer Krisen und der hohen Inflation ohnehin schon schlecht, und im Herbst stehen die wichtigen Kongress-Zwischenwahlen an. Da kann Biden sich nicht auch noch eine lang andauernde Babymilch-Krise leisten.
taz. die tageszeitung
Ein Mangel an Babymilch empört Eltern in den USA. Das Verständnis schwindet, Präsident Joe Biden gerät unter Druck und will nun mehr Importe zulassen.
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Von Liebe ist hier nicht die Rede - taz.de
Von Liebe ist hier nicht die Rede KUNST Sie war enttäuscht von ihrer Ehe und begann ein Verhältnis mit einem Verehrer ihrer Mutter. In der Neuköllner Galerie Su de Coucou beschäftigen sich dreizehn KünstlerInnen mit dem Tagebuch der Fontane-Heldin Effi von Briest VON DOROTHEE ROBRECHT Man muss „Effi Briest“, den Roman von Theodor Fontane, nicht gelesen haben, um die Ausstellung „Das Tagebuch der Effi von Briest“ in der Berliner Galerie Su de Coucou würdigen zu können, doch hat man es, ist sie ein doppeltes Vergnügen. Denn die Ausstellung enthüllt eine Effi, die man so noch nicht gesehen hat, obwohl sie zu den berühmtesten Frauenfiguren der deutschen Literaturgeschichte gehört. Rainer Werner Fassbinder ist nur einer von fünf RegisseurInnen, die ihre Geschichte verfilmten, doch ganz auserzählt ist sie offenbar noch nicht. Hinzuerfunden wird in dieser Ausstellung nichts, die Arbeiten halten sich strikt an die Effi des Romans: Eine junge Frau, die – selbstbewusst und äußerst lebhaft – mit 17 einen Baron heiratet, an der Ehrbarkeit dieser Ehe erstickt, sich in eine Affäre flüchtet, verstoßen wird und schließlich, mit knapp 30, im Haus ihrer Eltern stirbt. „Effi Briest ist die deutsche Madame Bovary. Als wir die Geschichte damals in der Schule gelesen haben, hat sie mich wirklich berührt.“ sagt Pawel Krawlik, einer der Künstler. Krawlik ist Tscheche, und sein Beitrag ist das Foto eines Mädchens, das im Schneidersitz und mit Zigarette in der Hand am Boden hockt – lässig, aber auch merkwürdig erschöpft. „Ihr Blick hat mich fasziniert, für mich liegt Resignation darin. Und ich glaube, auch Effi hat resigniert, als sie geheiratet hat. Sie wollte heiraten, sie wollte, was diese Ehe ihr zu bieten hatte an Status und Annehmlichkeiten. Aber vielleicht hat sie geahnt, dass das nicht alles ist, dass Liebe fehlt.“ Außerehelicher Sex Von Liebe ist bei Fontane nicht die Rede, und von Sex schon gar nicht. Wie merkwürdig das ist, denn immerhin wird außerehelicher Sex Effi zum Verhängnis, illustriert ein weiteres Werk. „Secret Effi“ heißt die Installation der polnischen Künstlerin Sylwia Olszewska-Tracz. Zu sehen sind 20 kunstvoll drapierte schwarze Schachteln, flankiert von schwarzen Taschenlampen. Lüftet man die Deckel dieser Schachteln, fällt der Blick auf schwarzen Karton, von Dreiecken durchlöchert, die an die Splitter eines zerbrochenen Spiegels denken lassen. Darunter, zu sehen nur mithilfe der Taschenlampen, sind Zeichnungen einer Frau zu sehen, die sich selbst befriedigt. Ein elegantes Spiel mit Pornografie und Voyeurismus, das Bedürfnisse sichtbar macht, die Effi sich nicht hat erfüllen können. Die Exponate ergänzen sich erstaunlich gut; erstaunlich, weil es dreizehn KünstlerInnen sind, von denen einige, wie etwa die Japanerin Shoxxx, den Roman nicht kannten und sich erst anlässlich dieser Ausstellung mit ihm beschäftigt haben. Shoxxx bildet den ausgestopften Hai nach, den Effi im Haus ihres Mannes vorfindet, als riesiges rotes Stofftier. Der Hai taucht auch bei Iris Weirich auf: „Effis Nachtmar“ heißt der Fotoprint, auf dem sie ihn durch eine Traumlandschaft schweben lässt, surreal und unheimlich. Das wohl extravaganteste Exponat: ein dickes Buch, in Schweinsleder gebunden. Darin findet sich das Tagebuch der Effi Briest, handgeschrieben und bebildert mit zahlreichen Fotos, auf denen man Romy und Magda Schneider erkennt. „Ich habe den Fokus auf die Mutter/Tochter-Beziehung gelegt“, sagt die Künstlerin Lena Braun. „Effi hat ja nicht nur einen Verehrer ihrer Mutter geheiratet, sie hat ihre schöne Mutter geliebt und wollte sein wie sie. Aber das war sie nicht, sie war zu wild, zu frei.“ Braun hat diese Ausstellung auch kuratiert, als Auftakt für ihr Projekt „Effis Haus“. Geplant ist, ein ganzes Haus so umzuwandeln, dass Fontanes Roman in ihm begehbar wird. Das Haus hat Braun auch schon gefunden: im Ruppiner Land: „Das Elternhaus von Effi stand im Ruppiner Land, und hier in Berlin, am Anhalter Bahnhof, war die kleine und dunkle Wohnung, in der sie vor sich hinvegetierte, nachdem ihr Mann sie verstieß. Wo wenn nicht hier sollte man ihr ein Denkmal setzen?“ Was fehlt, ist Geld für den Kauf des Hauses. Sollte es Braun gelingen, dieses Geld aufzutreiben und Sponsoren zu finden, wäre der erste und wichtigste Schritt getan. Dann gäbe es ein Effi-Briest-Haus, ein Haus, das lebt, weil KünstlerInnen dort weiterarbeiten könnten zu Effi Briest und dazu, wie sie sie sehen. Das Konzept für das Haus ist einsehbar unter www.sudecoucou.net. Crowdfunding soll die Mittel einspielen, die Braun braucht, um ihre Vision zu realisieren. ■ Bis 22. August. Dienstag bis Samstag, 14–19 Uhr und nach Vereinbarung: 89 64 31 39. Weserstr. 202, Neukölln
DOROTHEE ROBRECHT
KUNST Sie war enttäuscht von ihrer Ehe und begann ein Verhältnis mit einem Verehrer ihrer Mutter. In der Neuköllner Galerie Su de Coucou beschäftigen sich dreizehn KünstlerInnen mit dem Tagebuch der Fontane-Heldin Effi von Briest
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Parlamentswahlen in Griechenland: Konservative könnten Mehrheit holen - taz.de
Parlamentswahlen in Griechenland: Konservative könnten Mehrheit holen Vor der Wahl in Griechenland liegt die liberal-konservative Nea Dimokratia in Umfragen klar vorne. Und Tsipras' Syriza nur bei 31,5 Prozent. Könnte neuer griechischer Ministerpräsident werden: Kyriakos Mitsotakis Foto: dpa ATHEN taz | 20 Parteien stellen sich für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 7. Juli in Griechenland zur Wahl. Hauptanwärter sind die beiden großen Kontrahenten: die Regierungspartei Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) des derzeit amtierenden Ministerpräsidenten Alexis Tsipras und der ­liberal-konservative Herausforderer Nea Dimokratia (ND) unter Parteichef Kyriakos Mitsotakis. Laut Umfrageergebnissen liegt die ND klar vorne. Das Meinungsforschungsinstitut MRB prognostiziert der Partei bis zu über 40 Prozent der Wählerstimmen. Das könnte dank des griechischen Wahlsystems bis zu 163 der 300 Sitze im Parlament einbringen, also eine absolute Mehrheit. Denn der stärksten Partei werden nochmals 50 Sitze als Bonus dazugegeben. Alexis Tsipras hat in seiner Amtszeit immer wieder gegen diese Besonderheit angekämpft. Nun sollen die Wahlen ein letztes Mal nach diesem System erfolgen. Sollte die ND so stark abschneiden wie vorhergesagt, wäre es das erste Mal seit Ausbruch der Wirtschaftskrise in Griechenland vor zehn Jahren, das eine Partei eine so klare Mehrheit erhält. Syriza werden bis zu 31,5 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Daraus ergeben sich höchstens 87 Sitze. Auf dem dritten Platz hat sich die Bewegung der Veränderung (KiNal) etabliert, die aus Mitgliedern der ehemaligen Volkspartei Pasok besteht. Die Sozialisten könnten über 20 Sitze erhalten. Die Kommunistische Partei (KKE) liegt laut Umfragen knapp dahinter mit bis zu 15 Sitzen und kann die faschistische Partei Goldene Morgenröte (XA) auf den fünften Platz verweisen. Die Umfragewerte für die Faschisten liegen zwischen 2,6 und 5 Prozent. Sie könnten demnach an der Dreiprozenthürde scheitern und nicht mehr in das Parlament einziehen. Syriza zerfällt in neue Bündnisse Auch der frühere Finanzministers Yanis Varoufakis mit seiner Partei MeRA25 sowie die Partei Plefsi Eleftherias der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou sind aufgestellt. Beide PolitikerInnen haben Anfang 2015 der Regierungspartei Syriza angehört und das linke Bündnis verlassen, nachdem Tsipras ankündigte, mit den Gläubigern ein neues Spar- und Reformpaket zu unterzeichnen. Etwa zehn Prozent der WählerInnen sind laut Umfragen noch unentschlossen. Es wird mit einer niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet, auch weil es in Griechenland keine Briefwahl gibt. Es muss dort gewählt werden, wo man gemeldet ist. In den Sommermonaten befinden sich jedoch zahlreiche Saisonarbeiter nicht an ihrem Wohnort.
Theodora Mavropoulos
Vor der Wahl in Griechenland liegt die liberal-konservative Nea Dimokratia in Umfragen klar vorne. Und Tsipras' Syriza nur bei 31,5 Prozent.
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Direkt in‘s Hirn geschrummelt? - taz.de
Direkt in‘s Hirn geschrummelt? Funny kam und alle wollten dabei sein: Paare, chinesische Dissidenten und evangelische Mädchen. Das behauptet zumindest einer von drei taz-Autoren, die sich in der Einlass-Schlange drängten. Die Urteile: Von „Nicht sein Tag“ bis „Großes Tennis“ Vorverkauf? Nöö, gibt‘s nicht. Ist doch voll unspontan. Aber eine Stunde auf der Lagerhaustreppe stehen, das ist voll spontan, ey. Frieren, drängeln und gedrängelt werden, um den Einlass bangen. Als das Konzert anfängt, ist die Stimmung auf dem Nullpunkt und die Leute stehen noch bis zum O-Weg. Normalerweise ist sowas das Rezept für eine Saalschlacht. Doch dann kommt ER, und noch bevor die ersten beiden Zeilen verklungen sind, ist alles wieder gut. Er fühlt sich auch fehl am Platz, es ist nicht sein Tag. KönnenKünstler und Publikum mehr im Einklang sein? Der zarte Schmelz seiner Poesie macht warm ums Herz, ein bisschen Schummer-Schlager-Stimmung kommt auch auf. Und doch: Auch Funny kommt irgendwie nicht mit dem Kapitalismus klar, obwohl er gerne würde. Besser kann man es Geist und Seele kaum gehen lassen. Jan Kahlcke Funny van Wiebitte? Muss nicht jeder kennen, oder? Und dann schrummelt er sich trotzdem mirnixdirnix ins Hirn rein: Funny, Belcanto-Stimmchen und Gitarre wie Hannes Wader, aber Grübchen, Kulleräuglein – und Songs mit 1.000 Falltreppen. Funny schlagert und haut sanftig auf die Gutmenschen – das tut gut. Funny, der „Groooveman (mit drei O)“, Funny, der sich „Fleischfresser-Antilopen“ wünscht, die „erbarmungslos angreifen“, damit die Löwen auch mal ihr Fett abkriegen. Der Underdog, der zugibt, dass „in der Pubertät jeden Tag ein Auswärtsspiel“ ist, dass er „menschenverachtende Untergrundmusik“ hört, dass er wegen Schilddrüsenunterfunktion „immer ins Tor“ musste und immer noch „zu früh kommt“. Das ist großes Konzert-Tennis. Liedermacher war oldschool, ein Schimpfwort. Jetzt ist Funny. Kai Schöneberg Wenn jemand zum Melody Maker kommt, dann der ganze Fanclub der Sehnsucht: Hausmänner, ein paar Paare, evangelische Mädchen, lesbische schwarze Behinderte, Vladimir Putins Cousine, depressive Hypochonder, chinesische Dissidenten, unbekannte Pferde und andere. Im Nu sind 100.000 Karten weg. Im Regen draußen stehen die Bauarbeiter – schade, scheiße – und denken: Wozu noch beten? Sie sind Fatalisten, sie sind nicht mehr jung. Drinnen, im Hochhaus, tritt der Tombolamusikant auf. Er tut etwas Gutes und singt traurige Lieder. Manche mögen das Mädchenmusik nennen, aber wenn man menschenverachtende Untergrundmusik hören will, muss man wohl nach Uruguay fahren. Dieser Groooveman ist mehr wert als Geld. Er ist ein Engel, ein Holy Man. Funny ist ein Grund, vom Leben nicht enttäuscht zu sein. Tim Ingold
Jan Kahlcke / Kai Schöneberg / Tim Ingold
Funny kam und alle wollten dabei sein: Paare, chinesische Dissidenten und evangelische Mädchen. Das behauptet zumindest einer von drei taz-Autoren, die sich in der Einlass-Schlange drängten. Die Urteile: Von „Nicht sein Tag“ bis „Großes Tennis“
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Ermittlungen gegen Adbusting in Berlin: Vollkommen überzogen - taz.de
Ermittlungen gegen Adbusting in Berlin: Vollkommen überzogen Werbung überkleben ist jetzt offenbar schwerkriminell. Zumindest scheint die Berliner Staatsanwaltschaft so einzuschätzen. Ein Wochenkommentar. Manchmal liefert Adbusting Kund*innen auch wertvolle Informationen über das Produkt Foto: Reise Reise/CC BY-SA 4.0 BERLIN taz | Natürlich ist es ein bisschen What­aboutism, wenn man diesen Vergleich zieht. Dennoch bekommt man manchmal den Eindruck, dass es zwei Maßgaben im deutschen Rechtssystem gibt: Denn während in Deutschland 497 Rechtsextreme mit Haftbefehlen frei herummarodieren, bekommen kapitalismuskritische und linke Aktivisten für Bagatellen die ganze Härte der Strafverfolgungsbehörden zu spüren. Besonders eindrucksvoll, fast schon absurd hat diesen Eindruck ein Prozess bestätigt, der am Dienstag vor einem Berliner Amtsgericht gegen Auflagen eingestellt wurde. 1.200 Euro oder 120 Sozialstunden sollte der Angeklagte S. am Ende einer Einigung leisten. Eine Summe, die lächerlich ist angesichts des Ermittlungsaufwands, den Polizei und Staatsanwaltschaft für dieses Strafverfahren trieben: Der Angeklagte sollte in verschiedenen Städten ein paar Werbeplakate entfernt haben und Kästen der Firma Wall mit eigenen Postern mit satirisch-politischen Botschaften – sogenanntes Adbusting – bestückt haben. Darauf zu lesen: „Nazis essen heimlich Falafel“, „Mimimimi Free Boehmi Satire darf alles humorlose Kackbratze“ und „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Der Nazi macht es andersrum“. Er habe dabei, so die Anklage, auch Werbeplakate entwendet. Schwerer Diebstahl sei dies angesichts der Tatsache, dass diese mit Werkzeug aus Vitrinen entfernt worden seien. Nun, tatsächlich sind diese Plakate laut Verteidigung 5 Euro wert. Und die Ermittler gingen wohl von 30 Euro aus. Schweren Diebstahl stellt man sich jedenfalls irgendwie anders vor. Egal, wie teuer ein Plakat nun war: In beiden Fällen bleibt es geradezu lächerlich, wie viel Aufwand zur Aufklärung der mutmaßlichen Taten betrieben wurde. 120 Sozialstunden und 700 Euro Anwaltskosten bleiben Die Polizei Hamburg und Berlin arbeiteten nämlich gemeinsam an dem Fall, weil der vermeintliche Adbuster S. bereits im Zusammenhang mit dem G20-Protesten in Erscheinung getreten war. Damals habe er ein H&M-Plakat mit kritischen Anmerkungen zu deren Arbeitsbedingungen beklebt, wie sein Anwalt Fadi El-Ghazi der taz sagte. Ein Verleumdungsverfahren durch H&M wurde damals allerdings eingestellt, weil es sich bei den kritischen Anmerkungen wohl doch um Tatsachenbehauptungen handelte, wie ein 150-seitiges (!) Gutachten der Staatsanwaltschaft Hamburg glauben machte. Nach dem Verfahren war die Polizei jedoch auf S. aufmerksam geworden. Ob eine mehrköpfige Soko gebildet wurde, blieb unklar. Jedenfalls arbeiteten offenbar mehrere Polizisten aus verschiedenen Städten an dem Fall. Der Prozess zeigte, dass Ermittler*innen Fingerabdrücke von einem Plakat in Erfurt abglichen, zahlreiche Adbusting-Videos auswerteten und Mitarbeiter*innen der Firma Wall befragten. Sogar eine Hausdurchsuchung bei S. folgte, bei der unter anderem Plakate und Werkzeug gefunden wurden. Nochmal: Das alles, weil jemand ein Werbeplakat überklebt hat. Und ob das gereicht hätte, um den Prozess zu gewinnen, ist dabei noch ungewiss. Am Ende wollte S. weiteren Stress vermeiden und willigte in eine Einstellung gegen Auflagen ein. Die Kosten für das Verfahren trägt in diesem Fall die Staatskasse. Lediglich seinen Anwalt muss S. bezahlen. Unterm Strich bleiben 120 Sozialstunden und 700 Euro.
Gareth Joswig
Werbung überkleben ist jetzt offenbar schwerkriminell. Zumindest scheint die Berliner Staatsanwaltschaft so einzuschätzen. Ein Wochenkommentar.
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Ausstellung „Zonenrandgebiet“: Vom Leben am Rand - taz.de
Ausstellung „Zonenrandgebiet“: Vom Leben am Rand Vom „Grünen Band“ bis Nordkorea: Das Braunschweiger Photomuseum beschäftigt sich mit Grenzen und dem einstigen „Zonenrandgebiet“. Früher Grenzübergang, heute Gedenkstätte: Ansgar Marx’ zeigt den „Grenzübergang Marienborn“ (2019) Foto: Ansgar Marx BRAUNSCHWEIG taz | Wortwörtlich alle Jahre wieder veranstaltet das Braunschweiger Museum für Photographie seine Mitgliederausstellung. In ihr ging es auch schon mal ganz konkret ums weihnachtliche Befinden, aber ebenso um die Eintracht (nicht nur als lokalen Fußballverein) sowie Zwietracht – oder es wurde gar kein inhaltlicher Bezugspunkt gesetzt. Dieses Jahr stehen 30 Jahre Mauerfall im Blickpunkt, in Braunschweig ja ein Thema mit großem Erinnerungspotenzial. Denn für die strukturschwache Region bedeutete die Lage im sogenannten Zonenrandgebiet zwar einerseits hoch willkommene Finanzspritzen aus dem Sonderabschreibungs- und Investitionsförderprogramm der Bundesregierung, andererseits aber auch ein kaum zu überschätzendes großes Trauma. Die so martialisch wie grotesk gesicherte, unüberwindbare Grenze der DDR beschnitt der Stadt nicht nur ihr historisches Hinterland: Man fühlte sich hier stets ein wenig wie am Ende der Welt, mit dem Rücken zur Wand. Allerdings wird wohl keine*r der ab den 1980ern Geborene*n dieses Lebensgefühl nachempfinden können. Und auch tief im Westen der alten BRD herrschten zwar jede Menge Probleme, aber halt anderer Art. Ganz zu schweigen vom Leben jenseits der Grenze in der DDR. So fallen dann die Bildbeiträge der 28 Mitglieder, die nach einem Workshop und einer Jurierung nun in die Ausstellung fanden, höchst unterschiedlich aus – je nach Alter, biografischem Bezug, Prägung Ost oder West. Getragen wird das Museum für Photographie von einem Verein, dem Berufsfotografen, Amateurlichtbildner und interessierte Laien angehören, sowohl regional Ansässige wie Auswärtige: Auch das spiegeln die Ausstellungsbeiträge wieder. Geradezu klassisch und naheliegend ist der Blick in die Anlagen der DDR zur Kontrolle der Ein- und Ausreise, meist ja zwecks Transits von und nach Westberlin. Der heute als Gedenkstätte umgewidmete Grenzübergang Marienborn war der höchstfrequentierte, denn er gewährte die kürzeste und mit Westmitteln gut ausgebaute Strecke durch die DDR nach Berlin. In seinem letzten Expansionsstadium Mitte der 1980er-Jahre besetzte er eine Fläche von 35 Hektar, allein zwischen 1984 bis zum Mauerfall wurden hier zehn Millionen Autos und fünf Millionen Lastwagen abgefertigt, insgesamt waren es wohl 35 Millionen. Mit dem Rücken zur Wand Ungefähr tausend Bedienstete waren hier tätig, ein Drittel von ihnen wohl auch als IM für die Stasi: Die Kontrolleure wurden also selbst kontrolliert. Dieses beklemmende Klima versucht die Gedenkstätte aufzuzeigen, Ansgar Marx nahm sie 2019 in aktuellen Augenschein. Und fand neben dem allgegenwärtigen Porträt des SED-Generalsekretärs Erich Honecker auch penible Dienstanweisungen. Die fast 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze forderte über die Jahre Todesopfer, man schätzt ihre Zahl auf 800. Herbert Döring-Spengler widmet ihnen – und weiteren, statistisch wohl nie offiziell Erfassten – ein Gedenken. Er vermerkt in seiner fotografischen Überblendearbeit etwa Todesfälle wie „Herzinfarkt während der Kontrolle“. Die Grenze war ein auch psychologisch hoch komplexes System aus mehreren „Schutzstreifen“ sowie einem fünf Kilometer breiten Sperrgebiet auf Seiten der DDR. Dörfer oder Einzelbauten, die hier lagen, mussten meist aufgegeben werden, ihre Bausubstanz wurde dem Verfall überlassen. So auch das Renaissanceschloss auf mittelalterlicher Burg und seine barocken Wirtschaftsgebäude in Harbke, westlich von Marienborn. Den verfallenden vormaligen Besitz der Familie von Veltheim dokumentierte die Braunschweigerin Bettina Akinro zwischen 1989 und 1991, heute ist er nur noch eine einsturzgefährdete Ruine. Lediglich der gehölzkundlich bedeutende Schlosspark und eine spätklassizistische, künstlich angelegte Turmruine erschienen der gesamtdeutschen Denkmalpflege erhaltbar. Der pittoreske Bauverfall in der DDR zog nach der Grenz­öffnung westliche Katastrophentouristen an. Michael Ewen fand 1989 in Halberstadt noch komplette, wenngleich verwaiste Straßenzüge mit Fassaden, Türen und Reklamen auf Vorkriegsniveau. Auch von diesen beklagenswerten Architekturen musste nach der Wende so manches weichen, und sei es nur einem großen Stellplatz für Wohnmobile unterhalb des Dombereichs. Mehr Glück hatten da die Bauhausbauten in Dessau. Henrike Junge-Gent nahm sie 1991, während ihrer Dienstzeit als abgeordnete niedersächsische Beamtin, ins Visier. Selbst die Meisterhäuser, in denen Gropius und Kolleg*innen einst logierten, sind pünktlich zum diesjährigen Bauhaus-Zentenarium ja wiederauferstanden, zum Teil aus wahren Ruinen. Versöhnlich will sich das „Grüne Band“ auf der ehemaligen innerdeutschen Grenze über all diese Erinnerungen legen: Das ökologische Vorzeigeprojekt des BUND, ein Refugium für mehr als 1.200 seltene und gefährdete Pflanzen- und Tierarten, inspirierte gleich mehrere Fotograf*innen. Wer das Auge offen hält, findet Relikte der ehemaligen Funktion, etwa die Doppelreihen aus Betonplatten, den sogenannten Kolonnenweg. Die AusstellungAusstellung „Zonenrandgebiet“: bis 12. 1. 20, Braunschweig, Photomuseum Es gibt weiterhin Nationen, die geteilt sind, am präsentesten ist wohl Korea. Leonhard Hofmann schaute vom Berge Inwangsan auf Seoul, die Hauptstadt Südkoreas. Von hier sind es etwa 60 Kilometer bis zum Reich Kim Jong-uns, also Nordkorea. Die angetroffenen Soldaten beobachten somit nicht die Grenze, sondern die eigene Stadt, die eigenen Landsleute. Südkorea gilt laut Demokratieindex als „unvollständige Demokratie“, besonders wegen Defiziten in seiner politischen Kultur, verboten sind auch Informationen aus dem Norden. Den ganz persönlichen Zonenrandgebieten widmet etwa Andreas Bormann höchst humorvolle Alltagsstillleben: Müll neben japanisch anmutender Akkuratesse, Vegetation neben versiegeltem Boden und kleine Spiegelflächen zur Selbsterkenntnis.
Bettina Maria Brosowsky
Vom „Grünen Band“ bis Nordkorea: Das Braunschweiger Photomuseum beschäftigt sich mit Grenzen und dem einstigen „Zonenrandgebiet“.
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DER LANGE WEG ZUR LEGALISIERUNG - taz.de
DER LANGE WEG ZUR LEGALISIERUNG Bis vor zwei Jahren waren schwule und lesbische Beziehungen in Rumänien kriminell. Der Strafparagraf 200 war Ende der Sechzigerjahre von der Regierung des damaligen Staatschefs Nicolae Ceaușescu verschärft worden. Homosexualität wurde zusätzlich mit Haftstrafe belegt. So hatte der Paragraf die Revolution überstanden. Es brauchte ein Jahrzehnt und den Druck in den Verhandlungen um den EU-Beitritt Rumäniens, bis der Paragraf im Dezember 2001 abgeschafft wurde. Seit Ende Januar 2002 ist die neue Regelung in Kraft. 1998 ist eine erste Gesetzesreform im Parlament durchgefallen. Ein Drittel der Abgeordneten hatte die Änderung abgelehnt, ein weiteres Drittel war erst gar nicht zur Abstimmung gekommen. Der frühere Rechtsausschussvorsitzende der Kammer, Emil Popescu, sagte damals, Homosexualität zu legalisieren sei unmoralisch: „Solche Paare können sich nicht fortpflanzen.“ ANM
ANM
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Bedrohte Häuser in Berlin-Kreuzberg: „Ihr kriegt uns hier nicht raus“ - taz.de
Bedrohte Häuser in Berlin-Kreuzberg: „Ihr kriegt uns hier nicht raus“ In einem zum Verkauf stehenden Häuserkomplex ballen sich linke Institutionen. Die Ressourcen zum Widerstand gegen die Verdrängung sind groß. Spontan zum Protestfoto: BewonerInnen und Nutzerinnen der Lausitzerstraße 10/11 Foto: Wolgang Borrs BERLIN taz | Im Kreuzberger Häuserkampf bahnt sich der nächste Akt an, womöglich ein entscheidender für die weitere Entwicklung des Bezirks. Die Akteure der Aufführung stehen bereit: eine Immobilienfirma, die zwei Häuser abstoßen will – mit einem Preisaufschlag von 600 Prozent; Makler und Investoren, die durch die Höfe schleichen und sich gedanklich die geplanten Luxuslofts ausmalen; die Bewohner- und Nutzerschaft, von denen viele in links-alternativen Strukturen verwurzelt und zum Widerstand bereit sind. Das Konfliktpotential zeichnet sich schon in der Toreinfahrt des Gewerbegebäudes in der Lausitzer Straße 10 ab. Der Gang ist von Protestplakaten und Stickern übersät, ein Sammelsurium aus Schildern verweist auf die Mieter, darunter das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (apabiz) oder die linke Dokumentarfilmproduktion Autofocus Videowerkstatt. Hinzu kommen das Aktivistennetzwerk Peng-Kollektiv, die Videofilmer von Leftvision, sowie Medienmacher, Künstler, Politaktivisten in großen Bürogemeinschaften. Das widerständige Kreuzberg – hier hat es noch ein Zuhause. Doch das Biotop, das sich über fünf Hinterhöfe erstreckt, zwei davon hinter dem ebenfalls betroffenen Wohnhaus in der Nummer 11, könnte bald Geschichte sein. Die Mietverträge nahezu aller Initiativen laufen in diesem Jahr aus oder sind kurzfristig kündbar. Für die dänische Besitzerfirma Taekker ein gutes Verkaufsargument. Vor zehn Jahren erwarb sie die einst bezirkseigenen Häuser für etwa drei Millionen Euro vom landeseigenen Liegenschaftsfonds. Laut einem der taz vorliegenden Exposé des Maklerbüros Engel & Völkers wird für die ehemalige Glasfabrik nun ein Preis von 18 Millionen Euro veranschlagt, noch einmal fast anderthalb Millionen für das unsanierte Mietshaus mit sechs Wohnungen. Spontaner Protest Zwei Stunden vorm großen Haus-Plenum am Dienstagabend wird es laut im Hofdurchgang. „Lause bleibt“ schallt es auf die Straße hinaus. Zum spontanen Fototermin sind mehr als 40 Leute mit Plakaten gegen Zwangsräumungen und dem passenden Transparent gekommen. Auf einem Schild steht auf türkisch: „Fass' mich nicht an“. Einer der lautesten ist Hermann vom „Umbruch Bildarchiv“. Der Mann mit den markanten grauen Locken ist zuversichtlich: „Wir können einen Punkt für Kreuzberg setzen, anderen bedrohten Projekten Mut machen.“ Wie viele hier, versteht er sich als Aktivist und will seinen Nachnamen nicht nennen. Stattdessen erzählt er gern davon, mit welchen Strategien die Autonomen in den 1980er Jahren erfolgreich waren. Bei ihrem Treffen am Abend beschließen die Betroffenen die Gründung von AGs für Presse, Kampagne oder Politikkontakte. Auch zum Verein wollen sie sich zusammenschließen. Hermann, Umbruch-Bildarchiv„Wir können einen Punkt für Kreuzberg setzen“ Durch ein zufällig belauschtes Gespräch eines Maklers mit einem Interessenten hatten die Nutzer Anfang Dezember von den Verkaufsabsichten erfahren. Dabei sei es um die „Sexiness“ Kreuzbergs und realisierbare Quadratmeterpreise von 7.500 Euro gegangen, wie Malte erzählt. Der Videograf treibt die Kampagne mit voran. ­Zusammen mit anderen Aktivisten sitzt er in der vierten Etage von Aufgang B, im Büro von Autofocus, hinter ihm ein wandfüllendes Regal mit Videokassetten. Nicht einer, sondern 150 Der Weg nach oben (der Fahrstuhl ist seit Langem defekt) ist mit Bildern einer Zwangsräumung aus der Lausitzer Straße 8 geschmückt – eine Ansage an den Eigentümer. Vor vier Jahren brauchte es 800 Polizisten, um Ali Gülbol aus seiner Wohnung zu räumen. Diesmal sind etwa 150 Personen betroffen. Als Vertreter von Taekker dem apabiz einen Besuch abstatteten, machten sie „große Augen“, wie Malte sagt. Auch Kaufinteressenten sei offensiv begegnet worden. „Ihr kriegt uns hier nicht raus“, zischte es durch die Flure, der Rauchhaussong schallte über den Hof: „Das ist unser Haus.“ Den Fokus legen die Nutzer und Mieter auf die Verhinderung des Verkaufs; ein Kauf durch sie selbst scheint angesichts des Spekulationspreises unrealistisch. Die Umwidmung der Gewerbe- in Wohneinheiten musste vom Bezirk genehmigt werden und soll bereits 2013 im Grundbuch vollzogen worden sein. Florian Schmidt, neuer grüner Baustadtrat des Bezirks, kündigt der taz dennoch an, alle Instrumente, die die ­Milieuschutzsatzung bietet, zu prüfen und das Gespräch mit Taekker zu suchen. „Das Ziel ist es den Standort zu sichern. Wir wollen die Kreuzberger Mischung erhalten“, so Schmidt, der sich an diesem Freitag mit den Hausaktivisten trifft. Von Taekker ist derweil zu hören, wie viel Arbeit das denkmalgeschützte Haus mit seiner uralten Dampfheizung mache. Geschäftsleiterin Lene Mortensen will keine offensiven Verkaufsabsichten bestätigen, sagt jedoch: „Wir müssen überlegen, wie kommen wir mit diesem Gebäude weiter.“ Das Unternehmen hat bereits Dutzende Häuser in Kreuzberg verkauft bzw. Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt. Mortensen sagt aber auch: „Es gibt Mieter, die politisch wertvolle Arbeit leisten.“ Dieser Unterschied zwischen Kommunikation und Handeln, regt die Aktivisten besonders auf. Malte ist sich sicher: „Die Lause ist ein Investitionsgrab.“
Erik Peter
In einem zum Verkauf stehenden Häuserkomplex ballen sich linke Institutionen. Die Ressourcen zum Widerstand gegen die Verdrängung sind groß.
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Bewaffneter Konflikt in Libyen: Rückschlag für Haftars Truppen - taz.de
Bewaffneter Konflikt in Libyen: Rückschlag für Haftars Truppen General Khalifa Haftar will weiter auf Tripolis vorrücken. Die strategisch wichtige Stadt Garian haben seine Truppen jetzt offenbar verloren. Rauchschwaden über der Stadt: ein Angriff der Haftar-Truppen im Juni östlich von Tripolis Foto: reuters TUNIS taz | Truppen der libyschen Einheitsregierung haben die 40.000-Einwohner-Stadt Garian südlich der Hauptstadt Tripolis eingenommen und Kämpfer des verfeindeten Armeechefs Khalifa Haftar vertrieben. Augenzeugen aus der strategisch wichtigen Stadt in den Nafusa-Bergen berichten, dass die mehrheitlich aus Ostlibyen stammenden Soldaten von Haftars Libyscher Nationalarmee (LNA) in Richtung der Nachbarstadt Tarhuna flohen, der letzten Bastion Haf­tars in Westlibyen. Andere sind offenbar gefangengenommen worden. Ein Sprecher von Premierminister Fajis al-Sarradsch schätzte die Zahl der gefangenen LNA-Soldaten auf „weit über 100“. Dutzende seien getötet worden. Haftar wird vom libyschen Parlament im Osten des Landes unterstützt. Es beansprucht ebenso wie die Regierung von Ministerpräsident al-Sarradsch die Macht für sich. Die Regierung von al-Sarradsch hat kaum Kontrolle über die Hauptstadt Tripolis hinaus. Seit Anfang April versucht die LNA von Garian und Tarhuna aus Tripolis einzunehmen. Viele Bewohner von Garian waren allerdings mit der Besetzung ihrer Stadt durch die LNA-Truppen nicht einverstanden. Mehrere Aktivisten werden seit ihrer Verhaftung durch Haftars Geheimdienst vermisst. Der Aktivist Hamza al-Nadscha berichtete der taz, dass unter der Bevölkerung in Garian der Unmut über die Soldaten aus dem Osten und die Söldner aus dem Tschad und dem Sudan gewachsen sei. „Es waren letztlich die Übergriffe gegen jeden, der sich gegen Haftars Angriff auf die libysche Hauptstadt stellte, der zu einem Aufstand der Bevölkerung in Garian geführt hat.“ Von dem rund 90 Kilometer südlich von Tripolis gelegenen Garian starteten in den letzten Wochen regelmäßig mit Raketen ausgerüstete Drohnen. An der 50 Kilometer breiten Front forderten die nächtlichen Drohnenangriffe unter den Verteidigern von Tripolis viele Opfer. Nach UN-Angaben wurden bei den Kämpfen im Süden der libyschen Hauptstadt bisher 650 Menschen getötet und 3.500 verletzt. Mehr als 100.000 Bewohner mussten ihre Häuser verlassen. Hauptstadt-Milizen haben sich zusammengetan Der Sprecher der LNA, Ahmed al-Mismari, bestätigte die Kämpfe rund um Garian, behauptete jedoch, dass die Stadt weiter unter Kontrolle der Haftar-Truppen sei. Es handele sich lediglich um einen taktischen Rückzug. Doch zahlreiche nach dem Sturm auf Garian entstandene Videos und Fotos zeigen ein anderes Bild: Neben Drohnen und Luftabwehr-Lafetten sind zahlreiche Leichen von LNA-Kämpfern zu sehen. Gefangene Soldaten von Haftar berichten von einer chaotischen Flucht ihrer Kommandeure. Kommandeur der Tripolis-Brigaden„Die Diplomaten haben nur abgewartet, wer den Krieg gewinnt“ Haftar begründet seine Offensive auf die Hauptstadt damit, verschiedene Milizen aus Tripolis vertreiben zu wollen. Diese hätten wichtige Institutionen sowie die Regierung von Premierminister al-Sarradsch unter ihre Kontrolle gebracht. Nach anfänglichem Chaos war es den eigentlich verfeindeten Hauptstadt-Milizen gelungen, sich zusammenzutun. Massive Verstärkung erhielten sie aus den beiden Städten Misrata und Zintan, die an der Frontlinie vor rund drei Wochen zum Gegenangriff übergegangen sind. Ein Kommandeur der gegen die LNA kämpfenden Tripolis-Brigaden sagte gegenüber der taz, dass mit der Einnahme der Stadt Garian der von den Vereinten Nationen geforderte Waffenstillstand endgültig vom Tisch sei. „Statt Haftars Angriff auf Tripolis zu sanktionieren, haben die internationalen Diplomaten nur abgewartet, wer den Krieg gewinnt. Wir haben endgültig das Vertrauen in die Vereinten Nationen verloren und werden Haftar aus Westlibyen vertreiben.“
Mirco Keilberth
General Khalifa Haftar will weiter auf Tripolis vorrücken. Die strategisch wichtige Stadt Garian haben seine Truppen jetzt offenbar verloren.
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■ Das Buch: Mit erträglicher Leichtigkeit - taz.de
■ Das Buch: Mit erträglicher Leichtigkeit Manfred war mehr als ein Freund. Der sportliche Junge mit dem braunen Wuschelhaar war, wie es Gad Beck schreibt, seine „erste große Liebe“. Die beiden jüdischen Heranwachsenden gingen „zärtlich miteinander um“, küßten sich, erfüllten sich ihre erotischen Wünsche. Als Manfred eines Tages von der Gestapo in das Sammellager in der Hamburger Straße gebracht wurde, geriet Gad Beck außer sich. Todesmutig motzte er sich mit einer ausgeliehenen HJ-Uniform auf, verschaffte sich mit einem schmetternden „Heil Hitler“ Eintritt ins Lager, log dem Aufseher einen triftigen Grund ins Gesicht und schaffte es tatsächlich, Manfred rauszuholen. Doch Manfred wollte seine Familie nicht allein lassen. „Ich könnte niemals frei sein“, sagte er zu Gad und lief wenige Minuten später wieder ins Lager zurück. Gad sah ihm hinterher. „In jenen Minuten“, erinnert er sich, „wurde ich erwachsen.“ Wo andere larmoyant werden, schildert Gad Beck mit einer erträglichen Leichtigkeit, ohne Schicksalsmomente auszublenden. Nichts wirkt schwermütig. Kein Wort ist moralingetränkt. Seine Biographie „Und Gad ging zu David“ speist sich aus einem scheinbar unerschöpflichen Fundus von Anekdoten, Traumata und Tragik, Liebe und Leidenschaft. Es geht um die Zeit seines Heranwachsens im Zweiten Weltkrieg: Mit etwa 20 weiteren jüdischen Jugendlichen zog Gad Beck in den Untergrund. Sie versorgten zahlreiche Menschen mit falschen Pässen, Quartieren, Kleidung und Nahrung. Begonnen hatte die Gruppe „Chug Chaluzi“ mit der Vorbereitung der Juden für die Alija, die Einreise nach Palästina. Zum Schluß kämpfte sie nur noch um das tägliche Überleben. Gad Beck dokumentiert das Leben in der Illegalität immer durch die Beziehungen zu seinen Mitmenschen, zur Familie und zu Freunden und durch deren Beziehungen untereinander. In sämtlichen Situationen ist seine Dreifaltigkeit – Widerstandskämpfer, Jude und Schwuler – präsent. Auch das macht sein Buch in der Masse der Veröffentlichungen über den Krieg einzigartig. Sicherlich wird es LeserInnen geben, die sich über die schaurig-schöne Unmittelbarkeit der Ereignisse wundern. Etwa wenn Beck von seinen Männerabenteuern im Sammellager schreibt: Zwischen wimmernden und weinenden Jüdinnen und Juden hatte er Sex. Derlei Schilderungen sind manchmal mit überstrapazierten und umgangssprachlichen Redewendungen gespickt („Man muß nicht immer bumsen, bis die Wände wackeln“). Aber auch das ist eine Seite von Gad Beck. Becks Vater war Jude, seine Mutter Christin. Vor Schikane feite sie das nicht. Wenn das Küchenfenster der Becks offenstand, warf eine Nachbarin regelmäßig ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket mit Fäkalien in die Wohnung. „Judenhure“ war auf das Papier gekritzelt. Als die Nachbarin im Hausflur einmal Gads Mutter wüst beschimpfte, knallte ihr diese einen Milchtopf auf den Kopf. Und schubste sie die Treppe hinunter. Die Becks zeigten sich selbst bei der Polizei an, der Vater mußte drei Monate ins KZ. Mit Hilfe eines befreundeten Polizeiinspektors kam er frei. Gad Beck selbst wurde kurz vor Kriegsende noch verraten, mußte bei seiner Verhaftung sein eigenes Todesurteil unterschreiben. Es folgte ein Verhör mit dem berüchtigten Judenmörder Erich Möller. Beck beschreibt ihn als den Mann mit dem „dumpfen Terriergesicht, bösen, leeren Augen und hängenden Wangen“. Tage später, Beck und sein Freund Zwi sitzen gefangen in einer Kellerzelle des jüdischen Krankenhauses. Es war ein Sammellager; die letzte jüdische Zentralstelle in einem, wie es sich Goebbels ersehnte, „judenfreien“ Staat. Ein SS- Hauptsturmführer hatte von Möller den Befehl bekommen, sämtliche Gefangenen zu „liquidieren“. Statt dessen zerriß er die Papiere, ließ die Zellentüren offen und ging. Beck führt den LeserInnen das Berlin des Hitlerdeutschland 1:1 vor Augen. Ganz einfach, ganz unprätentiös. Und so wird das Buch auch diejenigen bewegen, die der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der zahlreichen Gedenkfeiern müde geworden sind. Tomas Niederberghaus Gad Beck: „Und Gad ging zu David“, edition diá, 300 Seiten, 36 DM.
Tomas Niederberghaus
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Geflüchtete in Sachsen: Ausschreitungen vor Unterkunft - taz.de
Geflüchtete in Sachsen: Ausschreitungen vor Unterkunft Böller, Tränengas und Barrikaden: Nach schweren Ausschreitungen von Rechtsradikalen und Anwohnern beziehen Flüchtlinge eine Notunterkunft. Im Laufe des Abends gab es mehrfach Angriffe mit Feuerwerkskörpern und Flaschen. Foto: ap HEIDENAU dpa/afp | Nur unter dem Schutz der Polizei konnten Dutzende Flüchtlinge ihre Notunterkunft im sächsischen Heidenau nahe Dresden beziehen. „Nach Ausschreitungen in der Nacht ist die Lage jetzt ruhig“, sagte ein Polizeisprecher am Samstagmorgen. Eine aufgeheizte Menge hatte vor der Unterkunft – einem früheren Baumarkt – Beamte mit Steinen, Flaschen und Böllern beworfen. Die Polizisten gingen mit Reizgas gegen die teils betrunkenen Demonstranten vor. „Wie viele Verletzte und Festnahmen es gab, steht noch nicht fest“, erklärte der Sprecher. Laut verschiedener Quellen gab es dutzende Verletzte, darunter 31 Beamte. Nach Mitternacht erreichte ein erster Bus mit Asylsuchenden das Gebäude, in dem bis zum Morgen etwa 250 Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Zuvor hatte die Polizei eine Blockade auf einer Bundesstraße aufgelöst, mit der Demonstranten den Einzug der Asylbewerber verhindern wollten. Am frühen Abend hatten mehrere Hundert Menschen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen demonstriert. Sie folgten einem Aufruf der rechtsextremen NPD. Nach Angaben der Polizei soll auf dem Gelände des Baumarkts ein Wachdienst für Sicherheit sorgen. Außerhalb werde das Terrain von der Polizei überwacht. Maas spricht von „null Toleranz“ Insgesamt waren am Freitag 136 Polizisten im Einsatz. Es seien Ermittlungen wegen Landfriedensbruchs eingeleitet worden. Berichte über Festnahmen wurden von der Polizei jedoch dementiert. Im Vordergrund habe für die Beamten gestanden, die Lage unter Kontrolle zu bringen und Angriffe zu unterbinden, sagte eine Polizeisprecherin auf Anfrage am Samstagmittag. Sie sprach von einer „Gefahr für Leib und Leben“. „Wir dürfen niemals tolerieren, dass Menschen in unserem Land bedroht oder angegriffen werden“, erklärte Maas dazu in Berlin. „Dagegen müssen wir mit aller Härte des Rechtsstaats vorgehen.“ Gegenüber Fremdenfeindlichkeit und Rassismus „gilt null Toleranz“, hob der Justizminister weiter hervor. Kritik an dem Polizeieinsatz übten die sächsischen Grünen. „Es waren aus meiner Sicht zu wenig Beamte vor Ort und diese waren zum Teil nicht hinreichend ausgestattet“, sagte der Politiker Hannes Merz vor Ort dem MDR. Beamte hätten sich etwa über das Fehlen von Schutzausrüstung beklagt. Der innenpolitische Sprecher der Grünen im sächsischen Landtag, Valentin Lippmann, nannte es in Dresden „unbegreiflich“, dass die Polizei nicht in hinreichender Stärke vor Ort war. Er forderte personelle Konsequenzen und den Einsatz von Bundespolizei. Nach einem Bericht der „Sächsischen Zeitung“ zogen einige der rechtsgerichteten Demonstranten auch vor das Haus des Heidenauer Bürgermeisters Jürgen Opitz (CDU). Dieser sei als „Volksverräter“ beschimpft worden.
taz. die tageszeitung
Böller, Tränengas und Barrikaden: Nach schweren Ausschreitungen von Rechtsradikalen und Anwohnern beziehen Flüchtlinge eine Notunterkunft.
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Asylpolitik in Schweden: Abschiebung trotz Todesgefahr - taz.de
Asylpolitik in Schweden: Abschiebung trotz Todesgefahr Schweden hat einen schwulen Iraker in dessen Heimat abgeschoben. Weiteren droht das gleiche Schicksal, obwohl Homosexuelle im Irak weiter verfolgt und ermordet werden. Schwedens Toleranz stößt schnell an ihre Grenzen. Nur wer Benny oder Björn heisst, darf heiraten und bleiben. Bild: dpa STOCKHOLM taz Ali ist vor vier Jahren nach Schweden gekommen. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. Er floh aus dem Irak, nachdem ihn die Sicherheitspolizei mit seinem Freund überrascht und wegen "unmännlichen Verhaltens" zeitweise inhaftiert hatte. Sein Freund "verschwand". Laut Ali wurde er von seiner eigenen Familie wegen der angeblichen Schande ermordet. Während Alis Asylverfahren lief, lebte er in Stockholm drei Jahre lang mit einem schwedischen Freund zusammen. Vergangene Woche wurde der 27-Jährige nach Bagdad abgeschoben. Sein Asylantrag war abgelehnt worden mit der Begründung, er stamme aus dem nördlichen Irak. Auch dort sei die Verfolgungssituation für Homosexuelle zwar "fürchterlich", aber dennoch "erträglich" und der "Schutzbedarf weniger groß". Ein Asylgericht hatte an dieser Einschätzung nichts auszusetzen. "Sie agierten ganz kalt", beschreibt Alis Freund die Abschiebung. "Er sollte raus und sie nutzten die Chance." Die Chance: Sein Rechtsanwalt hatte ein neues Verfahren aufgrund neuer Erkenntnisse eingeleitet, aber das Gericht hatte noch nicht über einen vorläufigen Abschiebestopp entschieden. Die neuen Erkenntnisse, auf die sich Alis Rechtsanwalt berief, stammten aus einem Bericht der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) vom 17. August. Danach hat sich die Situation für Homosexuelle im Irak seit Anfang dieses Jahres massiv verschlechtert. HRW hat eine ganze Reihe außergerichtlicher Hinrichtungen, Entführungen und Folterungen von Homosexuellen dokumentiert. In dem Bericht zitierte Opfer und Augenzeugen machen irakische Sicherheitskräfte sowie die schiitische Mahdi-Armee für die Übergriffe verantwortlich. Nach Schätzungen von HRW wurden bereits hunderte Männer getötet, wobei einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen im Irak keine Straftat sind. Augenzeugen berichten vom brutalen Vorgehen der Milizen, die oftmals in der Nacht ihre Opfer aufsuchen, sie dann entführen, foltern und ermorden. "Seine Leiche wurde nach dem Überfall am nächsten Tag in der Nachbarschaft entdeckt. Sie hatten den Körper auf den Müll geworfen; seine Genitalien hatten sie ihm abgeschnitten und ein Stück vom Hals herausgetrennt", zitiert der Bericht die Aussage des Partners eines Ermordeten. Für Stig-Åke Petersson, Flüchtlingssachbearbeiter des schwedischen Reichsverbandes für Schwulen und Lesben (RFSL), ist es völlig unverständlich, dass schwedische Behörden "so gut dokumentierte Verfolgungen bis hin zu Ermordungen einfach nonchalant übergehen." Schweden will mindestens drei weitere Iraker, die wegen Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Identität geflohen sind, in den Irak ausweisen. Die Begründung lautet, die individuelle Prüfung habe keinen ausreichend großen Schutzbedarf im Nordirak ergeben. Dies, obwohl HRW und das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR ausdrücklich auf die besondere Gefährdung von aus dem Ausland in den Irak zurückgezwungenen Flüchtlingen verweisen. Ende vergangener Woche demonstrierte RFSL in Stockholm gegen die Asylpraxis Schwedens und forderte einen Stopp der Ausweisungen. RFSL forderte in einer Presseerklärung, Schweden müsse als EU-Ratspräsident darauf hinwirken, dass die Botschaften der EU-Staaten in Ländern, in denen Homosexualität kriminalisiert wird, zur Aufnahme solcher Flüchtlinge bereit sind. www.hrw.org/node/85050
Reinhard Wolff
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22 Projekte-Plakate - taz.de
22 Projekte-Plakate „Einmischen – Mitmischen“ fordern 22 Projekte und Initiativen des BremerNetzwerkes auf ebenso vielen quer durch die Stadt verteilten Plakatwänden. Vom Mädchenhaus bis zum ADFC reicht die alternative Allianz, die sich selbst und den in Einheitsfeier und Wahlkampfgeplänkel zu kurz kommenden Themen zu mehr Beachtung verhelfen wollen. Neben der Kritik an Sozialabbau und Gewalt wollen sie mit dem Hinweis auf die Möglichkeit zum Mitwirken in ihren Projekten „auch 'ne Alternative geben und nicht nur gegen etwas sein“. Erste Resonanz gab's auch schon auf die unverkennbar selbstgemalten Plakate: die Besatzung eines Streifenwagens, von wachsamen AnwohnerInnen alarmiert, befand gegenüber den völlig legal plakatierenden Frauen des Frauenberatungsladens, ihr Werk sei „gut gestaltet und gesellschaftlich notwendig“. hm / Foto: Landesbildstelle
hm
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Koloniale Verbrechen und Tourismus: Traum und Albtraum - taz.de
Koloniale Verbrechen und Tourismus: Traum und Albtraum Hollywoodstars waren da, die Obamas auch. Die Erinnerung an die Zeit des Sklavenhandels lockt mehr Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen denn je nach Ghana. Dokument der Gewalt: Eine Geheimtür führt in eine Wohnung, in der Frauen vergewaltigt wurden Foto: Martin Jahrfeld CAPE COAST taz | Mildred aus New Jersey hat gut eingekauft bei Cedi Beads. Die Halsketten, Haarperlen, Fuß- und Armreifen aus Ghanas bekanntester Glasperlenmanufaktur sind ein unwiderstehliches Souvenir, wenn es darum geht, die Afrika-Fantasien der Daheimgebliebenen zu bedienen. „Für unsere Männer. Die haben wir vorsichtshalber gar nicht erst mitgenommen“, lacht Mildred. Ihre Freundinnen grinsen zustimmend. Die vier Afroamerikanerinnen, Freundinnen aus Collegezeiten, leben an Amerikas Ostküste in verschiedenen Städten, haben sich aber nie aus den Augen verloren. „In das Land unserer Vorfahren zu reisen, war schon immer ein Traum von uns. Jetzt, wo die Kinder groß sind, war endlich Zeit dazu“, sagt Mildred, während der Reisebus mit laufenden Motor auf die Gruppe wartet. Wer auf den Spuren seiner Ahnen unterwegs sein will, hat viel zu tun in Ghana: Exkursionen zu den Schauplätzen von Sklavenhandel und Verschiffung, religiöse Zeremonien und Festivals für Heimkehr-Interessierte, Touren durch Accras altes Kolonialviertel, Shopping-Erlebnisse für den authentischen Ethno-Einkauf. Die Ergebnisse der Marketingoffensive können sich sehen lassen. Nachdem die Regierung 2019 zum „Jahr der Rückkehr“ deklarierte – 400 Jahre nach Ankunft der ersten afrikanischen Sklavinnen in Amerika –, kamen allein aus den USA über 118.000 Besucherinnen – ein Rekord, den das Land noch übertreffen will. Für viele afroamerikanische Gäste wird der Aufenthalt zu einer Erfahrung, die an emotionale Grenzen führt. Kurz nachdem die Besuchergruppe das Verlies der Festung von Cape Coast betreten hat, fließen die ersten Tränen. „Die Sklaven vegetierten hier zu Hunderten auf engstem Raum und in weitgehender Dunkelheit. Bevor die Verschiffung nach Amerika begann, vergingen oft Monate. Das Essen wurde von oben herabgeworfen. Die Menschen mussten es inmitten ihrer Exkremente zu sich nehmen“, berichtet Fremdenführer Felix Nguah. Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen Cape Coast Castle zählt zum Pflichtprogramm jeder Ghana-Reise, nicht nur für Afroamerikaner. Hollywood-Größen wie Samuel Jackson waren hier, Nancy Pelosi hat vorbeigeschaut, an den Besuch der Obama-Familie erinnert eine Gedenktafel. Die Festung diente wechselnden europäischen Mächten als Umschlagplatz ihrer Gefangenen; ein massives, schmutzig-weißes Monument menschlicher Enthemmung und Grausamkeit. Viele der Eingekerkerten starben, bevor sie auf die Schiffe gelangten. „Alle möglichen Europäer waren hier und haben sich bekämpft, alle wollten am Sklavenhandel mitverdienen. Die Dänen, die Schweden, die Holländer, die Briten …“, erklärt Nguah und blickt in die Runde, in der auch einige Weiße stehen. „Heute sind sie ja alle gut untereinander befreundet, heute ist ja alles anders …“, fügt er süffisant hinzu. Der Subtext ist unüberhörbar. Offenbar traut man solchen Freundschaftsbündnissen aus afrikanischer Perspektive noch heute kaum. Schmerz und Tränen für die einen, Scham und Verlegenheit für die anderen, sortiert nach Herkunft und Hautfarbe. Die Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen bedarf robuster Kondition. Entlang Ghanas Goldküste finden sich dutzende Kolonialbauten, die einst dem Sklavenhandel dienten und heute als Unesco-Weltkulturerbe wirken. Neben Cape Coast gehört dazu die einst von niederländischen Besatzern betriebene Festung in Elmina 20 Kilometer weiter westlich. Beim Eintritt in das labyrinthische Gemäuer geht die Höllenfahrt durch die Vergangenheit in die nächste Runde. Weil nicht viele Bilddokumente und Zeitzeugenberichte existieren, bleibt es dem Talent der Guides überlassen, die Epoche zu veranschaulichen. Fremdenführerin Freda Agyei-Obessey berichtet von den Frauen, die im Innenhof Aufstellung nehmen mussten, um vom Balkon des Gouverneurs zum Zweck der Vergewaltigung begutachtet zu werden. Der Weg führt über eigens für die Unglücklichen errichtete Geheimstiege in eine Wohnung, deren Panoramablick von den Privilegien der Herrschenden kündet. Der Rest des Bauwerks erzählt von Unterwerfung und Kontrolle: ein Totenkopf über einer Zelle für den Hungertod, eine Kanonenkugel als Strafgepäck für ungehorsame Frauen, schließlich das berüchtigte „Tor ohne Wiederkehr“ – ein schmaler Durchbruch, durch den die Angeketteten den Schiffen entgegenstolperten. Die Requisiten des christlichen Abendlandes fügen sich ein. An der Wand der Sklavenauktionshalle ein holländischer Psalm, auf dem Hauptplatz ein Gebetshaus für die Protestanten. Investitionen in ghanaische Wirtschaft Ob denn, nachdem die Obamas in Ghana waren, vielleicht auch das niederländische Königspaar der Anlage schon einen Besuch abgestattet hätte, möchte ein Besucher wissen. Frau Agyei-Obessey wird schmallippig: „Zumindest in unseren Unterlagen ist darüber nichts zu finden.“ Die Erinnerung an den transatlantischen Sklavenhandel – eine Epoche, die im Westen gern als „dunkel“ bezeichnet wird – ist immer noch etwas, das weitgehend den Schwarzen überlassen bleibt. In den Metropolen der weißen Profiteure, in Amsterdam, London, Bristol oder Hamburg, finden sich allenfalls Fußnoten. Im Gegensatz dazu hat Ghana viel unternommen, das Erbe der Epoche im Dialog zwischen Afrika und „Neuer Welt“ zu beleben. Die Regierung verfolgt dabei nicht nur kulturelle Ziele. Das „Jahr der Rückkehr“ 2019 wie auch die Nachfolgekampagne sollen nicht nur zum Kultururlaub, sondern zu Investitionen in die ghanaische Wirtschaft und zur Rückkehr nach Ghana animieren. Der erstarkende Rassismus in den USA führt zwar bei manch vermögenden Afroamerikanern zu einer solchen Überlegung, aber die Erfahrungen von Umsiedlern sind oft ernüchternd. Zwar entgehen die Neuankömmlinge in Ghana der rassistischen Diskriminierung einer weißen Übermacht, jedoch begegnen sie sich den Widrigkeiten eines wenig entwickelten Staates und einer anderen Kultur. Die US-Bürgerrechtsikone Maya Angelou beschreibt in ihrem Erinnerungsbuch „Ich kenne einen Ort weit weg von hier“ ihre Enttäuschung, als sie 1962 nach Ghana übersiedelte. Der Eindruck, dass sich kein Afrikaner für die Heimkehr der Sklavennachfahren auch nur die Bohne interessiere, der eklige Gestank offener Abwasserkanäle, die sozialen Stopp-Schilder einer stammesbasierten Gesellschaft sowie vier schwer erlernbare Landessprachen vermittelten ihr das Gefühl, womöglich doch nicht am richtigen Ort zu sein. Eigene Wurzeln kennenlernen Aufgewogen wurde Angelous Frustration allein durch ihre Hoffnung auf die noch unschuldigen Unabhängigkeitsbewegungen und einen Pan-Afrikanismus, bei dessen Aufbau das junge Ghana und sein charismatischer Präsident Kwame Nkrumah als zentral galt. Sechzig Jahre später haben sich die hochfliegenden Träume in Luft aufgelöst. Im schwierigen Umfeld Westafrikas gilt Ghana zwar aufgrund von Parlamentarismus und gesicherter Ernährungslage als politisch stabil, doch die Abwasserkanäle stinken noch immer. Niemand weiß das besser als die Einheimischen. „Die Allermeisten von uns leben prekär, Alltag ist Kampf. Kaputte Straßen, Wasserversorgung, Stromausfälle, die elenden Krankenhäuser, die Schulen, die miesen Behörden … Nichts ist verlässlich, niemand ist zuständig. Welche Partei regiert, ist egal, jede wirtschaftet nur in die eigene Tasche“, sagt Evan Eghan. Wir sitzen in einem Fast-Food-Lokal an der Oxford Street, Accras Vorzeigemeile aus Bars, Hotels und prätentiösen Luxushochhäusern, an der sich abends die Prostituierten aufreihen. Es sei schon okay, dass die Nachfahren der Sklaven nach Ghana reisen, um ihre Wurzeln kennenzulernen, findet der Dreißigjährige, der mal Schauspieler war und heute Accras Kurzfilmfestival managt. Westafrikas Filmszene, die mutigen Regisseure, die Tabus, die sie aufgreifen, der Kampf um Fördergelder und Öffentlichkeit – je länger Eghan darüber redet, desto begeisterter wird er. „Geld verdienen wir noch nicht damit. Aber viel wichtiger ist es derzeit, international bekannter zu werden.“ ­Eghan hat Kontakte zu Filmakademien in den USA, kennt Produzenten in Burkina Faso und in Cannes, will aber unbedingt noch professioneller werden. Mit Afrikas Vergangenheit und den darin eingeschlossenen Albträumen hat Eghan nicht mehr viel am Hut. Die Zukunft scheint so viel mehr im Angebot zu halten. Eghan weiß, wie man Social-Media-Kampagnen steuert, Förderanträge an internationale Stiftungen formuliert, Kontakte auf anderen Kontinenten anbahnt. Ein Netzwerker des 21. Jahrhunderts. Aber was ist mit den alten Albträumen? „Es wird Zeit für ein neues Kapitel“, sagt der Festivalgründer zum Abschied. „Schau doch mal, ob du daheim einen Kontakt bei der Berlinale für uns hast. Mit denen würden wir gern was zusammen machen …“ Die Ghana-Reise des Autors wurde durch den Leipziger Afrika-Reiseveranstalter Akwaba unterstützt.
Martin Jahrfeld
Hollywoodstars waren da, die Obamas auch. Die Erinnerung an die Zeit des Sklavenhandels lockt mehr Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen denn je nach Ghana.
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Die Kunst der Woche: Die Migration der Form - taz.de
Die Kunst der Woche: Die Migration der Form Ein frischer Anlauf auf das Werk von Ruth Wolf-Rehfeldt, José Montealegres postkolonialer Blick auf Pflanzen und Ellen Akimotos Genuß an der Malerei. Aus der Pflanzenkunde übersetzt: José Montealegre, „página 0299“, 2021 Foto: Stefan Haehnel; Courtesy José Montealegre and Galerie Thomas Schulte, Berlin „FAR BACK MUST GO WHO WANTS TO DO A BIG JUMP“ ist auf dem weißen Blatt Papier von rechts nach links und gleichzeitig mit jedem Wort einen Absatzsprung von oben nach unten zu lesen. Das Blatt gehört zur „Wörter-Serie“ von Mitte der 1970er Jahre. Eine richtige Feststellung als subtilen visuellen Witz formulieren, das konnte Ruth Wolf-Rehfeldt (*1932 in Wurzen) mit ihrer „Erika“. Die kompakte Reiseschreibmaschine aus VEB-Produktion war für Wolf-Rehfeldt, was für andere Kreative der Pinsel oder der Stift ist. Mit den 49 Tasten der Schreibmaschine konnte sie angefangen von konkreter Poesie bis hin zur geometrischen Abstraktion alles auf dem Papier darstellen, was sie wollte. Das ist nun erneut in Potsdam zu sehen, wo im Minsk mit „Nichts Neues?“ eine große Einzelausstellung eröffnet hat, kurz nachdem ihre Ausstellung anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises 2022 im Kupferstichkabinett am Kulturforum in Berlin endete. Gerade wer die Berliner Ausstellung gesehen hat, sollte sich die in Potsdam nicht entgehen lassen. Denn tatsächlich nimmt man im Minsk noch einmal frischen Anlauf und kann erneut einen spannenden Überblick über das Werk die Künstlerin präsentieren. Man geht weit zurück, für den großen Sprung und beginnt mit ihren starkfarbigen Gemälden aus den 1960er und 1970er Jahre. Damit wurde sie Mitglied im Verband der Bildenden Künstler und erhielt so Zugang zu Arbeitsmaterial und Druckwerkstätten. Etwa zu Wolfgang Arnoldi in Müggelheim oder der Druckerei Graetz in der Auguststraße, die Ende der 1970er Jahre viele ihrer „Typewritings“ in Form von Zinkografien reproduzierten. Zunächst handelte es sich bei ihren ab 1972 geschaffenen Typo-Bildern um Originale. Deren Vervielfältigung war freilich dann Voraussetzung, um in der internationalen Mail-Art Szene aktiv zu werden, zu der Ruth Wolf-Rehfeldt über ihren Mann Anschluss gefunden hatte. Als Kunstpostbriefe reisten ihr ebenso konzeptuell wie poetisch starken Typewritings, die die politisch wache Künstlerin nicht verbargen, dann in alle Welt. Ruth Wolf-Rehfeldt: Nichts Neues, DAS MINSK – Kunsthaus in Potsdam, Mi.–Mo. 10–19 Uhr, bis 7. Mai, Max-Planck-Str. 17José Montealegre: Narrativas Circulares, Galerie Thomas Schulte, Di.–Sa. 12–18 Uhr, bis 11. März, Charlottenstr. 24Ellen Akimoto: My Eyes See Only What’s Not in Front of Me, Galerie Judin, Di.–Sa. 11–18 Uhr, bis 8. April, Potsdamer Str. 83 Der Sprung führt in die 1980er Jahre, wo sie ihre größte künstlerische Produktivität entfaltete und schließlich, nach dem Fall der Mauer, ihre künstlerische Arbeit ganz einstellte. Die 1980er Jahre finden sich in der eigens angefertigten Tapete, vor der die in schmale Holzleisten gefassten Blätter hängen: jede Wand weist ein anderes Muster auf, die sich ihrer elektrischen Kugelkopf-Maschine verdanken, mit der sie in diesen Jahren arbeitete. Das Geschenk von Robert Rehfeldt wies ein sehr viel größeres Repertoire an Schrifttypen auf als die Erikas, was sich Wolf–Rehfeldt für jene subtilen Zeichenerfindungen nutzte, die nun die Wand zieren. Es empfiehlt sich übrigens das Smartphone in die Ausstellung mitzunehmen. Gar nicht, um unbedingt zu fotografieren, vielmehr hilft die Zoomfunktion der Kamera ungemein, ohne den Arbeiten zu nahe zu treten und den Alarm auszulösen, die zarten und kleinen Zeichen zu erkennen oder auch die Begriffe und Sätze der oft nur Postkarten großen Kunstwerke zu entziffern. Was nötig ist, weil die Typewritings oft stark auf dem Zusammenspiel von Wort und Bild aufbauen. So zeigt sich etwa ein Briefumschlag von hinten durch die Anordnung der Wörter FROM während die Vorderseite des Umschlags mit Briefmarken, Adressfeld und Absender durch das Wort TO gebildet werden. Ruth Wolf-Rehfeldt, „Concrete Shoe“, o. J., Mail-Art-Archiv Thomas Schulz, Potsdam Foto: Courtesy die Künstlerin und ChertLüdde, Berlin Weil Ruth Wolf–Rehfeldt mit Beginn der 1990er Jahre nicht mehr künstlerisch tätig war, geriet sie, die schon während ihrer produktivsten Jahre einem eher kleinen, allerdings sehr feinen und sehr internationalen Kreis von Künstlerinnen und Kennern bekannt war, in Vergessenheit. Aber 2017 gelang ihr mit ihrer Teilnahme an der dokumenta 14 noch einmal ein großer Sprung zum Ruhm. Wolf-Rehfeldt, die ihre Familie tatsächlich mit der Schreibmaschine, als Sekretärin in der Akademie der Künste, ernährt hatte und an ihre Kunst erst abends, nach getaner Arbeit denken konnte, wird nun international ausgestellt, wie viele Plakate am Ende der Schau dokumentieren. In der Kreislaufwirtschaft Im imposanten Eckraum der Galerie Schulte, mit seinen riesigen Fensterflächen und seiner enormen Höhe, in dem sonst eine Bildhauerin wie Franka Hörnschemeyer schwere Stahlgitter hochtürmt, erfreut jetzt ein kleines Blumenrondell den Blick. Obwohl recht zierlich beherrschtes fraglos den Raum. Die Pflanzen in ihren Töpfen sind zwar in Erde gepflanzt, selbst aber aus Kupfer. Auf dem weiß gekachelten Fußboden sieht man Fußspuren. Dadurch ermuntert, traut man sich in den Raum. Aber der Weg zur großen Wandarbeit mit ihrem blau-schwarzen Rastermuster aus Plexiglas ist eine wackelige Angelegenheit. Die Kacheln sind nur lose auf dem Boden gelegt, also bewegen sie sich, klackern leise und rutschen weg. Ja, die Installation des Künstlers José Montealegre (*1992 in Tegucigalpa, Honduras) ist bezaubernd und von überraschender Lebendigkeit. Worum geht es bei dem Pflanzenarrangement, das im Nebenraum in einer Art Gewächshaus steckt? Und den metallenen Notizbüchern, die in beiden Räumen auf verschiedenartig gemusterten Kachelwänden aufgebracht sind und deren aufgeschlagene Seiten analog zu gepressten Blumen Schnitte von älteren, vom Künstler gefertigten Pflanzen zeigen? Der Text zur Ausstellung sagt, die Pflanzenskulpturen sind auf Illustrationen im Buch „Nova Plantarum Animalium et Mineralium Mexicananorum historiae“ des spanischen Naturforschers Fancisco Hernández zurückzuführen. Die Spanier haben auch die Muster der Kacheln nach Südamerika importiert, die Montealegre in seinen Wandarbeiten zeigt. Die Installation ist als postkoloniale Erzählung verstehen, die Ausbeutung nicht verschweigt – die Pflanzen des Nova Plantarum mussten Einheimische zeichnen – ihren Fokus aber anders legt. Nämlich auf jenem Prozess, den die documenta 12 als Migration der Form zu ihrem Motto machte und den José Montealegre „Narrativas Circulares“ nennt. Sammeln, dokumentieren, überschreiben, verwerfen, rekonstruieren, recherchieren, wieder hervor holen, recyceln: mit dieser Kreislaufwirtschaft der Kunst setzt er sich in seiner ersten Galerieausstellung auseinander. Die sichtliche Lust am Malen Ein Arm oder ein Bein scheint gerne mal etwas später im Raum anzukommen als der Körper selbst, mit dem er – unter der These, das Auseinanderfallen sei zeitlich bedingt – noch nicht verbunden ist. Die inkohärenten Körper sind das eine, das auffällt bei den Gemälden von Ellen Akimoto, die erstmals unter dem Titel „My Eyes See Only What’s Not in Front of Me“ in der Galerie Judin ausstellt. Das andere ist ihre sichtliche Lust am Malen. Sie zeigt sich in der Freude an der Farbe und wie Akimoto sie kombiniert, etwa wenn sie wie in „The Other Room“ das schrille Pink eines abstrakten modernistischen Rasters, das freilich auch als Regal gelesen werden kann, mit dem dunklen Grün der darauf befindlichen Zimmerpflanze konfrontiert. Oder wenn sie giftgrüne Arme vor ein sehr rosarotes Gesicht setzt wie in „Curious Onslaught“. Ellen Akimoto, „Misconstrued“, 2022, oil on canvas, 50 x 40 cm Foto: (c) The Artist, Courtesy Galerie Judin, Berlin Die Freude am Malen zeigt sich auch darin, wie sie die Stilmittel vorangegangener Kunstbewegungen kombiniert, etwa wenn sie in „Mountain Interior/Waning Gibbons“ die verzerrte Perspektive des Expressionismus im großen Fenster zeigt, in dem sich ein Gebirge auftürmt, während sie das Paar vor dem Fenster mit neusachlicher Genauigkeit und Distanziertheit betrachtet und der Wand im Hintergrund eine feine und entsprechend fein gemalte Jugendstiltapete samt passender Topfpflanze gibt. Da kommt einiger Witz ins Spiel, bei Akimotos Spiel mit den Möglichkeiten der Malerei. Großartig der gelbe transparente Comic-Glibber im Maschendrahtzaun vor dem hälftig in blau und Abendstimmungsrot geteilten Hintergrund. Wenn es sich um den Blick aufs Meer handelt, wie der Bildtitel „Talking about Our Feelings by the Sea“ vorschlägt, kommt man nach der Berlinale und Steven Spielbergs „The Fabelmans“ natürlich nicht umhin John Ford zu zitieren, der strikt davon abrät, den Horizont in die Mitte zu legen. Aber das Bild lässt sich auch einfach als Abstraktion lesen. Trotz ihrer Faszination für die Ölfarbe und deren Materialität auf der Leinwand sind auch der Computer und Photoshop mit im Spiel. Denn hat die 1988 in Westlake Village, Kalifornien, geborene Künstlerin eine Idee für ein Bild, entwickelt sie mit Hilfe von Archivmaterial, oft Fotos von sich selbst, eine Art digitales Storyboard. Auf diesen vielschichtigen Collagen baut dann das Gemälde auf, das sich während des Malprozesses freilich noch eigenständig fortentwickelt. Mit diesem aufwändigen Produktionsprozess könnten sich die nachhinkenden und manchmal auch mehrfach vorhandenen Extremitäten erklären. Vielleicht aber auch einfach mit der Lust am verfremdenden Effekt.
Brigitte Werneburg
Ein frischer Anlauf auf das Werk von Ruth Wolf-Rehfeldt, José Montealegres postkolonialer Blick auf Pflanzen und Ellen Akimotos Genuß an der Malerei.
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Amüsant und süffisant: Bühne Bundestag - taz.de
Amüsant und süffisant: Bühne Bundestag ■ Die erste Biographie von Joschka Fischer Noch nicht einmal fünfzig Jahre und dennoch Held einer Biographie. Die Journalistin Sybille Krause-Burger hat sich Joschka Fischers Werden und Wirken vorgenommen, nicht ganz freiwillig, wie sie schreibt, sondern vom Verlag geschubst. Herausgekommen ist was Schönes, höchst amüsant zu lesen und mit ganz reizenden Bildchen von Joschka mit dem Tretroller, Joschka mit der Einschulungswundertüte, Joschka mit Daniel Cohn-Bendit and anderen Lieben und Joschka im Raumschiff Bonn. Amüsant ist die Biographie, weil die Autorin das Augenbrauenrunzeln nicht verbergen kann, die schönsten Höhenflüge von Joschkas revolutionären Ausflügen in die Welt der Fabrikarbeiter, in die Niederungen des Taxifahrergewerbes, der grünen Basisarbeit und endlich zum zweitenmal auf die Bundestagsbank stets mit süffisantem Ton kommentiert. Zum ersten Zwangsabschied aus Bonn im März 1985: „Nun aber würden diese Rotationsfetischisten [...] ihm alles wieder wegnehmen, was ihm selbst soviel Spaß gemacht hatte, würden ihm verweigern sich an Kohl [...] zu messen, sich dabei stark und stärker zu fühlen, würden ihm verbieten, dieses wunderbare Bundestagsspiel weiterzuspielen, würden ihn seiner Bühne berauben, würden ihm verwehren, sich selbst mit allem, was in ihm steckte, so zu spüren, wie er sich nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte.“ Sybille Krause-Burger ist fasziniert von diesem Parlamentarier mit Haut und Haaren, von diesem Menschen der sich als allen Engen und Vorurteilen „selbst befreit“ hat, der die Debatte nicht nur liebt, „sondern sie ist“. Und sie ist ebenso fasziniert von diesem selbstverliebten Macho, neben dem zu bestehen schwer scheint (ja, auch die drei Ehen kommen vor) und der dennoch sensibel wie ein Seismograph agieren kann. Sehr gelungen im – aber nur hier – etwas drögen Kapitel über das Ministeramt in Hessen die Beschreibung des Vater-Sohn- Verhältnis „zum Dicken“, zu Holger Börner. Das Buch ist eine Heldengeschichte, weil Joschka Fischer für die Autorin der interessanteste und lebendigste Politiker ist, den Deutschland zu bieten hat, aber es ist auch wieder keine, weil es ihr gelingt, jedes Pathos durch Ironie zu erden. Da wird sie Fischer gar ebenbürtig. Seine breit zitierten Analysen im Frankfurter Spontiblatt Pflasterstrand zur Entscheidung Straße oder Parlament und dann zu den bekannten Folgen trafen genau den gleichen Ton. Anita Kugler Sybille Krause-Burger: „Joschka Fischer. Der Marsch durch die Illusionen“. Deutsche Verlagsanstalt, Frankfurt 1997, 255 Seiten, 39,80 DM
Anita Kugler
■ Die erste Biographie von Joschka Fischer
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Parteiverfahren gegen den alten Le Pen: Ein paar Provokationen zuviel - taz.de
Parteiverfahren gegen den alten Le Pen: Ein paar Provokationen zuviel Drahtseilakt für den Front National: Exchef Jean-Marie Le Pen muss sich für seine politischen Eskapaden vor der Parteiführung rechtfertigen. Parteigründer Jean-Marie Le Pen bei der lautstarken Ehrung für Jeanne d'Arc. Bild: ap PARIS taz | Als ob sich alles gegen ihn verschworen habe, muss sich Jean-Marie Le Pen nun auch noch wegen illegaler Bankkonten verantworten. Der Gründer des rechtsextremen Front National (FN) hatte sich mit neuen provokativen Äußerungen selber ins Abseits und seine Tochter, Parteichefin Marine Le Pen, in arge Verlegenheit gebracht. Jetzt hat das Onlinemagazin Mediapart enthüllt, er habe einen „Schatz“ aus Goldbarren und -münzen im Wert von 1,7 Millionen Euro mithilfe einer Schweizer Bank auf den Bahamas vor dem Fiskus versteckt. Die Finanzpolizeibehörde Tracfin habe laut Mediapart entsprechende Hinweise der Justiz übergeben. Schon früher hatte Le Pen die Existenz eines 1981 eröffneten heimlichen Kontos in Genf zugeben müssen. Heute aber meint er, man wolle ihn mit solchen „professionell ausgeschlachteten Skandalen“ erledigen. Er sieht dahinter einen „Generalangriff“ seiner Feinde gegen ihn, die Seinen und sein politisches Kind, die Partei. Denn für ihn war seine eigene Rolle, sein Besitz, seine Familie und die Partei immer ein und dasselbe. Doch seit Kurzem wird genau dies auch intern infrage gestellt. Am Montag soll Jean-Marie Le Pen (86) vor dem Exekutivbüro seiner Partei wegen seiner jüngsten Tiraden in der rechtsextremen Zeitung Rivarol Rede und Antwort stehen. Einmal mehr hat er darin die Judenvernichtung in den Gaskammern als „Detail“ der Geschichte verharmlost. Auch wegen Sympathien für Marschall Pétain, den Chef der Kollaboration mit Hitler, muss Le Pen womöglich mit einem Verweis oder gar Sanktionen rechnen. Den Platz als Spitzenkandidat bei den Regionalwahlen an der Côte d’Azur im Dezember musste er bereits an seine eigene Enkelin, Marion Maréchal-Le Pen abtreten. Diese gilt als neuer Star der extremen Rechten, sie steht ihm politisch viel näher als seine jüngste Tochter Marine. Die hat seit 2011 als Chefin aus dem FN eine respektable Volkspartei mit Regierungsambitionen gemacht. Le Pen denkt allerdings keine Sekunde lang daran, sich einen Maulkorb umhängen zu lassen. Bei den Beratungen über mögliche Strafen steht der FN ein Drahtseilakt bevor. Für viele Rechtsextreme ist der 86-Jährige eine unantastbare Ikone.
Rudolf Balmer
Drahtseilakt für den Front National: Exchef Jean-Marie Le Pen muss sich für seine politischen Eskapaden vor der Parteiführung rechtfertigen.
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Kolumne Ich meld mich: Rüdiger und die Seinen - taz.de
Kolumne Ich meld mich: Rüdiger und die Seinen Die Deutsche Bahn mottet ihre Nachtzüge ein. „Chapeau, Herr Kollege!“: Die Konzernchefs der Autoindustrie sind begeistert. Bahnchef Hartmut Mehdorn präsentiert 2003 stolz den neuen DB-Nachtzug. Sein Nachfolger schafft ihn jetzt wieder ab Foto: dpa Frankfurt am Main, Montagmorgen um zehn, Schaltkonferenz des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG mit den Chefs von Mercedes, VW und BMW. „Morgen, Grube, prima Arbeit, Kompliment. Gut, dass Sie das noch mal abschließend geklärt haben. Wird keine Nachtzüge mehr geben ab 2017. Finis, Sense, ultimo. Endlich Schluss mit dem ganzen Schlaf- und Liegewagenquatsch. Ein Recht auf Transport, Bahnfahren als ein Stück Daseinsfürsorge für Bürger – wenn ich den ganzen Schmarren schon höre. Nachts ist doch endlich mal Platz auf den Autobahnen – warum kapieren die nostalgischen Trottel das nicht? Zu dumm fürs Gaspedal wahrscheinlich. Bahnfahren im Autoland Deutschland, was für ein Anachronismus! Und dass die Österreicher sich jetzt noch mal reingedrängt haben ins Geschäft – ein kleiner Schönheitsfehler, nix weiter. Die machen das nicht lang, wetten?“ „Besten Dank, Herr Müller …“ „Chapeau, Herr Kollege! Und dann auf der anderen Seite Ihre Visionen. Täglich das Blaue vom Himmel herunterfantasieren – wie kriegen Sie das nur immer wieder hin? Funktionierendes WLAN in allen Zügen – was haben wir gelacht. Diese reizende Pünktlichkeitsoffensive – die wievielte ist es denn eigentlich? Und dann das da, Ihr Meisterstück: Züge, ganz ohne Lokführer. Genial, mein Lieber, genial. Allein, wie der Weselsky im Karree gesprungen ist, wie auf Knopfdruck: ,ein Politikum', zum Schießen.“ „Freut mich sehr, Herr Krüger, aber …“ „Großes Kompliment, mein Bester. Machen Sie weiter so. Legen Sie uns wieder eine gelungene Winterperformance hin. Ein paar vereiste Weichen, jede Menge umgekehrte Wagenreihung, saubere Verspätungen übers ganze Land verteilt, am besten garniert mit einem hübschen Streik – so eine richtig schön dreckige, überfüllte und rundum unpünktliche Weihnachtsüberraschungsbahn eben.“ „Klar, Herr Zetsche, bloß …“ „Und dann machen Sie sich mal keine Sorgen. Wenn wirklich alles so prima klappt wie in den vergangenen Jahren, lassen wir den Pofalla noch eine ganze Weile zappeln!“
Franz Lerchenmüller
Die Deutsche Bahn mottet ihre Nachtzüge ein. „Chapeau, Herr Kollege!“: Die Konzernchefs der Autoindustrie sind begeistert.
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die wahrheit: Veteranen am Ball - taz.de
die wahrheit: Veteranen am Ball Fußball ist ein Lebensfaden/ Ohne ihn, was tät man da?/ Zwickt auch mancher Altersschaden/ Hämatom et cetera ... Fußball ist ein Lebensfaden Ohne ihn, was tät man da? Zwickt auch mancher Altersschaden Hämatom et cetera Morsche Knochen, wunde Waden Schürfung, Quetschung, Trauma, pah! Auch am Abend der Karriere Stehst du richtig unter Dampf Willst du auf das Feld der Ehre Hin zum allerletzten Kampf Eingelaufen ganz nach Lehre Doch nach zwei Minuten: Krampf Salben, Öle richtig schmieren Stützverbände um das Knie Binden, Pflaster arrangieren Zerrung, Dehnung, Riss sowie Luxation! Doch nie verlieren Denn das Spiel steht noch remis! Einmal noch den Fallrückzieher Einmal noch ein guter Lauf Au, das geht noch fast wie früher Taumeln, fallen, wieder auf! Einmal noch ein Pässchen lenken Einmal noch den Ball versenken Einmal noch ein Tor sich schenken Einmal noch, das geht mental Doch vielleicht zum letzten Mal Die Wahrheit auf taz.de
Wolfgang Bortlik
Fußball ist ein Lebensfaden/ Ohne ihn, was tät man da?/ Zwickt auch mancher Altersschaden/ Hämatom et cetera ...
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Müssen Linke Weihnachten hassen?JA - taz.de
Müssen Linke Weihnachten hassen?JA GLAUBE Alles ist politisch. Auch das Fest der Liebe. Das ja in erster Linie das Fest des Konsums ist. Oder? nächste FrageDie sonntazfrage wird vorab online gestellt. Wir wählen eine Antwort aus und drucken sie dann ab. Im sonntaz-Spezial zu Weihnachten entfällt der Streit der Woche allerdings.www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune Niko Paech, 51, ist Nachhaltigkeitsforscher an der Universität Oldenburg Wer als Linke/r den Imperativ sozialer Gerechtigkeit nicht zulasten der Ökosphäre austragen will, muss Weihnachten verachten oder neu erfinden. Dieses Ereignis verkörpert nichts anderes als einen Kulminationspunkt jener materiellen Exzesse, die den Weg zum Abgrund ebnen. Perfide kaschiert die Inszenierung eines „Festes der Liebe“ maßlosen, unnötigen Konsum. Die Materialisierung eines temporären Zuneigungsüberschusses ist längst ritualisiert. Deshalb misslingt es selbst konsumkritischen Minderheiten, sich der weihnachtlichen Moral des Schenkens zu entziehen. Nicht dass der Konsumismus sonst keine religiösen Züge tragen würde – denken wir an den Empfang geheiligter Apple-Hostien oder Mercedes-Sterne –, aber an Weihnachten ist er vollständig entkoppelt von Zweck und Bedarf, ist stattdessen inflationärer Symbolträger, für dessen unbegrenzte Steigerung keine sonstige Rechtfertigung vonnöten ist. Und nach der Weihnachtsorgie sind wir dann ausgebrannt, im doppelten Wortsinne versteht sich. Jörg Sundermeier, 41, Autor, leitet den Berliner Verbrecher Verlag „Jeda nach seina Fassong“, wissen Berliner ihren geliebten Menschenschinder Friedrich II. zu zitieren. So sehe ich’s eigentlich auch. Weihnachten ist heute so religiös wie jede Kirmes, es geht um einen Termin, an dem man sich den Wanst vollschlägt, die Alkoholreserven vernichtet und Liebhaben spielt. Leider aber schwingt bei diesem Fest etwas mit, das alle Linken abstoßen muss: Der totale Konsum. Weihnachten wird – mehr noch als andere traditionsreiche deutsche Feiertage wie etwa Rosenmontag, Halloween und die Los Wochos – gnadenlos ausgenutzt, um schon im August die Menschen mit Lebkuchen, Nikoläusen und „Last Christmas“ von Wham zu bewerfen. Das ist inhuman. Daher müssen Linke für die Abschaffung von Weihnachten sein. Man könnte ja stattdessen Lenins Geburtstag mit einer Geschenkeparty feiern. „Grinch“-Fan Eric Blair, 41, aus Dublin hat den Streit auf taz.de kommentiert 1. Hurra! Es gibt noch Linke. Dachte, ich wäre der letzte! 2. Ich verabscheue Weihnachten – weil es eine erweiterte Marketingstrategie ist, um die leeren Kassen der Kaufhäuser und Mediamärkte am Jahresende zu füllen. Ob Jesus, um den sich das Ganze dreht, dies bei seinem Religionskonzept bedacht hat? However: Long live the Grinch! Rainer Langhans, 71, ist Kommune-1-Gründer, Werbestar und Veganer Eigentlich ist klar, dass Linke Weihnachten hassen sollten. Es ist verkommen zu einem großen Kauffest. Der Linken stünde es gut an, sich dem zu verwehren. Wenn man Weihnachten ernst nimmt, ist es ein Fest der Liebe. In der Weihnachtszeit sind die Leute ein bisschen freundlicher. Das genieße ich. Das ist angenehm. Davon bitte mehr. Aber vielleicht ist es ja das letzte Mal, dass dieser Konsumterror über uns einbricht. Ich bin der Meinung, dass die Welt sich gerade ändert. Im Internet ist das schon erlebbar. Da geht es darum, dass alle mit allen alles teilen. Da habe ich Hoffnung. NEIN Claudia Roth, 56, ist Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Wer wie ich im Allgäuer Alpenvorland groß geworden ist, hat Weihnachten im Blut und das Christkind im Herzen! Und das lasse ich mir auch von meinen sogenannten linken Freuden nicht nehmen, die zu Nikolaus bloß einen alten linken Stiefel vor die Tür stellen und den Adventskranz als Spießergebinde geißeln. Statt Weihnachtsnörgelei brauchen wir endlich eine wahrhaft revolutionäre Xmas-Strategie. Das sollte das hegemoniale Projekt in diesen Vorfesttagen sein: Wir müssen Weihnachten endlich befreien aus den Fängen eines globalen Weihnachtsbusiness, dem Klima und Umwelt schnurzegal sind. Weihnachten ist eben auch das Fest der Liebe in Zeiten des Kohlendioxid-Overkills. Wir brauchen deshalb mehr Öko-Lametta und den wiedereinpflanzbaren Weihnachtsbaum. Es geht um E-Mobility auch für den Weihnachtsmann. Das sind Bausteine für eine zukunftsfähige Aneignung des Festes. So wird ein linker Schuh draus! Sophie Andresky, 38, Autorin, schrieb zuletzt „Schrille Nacht“ Wie kann man etwas hassen, das aus Goldflitter, Geschenken und Schokolade besteht? Was ist nicht toll daran, mit Freunden und Familie zu feiern, bis der Baum brennt? Wie viele Gelegenheiten gibt es sonst, so richtig in Schönem zu schwelgen? Weihnachten, finde ich, hat ein bisschen was von einem Swingerclub: Alles kann, nichts muss. Dieses Religions- und Moraldings – das nervt! Religiös und moralisch wird’s meistens da, wo man keinen Spaß mehr haben darf. Christen vergessen gern, dass 1. Weihnachten ursprünglich ein heidnisches Fest war und 2. ohnehin Ostern das höhere Fest im Kirchenjahr ist. Und Moralisten übersehen, dass arm zu sein nicht nur zu Weihnachten ätzend ist, sondern das ganze Jahr über. Und dem hungernden Kind in Afrika oder dem Benachteiligten in Marzahn ist es meiner Meinung nach völlig wurscht, ob es oder er etwas bekommt, weil dekadente Weihnachtsfans im Lametta-Rausch schweben oder weil sich jemand mit schlechter Laune was vom Graubrot abspart. Außerdem: Wer schlau genug ist, konsumkritisch über Reklame zu philosophieren, sollte auch schlau genug sein, den Fernseher auszuschalten. Guido Ambrosino, 58, ist Autor der linken italienischen Zeitung „Il Manifesto“ Nichts gegen schöne Geschenke wie die Märklin-Eisenbahn, die ich mit fünf Jahren vom Jesuskind bekam. Sie hat meine Wertschätzung für Made in Germany begründet. Und das hat später eine Rolle bei der Entscheidung gespielt, in Deutschland zu leben. An Weihnachten werde ich aber bei meiner Urfamilie in Rom sein. Einmal im Jahr, wenn die gefüllte Pute meiner Mutter auf den Tisch kommt, darf Familienspießigkeit sein. Und der Konsumterror? Die Frage impliziert, dass ein Linker gegen „übermäßigen“ Konsum sein sollte. Zugegeben, es sprechen ästhetische Gründe gegen Weihnachtskitsch. Aber Appelle zur Enthaltsamkeit sind mir suspekt – in einer Zeit, wo diese Tugend in Europa, unter deutschem Spardiktat, zu Lasten der Armen praktiziert wird. Oder ist vielleicht die „schwäbische Hausfrau“ Merkel eine Ultralinke, wenn sie durchrechnet, dass der menschlichen Würde der Hartz-IVer schon mit 5 Euro mehr geholfen ist? Meine politisch korrekte Lösung: Frohe Weihnachten in Saus und Braus fürs Proletariat und keine unsinnigen Geschenke für Kapitalisten, auch nicht an Werktagen.
Niko Paech / Jörg Sundermeier / Eric Blair / Rainer Langhans / Claudia Roth / Sophie Andresky / Guido Ambrosino
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Katastrophal normal - taz.de
Katastrophal normal In Washington laufen Jogger zwischen Raketen-Abwehrgeschützen. Plastikfolien und Klebeband finden sich nun in jedem Haushalt. Grüße von der Heimatfront (5) Kurz vor ihrem großen Auftritt schoss sichdie Friedensbewegung noch selbst ins Knie Was haben eigentlich amerikanische Soldaten gedacht, als neulich Colin Powell im UN-Sicherheitsrat Saddams Bio- und Chemiewaffendepots an die Wand malte? Vielleicht: „Shit, da sollen wir einmarschieren?“ Sergeant Patrick Atwell von der National Guard hat jetzt vorsorglich sein Sperma in einer Samenbank einfrieren lassen, falls er in der irakischen Giftküche bleibende Schäden davontragen sollte. Und wenn er, „was Gott verhüten möge, gar nicht zurückkommt“, sagte seine Verlobte auf CNN, „bleibt was von ihm übrig. Ein kleiner Patrick, der irgendwann herumläuft.“ Diesen Pragmatismus muss man einfach lieben. Sergeant Atwell dürfte inzwischen in den Mittleren Osten verlegt worden sein, und wir an der Heimatfront stehen jetzt unter Alarmstufe „Code Orange“: „hohes Risiko von Terroranschlägen“. Danach kommt nur noch „Code Red“: „schweres Risiko von Terroranschlägen“. Nichts Genaues weiß man wieder nicht, aber in Washington joggen die Menschen seitdem zwischen Raketenabwehrgeschützen, an der Wall Street patrouilliert die Polizei mit Schnellfeuergewehren, und Frank, der Vermieter meiner neuen Wohnung in der 138sten Straße in Harlem, will Vorräte für den Ernstfall anlegen: Konserven, Wasser, außerdem Plastikplanen und Isolierband, um Fenster und Türen gegen Anthrax und Sarin abzudichten. Inzwischen sind auch aufblasbare Plastikschutzkabinen im Angebot. Die aber kosten 5.000 Dollar, was sich in Harlem niemand leisten kann. „Die Lage wird etwas unerquicklich“, meint Frank. Er kommt aus Trinidad und liebt britisches Understatement. Eigentlich sind die New Yorker so schnell nicht zu erschrecken. Im Radio hat gestern jemand vorgeschlagen, Christo solle gleich die ganze Stadt einpacken, „und wir machen eine Riesenparty unter Plastik“. Meine Nachbarin, Mrs. Gray, überlässt mit ihren 94 Jahren alle Vorsichtsmaßnahmen gegen ABC-Waffen „Jesus, unserem Retter und Herren“. Und die imposant gebauten schwarzen Mamas aus meinem Waschsalon argwöhnen, dass die neue Terrorwarnung einfach die Kriegsstimmung anheizen soll. „Wag the dog, baby, wag the dog.“ Aber wir alle kaufen Isolierband und Plastikfolie – die Kinderlosen mit einem makabren Scherz auf der Zunge, die Eltern mit zusammengekniffenen Lippen. Wenn Kinder nicht mehr U-Bahn fahren wollen, „weil der Tunnel giftig ist“, vergeht einem selbst der Galgenhumor. Irgendwann ist auch die letzte Theatersubvention weggeholzt – und dann? Weil mir Plastik und Klebeband allein etwas dürftig erschienen, habe ich mich unter www.fema.org eingeloggt, der Website der nationalen Katastrophenhilfe. Dort wird nach einem Chemiewaffenanschlag das schnelle Wechseln der Kleidung empfohlen. Außerdem vorsichtiges Waschen – vor allem der Augen. „Die sind besonders empfindlich.“ Das hatte ich mir schon fast gedacht. Nach psychologischer Aufmunterung suchend klickte ich auf die „Tipps für Kinder, mit denen ihr euch im Falle eines Terroranschlags besser fühlt“. Da steht: „Katastrophen dauern nicht lang. Bald läuft alles wieder normal.“ Oder: „Wenn du Angst hast, sprich mit deinen Eltern.“ Dass man Leute für solchen Quatsch auch noch bezahlt, lässt nichts Gutes für die Heimatfront vermuten. Das meiste will ich lieber gar nicht wissen, also halte ich mich morgens, so lange es geht, am Sportteil der New York Times fest. Aber dann landet man irgendwann doch auf der Titelseite und erfährt, dass nur 13 Prozent aller Feuerwehren im ganzen Land für Einsätze nach einem C-Waffen-Anschlag ausgebildet sind. In Seattle kann die Polizei keine Schutzanzüge gegen Bio-Terror kaufen, weil von den dreieinhalb Milliarden Dollar, die George W. Bush nach dem 11. September 2001 Polizisten, Feuerwehrleuten und Sanitätern versprochen hat, bislang kein Cent abgeschickt worden ist. Gut, dass ich nicht in Seattle wohne. Bloß steht auch New York City vor einem gigantischen Schuldenberg, und überhaupt ächzen und fluchen Gouverneure und Bürgermeister im ganzen Land, weil jede grandiose Steuersenkung à la Bush noch tiefere Löcher in ihre Kassen reißt. Und das alles unter „Code Orange“, wo Polizei und Feuerwehr Sonderschichten fahren müssen. Irgendwann ist auch die letzte Theatersubvention weggeholzt, die letzte Lohnsenkung für Schulbusfahrerinnen herausgepresst. Und dann? Dann geht bald gar nichts mehr, wie im kalifornischen Oakland, einer Stadt mit 400.000 Einwohnern und dem zehntgrößten Containerhafen der Welt. Kurzum: ein durchaus attraktives Ziel für Terroristen. Oakland steckt so tief in den roten Zahlen, dass die Stadt selbst bei „Code Orange“ keine Überstunden für Polizei und Feuerwehr bezahlen kann. Gut, dass ich nicht in Oakland wohne. Einen Krieg, der das Land womöglich 1,5 Billionen Dollar kostet und bei genauerer Betrachtung wenig mit dem Kampf gegen al-Qaida zu tun hat, halten die Stadträte von Oakland für eine horrende Geldverschwendung. Also haben sie eine Resolution gegen den Irakkrieg verabschiedet, was die Bush-Regierung nicht weiter interessieren müsste, hätten nicht 85 andere Städte das Gleiche getan, darunter Chicago, Philadelphia, Cleveland, San Francisco, Austin und Santa Cruz. Die Heimatfront mag sich in Plastikfolie und Isolierband wickeln, so recht auf Kriegskurs ist sie immer noch nicht. Neulich haben ein paar Frauen in rosa Kleidern eine Veranstaltung mit Laura Bush gesprengt und ein Schild hoch gehalten mit der Aufschrift: „Laura, knöpf dir deinen Kriegstreiber zu Hause vor.“ Die Gruppe nennt sich „Code Pink“. Heute strömen die Kriegsgegner nach New York, morgen demonstrieren sie in San Francisco. Das sind all diejenigen Amerikaner, die die Deutschen derzeit um ihre Regierung beneiden, was in der Geschichte noch nicht so oft vorgekommen ist. In New York wurde die Demonstration verboten. Nur die Kundgebung ist erlaubt. Stehende Demonstranten, entschied das Gericht, seien bei „Code Orange“ ein geringeres Sicherheitsrisiko als laufende Demonstranten. „Die Lage wirdetwas unerquicklich“, meint Frank, der britisches Understatement liebt Als ob das Leben nicht schon schwer genug wäre, hat sich die Friedensbewegung vor ihrem großen Auftritt noch schnell selbst ins Knie geschossen: In San Francisco darf der Rabbiner Michael Lerner nicht ans Mikrofon. Einer der Organisatoren, die Gruppe „Answer“, die sich in der Vergangenheit für so illustre Figuren wie Slobodan Milošević und Kim Il Sung stark gemacht hat, akzeptiert keine „Pro-Israel-Redner“. Lerner ist in den USA einer der schärfsten Kritiker Ariel Scharons, aber er ist so vermessen, am Existenzrecht Israels festzuhalten. Wenn allein das auf einer Veranstaltung „gegen den Krieg“ als Zumutung angesehen wird, ist mir nicht mehr klar, für welchen Frieden hier demonstriert werden soll. Gut, dass ich nicht in San Francisco wohne. In New York ist „Answer“ nicht vertreten. Vielleicht verkleide ich mich als das alte Europa und gehe so zur Demo. ANDREA BÖHM
ANDREA BÖHM
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Wirtschaftskrise in Spanien: Vier Millionen ohne Arbeit - taz.de
Wirtschaftskrise in Spanien: Vier Millionen ohne Arbeit Fast 20 Prozent der Spanier sind arbeitslos. Doch noch immer redet Regierungschef Zapatero die Lage schön und handelt halbherzig. Zapateros Lösung: der Plan Español, der 2010 "nachhaltige Entwicklung" fördern soll. Bild: reuters MADRID taz | Es ist noch gar nicht so lange her, da galt Spanien in Europa als Vorbild. Das Wachstum lag deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Täglich wurden 1.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Bauindustrie boomte. Immigranten kamen ins Land. Der Arbeitsmarkt schien unersättlich. Doch wer hoch fliegt, kann tief stürzen. Das ist jetzt auf der iberischen Halbinsel passiert. Spanien ist nicht nur Opfer der internationalen Finanzkrise. Die hausgemachte Spekulationsblase platzte. 19,4 Prozent der Spanier sind ohne Arbeit. Dies ist fast das Doppelte des EU-Schnitts. Die Wirtschaft schrumpfte im dritten Quartal 2009 um vier Prozent. Das Haushaltsdefizit liegt bei knapp zwölf Prozent. Spanien führt wieder die Liste an - dieses Mal die Liste der Krisenverlierer. Lange wollte der sozialistische Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero das Dilemma nicht wahrhaben. Bis weit hinein ins Jahr 2008 redete er von einer "Verlangsamung des Wachstums". Am Ende desselben Jahres hatten eine Million Menschen ihren Job verloren. 2009 dann sprach Zapatero offen von der Krise. Doch sei das Gröbste überwunden. Wieder verloren 800.000 Menschen ihren Job. Damit sind jetzt knapp vier Millionen Spanier ohne Arbeit. "Spanien durchlebt eine wirtschaftliche Rezession, die wir so gut wie hinter uns haben, falls wir nicht schon raus sind", lautet jetzt Zapateros Analyse. Und einmal mehr strafen ihn die Zahlen Lügen. Spanien brauche mindestens zehn Jahre, um erneut bei der Beschäftigungsrate auf den Stand von vor der Krise zu kommen, heißt es in einer jüngsten Studie des spanischen Sparkassenverbandes. Schlimmer noch: Die Talsohle scheint längst nicht erreicht. Der Sparkassenverband sagt 4,5 Millionen Arbeitslose voraus. Nach dem Zusammenbruch der Bauwirtschaft und dem daraus folgenden Rückgang des Konsums mit Stellenstreichungen im Einzelhandel sowie im Hotel und Gaststättengewerbe ist jetzt die Industrie an der Reihe. Eine Fluggesellschaft schloss über den Jahreswechsel. Die Automobilindustrie setzte 2009 so wenige Fahrzeuge ab wie zuletzt 1996. Seat kündigte Entlassungen an. Am härtesten von der Arbeitslosigkeit betroffen sind junge Menschen und Immigranten. Bei den unter 25-Jährigen haben 43,8 Prozent keine Arbeit. Einmal mehr ist die Familie als Sozialversicherung gefragt. Und bei den Einwanderern liegt die Arbeitslosenzahl rund zehn Prozent über der der Einheimischen. Viele von ihnen arbeiteten auf dem Bau. Und wer sein Brot in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft verdiente, muss jetzt mit ansehen, wie die Spanier, die in den Boomzeiten diese Sektoren verließen, zurückkehren. Ein ungleicher Verdrängungskampf ist im Gange. Mit dem Plan Español, dem Plan E, will Zapateros Regierung den Niedergang der Bauwirtschaft stoppen. Acht Milliarden Euro flossen im vergangenen Jahr in die Kassen der Städte und Gemeinden. Das Geld war für Verbesserung der Infrastruktur und den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen gedacht. Doch selbst skurrile Projekte, wie eine Miniatur-Reproduktion des Brandenburger Tors in einem Vorort von Madrid, wurden damit finanziert. Für 2010 soll der Plan um weitere fünf Milliarden Euro aufgestockt werden. "Nachhaltige Entwicklung" heißt dieses Mal das Motto. Doch nur zwölf Prozent des Geldes würden in innovative Projekte und neue Technologien fließen, erklärt die spanische Tageszeitung El País. Auch der restliche Haushalt ist wenig zukunftsweisend. So wurden die Ausgaben für Forschung zusammengestrichen. Hunderte von Wissenschaftlern fürchten um ihren Job. 76 Prozent der Spanier haben laut einer Umfrage des spanischen Sparkassenverbandes jedwedes Vertrauen in die Krisenpolitik des Sozialisten Zapatero verloren. Doch die Volkspartei (PP) in der Opposition profitiert davon nicht. 63 Prozent der Spanier sind davon überzeugt, dass es die Konservativen nicht besser machen würden. Zapatero möchte jetzt während der spanischen EU-Präsidentschaft das EU-weit erreichen, was ihm zu Hause nicht gelingen will: Wachstum fördern. Dazu schlägt er eine "europäische Wirtschaftsregierung" vor, die mit "Fördermaßnahmen", aber auch mit "korrigierenden Maßnahmen" die Mitgliedsländer zu einer besseren Wirtschaftspolitik bewegen soll. Was diese Wirtschaftsregierung mit Spanien machen soll, weiß wohl auch Zapatero nicht zu sagen
Reiner Wandler
Fast 20 Prozent der Spanier sind arbeitslos. Doch noch immer redet Regierungschef Zapatero die Lage schön und handelt halbherzig.
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Fürs Vaterland - taz.de
Fürs Vaterland ITALIEN Ein neuer Sicherheitsdienst wird vorgestellt: Man nennt ihn bereits „Schwarze Wache“ Die absurde Uniform, mit der der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi bei seinem Italienbesuch in der letzten Woche Eindruck machte, hat anscheinend ihre Spuren hinterlassen. Irre Militaria als Alleinstellungsmerkmal der ehemaligen Kolonialmacht? Oh, nein, diese Unterstellung des Colonello wollte man in Italien anscheinend nicht auf sich sitzen lassen. Samstagmorgen präsentierte die Vereinigung Guardia Nazionale Italiana in Mailand ihre Privatmannschaft von Hilfssheriffs, mit denen man in Zukunft die Sicherheit des Landes garantieren wollte. Anlass war der Parteitag des Movimento Sociale Italiano (MSI) – die Partei rechts außen. Unter der Führung von Gaetano Saya werden die 2.100 Freiwilligen vor allem in Piemont, Lombardei, Lazio, aber auch in Kampanien und Sizilien Wache schieben. Mit Politik habe das rein gar nichts zu tun, bemühen sich die Verantwortlichen zu erklären. Es gehe lediglich darum, Auffälliges weiterzuleiten. Die Vorstellung der Uniformen auf der offiziellen Homepage (guardianazionaleitaliana.org) lässt schnell erkennen, woher die Idee der Uniformen stammt. Auch wenn die Macher einen kanadischen Mounty als Inspiration angeben, so ist man doch bei den schwarzen Armbinden und dem schneidigen Schnitt sofort an etwas ganz anderes erinnert. Die Zeitung Corriere della Sera zitiert Kritiker der Idee mit den Worten: Die Uniformen erinnern an Ernst Röhm und an die Schwarzhemden. Saya wehrt sich in einem Videoclip auf der Homepage. Es gehe doch lediglich um Sicherheit und Vaterland. jul
jul
ITALIEN Ein neuer Sicherheitsdienst wird vorgestellt: Man nennt ihn bereits „Schwarze Wache“
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ORTSTERMIN: LINKE THEORIE IN DER ROTEN FLORA: Adorno hören und schlafen - taz.de
ORTSTERMIN: LINKE THEORIE IN DER ROTEN FLORA: Adorno hören und schlafen Vielleicht drängen sich die Leute an diesem Abend in der Roten Flora, weil der Titel der Veranstaltungsreihe so schön schmettert: „Bullenwagen klauen und Adorno rezitieren“. Extrastühle müssen geholt werden, irgendwann kauert sich sogar ein Mann in Yogahosen in den Gang zwischen den Stuhlreihen. Das Durchschnittsalter liegt locker unter 30. Im Hausflur steht die Luft kalt zwischen den Überbleibseln abgeblätterter Plakate, fängt sich der feuchte Herbst in unverputzten Backsteinbögen. Im Saal im ersten Stock der Flora atmen die dichtgedrängten Körper alles weg. Am Kopfende spricht der Publizist Norbert Trenkle über das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Geschichte der Linken. Vor ihm staut sich die Art verbrauchter Luft, die Studenten aus Vorlesungssälen kennen. Trenkle, Buchautor und Redakteur bei der linken Zeitschrift Krisis, entgleitet in die Theorie wie ein Dozent im Soziologie-Seminar, der aus Zeitgründen nichts vertiefen will, die Finger dann aber doch nicht von Marcuse lassen kann: So vorraussetzungsvoll und beispielleer, dass auch der letzte Fitzel Interesse von der Größe der Theorie geschreddert wird. Trenkles Sätze über die Ideengeschichte des historischen Materialismus mäandern im Raum, er selbst bleibt versteckt hinter den Zuschauerköpfen. Der Beamer funktioniert auch nicht, weil sich irgendwer nicht richtig abgesprochen hat. Bleiben nur die bunt besprühten Wände, um den Geist wandern zu lassen. Wobei die dann wieder so dicht bemalt sind, dass sich jeder klare Gedanke verliert zwischen „Free Pussy Riot“-Parolen, Spinnweben, und Weben, die irgendwas anderes sein müssen.Weil sie so groß sind. Ob es in der Flora mal Monsterspinnen gab? Als Trenkle beim Klassenkampf-Marxismus nach 1968 angekommen ist, hat eine Frau aus dem Publikum die Augen geschlossen – in sich gekehrte Konzentration oder Kapitulation? Ein Pärchen, das vorhin im Hausflur trotz Kameraverbots ein Selfie schoss, flüstert. Der eigene Sitznachbar fummelt die ganze Zeit am Etikett seiner Astra-Flasche und guckt nicht nach vorne, sondern lieber das blonde Mädchen in der schwarzen Komplettmontur an, das ihm im Gang gegenüber hockt. Als einzige hat sie einen Block gezückt, aber hält ihn auch nur so im Schoß. Irgendwo klirrt eine Flasche. Vielleicht kennen alle hier Adorno auswendig. Vielleicht überlegen sie aber auch, wo man jetzt noch sein könnte: bei einer Bio-Bratwurst im überteuerten Pommesladen auf der anderen Straßenseite. Oder doch hier in der Flora, aber zwei Stunden später, wenn Bernadette La Hengst ein Konzert gibt. “Es tun sich sicher Fragen auf“, sagt der Redner am Ende. Die Stille hängt kurz im Raum, einige gehen, bevor die erste Frage gestellt wird. Nach einer Stunde muss man sich erst mal auf der Toilette Wasser ins Gesicht spitzen, um wieder richtig aufzuwachen. „Lasst uns die Revolte beginnen“, steht da an der Klowand. Im eigenen Block steht nichts von Adorno und auch keine Anweisung zum Bullenwagenklauen: Der Titel der Veranstaltung war lediglich eine Anspielung auf den Punk-Song „Bullenwagen klaun und die Innenstadt demolieren“. Im eigenen Block bleiben nur gekritzelte Nonsens-Männchen übrig, ferner ein rätselhafter Gedankensplitter zum traditionellen Marxismus und ein Satz: „Kapitalismus ist Prinzip“. „Prinzip“ ist zweimal unterstrichen. Schien einem dringlich vorzukommen.  EVA THÖNE
EVA THÖNE
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Vorwurf der Veruntreuung: Kalbitz droht noch ein Verfahren - taz.de
Vorwurf der Veruntreuung: Kalbitz droht noch ein Verfahren Der Brandenburger Abgeordnete und Rechtsextremist Andreas Kalbitz soll Gelder veruntreut haben. Sein Wahlkreisbüro hat ihm offenbar gekündigt. Rechtsextrem und pleite? Andreas Kalbitz droht, sein Wahlkreisbüro zu verlieren Foto: Britta Pedersen/dpa BERLIN taz | Dem Rechtsextremisten Andreas Kalbitz droht ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Veruntreuung von Geldern. Der Brandenburger Landtagsabgeordnete soll die Miete seines Wahlkreisbüros seit Januar nicht mehr gezahlt haben, wie der rbb unter Berufung auf die Landtagsverwaltung und den Vermieter seines Büros in Königs Wusterhausen berichtet. Zugleich soll Kalbitz ihm dafür zustehende staatliche Erstattungszahlungen weiter erhalten haben. Die Landtagsverwaltung setzte demnach die zweckgebundenen Zahlungen offenbar mit sofortiger Wirkung aus, Überzahlungen sollten nun mit Kalbitz’ Bezügen verrechnet werden. Nach einer Mitteilung durch den Vermieter prüfe der Landtag auch rechtliche Schritte gegen Kalbitz, weil er ausgezahlte Gelder „mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu dem gesetzlich vorgesehenen Zweck eingesetzt habe“, wie es im rbb-Bericht heißt. Kalbitz hingegen bestreitet alles und besteht darauf, dass alle Kosten beglichen seien. Weder Vermieter noch Landtagsverwaltung hätten sich bei ihm gemeldet. Die Landtagsverwaltung bestritt dies und laut rbb kündigte der Vermieter das Mietverhältnis per Einschreiben und mit einem persönlich abgegebenen Schreiben zum 13. Mai. Falls Kalbitz in der Zwischenzeit gezahlt haben sollte, wollte der Vermieter demnach regulär kündigen. Die Landtagsverwaltung wolle den Sachverhalt nun aufklären. Und auch die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft demnach einen Anfangsverdacht in dem Fall – wohl den Verdacht auf Untreue. Die Behörde sammele und prüfe Informationen, heißt es. Schulden beim Finanzamt und der AfD Die mutmaßliche Zweckentfremdung von Geldern würde zum bereits kürzlich entstandenen Eindruck passen, dass Kalbitz derzeit mit Geldsorgen kämpft – möglicherweise auch infolge seiner langwierigen juristischen Auseinandersetzungen mit der AfD. So kam am Rande seines gescheiterten Prozesses gegen die Annullierung seiner AfD-Mitgliedschaft heraus, dass sein Konto Ende vergangenen Jahres gepfändet wurde – wegen Schulden beim Finanzamt in Höhe von über 46.000 Euro. Hinzu kamen Schulden bei der AfD. Kalbitz wurde 2020 aus der AfD geworfen, ist aber weiter parteiloses Mitglied der Landtagsfraktion der AfD Brandenburg. Dem Höcke-Freund und ehemals wichtigsten Strippenzieher der völkischen Strömung wird in Teilen der AfD ungebrochener Einfluss nachgesagt. Kalbitz will zumindest formal weiter juristisch gegen die Annullierung seiner Mitgliedschaft vorgehen, hat dabei allerdings wenig rechtliche Argumente und hofft offenbar vielmehr, dass sich mit veränderten Machtverhältnissen im Bundesvorstand der AfD ein Hintertürchen für ihn öffnen könnte. Der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla, stets Wunschkandidat der Völkischen in der Partei, ging demgegenüber allerdings zuletzt auf Distanz zu Kalbitz. „Wenn Herr Kalbitz gelogen hat bei der Mitgliedsaufnahme, dann darf er auch nicht Mitglied der Partei sein.“, sagte Chrupalla bereits vor dem kürzlich von Kalbitz verlorenen Prozess. Die jüngsten Enthüllungen um die mutmaßliche Veruntreuung von Geldern nutzten nun auch seine politischen Gegenspieler in der AfD Brandenburg: Sein Fraktionsvorsitzende im Potsdamer Landtag, Hans-Christoph Berndt, sprach in der neurechten Jungen Freiheit von „gravierenden Vorwürfen“. Sollten sich diese bewahrheiten, könnte „das Ganz nicht ohne Konsequenzen bleiben“, so Berndt.
Gareth Joswig
Der Brandenburger Abgeordnete und Rechtsextremist Andreas Kalbitz soll Gelder veruntreut haben. Sein Wahlkreisbüro hat ihm offenbar gekündigt.
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Mit leeren Händen in die Wüste zurück - taz.de
Mit leeren Händen in die Wüste zurück Geflohene Migranten aus der Elfenbeinküste berichten in ihrer Heimat Niger: „Wie geprügelte Hunde sitzen wir hier“ NIAMEY taz ■ Sechs Jahre lange lebte Mohammed in Abidjan. Der Tuareg aus der nigrischen Saharawüste war in die reiche Küstenmetropole der Elfenbeinküste gezogen, um Geld zu verdienen. Jetzt ist er angesichts des dortigen Bürgerkrieges zurückgekommen – wie hunderttausende andere Westafrikaner. „Die Spannungen gehen durch die gesamte Gesellschaft, sie sind religiöser und ethnischer Natur“, sagt Mohammed. „Es ist purer Hass.“ In Abidjan litt er schon vor dem Krieg oft unter Rassismus und Ausgrenzung – „aber wir waren ja zum Arbeiten dort, also haben wir viel erduldet.“ Erst mit dem Ausbruch des Krieges im September bekam er richtig Angst. Als Ausländer fühlte er sich nicht mehr sicher. Viele Hütten westafrikanischer Einwanderer in Abidjan sind von Gendarmen zerstört worden. Die nigrische Gemeinde in der Elfenbeinküste ist sehr groß, man spricht von 800.000 Personen mit nigrischem Pass – von etwa vier Millionen westafrikanischen Einwanderern. Viele waren jahrzehntelang in der Elfenbeinküste. Jetzt gehen sie. 15.000 Rückkehrer sind seit dem Ausbruch des ivorischen Bürgerkrieges am 19. September 2002 nach Niger gekommen. „Der Flughafen von Abidjan ist voll mit Leuten“, erzählt Hassane Diallo, der selbst gerade mit der burkinischen Fluglinie von Abidjan nach Niamey gekommen ist. „Sie warten in der Schalterhalle auf ihre Taschen und nehmen den ersten Flug, den sie bekommen können, egal wohin. Hauptsache, raus aus Abidjan.“ Aber die meisten können sich keinen Flug leisten und kommen auf offenen Lastwagen, wo sie die lange Reise über Ghana und Burkina Faso oben auf der Ladefläche überstehen müssen, auf Kisten, Säcken, Matratzen sitzend. „Alle paar Kilometer werden die Fahrzeuge durch Straßensperren aufgehalten“, weiß Hassane. „Überall müssen die Ausreisenden bezahlen.“ Seit Kolonialzeiten ist die relativ reiche Elfenbeinküste für Niger, das ärmste Land Westafrikas, das Hauptziel der Arbeitsmigration. „Es ist nicht schön, nach den vielen Jahren in der Emigration nun mit leeren Händen zurückzukommen“, sagt die 40 Jahre alte Rückkehrerin Fatoumata, die frustriert ihr Tuch über die Haare zieht. „Das ist eine Schande. Wie geprügelte Hunde sitzen wir hier. Was sollen wir jetzt tun? In Niger gibt es keine Arbeit.“ Noch schlimmer erging es Laouali aus. Sein Transporter wurde auf der Flucht vor Unbekannten überfallen, er wurde angeschossen. Ein Mitreisender schleppte ihn zu einem Gesundheitsposten und rettete ihm damit das Leben. Die Kosten für die Behandlung überstiegen Laoualis Ersparnisse, er verschuldete sich bei seinem Reisebegleiter. Doch er lebt. Von seinen 145 Mitreisenden sind nur 20 in Niger angekommen. SANDRA VAN EDIG
SANDRA VAN EDIG
Geflohene Migranten aus der Elfenbeinküste berichten in ihrer Heimat Niger: „Wie geprügelte Hunde sitzen wir hier“
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OECD-Bericht zur Region Hamburg: Der Norden ist zurückgefallen - taz.de
OECD-Bericht zur Region Hamburg: Der Norden ist zurückgefallen Die Metropolregion Hamburg bleibt unter ihren Möglichkeiten, weil Länder und Kommunen nicht genug kooperieren. Viel Luft bei Innovationen. Basis für mehr Kooperation in Hamburg und Umgebung: Staatsvertrag zwischen den Ländern Foto: dpa HAMBURG taz | Die Metropolregion Hamburg ist zwar potent, hat in den vergangenen zehn Jahren aber gegenüber anderen Regionen an Boden verloren. So lautet die Bestandsaufnahme, wie sie die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zum ersten Mal für eine deutsche Wirtschaftsregion erstellt und am Montag in Seevetal südlich von Hamburg vor einigen Hundert Gästen vorgestellt hat. Die OECD empfiehlt den Beteiligten, bei der Innovationsförderung stärker zusammenzuarbeiten, aber auch, ihren Kultur- und Naturschatz gemeinsam zu vermarkten. Ludger Schuknecht, stellvertretender Generalsekretär der OECD formulierte es positiv: „Die Region hat Potenzial, das bisher nicht beachtet worden ist.“ Im Bereich der erneuerbaren Energien habe sie sogar die Chance, Weltspitze zu werden. Sie müsse aber anfangen, in größeren Kategorien, grenzüberschreitend – von Hamburg bis Oslo – zu denken. Geschaffen wurde die Metropolregion Hamburg 1991, um die Zusammenarbeit zwischen vier Bundesländern, 20 Kreisen und kreisfreien Städten sowie 1.100 Kommunen zu verbessern und damit die Lebenschancen der Bewohner zu erhöhen. Sie umfasst die Stadt Hamburg und die angrenzenden Landreise bis in die dritte Reihe. Cuxhaven, Walsrode, das Wendland, Plau am See, Fehmarn, Neumünster, Heide bilden die äußeren Enden. Es geht langsamer bergauf Die Gutachter bescheinigen der Region zwar Wohlstand – sie habe das vierthöchste Pro-Kopf-Einkommen aller elf deutschen Metropolregionen, doch sei dieses Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf zwischen 2005 und 2015 weniger stark gewachsen als in den anderen Regionen. Zudem sei die Arbeitsproduktivität vor allem im Vergleich zu den süddeutschen Regionen gering und der Abstand habe sich vergrößert. Als ein Feld, auf dem sich etwas tun sollte, hat die OECD die Innovationskraft ausgemacht. Wissenschaft und Wirtschaft tun sich offenbar schwerer als anderswo, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen Erfindungen zu machen. Das ist ein Problem der Kooperation, wo die OECD moniert, die Forschung sei zu wenig am Bedarf der Unternehmen ausgerichtet. Zum anderen seien die Hochschulen mittelmäßig und der Anteil Hochqualifizierter geringer als anderswo und es fehlten große Unternehmen als Innovationstreiber. Stadt-Land-Gefälle beim Wohnen Nur in der Metropolregion Nordwestdeutschland gaben Unternehmen bezogen auf das BIP noch weniger für Forschung und Entwicklung aus als in Hamburg und Umgebung. Zwar habe jedes der beteiligten Bundesländer seine Innovationsstrategie, diese Strategien müssten jedoch miteinander verzahnt werden, um recht zu fruchten. Der Hamburger Staatsrat Andreas Rieckhof (SPD), Vorsitzender des Regionsrates, hofft, den Schwung des OECD-Berichts und auch der Klimadebatte zu nutzen. „Wir müssen auf dieser Welle surfen“, sagt Rieckhof. In dem vergangene Woche vom Bundeskabinett verabschiedeten Klimaschutzgesetz stehe einiges, was dafür „unmittelbar wichtig“ sei. Wenig überraschend angesichts des Zuschnitts der Metropolregion konstatierte die OECD ein Stadt-Land-Gefälle, etwa beim Wohnen, Nahverkehr und der IT-Infrastruktur, das der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) wie andere Politiker zu lindern versprach.
Gernot Knödler
Die Metropolregion Hamburg bleibt unter ihren Möglichkeiten, weil Länder und Kommunen nicht genug kooperieren. Viel Luft bei Innovationen.
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Spanischer Mutterkonzern braucht Geld: Filetierung von Hochtief gescheitert - taz.de
Spanischer Mutterkonzern braucht Geld: Filetierung von Hochtief gescheitert Von der Immobilienkrise gebeutelt, braucht der spanische ACS-Konzern dringend frisches Geld. Die deutsche Tochter Hochtief soll deshalb „profitabler“ werden. „Wir sperchen kein Spanisch!“ Hochtief-Mitarbeiter protestieren im Oktober 2010 in Berlin gegen die Übernahme durch ACS. Bild: dpa BOCHUM taz | Der spanische Baukonzern Actividades de Construcción y Servicios (ACS) legt seine deutsche Beteiligung Hochtief an die kurze Leine. Nach nur eineinhalb Jahren musste der bisherige Hochtief-Vorstandsvorsitzende Frank Stieler seinen Chefsessel „mit sofortiger Wirkung“ am Dienstagabend räumen – ersetzt wird er durch Marcelino Fernández Verdes, einen engen Vertrauten von ACS-Boss Florentino Pérez. Unmittelbar nach der Machtübernahme gab Verdes bekannt, „die Profitabilität“ des größten deutschen Bauunternehmens mit Sitz in Essen erhöhen zu wollen. Was das heißt, ließ er vorerst offen. Zuvor war über eine Zerschlagung von Hochtief spekuliert worden. ACS leidet unter der Flaute nach dem Platzen der Immobilienblase in Spanien. Der Konzern ist mit mehr als neun Milliarden Euro verschuldet und musste bereits über 30 Prozent seiner Hochtief-Anteile an die Großbank BBVA verpfänden. Dabei hatte sich ASC die Aktienmehrheit bei den Deutschen erst im Sommer 2011 nach einer spektakulären feindlichen Übernahme gesichert. Gescheitert ist die Filetierung offenbar nur an der ebenfalls hochkomplexen Finanzierung von Hochtief selbst. Diese basiert auf einer Ringkreditvergabe, an der rund 160 Banken beteiligt sind. „Um die Banken auszulösen“, sagt ein Insider, „wären Milliarden nötig“ – Geld, das ACS nicht hat. Hochtief bleibt „deutsches Unternehmen“ Hochtief bleibe mit seinen weltweit über 80.000 MitarbeiterInnen „ein börsennotiertes deutsches Unternehmen“, konnten die Essener deshalb nach der Aufsichtsratssitzung mitteilen. Trotzdem nimmt mit Manfred Wennemer auch der Vorsitzende des Kontrollgremiums seinen Hut – offiziell scheidet der einstige Chef des Reifenherstellers Continental „aus persönlichen Gründen“ aus. Denn die Spanier dürften weiter versuchen, mit Teilen von Hochtief Kasse zu machen: Die Flughafentochter steht schon seit Anfang des Jahres zum Verkauf. Sie ist an den Airports in Sydney, aber auch in Hamburg oder Düsseldorf beteiligt. Die Spekulationen über eine Trennung von Hochtief-Ableger Leighton, Marktführer in Australien, gehen ebenfalls weiter. Vorerst abgesagt scheint dagegen die Vernichtung von rund 700 Arbeitsplätzen bei der europäischen Tochter Hochtief Solutions – im Aufsichtsrat sitzt auch der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bau, Klaus Wiesehügel: „Jobabbau“, sagte ein Gewerkschaftssprecher zur taz, „ist kein Thema“.
Andreas Wyputta
Von der Immobilienkrise gebeutelt, braucht der spanische ACS-Konzern dringend frisches Geld. Die deutsche Tochter Hochtief soll deshalb „profitabler“ werden.
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Kommentar Zivilklage Kundus: Ein wichtiger Präzedenzfall - taz.de
Kommentar Zivilklage Kundus: Ein wichtiger Präzedenzfall Die Zivilklage wegen des Bombardements nahe Kundus vor zwei Jahren ist kompliziert. Ein Sieg vor Gericht aber hätte eine wichtige, politische Bedeutung. Die Bundeswehr handelt im Ausland nicht in rechtsfreiem Raum. Wenn - wie bei dem Tanklaster-Bombardement von Kundus - Dutzende von Zivilisten getötet werden, dann kann das strafrechtliche und zivilrechtliche Folgen haben. Angehörige der Opfer von Kundus fordern jetzt Schadenersatz von der Bundesrepublik. Das ist nicht aussichtslos. Auch wegen Vorfällen in bewaffneten Konflikten können Amtshaftungsansprüche in Deutschland geltend gemacht werden. Das haben deutsche Gerichte bereits grundsätzlich anerkannt. Es geht hier nicht um Völkerrecht, bei dem nur Staaten handeln können, sondern um deutsches Zivilrecht. Und die sogenannte Staatenimmunität schützt Deutschland nur vor Klagen im Ausland, nicht vor solchen vor heimischen Gerichten. Ein Selbstläufer sind die Klagen nicht, denn es kommt auf viele komplizierte Details an. So ist zwar klar, dass Oberst Klein eine unmittelbare Bedrohung deutscher Truppen vorgetäuscht hat, um die Nato-Bomber ohne Rücksprache anfordern zu können. Den Klägern nützt dies aber nur, wenn deutsche Gerichte annehmen, dass die Nato-internen Regeln auch dem Schutz von Zivilisten dienten. Ein Sieg vor Gericht würde einen wichtigen Präzedenzfall schaffen. Kriege verhindern lassen sich damit aber kaum. Nach Angaben der Anwälte hat die Bundesregierung in vergleichbaren Fällen freiwillig 14.000 bis 25.000 Euro bezahlt. So viel verlangen sie nun auch. Selbst bei hundert Geschädigten kommen da nur rund 2 Millionen Euro zusammen - keine Summe, die politisch ins Gewicht fällt. Was zählt, wäre das Signal an die Soldaten: Auch im Krieg darf mit dem Leben von Unbeteiligten nicht leichtfertig umgegangen werden.
Christian Rath
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Machtkampf bei den US-Republikanern: Dreimal durchgefallen - taz.de
Machtkampf bei den US-Republikanern: Dreimal durchgefallen Republikanische Abgeordnete verweigern ihrem Fraktionschef Kevin McCarthy die Mehrheit bei der Wahl zum Sprecher des Repräsentantenhauses. Das lief anders als gedacht: Kevin McCarthy (l.) hört die Ergebnisse des zweiten Wahlgangs Foto: Alex Brandon/ap WASHINGTON taz | Mit einem Paukenschlag ist die US-Politik ins neue Jahr gestartet. Die Abgeordneten des Repräsentantenhauses haben es am Dienstag trotz mehrerer Wahlgänge nicht geschafft, einen neuen Sprecher ins Amt zu wählen. Der kalifornische Abgeordnete und republikanische Spitzenkandidat auf das Sprecheramt, Kevin McCarthy, konnte in keinem von drei Wahlgängen die erforderliche Mehrheit von 218 Stimmen erreichen. Er ist damit der erste Abgeordnete seit 100 Jahren, dem es nicht gelungen war, das Sprecheramt trotz klarer Mehrheit einer Partei im ersten Anlauf zu gewinnen. Für McCarthy und die Republikanische Partei war es ein blamabler Einstand am ersten Tag in der Mehrheit. „Kevin McCarthy wird nicht Sprecher werden“, sagte der Abgeordnete Bob Good aus Virginia nach der Wahlschlacht. Er gehört zu den insgesamt 20 Republikanern, die gegen McCarthy stimmten. Das Drama, das sich über etwas mehr als vier Stunden im US-Kongress abspielte, hatte sich in den vergangenen Wochen bereits angedeutet. Einige Republikaner, die zum rechten Flügel der Partei zählen, erklärten bereits kurz nach den Kongresswahlen im November, dass sie nicht für McCarthy als neuen Sprecher stimmen würden. Für sie ist der Kalifornier weder konservativ genug noch habe er das nötige Rückgrat, um gegen die Demokraten und Präsident Joe Biden vorzugehen. Der Großteil der Partei steht hinter McCarthy „Wenn du den Sumpf trockenlegen willst, dann kannst du nicht den größten Alligator zum Anführer machen“, sagte der Abgeordnete Matt Gaetz aus Florida, der ebenfalls gegen McCarthy stimmte. Der 57 Jahre alte McCarthy, der während der vergangenen vier Jahre die Republikaner als Minderheitsführer im Repräsentantenhaus vertreten hatte, zeigte sich trotz aller Hindernisse zuversichtlich, dass er am Ende – wann auch immer das sein möge – als Sieger hervorgehen werde. Bereits vor dem ersten Wahldurchgang machte McCarthy seine Entschlossenheit hinter verschlossenen Türen deutlich. „Ich habe diese Position verdient. Wir haben die Mehrheit verdient und verdammt nochmal, wir werden heute gewinnen“, soll McCarthy am Dienstagvormittag laut anwesenden Parteimitgliedern erklärt haben. Und der Großteil seiner Partei steht auch weiterhin hinter ihm. In den drei Wahldurchgängen erhielt McCarthy zweimal 203 Stimmen und einmal 202 Stimmen. McCarthy will seine Kandidatur nicht zurückziehen Ohne die Wahl eines neuen Sprechers kann das Repräsentantenhaus seine eigentliche Arbeit nicht aufnehmen. „Wir alle sind hier, um etwas zu verändern. Wir können die Probleme allerdings nicht angehen, solange wir Kevin McCarthy nicht zum Sprecher gewählt haben“, sagte die Nummer zwei der Republikaner, Steve Scalise. Die Szenen, die sich innerhalb des Kapitols am Dienstag abspielten, werden noch lange im Bewusstsein aller Beteiligten bleiben. Denn der erste offizielle Tag des neuen Kongresses ist normalerweise ein Tag voller Feierlichkeiten. Alte Kollegen treffen sich nach den Feiertagen wieder, neue Abgeordnete legen ihren Eid ab und bringen ihre Familien in die US-Hauptstadt. Während der drei fehlgeschlagenen Wahldurchgänge für das Sprecheramt waren deshalb auch immer wieder Kinder und Jugendliche zu sehen, die zwischen den Abgeordneten saßen, um dem Auftakt des 118. US-Kongresses beizuwohnen. McCarthy, der vor ein paar Tagen bereits die Büroräume für das Amt des Sprechers bezogen hatte, erklärte am späten Abend, dass er seine Kandidatur nicht zurückziehen werde. Er habe außerdem mit Ex-Präsident Donald Trump telefoniert und dieser hätte ihm seine Unterstützung versichert. Republikaner: „Wir sehen stümperhaft aus“ Doch nicht jeder ist davon überzeugt, dass Nancy Pelosis Nachfolger am Ende wirklich McCarthy heißen wird. „Eins ist klar, er hat die nötigen Stimmen nicht. Wir müssen als Partei herausfinden, wer die Stimmen hat“, sagte der republikanische Abgeordnete Byron Donalds aus Florida gegenüber CNN. Im rechten Flügel der Republikaner gibt es derweil keinerlei Anzeichen dafür, dass McCarthy mit politischen Manövern oder Zugeständnissen den einen oder anderen doch noch auf seine Seite ziehen könnte. Zugleich hat sich bislang allerdings auch kein anderer Republikaner als mögliche Alternative aufgetan. Die parteiinternen Querelen auf republikanischer Seite sorgten für gute Stimmung unter Demokraten und Haareraufen bei vielen Republikanern. „Wir sehen stümperhaft aus. Wenn ich es nicht besser wissen würde, dann könnte man glauben, dass die Demokraten diese Leute bezahlen: ‚Lass uns sichergehen, dass Republikaner aussehen, als hätten sie keine Ahnung vom Regieren und die Mehrheit nicht verdienen.‘ Die Demokraten jubeln“, sagte der texanische Republikaner Dan Crenshaw bei Fox News. Am Mittwoch um 12 Uhr Ortszeit wird sich neue Kongress erneut zusammenkommen, um dann einen vierten Wahlgang für das Amt des Sprechers abzuhalten. Die Wahl wird so oft wiederholt, bis ein Kandidat die Mehrheit erhält. Im Jahr 1923 brauchte es ganze neun Wahldurchgänge, bis eine Entscheidung fiel.
Hansjürgen Mai
Republikanische Abgeordnete verweigern ihrem Fraktionschef Kevin McCarthy die Mehrheit bei der Wahl zum Sprecher des Repräsentantenhauses.
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Kosten für Rückgabe von Ausweisen: Keine Gebühr für Reichsbürger - taz.de
Kosten für Rückgabe von Ausweisen: Keine Gebühr für Reichsbürger Sollen Reichsbürger, die ihren Ausweis abgeben, für die Aufbewahrung bei der Behörde zahlen? Bremen wird sich wohl dagegen entscheiden. So einen Pass würden Reichsbürger ja noch behalten. Aber einen „Personal“ausweis?! Nein. Foto: dpa HAMBURG taz | Die Idee klang gut, wird nun wohl aber doch nicht umgesetzt: Der Bremer Grünen-Landesverband hatte vorgeschlagen, eine Gebühr für die Aufbewahrung von Personalausweisen einzuführen. Wofür das gut sein sollte? Für den Fall, dass Reichsbürger*innen ihren Personalausweis den Behörden zurückgeben. Da sie die Existenz der Bundesrepublik für illegal halten, wollen Reichsbürger*innen in der Regel auch keinen Personalausweis besitzen, der sie, ihrer Logik zufolge, als Personal ausweise – sonst müsse es ja Personenausweis heißen. Nach einem Bericht der ARD haben im vergangenen Jahr 250 Reichsbürger ihre gültigen Ausweise in Bürgerämtern abgegeben. Es dürften allerdings mehr sein, da sechs Bundesländer, darunter Bayern, wo die meisten Reichsbürger leben, die Rückgaben nicht zählen. Schleswig-Holstein hat als erstes Bundesland vor zwei Jahren eine Gebühr von fünf Euro pro Tag pro zurückgegebenem Ausweis eingeführt – und gute Erfahrungen gemacht. Die meisten Reichsbürger überlegten es sich anders, sobald sie von der Gebühr erführen, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Bremen will erstmal abwarten Das wollten die Grünen für Bremen auch und brachten das Thema am Donnerstag in die Innendeputation. Doch der Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) reagierte zurückhaltend. In Bremen wurden seit 2013 lediglich acht Personalausweise und ein Reisepass abgegeben, in Bremerhaven nur ein Ausweis. Außerdem wird bereits ein Geldbetrag fällig: Wer über kein gültiges Ausweisdokumente verfügt, begeht eine Ordnungswidrigkeit und muss bis zu 3.000 Euro Bußgeld zahlen. Zudem würden Verwaltungskosten anfallen. Man wolle erst die Erfahrung aus den anderen Bundesländern auswerten, argumentierte der Senator. Thüringen und Sachsen-Anhalt wollen die Gebühr noch in diesem Jahr einführen. In Niedersachsen besteht nach Angaben des Landesinnenministeriums kein Bedarf, eine derartige Gebühr einzuführen. Das scheint auch nicht nötig zu sein: Ein Ministeriumssprecher wies darauf hin, dass die Personalausweisbehörde ein Zwangsgeld von bis zu 50.000 Euro erheben oder gar eine Ersatzzwangshaft bis zu zwei Wochen anordnen kann, wenn jemand gegen die Ausweispflicht verstößt. Das Innenministerium geht davon aus, dass derzeit 1.485 Reichsbürger*innen und Selbstverwalter*innen in Niedersachsen leben.
Katharina Schipkowski
Sollen Reichsbürger, die ihren Ausweis abgeben, für die Aufbewahrung bei der Behörde zahlen? Bremen wird sich wohl dagegen entscheiden.
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Serie über Band Sex Pistols bei Disney+: Trau dem, was du siehst - taz.de
Serie über Band Sex Pistols bei Disney+: Trau dem, was du siehst Die Disney-Miniserie „Pistol“ erzählt die Geschichte der revolutionären Punk-Band Sex Pistols. Sie basiert auf der Autobiografie des Gründers Steve Jones. Louis Partridge als Sid Vicious, Anson Boon als John Lyndon und Toby Wallace als Steve Jones (l.n.r) Foto: Disney+ Das Folgende ist von tatsächlichen Ereignissen inspiriert: Die zweite Folge der Miniserie „Pistol“ trägt den schlichten Titel „Rotten“. Sie erzählt davon, wie aus der Band Kutie Jones and his Sex Pistols die Sex Pistols wurden, nachdem John Lydon vorgesungen und den neuen Nachnamen Rotten erhalten hatte. Sie erzählt aber auch von Pamela Rooke, die sich selbst mit 14 den Namen Jordan gegeben hat. Jordan fuhr zwei Jahre lang jeden Tag zwei Stunden mit der Bahn von Seaford, East Sussex, nach London. Dort arbeitete sie in Vivianne Westwoods Boutique „Sex“. Jordan gilt als Muse der Modedesignerin und als das erste Gesicht von Punk. Mit ihrer äußerst knappen Bekleidung versuchte sie den taxierenden Blick der Männer auf diese zurück zu reflektieren. Ihre expressiven Make-ups und radikalen Outfits jagten den Männern Angst ein. Dass mehrere Geschichten, auch unter Zuhilfenahme von dokumentarischem Material, parallel erzählt werden, ist das erzählerische Prinzip der nun auf Disney+ gestreamten Serie, die auf der Autobiografie des Pistols-Gründers und Gitarristen Steve Jones basiert. Die Kritik hatte 2017 Jones’ Buch gut aufgenommen, weil der Mann eine bemerkenswerte Offenheit an den Tag legt, die nun auch der Serie zugute kommt, bei der Danny Boyle Regie geführt hat. Anders als die anderen Bandmitglieder kamen lediglich Steve Jones und Drummer Paul Cook aus armen Verhältnissen. Jones aber hatte das härteste Schicksal von allen. Seine Mutter ist nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern. Der Stiefvater übt psychische und sexuelle Gewalt gegen den Jungen aus. Steve wird seit der Pubertät immer wieder straffällig. Seine größten Coups als Dieb bestehen darin, Equipment seiner Lieblingsbands zu klauen. Das ist seine Art, sein Fantum auszuleben und an deren Geschichte teilzuhaben. Gerechtigkeit für alle Figuren Malcolm McLaren bewahrt Jones durch einen Auftritt als seriöser Arbeitgeber vor Gericht davor, eine längere Haftstrafe antreten zu müssen. Der vaterlose, von Vaterfiguren immer nur enttäuschte und missbrauchte Jones ist McLaren dafür so dankbar, dass er immer wieder falsche Entscheidungen trifft, wenn McLaren die Band lediglich als Vehikel für seine Pläne benutzt. Die Hauptfigur von „Pistol“ ist also Steve Jones, und die Geschichte der Pistols von ihren Anfängen im Jahr 1975 bis zu ihrem Ende 1978 wird aus seiner Perspektive erzählt. Nach allem, was man bisher aus verschiedenen Quellen über diese Geschichte gehört hat, ist Jones trotz einer notgedrungen subjektiv gefärbten Sicht ein Erzähler, der den Figuren Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte. Niemand erscheint hier als Bösewicht. Alle Figuren werden mit ihren Schwächen, Vorzügen und Widersprüchlichkeiten gezeigt, die wahrhaftig erscheinen. Die Rollen sind allesamt gut besetzt. Inspiriert von wahren Ereignissen Bei aller Skepsis, die man dem Genre Biopic gegenüber haben kann und sollte, erklärt „Pistol“ doch auf brillante Weise, wie es den Sex Pistols auf spektakuläre Weise gelang, die situationistische Theorie der Gesellschaft des Spektakels, deren gelehriger Schüler Malcolm McLaren war, in eine kulturrevolutionäre Praxis zu verwandeln. „Pistol“ bedient sich da etwa des genialen Moves, mittels eines von Heroin­konsum leicht vernuschelten Monologs von Sid Vicious’ Freundin Nancy Spungen zu erzählen, dass Punk nicht in London, sondern in New York erfunden wurde. Die Serie kann dann aber auch plausibel darstellen, warum es das historische Zusammentreffen von Leuten wie Steve Jones, John Lydon, Malcolm McLaren, Vivienne Westwood, Jordan und aller anderen in dieser furchtlosen Gang war, das Punk eine Stimme, einen Sound und eine Erzählung gab, die Jugendlichen weltweit eine revolutionäre Botschaft vermittelte: Trau dem, was du selbst siehst, hörst und wahrnimmst. Du kannst die von Tabus, Klischees und Normen kaschierte Gewalt in der Gesellschaft auf kreative Weise bekämpfen. Die SerieDie sechs Folgen der Miniserie „Pistol“ laufen auf Disney+ Auch „Pistol“ ist dieser Haltung verpflichtet. Und damit das kein juristisches Nachspiel hat, heißt es vor jedem Teil: „The following is inspired by actual events.“
Ulrich Gutmair
Die Disney-Miniserie „Pistol“ erzählt die Geschichte der revolutionären Punk-Band Sex Pistols. Sie basiert auf der Autobiografie des Gründers Steve Jones.
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Karneval in Uruguay: Eine Murga kann sich jeder leisten - taz.de
Karneval in Uruguay: Eine Murga kann sich jeder leisten Von Januar bis März wird in Montevideo getrommelt. Doch die Murga, eine politisch-satirische Straßenoper, gibt es das ganze Jahr über. Straßenkarneval in Montevideo. Foto: reuters In der Altstadt von Monteviedeo befindet sich in einer Gasse hinter dem Hafen, völlig unscheinbar und nur über einen Eingang zu betreten, ein großer Hinterhof mit einer Freilichtbühne. Es ist eines dieser kleinen Amphitheater, die es in fast allen Stadtvierteln gibt. Geschützt vor den kühlen Nachtwinden des Atlantiks, sitzen die Menschen auf den von der Sonne noch warmen Steinstufen unter wolkenlosem Sternenhimmel. Die meisten Leute scheinen sich zu kennen, sind Nachbarn oder Freunde. Sie lassen den traditionellen Matebecher herumgehen, jenen bitter schmeckenden grünen Kräutertee, ohne den ein Uruguayer nicht auf die Straße geht. Neben der Bühne brutzeln auf dem obligatorischen Grill Riesensteaks, Rippchen und Würste. Viele Jugendliche stehen Schlange, scherzen und warten geduldig auf den Eiweißschub und den Beginn der Aufführung. Einige Touristen haben auch hierher gefunden und schauen dem Treiben fasziniert zu. Vielleicht waren sie vorher im Karnevalsmuseum gleich um die Ecke und wollen nun live sehen, was sie dort theoretisch erfahren haben: Die Murga kam Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem spanischen Cádiz nach Uruguay. Es ist eine Art Straßenoper, die Humor und Protest, Chorgesänge und Theatereinlagen kombiniert. Sie ist traditionelle Karnevalsveranstaltung und moderner, humorvoller Ausdruck von Gesellschaftskritik. Auf der Bühne des Amphitheaters treten heute drei verschiedene Murgas auf. Kritik öffentlich machen Der Eintritt kostet 50 Pesos, knapp 2 Euro, und damit weniger als ein Espresso im Café. Die Murgas werden staatlich subventioniert, genauso wie Museen, Theater und andere kulturelle Events. Sie finden in den Theatern, auf der Straße und am Strand statt, in Montevideo und in der Provinz. Für die Jugendlichen ist es eine Möglichkeit, sich zu treffen und Spaß zu haben, ohne viel Geld auszugeben. Die Bars und Diskotheken sind für die meisten unerschwinglich. Das Mindesteinkommen betrug 2014 rund 400 US-Dollar, bei Lebensmittelpreisen, die den deutschen sehr nahe kommen. Eine Murga hingegen kann sich jeder leisten. Sie ist ein willkommener Anlass, über Politik zu reden und zu lachen, sagt Marcelo, der drei Straßen weiter wohnt. Er geht in dieser Jahreszeit fast täglich auf eine Murga. Nicht nur er: In der Karnevalszeit werden mehr Eintrittskarten für Murgas verkauft als im ganzen Jahr für Fußball. Und das will was heißen in Uruguay! Reisetipps MontevideoFlüge: Nach Montevideo mit Iberia von Düsseldorf über Madrid nach Montevideo ab 350 Euro pro Strecke (früh buchen!). Direktflug Frankfurt–Buenos Aires mit Lufthansa ca. 1.400 Euro hin und zurück. Über die USA nach Buenos Aires ab 650 Euro hin und zurück. (fluege.de) Von Buenos Aires mit Überlandbussen und Fähre in 4 Stunden nach Montevideo (Informationen zu Busfahrten: www.omnilineas.com.uy/ferry/)Hostels: Die Posada al Sur ist genossenschaftlich organisiert, Biofrühstück inklusive, DZ ab 50 Euro, im Mehrbettzimmer ab 15 Euro, calle 25 de Mayo, Montevideo 11000, in der Altstadt. Weitere Hostels: (www.hostels.com)Karneval: Alle Informationen über Veranstaltungen gibt es im Karnevalsmuseum, gegenüber dem Hafen (Esq 25 de Mayo, Montevideo 11000, Uruguay) und auf http://museodelcarnaval.org/ und http://carnavaldeluruguay.com/a/carnaval-2016/Touristeninformationszentrum: direkt in der Altstadt, Nähe Hafen. Der fünfzigjährige Marcelo ist heute mit seiner ganzen Familie gekommen. Er liebe die Murga, sagt er, weil sie rüberbringe, was die Leute auf der Straße denken. Es sei ein populäres Instrument, um Politik im Alltag erfahrbar zu machen und Kritik daran zu üben. Und hinterher wird diskutiert. Über Politik und Fußball lässt sich trefflich und ausdauernd streiten in Uruguay, die Mate-Kalebasse in der einen und die Thermoskanne in der anderen Hand. Mayra, 24 Jahre alt, macht selbst mit in der Murga „Cayó la Cabra“ (“Es stolperte die Ziege“). Kurz vor ihrem Auftritt holt sie sich an der Bar schnell noch einmal heißes Wasser für ihren Mate. Sie hat noch eine andere, augenzwinkernde, Erklärung für das politische Interesse der Uruguayer: „Wir haben Wahlpflicht in Uruguay. Sich zu informieren und auf dem Laufenden zu sein, ist wie Hausaufgaben machen. Wen willst du wählen wenn du nicht Bescheid weißt?“, lacht sie. Schon als Kind hat Mayra ihre Eltern zur Murga begleitet. Damals sei die Kritik allerdings rüder gewesen. Mit der Linksregierung sind die Feindbilder ausgegangen. „Wir können ja schlecht kritisieren, was wir jahrelang eingefordert haben“, sagt Mayra. „Heute funktioniert die Murga so: Du nimmst das auf, was dir in deinem Leben auffällt und hinterfragst es mit Humor. Wir sagen nicht: So ist es richtig und so ist es falsch. Wir hinterfragen Alltägliches: Konsumgewohnheiten, Kommunikation, Arbeitsalltag.“ Politik sei schließlich auch, wie die Gesellschaft mit den Ergebnissen von Politik umgeht. Das ist auch der Grund, warum so viele junge Leute auf die Murga abfahren. Sie identifizieren sich mit den Themen. Wir wollen anregen, über Themen nachzudenken“, erklärt sie, zieht noch einmal an ihrem Metallhalm für einen letzten Schluck Mate und verschwindet schnell hinter der Bühne. Zum Beispiel gegen zuviel Konsum Und dann geht es los. Siebzehn farbenprächtig geschminkte und kostümierte Menschen betreten unter donnerndem Applaus singend und trommelnd die Bühne. Die Zusammensetzung ist in jeder Murga gleich: ein Bühnendirektor, dreizehn Sänger und drei Schlagzeuger. Die Darbietung, genannt cuplé, besteht aus Liedern, Sprechgesängen, Tänzen und regelrechten Clowneinlagen, unterbrochen von herzhaften Lachern und Applaus. In den Texten geht es um lange Wartezeiten für den Facharzt, um übermäßigen Computerkonsum, um Kredite und Kreditkarten und Konsum als Ersatzhandlung. Lustig, bissig und manchmal auch richtig böse. Aber nicht immer leicht zu verstehen für Outsider. Einige Murgas bieten Libretos an, damit auch ausländische Gäste mitlachen können. Aber selbst wer nichts versteht: Das musikalische und optische Spektakel ist allemal unterhaltsam. Und es dauert. Drei Murgas à fünfundvierzig Minuten. Dazwischen: humoristische Einlagen durch den Moderator, Würstchen vom Grill und Spendenaktionen für das Stadtviertel. Gegen ein Uhr morgens ist die Vorstellung zu Ende. Inzwischen ist es kühl geworden. Lachend und kommentierend machen sich die Leute in Grüppchen auf den Heimweg. taz.am wochenendeDie Menschheit hat ein Gewaltproblem. Kann man das ändern, wenn man den Nachwuchs entsprechend erzieht? Lesen Sie mehr darüber in der taz.am wochenende vom 13./14. Januar 2016. Außerdem: Ryan Gattis hat einen genau recherchierten Roman über die L.A. Riots geschrieben – "In den Straßen die Wut". Und: Batumi in Georgien ist eine absurde Stadt, besonders im Winter. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Uruguay ist ein kleines Land mit rund 3 Millionen Einwohnern und 12 Millionen Kühen. Seine Nachbarn: Brasilien, rund fünfzigmal so groß wie Uruguay, und Argentinien, etwa fünfzehnmal größer. Dazwischen, wie in die Zange genommen, Uruguay. Eine ziemlich ungemütliche Position. Manche Uruguayer sagen, das sei einer der Gründe für ihren schwarzen Humor. Die Murga Joven Am nächsten Tag besuche ich die Murga „Cayó la Cabra“ bei ihrer Probe. In Villa Espanola, einem heruntergekommenen Stadtteil im Norden Montevideos, treffen sich die Mitglieder in einer alten Lagerhalle. Ein schmuckloser Raum, wo der Putz blättert und Feuchtigkeit sich fleckig auf den Wänden ausbreitet, ein kaputtes Fenster, weiße Plastikstühle und an der Wand Requisiten. Drei Frauen nähen und reparieren die prächtigen Kostüme, allesamt selbst entworfen und selbst angefertigt. Die anderen, ohne Schminke und Kostüme in ihren Jeans und Turnschuhen kaum wiederzuerkennen, sitzen im Kreis und diskutieren über die Interpretation eines Liedes. Das ganze Jahr über haben sie an dieser Murga gearbeitet: Kostüme genäht, Lieder getextet, Texte verworfen, diskutiert, gestritten und abgestimmt, Choreografien eingeübt und getrommelt. Und nach jeder Aufführung wird wieder etwas angepasst, verändert, gestrichen oder hinzugefügt. Eine Murga lebt, ist work in progress. Cayó la Cabra ist eine sogenannte „Murga Joven“. Anders als die Karnevalsmurga funktioniert sie das ganze Jahr über. Um als Murga Joven zu gelten, müssen die Mitglieder alle unter dreißig sein. Zurzeit gibt es rund sechzig Murga Joven in Uruguay. Sie sind besonders kritisch, satirisch und immer aktuell. Und erfreuen sich wachsender Beliebtheit unter den Jugendlichen. Für Mayra ist die Murga wie ein zweites Zuhause. „Ein Indianerstamm, nur ohne Häuptling“, so sehe sich die Gruppe. Mayra wohnt noch bei den Eltern, zusammen mit zwei Geschwistern. Klar würde sie gerne ausziehen aber solange sie in der Ausbildung ist: undenkbar! Mayra studiert Psychomotorik und Logopädie. In einem Zentrum für Familien arbeitet sie mit Kleinkindern bis drei Jahren. Unter der Linksregierung seien immer mehr dieser Zentren entstanden, um den Kinder sozial benachteiligter Familien bessere Bildungschancen zu geben. Es habe sich viel getan in den letzten zehn Jahren, sagt sie. Die Legalisierung der Abtreibung, ein geradezu revolutionäres Gesetz in einem südamerikanischen Land, habe dazu beigetragen, dass Abtreibungen nicht mehr in Hinterhöfen stattfinden, sondern medizinisch betreut werden. Für die Frauen bedeute das ein Riesenschritt nach vorn. Jetzt können sie sich frei und ohne Druck für oder gegen ein Kind entscheiden. „Für die Männer ist das auch besser“, sagt Emiliano, „schließlich gehörten immer zwei dazu. Und wenn Frauen in der Vergangenheit ihre Gesundheit oder vielleicht sogar ihr Leben riskierten, weil sie illegal abgetrieben haben, dann betraf das schließlich auch den Mann.“ Auch die gleichgeschlechtliche Ehe habe in Uruguay zu weitreichenden Veränderungen geführt. „Es ist ja nicht nur so, dass Männer jetzt Männer und Frauen eine Frau heiraten dürfen. Heterosexuelle Paare können jetzt wählen, ob sie den Familiennamen der Frau oder des Mannes wählen wollen. Das ist eine Konsequenz aus dem Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Ich glaube, dass solche tiefgreifenden Veränderungen mit der Zeit eben andere Bewegungen mit sich bringen, also die Gesellschaft insgesamt verändern“, erklärt Mayra. Weitreichende gesellschaftliche Veränderungen Veränderungen sind das große Thema der Murga-Gruppe. Jedes Jahr gilt es, eine neue Vorstellung auf die Beine zu stellen. Und sie haben stets einen Bezug zur aktuellen Politik. Insofern, sagt Mayra, gestalten die Murgas gesellschaftliche Prozesse mit. Die Texte der Aufführungen regen etwa dazu an, über Vor- und Nachteile von Gesetzen nachzudenken. Die Legalisierung der Abtreibung oder von Marihuana waren allemal dankbare Themen für die Murga. Mit José Mujica als Präsident von Uruguay sei es in den Murgas auch viel um Konsumkritik gegangen. Mujica, den die Uruguayer liebevoll „El Pepe“ nennen, lehnte während seiner Amtszeit von 2010 bis 2015 Krawatten genauso ab wie Protokolle. Der Präsident, der einen alten VW-Käfer fuhr und während der Militärdiktatur 14 Jahre als politischer Gefangener einsaß, beeindruckte nicht nur die Mächtigen dieser Welt mit seinen Reden, sondern auch die Jugend von Uruguay: „Wir haben die alten Götter geopfert und einen Tempel für ‚Gott Markt‚ erschaffen. Dieser organisiert für uns die Wirtschaft, die Politik, die Gewohnheiten, das Leben und vermittelt uns mit Preislisten und Kreditkarten ein Gefühl von Glück. Wie es aussieht, wurden wir nur geboren, um zu konsumieren und zu konsumieren, und wenn wir das nicht können, bleibt die Frustration, die Armut und die Ausgrenzung.“ (Pepe Mujica, September 2013, New York) Konsumkritik und Jugendwahn sind zentrale Themen der Murgas. In einem cuplé, einer Szene, von Cayó la Cabra, heißt es: Es ist Mode, jung zu sein. Alle Moden fangen mit der Jugend an. Wenn wir Kinder sind, imitieren wir sie. Das Problem ist: Auch die Alten imitieren sie. Mein Großvater hat sich ein Smartphone gekauft. Er macht gern einen auf chic. Jetzt liest er die Tageszeitung im Internet. Und macht beim Blättern die Finger nass. Die Mode nutzt die Jugend aus, ohne Zweifel ihre besten Kunden, sie sind für jeden Trend bereit und kaufen alles, was du ihnen verkaufst. Die Murga-Macher haben es nicht leicht heute. Da es kein klares Feindbild gibt und die Kritik an der Konsumgesellschaft sich mit der Haltung des ehemaligen Präsidenten und der weiterhin links stehenden aktuellen Regierung deckt, kommt gelegentlich der Vorwurf auf, man sei der offiziellen Seite zu nah. Aber die Murga kritisiert nun mal nicht nur die Regierung, sondern die Gesellschaft. Die Murga kritisiert, was sie kritisieren muss. Sagt Mayra. Und solange die Menschen darüber lachen können, ist alles gut. Während die Gruppe probt, dringen plötzlich Trommelrhythmen und Lärm von der Straße durch die undichten Fenster. Eine Tanzgruppe zieht in voller Kostümpracht vorbei. Irgendwo ist immer Karneval in Montevideo.
Gitti Müller
Von Januar bis März wird in Montevideo getrommelt. Doch die Murga, eine politisch-satirische Straßenoper, gibt es das ganze Jahr über.
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Kritik am Kinder- und Jugendnotdienst: Garstiges Hilfesystem - taz.de
Kritik am Kinder- und Jugendnotdienst: Garstiges Hilfesystem Hamburgs Kinder- und Jugendnotdienst arbeitet mit Haus- und Hofverweisen. Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg kritisiert das. Bleibt Kindern bei Fehlverhalten verschlossen: Portal des Hamburger Kinder- und Jugendnotdienstes Foto: Jannis Große HAMBURG taz | Die Vorgänge beim Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) beschäftigen die ganze Stadt, seit ein 14-jähriger Junge nach mehrmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen und dorthin zurückgeschickt wurde. Einige Medien arbeiten sich derzeit an diesem einzelnen Kind und dessen Schwierigkeiten ab, mit dem Ziel, Stimmung für ein neues geschlossenes Heim zu machen. Schon kurz vor Ausbruch dieser Debatte hatte die Linksfraktion in der Bürgerschaft eine Anfrage zu den Bedingungen beim KJND gestellt. In der Antwort des Senats sind die Hausordnung, Gruppenregeln und das Schema einer „Interventionskette“ bei „Nichtbeachtung von Regeln und Absprachen“ enthalten, die ein anderes Schlaglicht auf die Zustände in der mit rund 100 Plätzen größten Hamburger Einrichtung werfen. Die taz hatte schon 2021 zwei ehemalige Bewohner interviewt, die sich vor allem über häufige Hausverbote beklagten. „Ich finde das schon echt hart, weil man dann ja wirklich bis nachmittags, abends ja draußen bleiben muss“, sagte uns der damals 19-jährige Chris*. „Und bei dem wenigen Taschengeld, was man da kriegt, den ganzen Tag ohne Essen draußen sein zu müssen, auch wenn schlechtes Wetter war, ist schon echt hart.“ Er finde die Regelung schwachsinnig: „Weil die Leute, die da sind, gehen dann raus und überlegen sich, irgendeinen Blödsinn zu machen, um die Zeit rumzukriegen.“ Ein Schulbesuch sei für viele schwierig, weil die alte Schule meist weit weg liege und es im KJND-eigenen Vormittagsprogramm nicht für jeden Platz gebe. „Hausverbot“ oder „temporärer Gruppenverweis“? Der Senat antwortet nun auf die Linken-Anfrage etwas spitzfindig, dass es ein „Hausverbot“ für Bewohner beim KJND nicht gebe. Stattdessen spricht er von einem „temporären Gruppenverweis“, den es aber nur gebe, wenn ein Jugendlicher dauerhaft den Schulbesuch, die Teilnahme an einem Vormittagsprogramm oder anderen ihm gemachten Angeboten verweigere. Aus den als Anlage angefügten Dokumenten geht aber schon hervor, das ein „zeitlich festgelegter Haus- bzw. Hofverweis (Schule)“ zum Repertoire der „Sanktionen“ gehört. Bei einem massiven Verstoß gegen die Hausordnung wie Gewalt ist ein Hausverweis sogar bis 22 Uhr abends möglich. Den Jugendlichen seien gegebenenfalls „Fahrschein, Obst und Getränke“ mitzugeben. Als „Reglementierungsmöglichkeiten“ sind ferner neben anderen Einschränkungen wie Fernseh- und Süßigkeitenverbot „Übernachtungen im TV-Raum“ möglich, was bedeutet, dass die Jugendlichen nicht in ihr Zimmer dürfen. Die taz hatte seinerzeit auch berichtet, dass eine Zwölfjährige in Folge eines späten Hausverbots die Nacht auf einer Polizeiwache in der Zelle verbringen musste. Doch Fragen dazu, ob das heute noch Praxis ist, mag der Senat nun gar nicht beantworten. Wie mit Kindern im Polizeigewahrsam umgegangen wird, sei Teil einer internen Dienstvorschrift und „grundsätzlich nicht mitteilungsfähig“. Linke kritisiert mangelnde Betreuung Die Linken-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus verweist darauf, dass im KJND junge Menschen in Obhut genommen werden, die selber Gewalt und Missbrauch erfahren haben und dort vom ersten Tag an unter Druck stünden, allen Erwartungen gerecht zu werden. „Die Hausregeln sind zu unterschreiben“, sagt Boeddinghaus. Ein Foto werde auch noch gemacht, falls der junge Mensch nicht rechtzeitig wieder in seiner Gruppe sei und polizeilich gesucht werde. „Was für ein krasser Ersteindruck muss das für schutzbedürftige junge Menschen sein“, fragt sich Boeddinghaus. Sie sei besorgt, dass auch angesichts der aktuellen Überfüllung des KJND die „notwendige individuelle Betreuung hintenüberfällt“. Der Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg, dem wir die Unterlagen zeigten, sieht in den Disziplinarmaßnahmen einen Hinweis, dass der KJND seinen gesetzlichen Auftrag verfehlt. Denn eine Inobhutnahmeeinrichtung habe auch für die Erziehung und die Beaufsichtigung zu sorgen. Das sei ihre Amtspflicht. Wenn nun die Minderjährigen die Gruppe verlassen müssen, sich laut Hausordnung auch nicht im Treppenhaus aufhalten dürfen und sie auch noch Fahrscheine erhalten, lasse das darauf schließen, dass sie das KJND-Gelände zu verlassen haben. „Und damit geraten sie in Situationen, die durch die Maßnahme der Inobhutnahme vermieden werden sollten“, sagt der ehemalige Hochschullehrer. Tagsüber unbeaufsichtigt weggeschickt Es sei paradox, wenn der KJND Jugendliche in Not aufnehme und dann einige von ihnen tagsüber unbeaufsichtigt wegschicke. Das könne auch nicht geheilt werden, indem ihnen Gespräche angeboten werden sollen, denn das sei „in einer sozialpädagogischen Einrichtung selbstverständlich“. Lindenberg sagt, für die Disziplinarmaßnahmen gebe es möglicherweise Gründe, die mit der Größe der Einrichtung zusammenhingen. Er regt an, den großen KJND auf dem Gelände der Feuerbergstraße aufzulösen und durch dezentrale, lebensweltnahe Einrichtungen zu ersetzen. „Je kleiner eine Einrichtung, desto intensiver und vertrauensvoller kann der Umgang zwischen Bewohnern und Personal gestaltet werden“, sagt er. Der Jugendhilfeexperte Ronald Prieß vom Hamburger „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ stört sich daran, dass in der Hausordnung und den übrigen Regelwerken Begriffe wie Vertrauen und Beziehung nicht vorkommen. Das in der Senatsantwort veröffentlichte Schema „Konsequenzen und Interventionskette“ erinnere ihn in seiner technischen Sprache, der hohen Gewichtung des Einhaltens von Regeln und seiner Defizitorientierung an das Regelwerk der brandenburgischen Haasenburg-Heime. „Der KJND ist natürlich keine geschlossene Einrichtung“, sagt Prieß. Doch dieser habe nicht nur wegen der Größe, sondern auch wegen seiner konzeptionellen Ausrichtung ein Problem. Er weist darauf hin, dass bereits 2019 eine Forschungsgruppe, nachdem sie ehemalige Nutzer interviewt hatte, forderte, dass „der KJND in seiner jetzigen Form geschlossen oder jedenfalls ganz neu konzeptioniert“ werden müsste. Überfällig sei eine Evaluation des KJND, einschließlich des dort seit 20 Jahren eingesetzten Sicherheitsdienstes und weiterer Inobhutnahme-Einrichtungen der Stadt. Die taz stellte am Donnerstag auch der Sozialbehörde Fragen zu Art und Sinnhaftigkeit der Hausverweise, die aber, da gerade sehr belastet, um mehr Zeit für die Antwort bat.
Kaija Kutter
Hamburgs Kinder- und Jugendnotdienst arbeitet mit Haus- und Hofverweisen. Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg kritisiert das.
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Beginn der CSD-Saison: Immer wieder samstags - taz.de
Beginn der CSD-Saison: Immer wieder samstags Die CSD-Saison startet in Paderborn. Im September endet sie in Weimar. Dabei ist der Christopher Street Day der 28. Juni. Warum wird er so lange gefeiert? Gefeiert werden kann der CSD in Deutschland fast jedes Wochenende, wir hier im vergangenen Jahr in Frankfurt Foto: dpa Wann ist eigentlich Christopher Street Day? Die erste Antwort: am 28. Juni. In den frühen Morgenstunden dieses Tages im Jahr 1969 fand nämlich im „Stonewall Inn“, einer LGBT-Bar in der New Yorker Christopher Street, eine anlasslose Polizeirazzia statt. Die Anwesenden wehrten sich gegen die Gängelei, leisteten tatkräftig Widerstand gegen die Polizei, mehrere Nächte lang gab es Straßenproteste. So wurde der 28. Juni zu einem historischen Datum der Homosexuellenbewegung. Wann ist also Christopher Street Day? Die zweite Antwort: an jedem verdammten Samstag zwischen Mitte Mai und Mitte September, quasi als Kontrastprogramm zur pausierenden Fußballbundesliga. Denn so sieht es aus in Deutschland: vom 20. Mai (PaderPride in Paderborn) bis zum 16. September (CSD Weimar) rollt die Karawane ohne Pause durchs Land, an den meisten Wochenenden in mehreren Städten gleichzeitig, neben Leuchttürmen wie Köln (9. Juli) und Berlin (22. Juli) feiert man auch in Cloppenburg (24. Juni), Pirna (8. Juli) und Gießen (26. August). Nun wird also ein Tag mit klar definiertem Anlass auf knapp vier Monate ausgewalzt. Das legt die Unterstellung nahe: Es geht längst nicht mehr um irgendein historisches Datum, sondern nur ums Feiern. Und damit aus Sicht der Community, um eine möglichst lang gestreckte Saison, in der man sich möglichst nicht gegenseitig die Partykundschaft abnimmt, beziehungsweise aus Sicht der Städte und Gemeinden, um Standortmarketing, Hotelgäste, Einnahmen. Gefeiert wird vor allem im Westen Illustration: taz (Gestaltung)/ www.csd-termine.de (Quelle) Das alles ist so, als hätte man zu ihrer Hochzeit die Ostermärsche von Aschermittwoch bis Pfingsten stattfinden lassen. Oder als würde man 1.-Mai-Demos auch noch Mitte Juni begehen, damit der Schwarze Block überall in großer Stärke mit dabei sein kann. Aber es gibt noch etwas zu beachten. Der Begriff „Christopher Street Day“ klingt zwar englisch, ist aber nur in Deutschland und der Schweiz verbreitet. Er ist ein Scheinanglizismus wie „Handy“ oder „Oldtimer“. Der englische Sprachgebrauch entkoppelt das historische Ereignis („Stonewall Riots“) vom Straßenfest („Pride Parade“). „Christopher Street Day“ ist so gesehen nur das deutsche Wort für eine beliebig im Jahr disponierbare LGBT-Parade. Hätten wir das also auch geklärt. Die Saison kann beginnen!
Michael Brake
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Hilfe für Jugendliche: „Es gibt null Untersuchungen“ - taz.de
Hilfe für Jugendliche: „Es gibt null Untersuchungen“ Der Kriminologe und Sozialpädagoge Olaf Emig über die geschlossene Unterbringung minderjähriger Flüchtlinge und Defizite der Bremer Jugendhilfeträger. Olaf Emig fürchtet, dass sich durch das geplante Jugendheim wieder "eine unkontrollierte Form der Erziehung etablieren wird". Bild: Simone Schnase taz: Herr Emig, Sie haben eine Petition verfasst gegen die geschlossene Unterbringung (GU) junger Menschen im Rahmen der Jugendhilfe. Warum? Olaf Emig: Ich habe selber jahrelang in der Heimerziehung mit geschlossenen Teilsystemen wie der GU gearbeitet und weiß, dass hier dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet werden. Seit Jahrzenten beschäftige ich mit der Wirkung von Freiheitsentzug auf das Verhalten junger Menschen. Auch die jüngsten Beispiele aus der Haasenburg GmbH, zeigen,dass sich hier bis heute nichts geändert hat. Ich bin entsetzt darüber, dass Bremen eine GU für eine Gruppe unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge plant – und das auch noch auf dem Gelände eines Gefängnisses. Und das ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Inwiefern? Bereits die Unterbringung eines Teils der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in zweifelhaften Hotels oder in der Zast verletzt vorgeschriebene Jugendhilfestandards und verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Es kann bis zu drei Monate dauern, bis die Jugendlichen Amtsvormünder bekommen – das geht nicht, das muss unmittelbar nach deren Ankunft geschehen. Unter anderem heißt es in Ihrer Petition, dass bei den Jugendlichen, die geschlossen untergebracht werden sollen, das Subsidiaritätsprinzip des Vorrangs der milderen Intervention nicht eingehalten worden ist. Was bedeutet das? Das heißt in diesem Fall, dass vor staatlicher Zwangsintervention wie einem gerichtlichem Unterbringungsbeschluß weniger eingriffsintensive Maßnahmen wie Betreutes Wohnen oder ähnliches im ausreichendem Maße ausprobiert worden sein müssen. Einsperren ist immer ultima ratio, also wenn vermeintlich nichts anderes mehr geht. Es gibt immer Jugendliche, die fallen auf, sowohl sozial als auch strafrechtlich. Da denkt sonst niemand an eine geschlossene Unterbringung. Aber nun gab es in einer Bremer Jugendnotaufnahmestelle in der Tat massive Schwierigkeiten mit Jugendlichen, Sicherheitsdienste wurden eingesetzt und es entstand die Idee einer intensiven und robusten Betreuung in einer Geschlossenen Unterbringung der Jugendhilfe. Allerdings sind ja nur unzureichend und lückenhaft zuvor andere pädagogische Maßnahme ausprobiert worden – und das muss normalerweise immer getan werden. Olaf Emig68, der Kriminologe und Sozialpädagoge war Lehrbeauftragter unter anderem an der Hochschule Bremen, Koordinator zur Vermeidung von Jugendarrest und U-Haft in Bremen und wissenschaftlicher Mitarbeiter der grünen Bürgerschaftsfraktion im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl". Laut Sozialsenatorin Anja Stahmann handelt es sich bei den Jugendlichen um „sehr schwierige Jugendlichen, die mit den Instrumenten des Jugendhilfesystems nicht zu erreichen sind.“ Was macht diese Jugendlichen denn so schwierig? Das weiß keiner: Es gibt null Untersuchungen über diese Jugendlichen, keine Dokumentation, einfach nichts. Wir wissen nicht, was man ihnen in ihrer Heimat und während ihrer Flucht angetan hat, weil immer nur darüber gesprochen wird, was sie getan haben sollen – und das ist nicht viel: Der allerkleinste Teil dieser ungefähr dreißig Jugendlichen, die wiederholt in Bremen in Erscheinung getreten sind, ist strafrechtlich verurteilt worden. Dennoch werden alle als kriminell oder sogar als „Intensivtäter“ betitelt. Die Jugendlichen sind häufig mangels Betreuung in Cliquen unterwegs, aus denen heraus es auch zu Straftaten und Ordnungswidrigkeiten kommt. Oftmals werden dann alle Cliquenmitglieder als Tatverdächtige registriert, und schon nach wenigen Wochen avanciert man zum Mehrfach- oder Intensivtäter in der Polizeistatistik, obwohl noch nicht einmal eine Anklage vorliegt. Wir wissen nur, dass es sich wohl um Jugendliche aus den Maghreb-Staaten, also vorwiegend aus Tunesien, Marokko und Algerien, handeln soll. Sie haben an einer Evaluation sogenannter Sozialer Trainingskurse in Bremen mitgewirkt, in der unter anderem rassistische Unterscheidungspraxen im Kontext von Jugendkriminalität kritisch beleuchtet werden. Lothar Kannenbergs Einrichtung in Rekum und auch das geplante Heim sind explizit für Flüchtlinge... Es gibt Etikettierungen, die sind einfach unzulässig. Es ist einfach nicht richtig zu sagen, dass ein „Migrationshintergrund“ ein Kriterium dafür ist, dass jemand eher straffällig oder auffällig wird oder eingesperrt gehört. Das Problem ist, dass Jugendhilfeträger oft nur dann Geld für ihre Arbeit bekommen, wenn sie explizit Konzepte für Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ oder mit anderen Etikettierungen anbieten. Was die Jugendlichen angeht, die nun geschlossen untergebracht werden sollen, könnte sich aufgrund ihrer Herkunft allerdings eine ganz andere Chance ergeben. Wie das? Neulich hat ein Jugendhilfevertreter des St. Theresienhauses in Bremen-Nord gesagt, dass man das Wissen um deren gemeinsamen kulturellen und sprachlichen Hintergrund doch wunderbar nutzen kann, um ihnen effektiv zu helfen. Das wäre doch viel einfacher als bei Jugendlichen, die aus vielen völlig völlig unterschiedlichen Ländern kommen. Das finde ich einen guten und sinnvollen Ansatz, der noch zusätzlich gegen die angebliche Notwendigkeit spricht, diese Jugendlichen geschlossen unterzubringen. Wie lässt sich der geplante Rückschritt in die „Fürsorgeerziehung“ überhaupt erklären? Im Moment natürlich mit Überforderung angesichts der steigenden Zahlen unbegleiteter Minderjähriger, andererseits aber auch mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von Verunsicherung, Zukunftsängste und Vertrauensverlust geprägt ist – und man glaubt im Bereich von sozialen und störenden Auffälligkeiten von Jugendlichen durch normative Anforderungen einen Ordnungsrahmen setzen zu können. Das allgemeine Straf- und Sanktionsbedürfnis ist trotz sinkender Kriminalität gestiegen. Deswegen erfreuen sich Erziehungscamps, Anti-Agressivitäts-Trainings oder fragwürdige isolierende Auslandaufenthalte in Kirgisien oder Sibirien großer Beliebtheit. Jemand wie Lothar Kannenberg ist da ein gutes Beispiel: Der setzt auf Sport, Regelwerk und Gruppensanktion und meint, eine professionelle pädagogische Ausbildung sei für diese Arbeit nicht notwendig. Übersehen wird dabei, dass beispielsweise Boxcamps oftmals einfacher zu bewältigen sind als Maßnahmen einer pädagogisch-orientierten Jugendhilfe. Wobei ich eine sportliche Ausrichtung in pädagogischen Projekte sehr begrüße, aber sie ist eben nicht ausreichend. Demütigung soll für die Jugendlichen einfacher sein? Ja. Es ist für einen Jugendlichen viel leichter, einfach das zu sagen und zu tun, was ihm oktroyiert wird als selbst Verantwortung übernehmen zu müssen und das eigene Verhalten zu reflektieren. Denn diese Prozesse dauern natürlich ein bisschen länger – und da stößt die gesellschaftliche Akzeptanz manchmal an ihre Grenzen. Anders als Bremen möchte der potentielle Hamburger Träger das Heim generell für Minderjährige nutzen. Glauben Sie, dass es von Bremer Seite aus dabei bleibt, nur die Flüchtlingsjugendlichen einzusperren? Nein, ich sehe ganz klar die Gefahr, dass sich damit in Zukunft wieder eine unkontrollierte Form der Erziehung etablieren wird. Neue Zielgruppen findet man immer. Die Sozialbehörde behauptet, kein Bremer Jugendhilfeträger habe sich bereit erklärt, die Verantwortung für die Jugendlichen zu übernehmen und deswegen Kannenberg hergeholt. Auch einen Träger für das geplante Heim hat man nicht gefunden und deswegen nun Hamburg ins Boot geholt. Lässt das Bremer Jugendhilfesystem mit ihrer Verweigerung die jungen Flüchtlinge ins offene Messer laufen? Nein, das sehe ich nicht so. Die Jugendhilfe in Bremen ist in der Lage, diesen Jugendlichen zu helfen, sie macht das seit Jahren und hat immer wieder mit Jugendlichen in ähnlichen Problemlagen, die in Bremen zyklisch auftauchen, zu tun. Die Träger gehen aber meiner Meinung nach momentan zu wenig offensiv mit dem um, was sie können. Sie reagieren auf die Behörden und zeigen da auch eine klare Haltung, aber sie sollten vielmehr mit Konzepten und Forderungen nach vorne gehen. Sie sollten Flagge zeigen und wieder das Zepter des Handelns in die Hand nehmen.
Simone Schnase
Der Kriminologe und Sozialpädagoge Olaf Emig über die geschlossene Unterbringung minderjähriger Flüchtlinge und Defizite der Bremer Jugendhilfeträger.
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■ Sollen Tarifabschlüsse künftig vollumfänglich nur noch für beitragszahlende Gewerkschaftsmitglieder gelten?: Provokation mit rationalem Kern - taz.de
■ Sollen Tarifabschlüsse künftig vollumfänglich nur noch für beitragszahlende Gewerkschaftsmitglieder gelten?: Provokation mit rationalem Kern Rolf Fritsch, der Vorsitzende des ÖTV-Bezirks Hamburg, hat das neue Jahr mit einem tarifpolitischen Paukenschlag eröffnet. Sein im ersten Moment verständlicher Vorschlag, nur noch denjenigen, die monatlich ihren Mitgliedsbeitrag an die Gewerkschaften entrichten, auch alle jährlich ausgehandelten tariflichen Vereinbarungen zugute kommen zu lassen, wirft jedoch grundlegende Fragen über die künftige Rolle der Gewerkschaften auf. Den Ausgangspunkt dieses Vorschlags bildet ein bitterer Widerspruch: Da werden einerseits mitgliederstarke Gewerkschaften gebraucht, um im Zweifelsfall auch mit Streiks den Arbeitgebern tarifpolitische Zugeständnisse abzuringen. Andererseits nimmt die Zahl der Unorganisierten vor allem in letzter Zeit durch die Flucht aus den Gewerkschaften zu, wodurch deren Kampfkraft geschwächt wird. Trotzdem profitieren auch diejenigen, die keiner Arbeitnehmerorganisation angehören, immer noch von den inzwischen geringeren Erfolgen gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Da liegt es nahe, diese kostenlosen Mitfahrer vom Trittbrett der gewerkschaftlichen Tarifpolitik runterzuschmeißen. Die provokative Drohung mit einer künftigen Spaltung zwischen zahlenden Gewerkschaftsmitgliedern und Unorganisierten ist situativ verständlich. In ihren Wirkungen zu Ende gedacht, wäre diese jetzt gewerkschaftlich hinzugefügte Spaltung der Beschäftigten borniert, ja katastrophal. Das Mitgliederinteresse würde auf das individuelle Preis- Leistungs-Verhältnis nach der Maximierungsformel reduziert: Die Mitgliedschaft rentiert sich erst, wenn die gewerkschaftlich zurechenbaren Tariferfolge in Mark und Pfennige den monatlichen Obolus zumindest nicht unterschreiten. Dieser sattsam bekannte marktwirtschaftliche Grundsatz des „Nimm und Gib“ für Mitglieder bedeutete jedoch den endgültigen Abschied vom Anspruch, die Interessen all derer zu vertreten, für die die existentielle Abhängigkeit von Arbeitsplätzen und damit Fremdbestimmung charakteristisch ist. Diese neu hinzugefügte Spaltung der Beschäftigten bei der Gestaltung der Entlohnung sowie der Arbeitsbedingungen kommt letztlich all denjenigen zupaß, die den Einfluß gewerkschaftlicher Politik für abhängig Beschäftigte seit Jahr und Tag schwächen wollen. Zu dieser Feststellung steht die derzeitige tarifliche Praxis der Arbeitgeber nur scheinbar im Widerspruch. Bisher haben die Arbeitgeber das Recht, nur den „Mitgliedern der Tarifvertragsparteien“ (§ 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz) die Tarifabschlüsse zuzugestehen, nicht genutzt. Der Grund war lange Zeit schlicht: Die Arbeitsplatzanbieter mußten befürchten, daß dadurch die Nichtmitglieder in die Arme der Gewerkschaften getrieben würden. Die dafür geltenden Grundlagen haben sich jedoch auch durch die ärgerliche Austrittswelle aus den Gewerkschaften fundamental geändert. Die Legitimation der Gewerkschaften, für alle Beschäftigten Einfluß auf die Gestaltung der Entlohnung, Nebenleistungen, Arbeitszeit und Arbeitsplätze zu nehmen, ist mit schwindenden Mitgliederzahlen brüchig geworden. Arbeitgeberverbände haben zusammen mit der Bundesregierung bei der Demontage des Tarifsystems – bisher als Mindestschutz für abhängig Beschäftigte konstruiert – schon genügend Erfolge zu verbuchen: Das Günstigkeitsprinzip, nach dem nur zugunsten der Beschäftigten vom Tarifvertrag abgewichen werden darf, ist längst durchlöchert. Ein Teil der Arbeitslosen muß heute schon den Preis einer untertariflichen Bezahlung hinnehmen. Die derzeit noch geltende Möglichkeit, Tarifverträge für alle Arbeitgeber und damit alle Beschäftigten „allgemeinverbindlich“ zur Verhinderung der „Schmutzkonkurrenz“ mit Unorganisierten in Branchen wie der Bauwirtschaft und Textilindustrie zu erklären, wird nicht nur von Marktradikalen scharf angefeindet. Mit diesen Maßnahmen zur Deregulierung der Tarifpolitik verlieren die Gewerkschaften ohnehin Schritt für Schritt Einfluß auf die Tarifpolitik. In diesem Muster könnte der Vorschlag einer Tarifverbindlichkeit nur noch für die Mitglieder letztlich zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften genutzt werden. Dazu könnte auch der Versuch gehören, erst einmal Beschäftigte mit Lohnzugeständnissen aus ihrer Gewerkschaft freizukaufen, um über sie später um so unkontrollierter verfügen zu können. Die Provokation durch Rolf Fritsch birgt, wird sie auf den Kopf gestellt, einen rationalen Kern in sich. An ihr läßt sich die fundamentale Rolle starker Gewerkschaften für eine erfolgreiche Tarifpolitik im Interesse all derjenigen, die von Arbeitsplätzen abhängig sind, deutlich machen. Trittbrettfahrer der Tarifpolitik müssen begreifen, daß sie sich selbst ihrer Vorteile berauben. Durch ihren Austritt werden Gewerkschaften geschwächt und damit ihre derzeit „kostenlose“ Beute reduziert. Ob organisiert oder unorganisiert, die existentielle Abhängigkeit der großen Mehrheit von Arbeitsplätzen ist auch in der noch so glitzernden High-Tech-Welt nicht abgebaut worden. Im Gegenteil, wie viele neue Arbeitsverhältnisse zeigen, ist sie subtiler und zu Lasten der Betroffenen undurchsichtiger geworden. Kollektiver Schutz durch starke Interessenvertretungen weit über die Arbeitswelt hinaus ist eine fundamentale Voraussetzung für die Entfaltung individueller Lebenschancen in der Zukunft. Diese weit über die Tarifpolitik hinausgehende Zukunftsrolle der Gewerkschaften deutlich zu machen, dazu sollte der Vorschlag des Hamburger ÖTV-Vorsitzenden genutzt werden. Allerdings wäre es falsch, die Motive für die Austritte aus den Gewerkschaften nicht ernst zu nehmen und die Spaltung zwischen Organisierten und Trittbrettfahrern zu zementieren. Mitglieder müssen eben zurückgewonnen werden. Das ist allerdings keine einfache Aufgabe. Denn nur starke Gewerkschaften sind als Gegenmacht in der Lage, die Definitionsherrschaft der Gewinnwirtschaft zugunsten ihrer Mitglieder zu bändigen. Zu zeigen, wie die Voraussetzungen für individuelle Lebensverhältnisse durch gewerkschaftliche Politik verbessert werden können, ist die Aufgabe. Dazu gehört allerdings ein weit über die Tarifpolitik hinausgehendes Konzept einer auch ökologisch lebenswerten Zukunftsgestaltung. Gewerkschaften müssen sich gegenüber diesen Zukunftsaufgaben und den unterschiedlichen Interessenlagen stärker öffnen. Rolf Hickel Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen, Mitglied der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“
Rolf Hickel
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Bundestagswahl 2021: Weltstar Merkel - taz.de
Präsident Barack Obama und Angela Merkel beim G7-Gipfel 2015 Foto: Michaela Kappeler/dpa Bundestagswahl 2021:Weltstar Merkel Die erste deutsche Bundeskanzlerin hat auch international 16 Jahre lang Politik geprägt. Welches Bild wird in anderen Ländern von ihr gezeichnet? Ein Artikel von Melissa MeddyPascal ThibautYu-Li LinZe’ev Avrahami 21.9.2021, 11:46  Uhr Wir haben vier Jour­na­lis­t:in­nen aus den USA, aus Taiwan, Frankreich und Israel gefragt, wie sie die scheidende Bundeskanzlerin sehen. Sie alle berichten für ihre Medien aus Deutschland und begleiten Merkel schon längere Zeit Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlauben Die Lady Liberty aus der DDR In ihrer Antrittsrede vor dem Bundestag im November 2005 forderte die neue Kanzlerin Angela Merkel die Deutschen auf, „mehr Freiheit“ zu wagen. Zwölfmal benutzte sie diesen Begriff. Vier Jahre später benutzte sie ihn sogar achtzehn Mal, als sie in Washington vor dem US-Kongress sprach. Sie bekam starken Applaus. Sie erzählte eine Geschichte, ihre Geschichte, wie sie die Propaganda abgeschüttelt hatte, die sie in den ersten drei Lebensjahrzehnten umgab, als sie in der DDR aufwuchs. Und sie erzählte, wie sie zu den Prinzipien der westlichen liberalen Demokratie fand und diese verinnerlichte. Für viele in den Vereinigten Staaten verkörperte diese eine deutsche Frau, die stolz auf ihre Kartoffelsuppe war und für Mode nichts übrighatte, die Essenz dessen, was es heißt, Amerikanerin zu sein. Sie verkörperte den amerikanischen Traum. Sie kam aus dem Nichts und erklomm die höchsten Höhen des Erfolgs, durch harte Arbeit und Entschlossenheit. „Ohne Freiheit gibt es gar nichts“ – diesen berühmten Satz sagte sie 1991 zu Günter Gaus, damals war sie Ministerin. Je länger sie im Amt war, desto lauter warb sie für die Demokratie und desto mehr Ame­ri­ka­ne­r:in­nen begeisterten sich für sie und das, was sie sagte. Unberührt von den innenpolitischen Entscheidungen, die sie zu treffen hatte, erschien Merkel als eine lebende Lady Liberty, als ein Beispiel dafür, dass das wahr ist, in dessen Glauben wir alle erzogen wurden: Der Triumph der Demokratie über die Dunkelheit. Und anders als die Deutschen hatten wir Ame­ri­ka­ne­r:in­nen nie ein Problem mit Pathos. Merkel schien das zu verstehen. Jedes Mal, wenn sie in die USA kam, ließ sie uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben, sie verwöhnte und schmeichelte uns damit. Als Präsident Obama ihr die höchste zivile Auszeichnung verlieh, die Presidential Medal of Freedom, sagte Merkel: „Das Verlangen nach Freiheit kann nicht lange von Mauern zurückgehalten werden.“ Und wieder war ihr der Beifall sicher. Die persönliche Geschichte der Kanzlerin bestärkte eine Theorie, die in den High Schools in ganz Amerika gelehrt wurde: dass das Ende des Kalten Kriegs tatsächlich ein Sieg der Demokratie über den Sozialismus war, ein Sieg der Freiheit über die Tyrannei. In ihrer Rede an der Harvard-Universität, die manche in Deutschland für ihre beste halten, kam das Wort Freiheit nur siebenmal vor. Zu dieser Zeit schien es eine reale Gefahr zu sein, dass das Land, das sie als Leuchtfeuer der Freiheit betrachtete, seine eigenen Werte verraten würde. In dieser Rede drängte die Kanzlerin die Absolventen dazu, sich gegenseitig zu respektieren und die „Geschichte, Traditionen, Religionen und Identitäten“ von anderen zu achten. Sie warnte davor, individuelle Freiheiten über das Gemeinwohl zu stellen, und sie sagte: „Demokratie ist nicht selbstverständlich, Frieden nicht und Wohlstand auch nicht.“ Der Applaus, der an diesem Nachmittag im Frühling 2019 aufbrandete, kam von Tausenden Student:innen, Pro­fes­so­r:in­nen und ihren Familien. Einige deutsche Medien verspotteten diese daraufhin als Amerikas Anti-Trump-Eliten. Doch dieser Applaus schallte weit über die Grenzen von Harvard hinaus. Denn Merkels Rede erinnerte viele Ame­ri­ka­ne­r:in­nen daran, dass die Werte, auf die unser Land gegründet ist – Toleranz, Respekt und Demokratie –, dass diese Werte in der Welt überdauert haben. Dies von einer Frau zu hören, deren Geschichte sich wie ein Märchen liest vom demokratischen Triumph über dunkle politische Strömungen, half den Amerikaner:innen, die Zuversicht und das Vertrauen wiederzufinden, dass unsere Nation die Fähigkeit besitzt, zu gesunden und die Bedrohungen des Populismus und des Nationalismus zu überwinden. Melissa Eddy ist Berliner Korrespondentin der New York Times Angela Merkel und Präsident Xi Jinping in Berlin 2017 Foto: Filip Singer/EPA Sie verändert sich nicht Ich arbeite mit kurzen Unterbrechungen seit fast zwei Jahrzehnten als Journalist in Berlin, ich bin mehrmals Angela Merkel begegnet und habe Hunderte von Berichten über sie geschrieben. Nun stelle ich mit Erstaunen fest, dass sie vielleicht immer die Gleiche geblieben ist, während wir uns nun in einer anderen Welt befinden. Ihre ersten Amtshandlungen als Kanzlerin, die mich beeindruckt haben, waren die neuen Akzente in der Chinapolitik. Anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder hat sie die wirtschaftlichen Interessen nicht den eigenen Werten untergeordnet – ein Novum in den deutsch-chinesischen Beziehungen. Sie lehnte die Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China ab, das nach dem Tiananmen-Massaker 1989 verhängt wurde. Sie empfing den Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der Tibeter, persönlich im Kanzleramt. Ihre Haltung war bemerkenswert in einer Zeit, wo deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter gegenüber Peking eher leise Töne anschlugen. Gut erinnere ich mich an die öffentlich geäußerten Sorgen ihres damaligen Außenministers Steinmeier und an die Ängste deutscher Unternehmer, dass ihnen durch Merkels Chinapolitik Geschäfte entgingen. Im Grunde genommen verfolgt Angela Merkel ihren Kurs bis heute. Sie versucht, beidem gerecht zu werden – der engen wirtschaftlichen Verflechtung und den eigenen Werten. Jedes Mal, wenn sie nach China reist, trifft sie auch kritische Journalisten, Kirchenvertreter oder Menschenrechtsanwälte. In ihrer Amtszeit erlebte sie den Aufstieg Chinas zum wirtschaftlichen Konkurrenten und zum globalen Rivalen Europas. Wie ein Systemkonflikt aussehen könnte, beobachtete ich schon 2009 auf der Frankfurter Buchmesse, als China Gastland war. Während Xi Jinping, damals noch Vizepräsident und designierter KP-Chef, als Leiter der chinesischen Delegation im Publikum saß, betonte Angela Merkel in ihrer Eröffnungsrede das freiheitliche Potenzial von Büchern, beschrieb als ehemalige DDR-Bürgerin, wie Bücher Diktatur gefährden könnten, und sie mahnte schließlich die globale Verantwortung Chinas für die politische Freiheit und Meinungsfreiheit an. Während das deutsche Publikum heftig applaudierte, blieben die chinesischen Gäste stumm. Dabei hat Merkel nur ausgesprochen, was viele chinesische Intellektuelle seit Jahren forderten. Ich konnte damals nur mutmaßen, ob Chinas Führung wusste, worauf sie sich eingelassen hatte, als sie die Einladung nach Frankfurt am Main annahm. Von heute aus betrachtet war das eine andere Zeit. Die chinesischen Machthaber wagten damals noch, auf einer internationalen Kulturveranstaltung aufzutreten. Die meisten Leute in Deutschland wissen gar nicht, wie nah Taiwan sein kann. Vieles in der Geschichte von Taiwan ist mit der DDR vergleichbar. Auch wir haben Ende der achtziger Jahre unsere friedliche Revolution gehabt und wir wissen heute die Freiheit zu schätzen. Wenn Merkel über den Mut der DDR-Bürger spricht, der den Mauerfall ermöglichte, oder über die Kräfte, die eine politische Wende einleiteten, fühlen wir uns angesprochen. Während der Flüchtlingskrise war man in Taiwan beeindruckt von ihrem moralischen Kompass. Allerdings hat ihr Image inzwischen auch Kratzer bekommen. Unter Xi tritt China nach innen repressiver und nach außen machtvoller auf. In den Luftraum Taiwans dringen fast täglich chinesische Militärflugzeuge ein. China vertritt eigene Interessen offensiv und bringt seine Nachbarn gegen sich auf. Offenbar ist die KP-Führung zu dem Schluss gekommen, dass sie ihre Macht nur dann sichern kann, wenn sie überall auf der Welt Stärke zeigt. Merkels Umgang mit China wirkt heute überholt. Sie behandelt Peking vorsichtig, um nicht zu provozieren, sie handelt mit Bedacht und setzt vor allem auf Dialog. China ist der größte Wirtschaftspartner Deutschlands geworden. Doch wie viel Einfluss hat Deutschland noch? Ergibt der Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog noch Sinn? Und soll es auch in Zukunft gemeinsame Regierungskonsultationen geben? Die Chinapolitik Angela Merkels hinterlässt viele Fragen. Yu-li Lin ist Deutschlandkorrespondent der ­Central News Agency Taiwan Präsident Emmanuel Macron und Angela Merkel 2018 Foto: Etienne Laurent/EPA Die Frau, die alles war Merkel und sonst gar nichts – so in etwa könnte man das Deutschlandbild vieler Franzosen zusammenfassen. Jenseits des Rheins halten sich die Kenntnisse über das Nachbarland in Grenzen. Wenn es aber eine Figur gibt, die meine Landsleute kennen, dann die der ewigen Kanzlerin. Sechzehn Jahre hatten sie Zeit, sich an sie zu gewöhnen, und der Name ließ sich einigermaßen leicht aussprechen. „Was treibt Merkel so?“ – selbst Landsleute, die mit Politik wenig am Hut haben, fragen mich das, wenn ich in Frankreich zu Besuch bin, und sie erkundigen sich, was die Kanzlerin nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt tun wird. Frühere Umfragen ergaben, dass Merkel auch in Frankreich sehr beliebt ist, beliebter als die französischen Staatspräsidenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat, angefangen von Chirac über Sarkozy und Hollande bis zu Macron. Leider hat sich die Berichterstattung über die deutsch-französischen Beziehungen auf diese Paare reduziert. Dabei übersieht man in Frankreich, dass die „mächtigste Frau der Welt“ über wesentlich weniger Freiräume verfügt als ein Präsident Macron. Die Zwänge der Koalition, die Bedeutung der Bundesländer und der Karlsruher Verfassungsrichter sind wenigen bekannt. Trotzdem wird Angela Merkel als die Inkarnation Deutschlands angesehen. Ihr Image in Frankreich setzt sich aus einer Mischung aus Furcht, Ablehnung und Bewunderung zusammen. In der französischen Politik wird Deutschland häufig als Referenz benutzt. Für Rechtsextreme hat die Kanzlerin 2015 ihr Land und Europa dem Islam übergeben. Für andere wiederum hat Merkel mit der Aufnahme zahlreicher Geflüchteter die Ehre Europas gerettet. Manche französische Linke denunzieren die sozialen Missstände und die Armut in Deutschland, und während der Eurokrise geißelten sie den Egoismus einer arroganten Macht. Wieder andere beneiden den sozialen Dialog und die Kompromissbereitschaft der deutschen Gesellschaft, während das Bild Frankreichs regelmäßig von Aufständen geprägt ist. Die Bewunderung für die Kanzlerin erklärt sich sicher auch aus der Diskrepanz der Machtsymbole beider Länder. In Paris der Prunk des Pariser Élyséepalastes, in Berlin das nüchterne Kanzleramt. Während im Élysée der französische Ersatzmonarch gebietet, regiert im Kanzleramt die uckermärkische Hausfrau. Nun muss man sich in Frankreich auf ein neues Gesicht einstellen. Deutschlandkorrespondenten bemühen sich gerade, die potenziellen Nachfolger vorzustellen. Diese Woche waren zwei Kanzlerkandidaten, Scholz und Laschet, in Paris. Nach ihrem Treffen konnten sie in ihr Wahlkampfalbum ein Bild mit Emmanuel Macron einkleben, um ihr Profil als Weltpolitiker zu unterstreichen. Aus dem Umfeld von Annalena Baerbock hieß es, der Élyséepalast eigne sich für den Wahlkampf nicht. Ganz gleich, wer Nach­fol­ge­r:in wird, mit einem Bruch in den bilateralen Beziehungen ist nicht zu rechnen. Das Gleiche gilt auch bei den zahlreichen Koalitionen, die nach dem 26. September denkbar sind. Pascal Thibaut ist Korrespondent für Radio France Internationale in Berlin Angela Merkel und Präs…, öhm …, Fussballtrainer Joachim Löw 2010 Foto: Rainer Jensen/dpa Cool wie Billie Eilish Es gibt zwei berühmte Personen, deren Namen genannt werden, wenn in den vergangenen fünfzehn Jahren diskutiert wurde, warum so viele Israelis nach Berlin auswandern: Joachim Löw und Angela Merkel. Löw kreierte den neuen deutschen Fußball. Er verwandelte einen langweiligen, maschinenhaften, auf Leistung und Ergebnis getrimmten Fußball in einen multikulturellen, vergnüglichen, angriffslustigen Fußball. Löws Fußball und die kosmopolitische Atmosphäre der WM 2006 brachte den Israelis und der ganzen Welt das neue Deutschland näher. Merkel, die ein Jahr vor der WM Kanzlerin wurde, hatte eine noch größere Herausforderung zu bewältigen, nämlich Deutschlands beherrschende Stellung zu erhalten und der Welt die deutsche Politik zu präsentieren, und zwar täglich. Was man dabei zu sehen bekam, war ziemlich spektakulär. Merkels Feminismus war eine Tour de Force. Sie begründete keine Moden und niemand sprach über ihr Make-up. Merkel war nicht hundert Prozent feminin, aber sie war absolut zufrieden damit, wer sie als Frau war. Sie strahlte ein Maß an Selbstbewusstsein aus, das nichts mit irgendwelchen äußerlichen Zutaten zu tun hatte. Ihre Botschaft dabei: Ich bin eine Frau und wir werden da kein großes Ding draus machen. Ich weiß das von meiner dreizehnjährigen Tochter, die mir sagte, sie möchte erst Merkel sein und dann noch Billie Eilish. Dass Merkel es geschafft hat, sich diese feministische Aura zu erhalten, während sie in einem Ozean voller männlicher Haie schwamm, ist außergewöhnlich. Außergewöhnlich ist auch die Tatsache, dass sie mehrsprachig ist. Sie konnte fließend mit Hardlinern wie Putin sprechen und sah ihnen dabei in die Augen. Und Merkel war auch ein harter Großstadtcowboy. Sie räumte alle aus dem Weg, die ihre Politik und ihren Anspruch auf Führung bedrohten. Heute liest man trotzdem selten etwas darüber, wie sie jemanden ausgeschaltet hat und was sie politisch wirklich plant. Das liegt daran, dass Merkel eine seltene Fähigkeit besitzt: Sie hat es in der Welt der Egos und des Zynismus geschafft, allen zu vermitteln, dass sie anders ist, dass sie nur aus einem Grund hier ist, dem einzig richtigen Grund: Sie wurde von der Bevölkerung gewählt und dieser will sie dienen. Für uns Israelis war sie zudem das Gegenteil unseres langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin „Bibi“ Netanjahu. Sie war eine Anti-Bibi. Sie war nicht in Skandale verwickelt, wurde nie mit Korruption in Verbindung gebracht und ging nicht mit Millionären zum Abendessen. Sie war, ohne dass dies ihr Anspruch gewesen wäre, die Über-Politikerin in einer Welt voller Möchtegern-Politiker:innen. Deutschland, jahrelang ein Ziel für Hass und Abscheu, besonders in Israel, verwandelte sich in ein Objekt des Neids. So führt man ein Land! Ohne eine Kugel zu verschießen, übernahm Deutschland Europa, und es brachte Juden dazu, dass sie zurückkamen. Es brauchte schon eine historische Führung wie die von Merkel, um diese beiden Ziele zu erreichen. Leider haben sowohl Löw als auch Merkel ihre Instinkte verlassen. Sie waren zu lange im Amt. Löws Denkmal hat nach den letzten Weltmeisterschaften Risse bekommen. Trotzdem wird niemand die WM 2014 vergessen. Angela Merkel blieb auch zu lange. Außerdem ging sie zu weit mit ihrer Flüchtlingspolitik, sie gab den Rechtsextremen Aufrieb, und als eine Konsequenz daraus mussten Jü­d:in­nen wieder ihre Identität verbergen. Nichts davon aber überschattet ihre sechzehnjährige Kanzlerschaft und die Verwandlung Deutschlands. Zurück lässt Merkel eine „Titanic“. Vielleicht ist sie sogar das luxuriöseste Schiff der Welt. Doch wir beginnen, ein Rumpeln zu hören. Sie wird große Fußstapfen hinterlassen und niemand ihrer potenziellen Nach­fol­ge­r:in­nen scheint die Leere ausfüllen zu können. Wir sehen noch keinen Eisberg. Wir können noch gar nichts sehen. Wir hören nur die Wettervorhersagen und sie künden von Nebel. Ze’ev Avrahami ist der Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung Jediot Achronot Übersetzung: T. Gerlach und D. Schulz
Melissa Meddy
Die erste deutsche Bundeskanzlerin hat auch international 16 Jahre lang Politik geprägt. Welches Bild wird in anderen Ländern von ihr gezeichnet?
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Über das Alter als Privileg: Triumph der Alten - taz.de
Über das Alter als Privileg: Triumph der Alten Die Senioren von heute haben die Zeit ihres Lebens. Zumindest solange sie nicht arm sind, denn dann sind sie schon tot. Es geht auch um den medizinischen Fortschritt. Heute gibt es Gebisse Foto: Imago/Westend61 Das Kühlschranktheorem besagt, dass in einer Wohnung die Größe des Kühlschranks mit dem Alter der Bewohner zunimmt – nicht mit deren Anzahl. Ebenso verhält es sich mit der Wohnfläche: Die Alten haben mehr Platz als die Jungen, auch wenn die verpartnert sind und Kinder haben. Schenkt man solchen Details Aufmerksamkeit, so darf man zumindest vermuten, dass dem Alter heute etwas in der Geschichte der Menschheit Unerhörtes widerfährt: Durch Jahrtausende wurde es erlitten und herabgewürdigt. Das Alter war die Lebenszeit, in der die menschlichen Zweibeiner die Zähne verlieren, die Augen und Ohren in ihrer Funktion nachlassen, in der die Menschen ihre Beweglichkeit und sexuelle Potenz einbüßen, inkontinent und dement werden. Eine Zeit des Elends, in der christliche Schwestern noch im Armenhaus die alte Witwe zwangen, ihre Suppe fern vom Esstisch zu schlürfen. Diese Epoche scheint heute vollkommen überwunden. Nicht dass alle Alten auf einmal ihre Zähne, ihre Sinne und ihr Gedächtnis behielten; aber heute gibt es Gebisse, Operationen gegen Grauen Star und für den Rest Viagra, inzwischen auch für die Frau. Es erstaunt dabei, ein wie großer Teil des medizinischen Fortschritts darauf ausgerichtet ist, die Leiden des Alters aufzuheben – ein größerer jedenfalls als für die Tragödien, die die Jungen treffen. Diese Tatsache ist zugleich Grund und Folge der neuen privilegierten Epoche des Alters: Die Medizin beschäftigt sich so ausführlich mit den Problemen der Senioren, weil diese der einflussreichste und mächtigste Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Aber er ist dazu eben auch dank der Fortschritte der Medizin geworden, die den Status des Altseins in die Länge gezogen und aus den Rentnern die größte Bevölkerungsgruppe gemacht haben. Die Ungleichheit zwischen den Menschen Früher dauerte das Alter, als Zeit, sich mit dem Tod vertraut zu machen, wenige Jahre – statistisch gesehen, Ausnahmen gab es natürlich immer. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Tod dabei eine ziemlich demokratische Angelegenheit, in dem Sinne, dass sich niemand privilegiert fühlen konnte. Die Hoffnung, möglichst lange am Leben zu bleiben, gründete sich nicht auf Reichtum – im Gegenteil: Menschen aus bescheidenen Verhältnissen hatten eher die Chance auf eine längere Lebenszeit, weil sie einen maßvollen Lebensstil pflegten, während die medizinische Situation für alle gleich schlecht war: Katastrophale Hygiene und Machtlosigkeit der zeitgenössischen Medizin den ernsten Krankheiten gegenüber. Man muss nur nachlesen, wie lange die Fürsten von Ferrara oder Mantua lebten, und dies mit der Spanne vergleichen, welche die von ihnen beschäftigten Künstler der Renaissance ausfüllten, um zu sehen, wie viel früher die Adligen ihren Lastern Tribut zollen mussten. Im Weiteren aber folgte die Medizin dem Rousseau’schen Muster der Verschlimmbesserung: Peu à peu hat sie die Ungleichheit zwischen den Menschen verstärkt, mit dem Ergebnis, dass heute die Reichen und Mächtigen im Durchschnitt sehr viel länger leben als die Notleidenden und Unterdrückten. In einem Artikel der Zeitschrift The Atlantic vom April vergangenen Jahres wird aufgeschlüsselt, was das für die Lebenserwartung von heute 55-jährigen US-Amerikanern konkret bedeutet. Die reichsten männlichen 10 Prozent dieser Altersgruppe dürfen statistisch auf weitere 34,9 Jahre hoffen; die ärmsten 10 Prozent nur auf 24,2 Jahre. Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr Wenn die Reichsten ihre 89 Jahre und 11 Monate erreicht haben, sind die Ärmsten also schon 10 Jahre und 8 Monate tot. Bei den Frauen sind die Daten 90 Jahre und 4 Monate für die oberen 10 Prozent gegen 80 Jahre und 10 Monate. Bedrückender wird es, wenn man die aufgeführten Daten für die 1940 Geborenen mit denen von 1920 Geborenen vergleicht. Für die oberen 10 Prozent (männlich) hat sich das Leben um 5,9 Jahre verlängert, für die ärmsten 10 Prozent nur um 1,8 Jahre. Bei den Frauen ist die Kluft noch größer: Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr im Vergleich zu den 1920 Geborenen, bei den Ärmsten hingegen hat sich die Lebenserwartung sogar verringert – der mathematische Beweis für die zunehmende Ungleichheit im Angesicht des Todes. Für Deutschland hat das Robert-Koch-Institut kürzlich Zahlen vorgelegt. Demnach leben Frauen aus der untersten sozialen Schicht 8,4 Jahre kürzer als die aus der obersten. Bei Männern beträgt der Unterschied sogar 10,8 Jahre. Das Alter wird also nicht nur zur Hauptlebenszeit, sondern auch zu derjenigen Epoche der menschlichen Existenz, in der die Reichen ein gewaltiges Übergewicht erreicht haben. Die verlässlichste Gegenprobe für diese Daten liefern die Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus – oder die Marktwirtschaft, wenn man es so lieber hat – von Anfang an freiere Hand hatte und wo die Effekte deswegen deutlicher hervortreten. Die einzige Gruppe in den USA, die in den Genuss eines qualitativ hochwertigen und kostenlosen Gesundheitssystems kommt, sind die über 65-Jährigen: Und zwar dank Präsident Lyndon B. Johnson und seinem 1966 eingeführten Medicare. 2010 profitierten davon 40 Millionen Personen, für die 182,7 Milliarden Dollar Krankenhauskosten aufgewendet wurden – 47,2 Prozent all solcher Ausgaben in den USA. Die Tea Party entstand eben aus der Angst der Alten, durch die Gesundheitsreform Barack Obamas dieser Wohltaten ganz oder teilweise beraubt zu werden. Obama hatte allerdings nicht den Mut, Medicare einfach auf alle Amerikaner auszuweiten. Stattdessen brachte er ein abstruses Gesetz von 1.900 Seiten auf den Weg, dessen Kompliziertheit eben dem Willen geschuldet ist, die Privilegien der Alten nicht anzutasten. Die Alten wählen mehr Aber das nur nebenbei. Jedenfalls sind wir hier bei den perversen Folgen des demokratischen Prozesses angekommen. Die je nach Alter unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung setzt eine Dynamik in Gang, die sich fortlaufend selbst verstärkt. Census, das statistische Bundesamt der Vereinigten Staaten, liefert dazu in seiner Studie „Young-Adult Voting. An Analysis of Presidential Elections 1964–2012“ erstaunliche Daten. Seit 1964 hat die Wahlenthaltung in allen Altersklassen zugenommen. In diesem Jahr wählten 75 Prozent der 45- bis 64-Jährigen, gefolgt von 69 Prozent der 24- bis 44-Jährigen. Die über 65-Jährigen mussten sich mit dem dritten Platz zufrieden geben (66,2 Prozent), während die Jungen, die 18- bis 24-Jährigen am schlechtesten abschnitten (50,9 Prozent). 48 Jahre später hat sich das Bild gewandelt. Die Jungen wählen mit nur noch 38 Prozent immer noch am wenigsten, die Spitze aber haben die über 65-Jährigen ergattert mit einer Wahlbeteiligung von 69,7 Prozent. Dabei gilt es zu beachten, dass die über 65-Jährigen 1964 nur knapp ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten, heute dagegen 13,4 Prozent; dies trotz der sehr starken Migration in die USA – für Europa und hier vor allem für Italien sind die Daten für die alternde Bevölkerung deutlich dramatischer. Die Alten also entscheiden heute die Wahlen, ihnen kann nichts verweigert werden: Klar, dass nicht mal die härtesten Neoliberalen und Reaganomics-Anhänger es gewagt haben, Medicare anzutasten. Je mehr die Alten zählen, desto inniger werden sie von der Politik gehätschelt; und je mehr man sich ihnen zuwendet, desto größer wird ihr demografisches Gewicht und das bei Wahlen. Die Jungen werden verlieren In Europa ist die Tendenz die gleiche. Eine Erhebung im Auftrag des Europäischen Parlaments von 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass auch auf dem alten Kontinent die Wahlbeteiligung mit zunehmendem Alter ansteigt: von 29,1 Prozent für die Jüngsten auf 50 Prozent für die über 50-Jährigen. Und deswegen ist es auch kein Zufall, dass der soziale Status und die wirtschaftliche Lage sich für die Jungen sehr viel dramatischer darstellt, mit Arbeitslosenquoten zwischen 40 und 60 Prozent, insbesondere im Süden Europas. Das ist die sogenannte NEET-Jugend (not in employment, education or training): Sie tun nichts, sie verdienen nichts, sie zählen nichts. An diesem Verhältnis zwischen den Generationen etwas zu ändern, wird sehr schwierig werden, solange die Jungen nicht zur Wahl gehen. Der italienische Schriftsteller Michele Serra hat in seinem Roman „Gli sdraiati“ (“Die Liegenden“) schon den kommenden Krieg zwischen Alten und Jungen vorweggenommen. Verlieren werden ihn Letztere – wenn sie sich nicht doch noch einen Ruck geben. Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
Marco d'Eramo
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Berliner Wochenkommentar I: Genossen müssen hoffen - taz.de
Berliner Wochenkommentar I: Genossen müssen hoffen Die Berliner Landes-SPD sagt Nein zu einer GroKo – und muss doch hoffen, dass sie kommt. Martin Schulz nach der Bundestagswahl im September 2017, damals noch GroKo-Gegner Foto: dpa Die Berliner SPD steht hinter Martin Schulz – zumindest hinter dem vom 24. September, 18.05 Uhr: Da hatte der SPD-Bundesvorsitzende verkündet, dass seine Partei nicht für eine weitere Auflage der Großen Koalition zur Verfügung stünde. Die sei „abgewählt“ worden. Für die hiesigen Sozialdemokraten gilt das weiterhin: Der Parteivorstand stimmte am Montagabend mit 21 zu 8 Stimmen gegen Koalitionsverhandlungen mit der CDU. Damit geben sich die Berliner Genossen ganz basisnah: Denn vor allem dort ist die Angst, durch ein erneutes Bündnis mit der Union unter Merkel unter die 20-Prozent-Marke (eventuell sogar hinter die AfD!) abzustürzen, stärker als jeder Gestaltungswunsch und alle staatstragenden Worthülsen. Zudem empfinden dort viele die Ergebnisse der kurzen Sondierung als zu schwach. Sollte der Wunsch der Berliner SPD auch Mehrheitsmeinung beim Bundesparteitag am Sonntag in Bonn werden, stellt das die Basis allerdings ebenfalls vor ein Problem. Denn scheidet nach Jamaika damit auch die Groko als Regierungsoption auf Bundesebene aus, bliebe nur ein Minderheitsbündnis aus CDU und Grünen – eine sehr unwahrscheinliche, weil bisher nie ausprobierte Variante, für die auch ein Tolerierungspartner fehlt. Eine Absage der SPD an die GroKo würde also wahrscheinlich zu Neuwahlen führen. Für den nächsten großen Wahlkampf ist die SPD nach Meinung vieler Genossen jedoch längst nicht gewappnet – erst recht nicht in Berlin, wo sie im September 2017 wie auch bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 eine herbe Schlappe erlitt. Den Genossen bleibt also nur die Hoffnung darauf, dass sich der Bundesparteitag am Sonntag doch für eine Groko ausspricht (was erwartet wird), dass Merkel der SPD dann in den Koalitions­verhandlungen mehr gönnt als bisher und dass es die Partei im Land und im Bund trotz der Regierungsbeteiligungen schafft, in den nächsten drei Jahren über Inhalte und Strukturen zu diskutieren und sich neu aufzustellen. Das wird hart. Die Alternativen wären es aber auch. Und ganz nebenbei können Berlins Genossen nur so auch weiter hinter Martin Schulz stehen. Denn nach Neuwahlen wäre er wohl weg.
Bert Schulz
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Region Bordeaux: Der Wein betrinkt uns - taz.de
Region Bordeaux: Der Wein betrinkt uns Frankreichs Südwesten ist berühmt für seinen Wein. Die sandgestrahlte, verkehrsberuhigte Altstadt von Bordeaux ist beispielhaft für eine gelungene Stadtplanung. Durch die Weinfelder im Bordeaux. Bild: dpa Es ist dieser schwere tanninhaltige rote Bordeaux, den Oskar mit Kennermiene im Mund schwenkt, kostet, nach versteckten Duftnoten aussaugt. Vanille, Brombeere, ein Hauch von Zimt. Wein ist Handwerk, ist Kunst, ist Geschmack, Lebensstil, Luxus. Etwas für Könner, Kenner, Lebemänner. Wie Oskar, der Connaisseur unserer Reisegruppe ins Bordeaux. Und für Chinesen. Die fallen scharenweise im Bordeaux ein, um Grand Cru und Cru Bourgeois zu erobern und aufzukaufen. Mit echten Gucci-Täschchen holpern geschäftige Chinesinnen auf High Heels übers Kopfsteinpflaster der verkehrsberuhigten Altstadtstraßen von Bordeaux. China ist längst der Topabsatzmarkt für Bordeauxwein, gefolgt von Deutschland. Schon die Römer handelten von hier Wein, und noch heute ist Bordeaux das bedeutendste Handelszentrum Südwestfrankreichs. Beispielsweise das Handelshaus Millésima am Platz Bordeaux: 2.500.000 Flaschen Magnum, Grand Cru, Jéroboams und Imperiales lagern hier und werden an private Weinliebhaber weltweit versandt. Weinausflug Besuch im Chateau: Im Château Haut-de-Lerm in der Region Entre Deux Mers können neben Weinverkostung auch geführte Wanderungen gebucht werden. Vorher reservieren unter Tel. 00 33 (0) 6 86 89 60 93, 33540 Saint-Martin-de-Lerm, www.haut-de-lerm.fr Armelle Falcy betreibt im Médoc das Château du Taillan. Auch hier kann man Verkostung, Besichtung und Essen buchen. CEA Château du Taillan, 56 avenue de la Croix, 33320 Le Taillan-Médoc, Tel. 00 33 (0) 5 56 57 47 00. Unter dem Label "lesmedocaines" haben sich vier Winzerinnen zusammengeschlossen. www.lesmedocaines.com Die Organisation für Bordeaux-Wein: Das Conseil interprofessionnel du Vin de Bordeaux (CIVB) besitzt im Zentrum von Bordeaux eine empfehlenswerte Weinbar mit wechselndem Angebot. www.bordeaux.com/us Weitere Infos:www.bordeaux-tourisme.com Während sich Lustmolch Oskar am hellen, sandgestrahlten Place Sant Pierre, wo einst die Pilger vor der Kathedrale auf ihrem harten Weg nach Santiago darbten, mit Austern verlustiert, bewundern wir die riesige, rechteckige Wasserpfütze, in der sich die Gebäude der alten Renaissancebörse am Ufer der Garonne spiegeln. Hier am „reflecting pool“ suchen Touristen, Kinder, Flaneure und Jogger Kühlung im Wassernebel, der an und ab aufwallt. Oder sie planschen im knöchelhohen Wasser dieses die Gebäude auf der anderen Straßenseite reflektierenden Riesenpools, den der Landschaftsarchitekt Michel Corajoud plante und der Brunnenarchitekt J. M. Llorca baute. Allenfalls ein eiliger Fahrradfahrer scheucht in der fast autofreien Altstadt Flaneure und Shopper zur Seite. Auf den schattigen Plätzen spielen Kinder, Touristen rasten, Einheimische palavern. 1994 wurde das groß angelegte Projekt zur Stadtsanierung und Verkehrsberuhigung vorgestellt. Die historischen Gebäude der vollständig erhaltenen Altstadt wurden saniert, die Front zur Garonne restauriert und Neubauten wie die Cité Mondiale du Vin ins Stadtbild eingefügt. Das Hauptziel: die Innenstadt wieder mit der Garonne zu vereinigen. Die alten Lagerhallen am Ufer sind teilweise abgerissen oder zu Outlets umgestaltet, Radwege und Promenaden wurden gebaut und die Industriebrachen der rechten Garonneseite mit neuer Bebauung versehen. Die Stadtsanierung von Bordeaux ist gelungene Stadtplanung: Bordeaux steht heute an dritter Stelle der lebenswerten Städte Frankreichs. Mit ihren 60.000 Studenten und den Familien, die zurück ins attraktive Stadtzentrum ziehen, ist sie eine junge Fahrradstadt vor alter Kulisse. Die unter Bürgermeister Alain Juppé herausgeputzte Stadt erhielt als Ensemble 2007 den Status Unesco-Weltkulturerbe. Oskar meint, dass vor allem die Foie gras den Weltkulturerbe-Status verdient hätte. Verkostung und Gutsbesichtigung Jeder Winzer ein Schlossherr. Bild: Hans Sterkendries Château Margaux, Château Lafite-Rothschild, Château Haut-Brion, Château du Taillan, Château Haut-de-Lerm - die französischen Winzer um Bordeaux im Médoc, Saint-Émilion, Entre Deux Mers waren keine schlichten Weinbauern, sondern Schlossherren. Dementsprechend prätentiös ist ihr Produkt, traditionsbewusst ihr Label. Dass sich heute auch Frauen erfolgreich unter den Winzern tummeln wie im Château du Taillan im Médoc oder im Château Haut-de-Lerm in Entre Deux Mers ist manchmal eine Frage der Erbfolge, immer jedoch eine Frage der Leidenschaft. Christelle Gonthier führt zusammen mit ihrer Schwester Valéry das Château Haut-de-Lerm. Ihren Job als Managerin hat sie an den Nagel gehängt, um im Familienbetrieb ökologischen Wein zu produzieren und nebenbei den regionalen Tourismus mit Gutsbesichtigungen und Winzerspeise à la Bordeaux zu bereichern. Die Foie gras, die wir schlechten Gewissens schlemmen, schmeckt ausgezeichnet. Oskar wäre lieber zu einem klassischen Weingut nach Saint Émilion gefahren. Er vermisst den Holzgeschmack in Christelles Biowein aus Stahlfässern. Einige der Châteaux können wie Château Haut-de-Lerm von Touristen besucht werden. Verkostung von Wein und regionalen Produkten inklusive. So hat auch Oskar seinen Lieblingswein gefunden. Ein samtiger Roter aus 50 Prozent Cabernet Sauvignon und 50 Prozent Merlot Traube, Jahrgang 1998. Er schlotzt ihn zufrieden zur ersten und einzigen Zigarre auf dieser Reise. Eine Havanna. Selbstverständlisch
Edith Kresta
Frankreichs Südwesten ist berühmt für seinen Wein. Die sandgestrahlte, verkehrsberuhigte Altstadt von Bordeaux ist beispielhaft für eine gelungene Stadtplanung.
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Eine Figur der Leere - taz.de
Eine Figur der Leere ■ Über die japanische Würde des Scheiterns Könnten wir fallen wie Kirschblüten im Frühling — so rein und strahlend!“ diesen Haiku aus drei Zeilen schrieb ein junger japanischer Kamikaze-Pilot kurz vor seinem selbstmörderischen Einsatz. Letztes Zeugnis eines Einundzwanzigjährigen, bevor er mit seinem fliegenden Torpedo mit Stummelflügeln, den die Japaner „Oka“, das heißt: „Kirschblüte“ nannten, auf dem Deck eines amerikanischen Kriegsschiffes aufschlagen sollte. Wenige Monate nach dieser Ultimaraktion der kaiserlich-japanischen Streitkräfte im Frühjahr 1945 warf der Kriegsgegner USA zwei Atombomben über Bevölkerungszentren ab. Archaisch wirkende Praktiken des Selbstopfers trafen auf Waffen des beginnenden Atomzeitalters; Extreme zweier Epochen standen einander gegenüber. Die Tausende junger Kamikaze- Piloten übernahmen das Kirschblüten-Symbol der Samurai-Krieger und setzten sich damit in eine Traditionslinie, die in legendenerfüllte Vorzeit zurückreicht; sie verpflichteten sich einer spezifisch japanischen Geisteshaltung, deren kriegerische Erscheinung im Zweiten Weltkrieg dem „gesundenen Menschenverstand“ als eine ungeheuerliche Monströsität erschien. Das vorliegende Buch von Ivan Morris ist nicht nur eine ungemein fundierte Mentalitätsgeschichte eines hervorragenden Japan-Experten, eine Kulturgeschichte des japanischen Heldentums — es ist auch ein bedeutender Annäherungsversuch an die Wurzeln eines Landes, das uns Europäern fern ist — das fernste, zumal uns die Vorstellung des modernen Japan als die eines gigantischen Industrie-Imperiums mit enormen Wachstumszahlen den Blick verengt. Wer das „Wesen des japanischen Geistes“ verstehen wolle, hatte der Schriftsteller Mishima dem Autor dieses Buches erklärt, der müsse den entschlossenen Heldentypus studieren, keineswegs dagegen die Hofdamen-Tagebücher der Heian-Zeit, den schöngeistigen Austausch von Gedichten oder rituelle Teezeremonien“. Wer den japanischen Nationalcharakter durch Anpassungsfähigkeit und Erfolgsorientierung geprägt sieht, wird hier eine völlig entgegengesetzte Seite im japanischen Denken entdecken. Ivan Morris stellt das japanische Heldenpantheon in einer historisch-legendären Montage dar; dem Autor sind Mythen und literarische Legenden von gleichem Quellenwert wie geschichtlich verbürgte Tatsachen. Gemeinsam ist jenen Heldenfiguren, daß sie nicht zu den Siegern zählen, die letzlich den Geschichtsverlauf bestimmt haben, sondern daß sie zu den Gescheiterten gehören, zu den Aufrichtigen und Einsamen, die für einen von vornherein verlorene Sache einstanden. In der Glücklosigkeit japanischer Helden liegt „eine Art von Unschuld“, die zum Kern jeder heroischen Existenz gehört. Die hierin vor Augen tretende pessimistische Weltsicht der Japaner, die etwa der amerikanischen Hoffnung auf irdisches Glück diametral entgegensteht, ist Ausdruck der Überzeugung, daß früher oder später jeder zum Scheitern verurteilt ist. Morris stellt fest, daß die Erkenntnis besonderer Schönheit, die der Vergänglichkeit, dem unglücklichen Fall und dem „Pathos der Dinge“ innewohnt, in Japan in vielerlei Hinsicht den zuversichtlichen westlichen Glauben an die Möglichkeit des „Glücks“ ersetzt — was sich im besonders starken Mitgefühl für das tragische Schicksal des Helden widerspiegelt. Neben dem Bild vom traditionellen Japan als einem Land der Höflichkeit und der Märchen, der verzweifelten Gewalt und der Schlachten ahnt man beim Lesen dieses Buches so etwas wie eine wiederkehrende Figur der Leere, die charakteristisch scheint für das japanische Empfinden. „Der Pfeil hat sowenig ein Ziel, wie das Leben eines hat: Was zählt, ist die Höflichkeit gegenüber dem Bogen.“ Jenes besondere Empfinden der Leere ist in einer Poesie gegenwärtig, die dem jungen Kamikaze-Piloten in seinem letzten Brief das Bild vom „namenlosen Stern“ eingibt, der, „sich in Nichts auflösend, in der Morgendämmerung verblasst.“ Für „leichter als eine Feder“, so solle der japanische Krieger sein Leben erachten, lehrt die jahrhundertealte Samurai-Philosophie. In Situationen äußerster Bedrängnis gilt ihr die Selbstentleibung durch Harakiri als die einzig ehrenvolle Lösung, und bezeichnend ist, daß fast alle der von Morris geschilderten Heldenleben mit dieser Form der Selbstauslöschung enden. Dem Freitod haftet hier keineswegs wie im Christentum die Sünde an, bezeugt er doch seinem Helden aufrechte Gesinnung und edlen Geist über jedes Eigeninteresse hinweg. Vom japanischen Helden bleibt allein das Pathos der persönlichen Größe; selbstlos, loyal und treu, und auch impulsiv und weltfremd, wie die Legende ihn zeichnet, wird er zumeist Opfer von Intrigen, unschuldig mißbraucht für die Ziele Anderer. Die Geschichte, in Gestalt historisch verdienstvoller Widersacher, welche die Legende zu ehrgeizigen Schurken umdeutet, sie geht über den nonkonformistischen Verlierer hinweg, mit dem das Nationalgefühl sich identifiziert. Größte Anziehungskraft erreicht das Heldenleben an seinem Ende, wenn es seinen Gipfelpunkt überschritten hat und fällt. Zahlreich sind die Episoden und die Symbole für jähen Niedergang, Fall und Sturz. Das Thema vom „verlorenen Posten“ erinnert in Deutschland an Formen eines reaktionären solidatischen Nationalismus zwischen den Weltkriegen, an eine versponene „Tat-Philosophie“, die dem faschistischen Staat eine willkommene Ideologie lieferte für persönliche Unterwerfung und Indienstnahme als Werkzeug. Doch dasselbe ist nicht das gleiche. Führt im Westen entweder zu Lebzeiten oder nach dem Tod der Weg des Helden zum Erfolg, steht nach japanischer Auffassung die Tugend eines Helden — so etwa: makoto (bedingungslose Aufrichtigkeit, Selbstlosigkeit und eine Kraft, die Welt für nichts zu achten) — gewöhnlich zu realem Erfolg im Gegensatz. Gemäß der Überzeugung, daß es in einer verdorbenen, verfallenen Welt gar nicht anders sein kann, gehorcht dies einer strengen Logik. Vielleicht stehen im Land hinter dem Horizont die legendären Heroen wahrhaftig gegen jede herrschende Wirklichkeit — im Westen stehen dafür allein literarische Figuren. Vielleicht handelt es sich jedoch nur um eine Art „Ersatzbefriedigung“ einer gehorsamen Mehrheit. In einer kleinen Anmerkung zu dem umfangreichen Band schiebt der Autor ein persönliches Erlebnis, eine Taxifahrt durch Tokyo ein, während der sein Chauffeur „wie ein mittelalterlicher Samurai beim Angriff auf eine feindliche Festung durch die Innenstadt raste. Er veranstaltete eine Zickzackfahrt zwischen Bussen, Autos und Fußgängern, wobei er Verkehrsampeln und andere Hindernisse völlig ignorierte. Nach etwa zehn Minuten dieses selbstmörderischen Vorgehens bat ich den Fahrer anzuhalten... immer noch in vollster Fahrt, drehte er sich mit einem mitleidigem Lächeln zu mir herum und sagte: „Warum hängen Sie so sehr am Leben?“Jörg Becker Ivan Morris: Samurai oder Von der Würe des Scheiterns. Tragische Helden in der Geschichte Japans, Insel-Verlag geb., 590 Seiten, 78 DM
jörg becker
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UN-Millenniumsziel 4: Kindersterblichkeit - taz.de
UN-Millenniumsziel 4: Kindersterblichkeit Die Kindersterblichkeit bei unter Fünfjährigen soll bis 2015 um zwei Drittel sinken. Ägypten setzte erfolgreich auf besseren Impfschutz, im Tschad hat das Militär Vorrang. Grafik: Infotext/P. Sobotta, S. Weber Erfolgreich: Ägypten Einem Bericht von UNO, Weltbank und WHO von 2013 zufolge erleben 21 von 1.000 Ägyptern ihren fünften Geburtstag nicht. 1990, auf das sich die Millenniumsziele als Ausgangsjahr beziehen, waren es noch 86. Der große Erfolg verdankt sich nicht nur verbesserten Lebensbedingungen. Gemeinsam mit internationalen Organisationen setzte die Regierung vor allem darauf, den Impfschutz zu verbessern. Bereits seit Mitte der 70er Jahren konnten sich Ägypter an „nationalen Impftagen“ immunisieren lassen. Die Zahl der Impfungen gegen Tuberkulose, Masern, Diphtherie und Tetanus stieg deutlich. Während Kinderlähmung einmal weit verbreitet war, gilt Ägypten seit Mitte der nuller Jahre als poliofrei. Besonders erfolgreich war der Kampf gegen Durchfallerkrankungen. Simple Therapien wie die WHO-Trinklösung retteten Tausende von Kinderleben. Wissen über Durchfall und Dehydrierung wurde über TV-Kampagnen in die entlegensten Regionen verbreitet. Doch die regionalen Unterschiede sind enorm. Sorgen bereitet vor allem Oberägypten, wo die Sterblichkeitsrate deutlich höher ist als im Norden des Landes. (Jannis Hagmann) Erfolglos: Tschad In Tschad sterben die Kinder aus denselben Gründen wie in anderen unterentwickelten Ländern: vermeidbare Durchfälle, Lungenentzündung, Malaria. Dass die Sterberaten im Tschad besonders hoch sind und auch, anders als in Nachbarländern, weiter steigen, wird im Land heftig diskutiert, seit Tschad dank der Ölförderung hohe Wachstumsraten und gut gefüllte Staatskassen hat. Zum einen ist Tschad ein besonders wenig verstädtertes Land, die ländliche Bevölkerung hat meist keine Gesundheitseinrichtungen in Reichweite, und nur eine Minderheit hat Zugang zu sauberem Wasser und ausreichend Nahrung. Die ZwischenbilanzNie trafen sich mehr Staatschefs als zum UN-Millenniumsgipfel im Jahr 2000. Die Weltgemeinschaft versprach Armut, Hunger und Krankheiten bis zum Jahr 2015 zurückzudrängen. Dafür bleiben jetzt noch knapp zwei Jahre. Es gibt auch in Tschad relativ wenig Ausbildungsmöglichkeiten für Ärzte und Pfleger; traditionelle Heiler spielen im ländlichen Raum eine große Rolle, was bei tödlichen Infektionskrankheiten nicht viel hilft. Noch hat die Regierung daran wenig geändert, obwohl sie die Mittel dazu hätte – der Ausbau des Militärs, das heute zu den schlagkräftigsten der Region gehört, hat für den Präsidenten Vorrang. Hunderttausende Flüchtlinge aus dem sudanesischen Darfur haben die statistischen Indikatoren weiter verschlechtert. (Dominic Johnson)
Jannis Hagmann
Die Kindersterblichkeit bei unter Fünfjährigen soll bis 2015 um zwei Drittel sinken. Ägypten setzte erfolgreich auf besseren Impfschutz, im Tschad hat das Militär Vorrang.
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An die eigene Nase gefasst - taz.de
An die eigene Nase gefasst Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus? Die Bürgerschaft hat die Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes einstimmig beschlossen. Damit darf ab dem 1. Januar 2009 auch in Einkaufspassagen und Einkaufszentren nicht mehr geraucht werden. Grünen-Sprecher Matthias Makosch wies daraufhin, dass offene Bereiche wie die Lloyd-Passage entgegen anderslautender Berichte, etwa in der „Bild“-Zeitung, nicht von dem Verbot betroffen sind. Gleiches gilt für Festzelte. Ausnahmen gibt es auch für Gaststätten, die nicht größer als 75 Quadratmeter sind und keine zubereiteten Speisen verkaufen. Sie müssen klar als Raucher-Lokale gekennzeichnet sein und dürfen Jugendlichen unter 18 Jahren keinen Zutritt gewähren. Auf Nachfrage erklärte Makosch, dass der Nichtraucherschutz auch in den Fraktionsräumen der Grünen konsequent umgesetzt werde. Allerdings: Die Abgeordneten gingen in der Regel nicht vor die Tür. Stattdessen machen sie es sich in einem kleinen Hinterzimmer gemütlich – aus diesem „blue salon“ zieht es dann schon manchmal in die Büroräume. „Ein kleines Problem“, wie Makosch zugibt. Während die FDP nur nicht-rauchende Abgeordnete hat gibt es bei der SPD auch einen Raucher-Raum. Die Fraktion bestehe zu einem Drittel aus Rauchern, erklärt SPD-Sprecher André Städler. Bisher habe sich aber noch kein Nichtraucher beschwert. Auch die CDU jagt ihre Raucher nicht komplett aus dem Gebäude: Hier gibt es einen winzigen Balkon, der halb legal als Raucherecke dient. Dabei dürfe man sich allerdings nicht von CDU-Chef Thomas Röwekamp „erwischen lassen“, heißt es im Vorzimmer. Inga Nitz von der Linkspartei – die sich vor allem über die von der Bürgerschaft beschlossenen Zugeständnisse an die Eckkneipen freut – antwortet in Bezug auf die eigene Geschäftsstellen-Praxis mehrdeutig: „Es gibt bei uns im Büro Nichtraucherschutz, aber auch keine Raucherdiskriminierung.“ Steven Heimlich
Steven Heimlich
Die Bürgerschaft ist sich einig. Aber wie sieht es mit dem Nichtraucherschutz bei Parteien und Fraktionen aus?
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Machtwechsel bei den britischen Grünen: Caroline Lucas ist wieder Parteichefin - taz.de
Machtwechsel bei den britischen Grünen: Caroline Lucas ist wieder Parteichefin Bewährtes setzt sich durch: Die einzige Grünen-Abgeordnete im Unterhaus kehrt an die Spitze der Partei zurück. Immerhin im Tandem mit Jonathan Bartley. Sie ist wieder in ihrer alten Doppelrolle: Caroline Lucas Foto: imago/Zuma press BERLIN taz | Caroline Lucas, die einzige Grünen-Abgeordnete im britischen Unterhaus, ist wieder Vorsitzende ihrer Partei. Rund 86 Prozent der auf dem Grünen-Parteitag in Birmingham anwesenden Mitglieder votierten für sie und den relativ unbekannten Jonathan Bartley als Führungstandem. Die beiden konnten sich damit deutlich gegenüber fünf weiteren MitbewerberInnen durchsetzen. Lucas und Bartley lösen Natalie Bennett ab, die seit 2012 die Führungsposition bekleidet, jedoch schon im Frühjahr ihren Rücktritt erklärt hatte. Während ihrer Amtszeit konnte die Partei ihre Mitgliederzahl signifikant steigern, bei der Unterhauswahl 2015 wurden die Grünen von mehr als einer Million Stimmberechtigten gewählt. In Großbritannien herrscht jedoch das Mehrheitswahlrecht und es gelang der Partei nicht, jene Wahlkreise zu gewinnen, in denen sie sich ernsthafte Chancen ausgerechnet hatte – dazu gehörten zum Beispiel die Universitätsstädte Bristol und Norwich. Einzig Caroline Lucas konnte ihr Mandat für Brighton Pavilion, das sie bei der Wahl 2010 erlangt hatte, erfolgreich verteidigen. Zudem verloren die Grünen ihre Mehrheit im Stadtrat von Brighton. Dass die Grünen die Erfolgswelle, die sich vor der Unterhauswahl 2015 abgezeichnet hatte, nicht zu Ende reiten konnten, wurde unter anderem auch Natalie Bennett angelastet, die in einem Radiointerview mit LBC während des Wahlkampfes eine unglückliche Figur gemacht hatte. Bennett kündigte gegenüber dem Independent an, jedoch nicht aus der Politik auszusteigen, sondern womöglich erneut bei den nächsten Unterhauswahl zu kandidieren. Prominentester Kopf ihrer Partei Caroline Lucas bleibt der bei weitem prominenteste Kopf ihrer Partei, sie führte die Grünen erstmals von 2008 bis 2012 und konnte sich zudem einen Namen als Autorin von Büchern über den ökologischen Umbau der Wirtschaft, die Auswirkung der Globalisierung auf die britische Gesellschaft und Tierschutzrechte machen. Sie unterstützt die sozialen Proteste gegen die Austeritätspolitk der konservativen Regierungen Großbritanniens seit 2010 und den ehemaligen griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis bei seinen Bestrebungen, eine Bewegung zu formieren, die die EU von links zu reformieren versucht. Bei dem Parteitag in Birmingham übte sie scharfe Kritik am Brexit-Kurs der Regierung von Theresa May, den sie ein Desaster nannte. Innerparteiliche Kritiker erkennen zwar die Rolle von Lucas für ihre Partei an, bemängeln aber den zu engen Fokus auf ihre Person. Einige Stimmen sprachen dementsprechend eher von einer Krönung als von einer Wahl der neuen Grünen-Führung. Lucas trug dieser Kritik schon im Vorfeld zumindest dahingehend Rechnung, dass sie sich das Spitzenticket mit Jonathan Bartley teilte. Der 44-Jährige war bisher sozialpolitischer Sprecher seiner Partei und ist Schlagzeuger bei der Bluesrock-Band The Mustangs. Mit der Ko-Spitze nähern sich die britischen Grünen nun dem Modell der deutschen Schwesterpartei an, politisch stehen sie mit Caroline Lucas aber weiterhin mehrheitlich links von den Positionen eines Cem Özdemir.
Oliver Pohlisch
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Klage der Herero gegen Deutschland: Sühne für einen Völkermord - taz.de
Klage der Herero gegen Deutschland: Sühne für einen Völkermord Vor einem Jahr reichten Herero und Nama vor einem New Yorker Zivilgericht Klage gegen die Bundesrepublik ein. Das sind die Hintergründe. 2004 bot die damalige Ministerin für Entwicklunghilfe, Heidemarie Wieczorek-Zeul, erstmalig den Herero eine Entschuldigung an Foto: ap BERLIN taz | Am 5. Januar 2017 reichten die namibischen Volksgruppen der Herero und Nama – vertreten durch ihre traditionellen Chiefs sowie den Verband der Herero-Völkermordüberlebenden in den USA und einen in den USA eingebürgerten Herero – vor dem US-Bundesbezirksgericht New York Zivilklage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Kläger forderten Reparationen für den Völkermord, den deutsche Truppen zwischen 1885 und 1909 im heutigen Namibia (damals Deutsch-Südwestafrika) begingen, sowie eine Beteiligung an Regierungsverhandlungen zwischen Deutschland und Namibia. Die Kläger gründen ihre Forderung auf das Gesetz „Alien Claims Tort Act“ (ACTA) der USA aus dem Jahr 1789, das Nicht-US-Bürgern erlaubt, Schäden infolge von Verstößen gegen internationales Recht weltweit in den USA einzuklagen. Deutschland bestreitet die Zuständigkeit des New Yorker Gerichts und bestreitet auch, dass es einen Völkermord an den Herero und Nama gab, weil der Tatbestand des Völkermordes erst seit 1948 juristisch existiert. Doch Nachfahren von Holocaust-Opfern und NS-Zwangsarbeitern haben durch ACTA-Klagen in den USA Entschädigung von Deutschland erstritten. Den Holocaust erkennt Deutschland als Völkermord an, obwohl er vor 1948 geschah, und seit Juni 2016 auch den türkischen Völkermord an den Armeniern ab 1915. Die Armenien-Anerkennung durch den Deutschen Bundestag ermutigte die Herero und Nama, ihrerseits eine rechtsverbindliche – also mit finanziellen Folgen behaftete – Anerkennung des deutschen Völkermordes in Namibia erstreiten zu wollen. Erst 2004 Völkermord anerkannt Noch 2015 war eine Herero- und Nama-Delegation in Deutschland abgeblitzt: Sie konnte ihren Forderungskatalog über einen „bedingungslosen und offenen Dialog“ nicht offiziell übergeben. Daraufhin wurde die Klage vorbereitet. BildergalerieHerero – Andenken eines Volkes7 Bilder Die deutsche Regierung hat den Völkermord in Namibia erst 2004 überhaupt als solchen benannt. Seit diesem Schritt der damaligen Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) ruht eine 2001 in Washington eingereichte ACTA-Klage von Herero gegen deutsche Firmen auf zwei Milliarden US-Dollar Entschädigung. Eine rechtsverbindliche An­erkennung des Geschehens in Namibia als Völkermord gibt es von offizieller deutscher Seite bis heute nicht. Deutsche Truppen im heutigen Namibia hatten ab 1904 Aufstände von Herero und Nama gegen ihre Enteignung dadurch niedergeschlagen, dass die Angehörigen dieser Volksgruppen gezielt getötet, in Konzentrationslagern interniert oder in die Wüste getrieben wurden. 80 Prozent aller Herero und 50 Prozent aller Nama starben.
Dominic Johnson
Vor einem Jahr reichten Herero und Nama vor einem New Yorker Zivilgericht Klage gegen die Bundesrepublik ein. Das sind die Hintergründe.
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Kritik an Berliner Polizeigewerkschaft: Ein Tweet sagt mehr als 1.000 Worte - taz.de
Kritik an Berliner Polizeigewerkschaft: Ein Tweet sagt mehr als 1.000 Worte Die Deutsche Polizeigewerkschaft twittert sich mit rechter Rhetorik vor einer Demo ins Abseits. Ihr Vorsitzender war mal bei den Republikanern. Empört sich gerne: Bodo Pfalzgraf, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft Berlin Foto: dpa BERLIN taz | Der Berliner Senat zweifelt offenbar an der Integrität einzelner Polizeibeamter, die im Auftrag der Deutschen Polizeigewerkschaft Berlin (DPolG) twittern. Das geht aus der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Grünen June Tomiak an die rot-rot-grüne Landesregierung hervor, die der taz vorliegt. Sie trägt den Titel „Rechtsextremisten bei der DPolG“. Darin verurteilt der Senat einen Tweet, der vom Account der Polizeigewerkschaft abgesetzt wurde. DPolG-Landesvorsitzender Bodo Pfalzgraf sagte der taz, dass der Account von Ehrenamtlichen im Auftrag des Vorstands bestückt werde. Anlass für Tomiaks Nachfrage war ein Twitter-Beitrag, der vor Beginn der Black-Lives-Matter-Demo am 6. Juni veröffentlicht wurde. Wörtlich hieß es darin: „Liebe Kolleginnen & Kollegen, passt bitte heute gut auf euch auf! Die Aggressivität der Berufsempörer & gewaltbereiten Krawallmacher der Polizei gegenüber hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Kommt alle gesund wieder nach Hause! #DPolG #Polizeifamilie #JedesLebenzählt“. Mit dem AfD-Sound vorverurteilte die Polizeigewerkschaft nicht nur Zehntausende gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrierende Menschen. Sie teilte auch das von rechten Gruppen benutzte Hashtag #Jedeslebenzählt, mit dem von rechts gegen die aus den USA stammende Black-Lives-Matter-Bewegung mobilisiert wird. Laut Senat kann das Posting durch die Verwendung des Hashtags #Jedeslebenzählt „durchaus Anhaltspunkt für Zweifel an der Einhaltung der allen Beamtinnen und Beamten obliegenden Grundpflichten wie der Verfassungstreue- oder der Wohlverhaltenspflicht sein“. Allerdings stelle der Tweet allein noch keinen Verstoß dar. Namentlich zugeordnet wurde der Beitrag keinem Funktionär der DPolG. Weitere Tweets dieses Tages waren allerdings klar dem Landesvorsitzenden Bodo Pfalzgraf zugeschrieben. Pfalzgraf ist Ex-Republikaner Auch das warf durchaus Fragen auf: Der nach eigenen Angaben seit 41 Jahren im Polizeidienst befindliche Pfalzgraf ist ein ehemaliges Mitglied der extrem rechten Republikaner. Er fand sich 1990 auf deren Wahllisten. Die Partei wurde seit 1992 vom Verfassungsschutz beobachtet. Auch darum ging es in der Anfrage. Es sei dem Senat schon länger bekannt, dass Pfalzgraf Mitglied gewesen sei – allerdings sei er erst nach Beginn seines Polizeidienstes dort eingetreten. Weitere Verbindungen zwischen Rechtsextremen und der DPolG seien nicht bekannt. Die grüne Abgeordnete Tomiak sagte angesichts der Tweets vom DPolG-Account: „Das Weltbild der Republikaner gehört bei Pfalzgraf wohl nicht der Vergangenheit an.“ Es sei ohnehin problematisch, wenn sich Polizist:innen so über eine Demo äußerten: „Wenn sich die Demo dann noch um Polizeigewalt und legitime Kritik von Betroffenen dreht, halte ich das für sehr grenzwertig.“ Mit dem AfD-Sound vorverurteilte die Polizeigewerkschaft Zehntausende Demonstrierende Pfalzgraf selbst schrieb der taz auf Anfrage, dass #Jedeslebenzählt seit Jahren Leitbild der Polizei sei. Die Gleichsetzung mit #Alllivesmatter sei ihm durch die taz-Anfrage erstmalig bekannt geworden. Zudem habe sich der Tweet auch auf Randale in Neukölln in der Nacht vor der Demo bezogen. Bei den Republikanern ist Pfalzgraf nach eigener Aussage ausgetreten, bevor sie vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Er sei zwei Jahre lang Mitglied gewesen, davon zehn Monate Landesgeschäftsführer. Von der Polizei sei er für diese Zeit freigestellt worden. „Radikalisierungstendenzen“ hätten ihn zum Austritt im Oktober 1991 bewogen, so Pfalzgraf. Die für die Polizei zuständige Innenverwaltung von Andreas Geisel will nichts zu Konsequenzen aus den Vorgängen sagen. Ein Sprecher betont aber auf allgemeine Anfrage, dass ein Polizeibeamter besondere Pflichten habe, „sich durch sein gesamtes Verhalten (z.B. auch in sozialen Medien) innerdienstlich und außerdienstlich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung zu bekennen und für deren Einhaltung einzutreten“. Extremistische Äußerungen verletzten zweifellos diese Pflicht und seien nicht zu tolerieren, so ein Sprecher. Auch bei politischer Betätigung müssten Polizeibeamte Mäßigung und Zurückhaltung wahren. Der Chef von Bodo Pfalzgraf, der DPolG-Bundesvorsitzende Rainer Wendt, ist übrigens seinerseits so etwas wie der Prototyp eines Rechtspopulisten und Debattenvergifters. Bekannt ist er für seinen Kuschelkurs mit der AfD und dafür, dass er über einen langen Zeitraum ein Gehalt als Polizist kassierte – ohne dafür zu arbeiten. Darüber hinaus gab er verschiedene Nebeneinkünfte nicht an. Fast jeder dritte Polizist ist bei der DPolG Trotz aller Skandale und rhetorischer Nähe zur AfD hat die DPolG innerhalb der Polizei rund 100.000 Mitglieder – angesichts von 320.000 Polizist:innen in Deutschland ist fast jeder Dritte bei der DPolG organisiert. Die mit 160.000 Mitgliedern größte Gewerkschaft der Polizei, GdP, gilt im Allgemeinen als liberaler und ist sogar Teil des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB. Aber auch die GdP zeigte kürzlich häufiger, dass der Rechtsruck nicht spurlos an ihr vorüber geht: So teilte der Account der GdP kürzlich auf Instagram das Hashtag #Bluelivesmatter und relativierte damit seinerseits Rassismus. Nach viel Kritik hat der GdP-Account immerhin das Hashtag gelöscht. Der Tweet der DPolG Berlin ist weiter online.
Gareth Joswig
Die Deutsche Polizeigewerkschaft twittert sich mit rechter Rhetorik vor einer Demo ins Abseits. Ihr Vorsitzender war mal bei den Republikanern.
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Ausstellung „Zonenrandgebiet“: Vom Leben am Rand - taz.de
Ausstellung „Zonenrandgebiet“: Vom Leben am Rand Vom „Grünen Band“ bis Nordkorea: Das Braunschweiger Photomuseum beschäftigt sich mit Grenzen und dem einstigen „Zonenrandgebiet“. Früher Grenzübergang, heute Gedenkstätte: Ansgar Marx’ zeigt den „Grenzübergang Marienborn“ (2019) Foto: Ansgar Marx BRAUNSCHWEIG taz | Wortwörtlich alle Jahre wieder veranstaltet das Braunschweiger Museum für Photographie seine Mitgliederausstellung. In ihr ging es auch schon mal ganz konkret ums weihnachtliche Befinden, aber ebenso um die Eintracht (nicht nur als lokalen Fußballverein) sowie Zwietracht – oder es wurde gar kein inhaltlicher Bezugspunkt gesetzt. Dieses Jahr stehen 30 Jahre Mauerfall im Blickpunkt, in Braunschweig ja ein Thema mit großem Erinnerungspotenzial. Denn für die strukturschwache Region bedeutete die Lage im sogenannten Zonenrandgebiet zwar einerseits hoch willkommene Finanzspritzen aus dem Sonderabschreibungs- und Investitionsförderprogramm der Bundesregierung, andererseits aber auch ein kaum zu überschätzendes großes Trauma. Die so martialisch wie grotesk gesicherte, unüberwindbare Grenze der DDR beschnitt der Stadt nicht nur ihr historisches Hinterland: Man fühlte sich hier stets ein wenig wie am Ende der Welt, mit dem Rücken zur Wand. Allerdings wird wohl keine*r der ab den 1980ern Geborene*n dieses Lebensgefühl nachempfinden können. Und auch tief im Westen der alten BRD herrschten zwar jede Menge Probleme, aber halt anderer Art. Ganz zu schweigen vom Leben jenseits der Grenze in der DDR. So fallen dann die Bildbeiträge der 28 Mitglieder, die nach einem Workshop und einer Jurierung nun in die Ausstellung fanden, höchst unterschiedlich aus – je nach Alter, biografischem Bezug, Prägung Ost oder West. Getragen wird das Museum für Photographie von einem Verein, dem Berufsfotografen, Amateurlichtbildner und interessierte Laien angehören, sowohl regional Ansässige wie Auswärtige: Auch das spiegeln die Ausstellungsbeiträge wieder. Geradezu klassisch und naheliegend ist der Blick in die Anlagen der DDR zur Kontrolle der Ein- und Ausreise, meist ja zwecks Transits von und nach Westberlin. Der heute als Gedenkstätte umgewidmete Grenzübergang Marienborn war der höchstfrequentierte, denn er gewährte die kürzeste und mit Westmitteln gut ausgebaute Strecke durch die DDR nach Berlin. In seinem letzten Expansionsstadium Mitte der 1980er-Jahre besetzte er eine Fläche von 35 Hektar, allein zwischen 1984 bis zum Mauerfall wurden hier zehn Millionen Autos und fünf Millionen Lastwagen abgefertigt, insgesamt waren es wohl 35 Millionen. Mit dem Rücken zur Wand Ungefähr tausend Bedienstete waren hier tätig, ein Drittel von ihnen wohl auch als IM für die Stasi: Die Kontrolleure wurden also selbst kontrolliert. Dieses beklemmende Klima versucht die Gedenkstätte aufzuzeigen, Ansgar Marx nahm sie 2019 in aktuellen Augenschein. Und fand neben dem allgegenwärtigen Porträt des SED-Generalsekretärs Erich Honecker auch penible Dienstanweisungen. Die fast 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze forderte über die Jahre Todesopfer, man schätzt ihre Zahl auf 800. Herbert Döring-Spengler widmet ihnen – und weiteren, statistisch wohl nie offiziell Erfassten – ein Gedenken. Er vermerkt in seiner fotografischen Überblendearbeit etwa Todesfälle wie „Herzinfarkt während der Kontrolle“. Die Grenze war ein auch psychologisch hoch komplexes System aus mehreren „Schutzstreifen“ sowie einem fünf Kilometer breiten Sperrgebiet auf Seiten der DDR. Dörfer oder Einzelbauten, die hier lagen, mussten meist aufgegeben werden, ihre Bausubstanz wurde dem Verfall überlassen. So auch das Renaissanceschloss auf mittelalterlicher Burg und seine barocken Wirtschaftsgebäude in Harbke, westlich von Marienborn. Den verfallenden vormaligen Besitz der Familie von Veltheim dokumentierte die Braunschweigerin Bettina Akinro zwischen 1989 und 1991, heute ist er nur noch eine einsturzgefährdete Ruine. Lediglich der gehölzkundlich bedeutende Schlosspark und eine spätklassizistische, künstlich angelegte Turmruine erschienen der gesamtdeutschen Denkmalpflege erhaltbar. Der pittoreske Bauverfall in der DDR zog nach der Grenz­öffnung westliche Katastrophentouristen an. Michael Ewen fand 1989 in Halberstadt noch komplette, wenngleich verwaiste Straßenzüge mit Fassaden, Türen und Reklamen auf Vorkriegsniveau. Auch von diesen beklagenswerten Architekturen musste nach der Wende so manches weichen, und sei es nur einem großen Stellplatz für Wohnmobile unterhalb des Dombereichs. Mehr Glück hatten da die Bauhausbauten in Dessau. Henrike Junge-Gent nahm sie 1991, während ihrer Dienstzeit als abgeordnete niedersächsische Beamtin, ins Visier. Selbst die Meisterhäuser, in denen Gropius und Kolleg*innen einst logierten, sind pünktlich zum diesjährigen Bauhaus-Zentenarium ja wiederauferstanden, zum Teil aus wahren Ruinen. Versöhnlich will sich das „Grüne Band“ auf der ehemaligen innerdeutschen Grenze über all diese Erinnerungen legen: Das ökologische Vorzeigeprojekt des BUND, ein Refugium für mehr als 1.200 seltene und gefährdete Pflanzen- und Tierarten, inspirierte gleich mehrere Fotograf*innen. Wer das Auge offen hält, findet Relikte der ehemaligen Funktion, etwa die Doppelreihen aus Betonplatten, den sogenannten Kolonnenweg. Die AusstellungAusstellung „Zonenrandgebiet“: bis 12. 1. 20, Braunschweig, Photomuseum Es gibt weiterhin Nationen, die geteilt sind, am präsentesten ist wohl Korea. Leonhard Hofmann schaute vom Berge Inwangsan auf Seoul, die Hauptstadt Südkoreas. Von hier sind es etwa 60 Kilometer bis zum Reich Kim Jong-uns, also Nordkorea. Die angetroffenen Soldaten beobachten somit nicht die Grenze, sondern die eigene Stadt, die eigenen Landsleute. Südkorea gilt laut Demokratieindex als „unvollständige Demokratie“, besonders wegen Defiziten in seiner politischen Kultur, verboten sind auch Informationen aus dem Norden. Den ganz persönlichen Zonenrandgebieten widmet etwa Andreas Bormann höchst humorvolle Alltagsstillleben: Müll neben japanisch anmutender Akkuratesse, Vegetation neben versiegeltem Boden und kleine Spiegelflächen zur Selbsterkenntnis.
Bettina Maria Brosowsky
Vom „Grünen Band“ bis Nordkorea: Das Braunschweiger Photomuseum beschäftigt sich mit Grenzen und dem einstigen „Zonenrandgebiet“.
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Angriff auf AfDler in Schleswig: Mit dem Messer verletzt - taz.de
Angriff auf AfDler in Schleswig: Mit dem Messer verletzt Ein AfD-Abgeordneter des Kreistages Schleswig-Flensburg ist mit einem Messer verletzt worden. Seine Partei macht daraus einen Mordversuch. Bei den jüngsten Kommunalwahlen auch mal zweistellig: AfD-Schleswig-Holstein bei einem Parteitag Foto: Daniel Reinhardt/dpa HAMBURG taz | Der designierte Kreistagsabgeordnete der AfD, Bent Lund, ist in Schleswig mit einem Messer verletzt worden. Der Mann kam ins Krankenhaus, wurde inzwischen aber entlassen. Gegen den mutmaßlichen Täter hat die Staatsanwaltschaft am Freitag Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr erlassen. Der AfD-Landesverband sprach von einem Mordversuch. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. Nach Darstellung des AfD-Regionalvorsitzenden Jan Petersen-Brendel haben zwei Männer und eine Frau am Vatertag mit einem SUV versucht, Lund auf seinem Motorrad abzudrängen. Vor seiner Haustür hätten sie Lund festgehalten und auf ihn eingestochen. Ein Stich habe Lund „im Bereich des Schulterblatts“ getroffen und sei acht Zentimeter tief eingedrungen. Der AfD-Sprecher bringt die Tat in einen Zusammenhang mit einem Vorfall am Vortag, an dem eine Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund Lund die Zufahrt zu seiner Wohnung versperrt und nur widerwillig freigegeben haben soll. „In der Folge kam es vor dem Haus zu einem Handgemenge mit Verletzungen auf beiden Seiten“, schreibt Petersen-Brendel. Er ordnet die größere Konfliktpartei einem „Schleswiger Clan“ zu. „Bereits in den Wochen vor der Tat sind Personen aus dem Umfeld des Opfers und dessen Besucher mehrfach von Mitgliedern aus dem Clan als ‚Nazis‘ verbal attackiert worden.“ Die Staatsanwaltschaft hat den Messerangriff bestätigt. Der Beschuldigte sei bereits „straftrechtlich in Erscheinung getreten“. Lunds Verletzung sei nicht lebensbedrohlich, das Tatmotiv unklar. Die Ermittlungen führe die Bezirkskriminalinspektion – die AfD hatte behauptet, der Staatsschutz sei „involviert“. Ebenfalls bestätigt hat die Staatsanwaltschaft, dass es am Vorabend des Messerstichs eine Auseinandersetzung gab, „die zu einem polizeilichen Einsatz geführt hat“. Das Flensburger Landgericht hat auf Antrag Lunds und dessen Sohnes eine einstweilige Anordnung gegen zwei Männer und eine Frau erlassen. Ihnen werde es „untersagt, die Nähe der Antragsteller zu suchen“, so ein Sprecher.
Gernot Knödler
Ein AfD-Abgeordneter des Kreistages Schleswig-Flensburg ist mit einem Messer verletzt worden. Seine Partei macht daraus einen Mordversuch.
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Gehe nicht auf meinen Straßen - taz.de
Gehe nicht auf meinen Straßen ■ Autohasser Michael Hartmann auf Bewährung verurteilt München (taz) – „Der Angeklagte beschloß, auf der Straße Brotzeit zu machen und verwirklichte sein Ansinnen am 24. Juli 1990 auf der Nymphenburger Straße von sechzehn Uhr zehn bis sechzehn Uhr dreißig“, trägt der Richter mit tonloser Stimme vor. Keine Szene aus dem „Königlich- Bayerischen Amtsgericht“ – filmreif wäre sie trotzdem. In der Münchner Großen Strafkammer, in der Vergewaltigungen oder Körperverletzungen mit Todesfolge verhandelt werden, wird jemand verurteilt, dem die Staatsanwaltschaft das Gehen auf Straßen und Kreuzungen anlastet. Der 28jährige Michael Hartmann pflegt seit Jahren die Leidenschaft, Münchner Straßen und Plätze zu überqueren, auf ihnen entlangzuspazieren oder gar zu pausieren – ohne Rücksicht auf Autofahrer. Das war den Richtern ein Exempel wert: Autohasser Michael Hartmann ist gestern wegen „gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“ und wegen Nötigung zu zehn Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt worden. „Er hat Gewalt angewendet durch körperliche Zwangswirkung“, meint der Staatsanwalt, der zwei Jahre auf Bewährung und 400 Stunden Arbeitsauflage gefordert hatte. Tatsächlich: Ein Autofahrer mußte auf der Leopoldstraße abbremsen, ein anderer zwei Minuten hinter dem Verurteilten herfahren, ein dritter übersah ihn schlicht: Hartmann war der einzige Verletzte dieses Unfalls. „Die Strafforderung kann nur ideologisch, aber nicht juristisch nachvollzogen werden“, empört sich sein Verteidiger. Es ist nicht das erste Mal, daß Michael Hartmann in der Stadt vor Gericht steht, die der ADAC zum Stammsitz auserkoren hat. Einen Namen machte er sich mit „Carwalking“ – Hartmann lief einfach über die Autos hinweg, die auf Gehwegen parkten. Das hatte ihm bisher Bußgeldbescheide eingetragen, die ihn von seiner Art, Fahrbahnen zu betreten, nicht abbringen konnten. Auch nicht die Wutanfälle und die Schläge von Autofahrern, darum wohl ließ die bayerische Justiz ihre Muskeln spielen. Die Große Strafkammer, bei der mit Strafen von über vier Jahren gerechnet werden muß, und sechs Verhandlungstage mußten es schon sein, 42 Zeugen traten auf. „Wegen der Schwierigkeit der Sache“ hatte das Gericht auch einen zusätzlichen dritten Richter und eine psychiatrische Gutachterin für nötig gehgalten. „Am Rande zur Abartigkeit, hysterisch, exzentrisch und unreif“ lauten die Schlüsselbegriffe ihres Urteils. Fußgänger und Architekturstudent Hartmann will aber nur, „daß der Mensch mehr gilt als ein Automobil“. In den Verhandlungspausen verteilte er Flugblätter. Mit „ökorevolutionären Grüßen“ will er zum Straßenspazierengehen animieren, Vorträge halten, ein Buch schreiben. Nicht zuletzt, weil er, wie er sagt, wegen der Bußgelder mit 25.000 Mark verschuldet ist. Gelassen nimmt er das Urteil auf. Wenn es denn Nötigung sei, Autos wenige Sekunden aufzuhalten, „okay, gut“, dann werde er nun jedes Auto anzeigen, das auf Gehwegen parke und somit Fußgänger nötige. In seinem Plädoyer verspricht er, nicht mehr auf mehrspurigen Straßen oder großen Kreuzungen zu gehen – „weil es mir immer wieder fast passiert ist, umgerast zu werden“. Corinna Emundts
corinna emundts
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Zitatspender „Wenn ich das vor 2 Jahren einem Verleger angeboten hätte, der hätte mich kommentarlos gefeuert.“ Bestseller-Autor Frederik Forsyth über die CDU-Spendenaffäre „Kohl hat wahrscheinlich innerlich mit seiner Partei abgeschlossen.“ Alexander Gauland, Autor einer Kohl-Biografie
Frederik Forsyth / Alexander Gauland
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Zu wenige Trainerinnen bei der WM: Männliche Profiteure - taz.de
Zu wenige Trainerinnen bei der WM: Männliche Profiteure Die größere Sichtbarkeit des Frauenfußballs zieht gerade auch Trainer an. Gegen den Mangel an Trainerinnen wird zu wenig getan. Frankreichs Trainer Herve Renard ist mit Kadidiatou Diani offenbar zufrieden Foto: Carl Recine/reuters Die Sichtbarkeit der Fußballerinnen, das unterstreicht diese WM, wächst global. Auf den Trainerbänken scheinen von dieser Entwicklung mittelfristig die Männer zu profitieren. Bei der WM 2019 war der Anteil der Trainerinnen im Vergleich zum vorherigen Turnier noch gestiegen. Doch mit der medial besseren Ausleuchtung der Frauenturniere und den dadurch besseren Verdienstmöglichkeiten werden nun Männer von dem Business angezogen, die sich bis vor Kurzem als reine Männerfußballtrainer verstanden. Mit der Professionalisierung des Frauenfußballs ist die Zeit des despektierlichen Naserümpfens vorbei. Auch deshalb stagniert die Frauenquote bei dieser WM. Von 32 Teams werden nur 12 von Trainerinnen betreut. Einige Verbände lassen es sich mittlerweile einiges kosten, um renommierte Trainer für ihre Frauen zu gewinnen. Frankreich verpflichtete etwa Hervé Renard, der bei der Männer-WM 2022 noch Saudi-Arabien betreute. Der Franzose vermittelt zwar gerne den Eindruck, er mache das quasi ehrenamtlich und verweist auf seine Gehaltseinbußen. Nun ja, schon seine ausgehandelte WM-Titel-Prämie (600.000 Euro) soll sechsmal so hoch sein wie der Bonus, der seiner Vorgängerin Corinne Diacre versprochen wurde. Vom Männerfußball zum Frauenfußball ist auch Andries Jonker in den Niederlanden gewechselt und überzeugt dort mit erfolgreicher Arbeit. Weil weltweit die Zahl der Trainerinnen, die mit Lizenzen für den Profibereich ausgestattet sind, gering ist, dürfte sich dieser Trend mittelfristig verstärken. Beim DFB will man davon noch nichts wissen. Dies dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, warum DFB-Präsident Bernd Neuendorf bei der Aufarbeitung des Scheiterns des Nationalteams die übliche Reihenfolge lieber einmal umkehrte. Wenig Alternativen Bevor nun in den nächsten Tagen analysiert wird, was wer falsch gemacht hat, steht bereits die Weiterbeschäftigung von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg fest. Es gibt derzeit nämlich unter den deutschen Trainerinnen kaum eine Alternative. Und beim DFB gilt die unausgesprochene Regel, zumindest die nationalen Auswahlteams von Frauen trainieren zu lassen, da doch schon in der Bundesliga Frauen selten zum Zuge kommen. Lediglich beim SC Freiburg gab es zuletzt eine Trainerin. Der Frauenmangel auf den Trainerbänken ist beim DFB schon lange ein Thema. Nur geändert hat sich seither wenig. Selbst der von einem rein weiblichen Gründerinnenteam vorangetriebene Investorinnenklub Viktoria Berlin, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, sich von Männerabhängigkeiten zu lösen, bemühte sich vergeblich um eine Trainerin. Den letzten DFB-Profitrainerlehrgang haben 15 Männer und eine Frau besucht. Und der Ausbildungsleiter Daniel Niedzkowski wird auf der Website der DFB-Akademie so zitiert: „Das Aufnahmeprüfverfahren hat in zwei Bewerbungsphasen für ausgewogene Teilnehmer*innen-Zusammensetzungen auf hohem Niveau gesorgt.“
Johannes Kopp
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Krieg in der Ukraine: Nato will Ostflanke verstärken - taz.de
Krieg in der Ukraine: Nato will Ostflanke verstärken Große Unruhe im Militärbündnis und Sorge vor weiterer Eskalation: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine werden Verteidigungspläne aktiviert. Soldaten der US-Armee auf Luftstützpunkt in Polen am 23.02.2022 Foto: Kacper Pempel/reuters BRÜSSEL taz | Die Nato will ihre Ostflanke verstärken, um Russland von weiteren Angriffen abzuschrecken und ein Übergreifen des Krieges in der Ukraine zu verhindern. An der Verstärkung will sich auch Deutschland beteiligen, wie die Bundesregierung am Freitag in Berlin bestätigte. Die Staats- und Regierungschefs der Nato kamen zudem zu einem virtuellen Sondergipfel zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Man wolle über einen verstärkten Schutz der östlichen Alliierten reden, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Sieben Verbündete – Polen, Bulgarien, Tschechien, die Slowakei und die drei baltischen Staaten – hatten dringende Beratungen verlangt, weil sie durch Russland ihre eigene Sicherheit bedroht sehen. Litauen verhängte den Ausnahmezustand. Es geht allerdings nicht um einen Verteidigungsfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages, sondern nur um Konsultationen nach Artikel 4. Dabei beraten die Alliierten über die Frage, ob eine Bedrohung besteht und wie ihr begegnet werden kann. Das alles geschieht einstimmig. Aus Artikel 4 ergibt sich kein unmittelbarer Druck zu handeln und in den Krieg einzugreifen. Die Nato hatte schon vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine erklärt, dass sie das Land nicht verteidigen werde. Zur Begründung verwies Generalsekretär Stoltenberg darauf, dass es kein Mitglied der Nato sei und es daher auch keine Beistandspflicht gebe. Hinter diesem formalrechtlichen Argument steht die Sorge, dass ein Nato-Engagement zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen würde. Daran hat niemand Interesse, nicht einmal die Nato-Vormacht USA. Trotz dieser klaren Linie, die die Ukraine ungeschützt den Angriffen aus Russland aussetzt, stellen sich den 30 Mitgliedsländern einige heikle Fragen. So müssen sie mit der kaum verhüllten Drohung von Kremlchef Wladimir Putin umgehen, bei einer Konfrontation womöglich Nuklearwaffen gegen den Westen einzusetzen. Für den Fall einer Einmischung in den Ukraine-Konflikt hatte Putin „Konsequenzen“ ankündigt, „die Sie noch nie gesehen haben“. Eskalation um jeden Preis vermeiden Dies hat im Nato-Hauptquartier in Brüssel für erhebliche Unruhe gesorgt; das Risiko eines Atomkriegs will niemand eingehen. Für Verunsicherung sorgt auch das zunehmend wichtige Thema Cyberangriffe. Soll die Nato auf russische Attacken mit gleicher Münze zurückzahlen? Auch dies könnte zu einer Eskalation führen, heißt es in Brüssel. Anderseits wären „hybride“ Aktionen im Cyberspace womöglich ein probates Mittel, um Russland bei seinem Vormarsch auf Kiew zu schwächen. Knifflig ist auch die Frage, wie man mit den Meerengen der Dardanellen und des Bosporus umgehen soll. Das Nato-Mitglied Türkei könnte die Zugänge schließen, wie die Ukraine fordert. Damit würde die Durchfahrt russischer Kriegsschiffe verhindert und der Krieg in der Ukraine erschwert. Doch auch ein solcher Schritt birgt das Risiko einer weiteren Eskalation. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zögert derzeit – und gibt den schwarzen Peter an die Alliierten weiter: „Die Nato hätte einen entschlosseneren Schritt unternehmen müssen“, sagte Erdoğan am Freitag in Istanbul. Die Europäer redeten nur, seien aber nicht bereit zu handeln.
Eric Bonse
Große Unruhe im Militärbündnis und Sorge vor weiterer Eskalation: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine werden Verteidigungspläne aktiviert.
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Die EU zwischen Brexit und Italien-Krise: „Aufbruch für Europa“ ist anderswo - taz.de
Die EU zwischen Brexit und Italien-Krise: „Aufbruch für Europa“ ist anderswo Brüssel hat diese Woche Härte bewiesen. Trotzdem muss die EU den Verlust gleich zweier Staaten betrauern. Bei der Europawahl droht ein Desaster. Aufbruch? Horizonte? Dazu ist nix zu sehen in der EU Foto: dpa Auf den ersten Blick war es eine starke Vorstellung, die die Europäische Kommission in dieser Woche hingelegt hat. Gleich zweimal hat die sonst so halbherzige Brüsseler Behörde energisch durchgegriffen: Im Budgetstreit mit Italien und beim Brexit-Deal mit Großbritannien. Italien wurde wegen seiner Schulden in die Schranken gewiesen. Die populistische Regierung muss mit einem Defizitverfahren rechnen, das mit hohen Geldstrafen enden kann. Für den starken Mann in Rom, Matteo Salvini, läuft es nicht rund. Er steht unter Druck – nicht nur aus Brüssel, sondern auch an den Finanzmärkten. Auch London muss zurückstecken: Der Brexit-Deal trägt zu 99 Prozent die europäische Handschrift. Die britische Premierministerin Theresa May konnte sich nur auf dem Papier durchsetzen, in der Praxis gibt die EU die Linie vor. Doch die Freude über das harte Durchgreifen hat einen bitteren Beigeschmack. Wenn Großbritannien am 29. März 2019 wie geplant austritt, rutscht Europa über Nacht im Ranking der größten Wirtschaftsmächte ab – auf Platz drei hinter den USA und China. Auch in Italien verliert die Union. In keinem anderen Land ist die Zustimmung zur EU so stark gefallen, war das Wachstum so schwach und die soziale Krise so verheerend. Dabei haben sich die letzten Regierungen an die Vorgaben aus Brüssel gehalten. Schlafende Hunde an der Börse Der nun eingeschlagene harte Kurs wird an diesem traurigen Befund nichts ändern, im Gegenteil: Die Rezepte der EU-Kommission dürften die Krisen noch verschärfen. Brüssel bietet nur rote Linien, aber keine neuen Perspektiven, wie sie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 in seiner Sorbonne-Rede gefordert hatte. Besonders krass zeigt sich das am Beispiel Italiens. Das Land steht nun vor zwei unmöglichen Alternativen: einlenken und den gescheiterten EU-Sparkurs fortsetzen, was die Misere verlängern dürfte – oder aufrecht untergehen. Wo sind die neuen Horizonte, die Emmanuel Macron so leidenschaftlich beschwor? Sie sind nicht mehr zu erkennen Wenn die „Stabilitätswächter“ aus Brüssel die schlafenden Hunde an den Börsen wecken, ist das Schlimmste zu befürchten. Selbst wenn nicht gleich die ganz große Eurokrise ausbricht, riskiert die EU in Italien mit einem Defizitverfahren einen gefährlichen politischen Flurschaden. Die EU-Gegner wie Salvini reiben sich die Hände, bei der Europawahl droht ein Desaster. Auch für Großbritannien hat die EU keine guten Perspektiven. Der Entwurf für einen „Zukunftspakt“ enthält zwar viele schöne Worte. Und der Austrittsvertrag könnte den „Worst Case“ verhindern – einen ungeordneten Brexit mit riesigen ökonomischen und sozialen Verwerfungen. Nichts zu feiern Doch Brüssel entlässt London nicht etwa in die ersehnte Freiheit, sondern in ein dubioses Zwischenreich. In der Übergangsphase nach dem Brexit, die bis 2022 dauern könnte, muss London alle EU-Regeln einhalten und seine Beiträge zahlen, ohne in Brüssel mitreden zu dürfen. Selbst danach bleibt das Land an die EU gebunden. Wochenendkasten 24./25. 11 2018Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Großbritannien wird deshalb nicht gleich zum „Vasallenstaat“, wie die Brexit-Hardliner schreien. Doch glücklich dürfte das Land mit dem neuen Status auch nicht werden. „Reisende soll man nicht aufhalten“, heißt eine Binse. Die EU macht das Gegenteil – und kettet die Briten an sich. So gleicht sie einem Club, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es gibt also nichts zu feiern in dieser Woche, in der die EU ihre Muskeln spielen ließ. Eher gibt es Grund zu trauern: Über die Scheidung von Großbritannien, die nun besiegelt wird. Über den Verlust Italiens, das die innere Kündigung vollzogen hat und auf Konfrontationskurs geht. Und über das völlige Versagen bei einer Aufgabe, die einmal als „Aufbruch für Europa“ bezeichnet wurde. Was ist denn aus diesem Aufbruch geworden, den Kanzlerin Angela Merkel versprochen hat? Wo sind die neuen Horizonte, die Emmanuel Macron so leidenschaftlich beschwor? Sie sind nicht mehr zu erkennen. Sechs Monate vor der Europawahl geht es nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern.
Eric Bonse
Brüssel hat diese Woche Härte bewiesen. Trotzdem muss die EU den Verlust gleich zweier Staaten betrauern. Bei der Europawahl droht ein Desaster.
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Liturgie für Automobile - taz.de
Liturgie für Automobile Romeo Castelluccis „La vita nuova“ und Robert Wilsons „Mary Said What She Said“ – bei den Wiener Festwochen treffen Antipoden eines Theaters aufeinander, dessen schärfste Waffe die Selbstbezüglichkeit ist Von Uwe Mattheiß Der größte Kult der Welt hat keine Kathedralen. Automobilismus verlangt Rausch nicht Kontemplation. Wandlung erfährt allein das Drehmoment. Romeo Castellucci versucht mit „La vita nuova“ in einer Theaterinstallation aus 30 durch Entfernung der Motoren unschädlich gemachte Pkws dennoch innezuhalten. In Wien muss er dazu weit hinaus in die „Gösserhallen“ hinter dem Hauptbahnhof. Wo einst Stückgut gelagert wurde, sind die Routinen repräsentativer Kultur noch schwächer ausgeprägt und bis zur nächsten Preisrunde der Immobilienentwickler in den urbanen Erweiterungszonen bleibt etwas Luft. Ausgerichtet in drei Reihen lagert Castellucci seine automobilen Readymades fast über die gesamte Halle. ZuschauerInnen werden höflich zur Stirnseite komplimentiert wie hinter die Absperrung eines Unfallorts. Blütenweiße Leintücher bedecken die Reliquien des CO2-Zeitalters. Bühnennebel, eine Tonspur mit industrieaffinem Klangmaterial und die ans Lichtpult gekoppelte Hallenbeleuchtung tauchen den Raum ins Mehrdeutige. Asservatenkammer? Leichenschauhaus? Nacheinander treten fünf schwarze Schauspieler ins Bild. Lange weiße Messgewänder betonen ihre Körpergröße, Sandalen mit Absätzen heben Gestus und Zeitmaß ihrer Bewegungen auf Kothurne. Hinzu kommen Wanderstecken, Bischofsstab, ein goldener Ring. Ihr Ritus ist fremd, seine Emotionen sind durchaus bekannt. Immer wieder mündet die Choreografie der Zelebranten in Pathosformeln der Renaissancemalerei. Zehn Hände wuchten einen entkernten Benz auf die Seite, drehen ihn über die B-Säule. Der Unterboden zeigt eine antike Büste, dann einen Totenkopf, später ein Netz mit Orangen, die auf den Boden geworfen werden. Eine wird von einem Audi Quattro überrollt. Thea­ter beginnt bei Castellucci dort, wo Zeichen nicht mehr kommunizieren, sondern ob der Fülle ihrer Bedeutungen die Betrachtenden auf sich selbst zurückwerfen. Zum Ende der Liturgie folgt noch Text. Einer der Spieler rezitiert von einer aufs Dach gestellten Limousine herunter aus einem Essay über den Widerspruch im Begriff der Freiheit – wo im guten Leben sie sich erfüllt, schwindet der Begriff, wo er debattiert werden muss, entbehrt man sie. Schließlich die Reflexion über das Gebrechen der Kunst, selbst in ihren radikalsten Momenten noch immer das Bestehende zu affirmieren und die Utopie davon, dass Kunst nicht mehr Simulation sein möge, sondern das gesellschaftliche Ganze ununterscheidbar durchdringt. Also sprach er und verschwand. Asche aufs Haupt, keine Klimax, kein Finale, kein Applaus. Selten entwickelt Verweigerung im Theater einen derartigen Sog auf die Betrachtenden. Castelluccis „La vita nuova“ ist wie Dante ohne Beatrice. Ein großer Abend. Tags darauf luden die Festwochen wieder ins Wiener Museumsquartier. „Mary Said What She Said“ erlaubt sich im Gegensatz zum Vorabend, Ereignis zu sein. Allein der Name Isabelle Huppert scheucht auch die auf, denen Theater sonst schnuppe ist. Ihr anderthalbstündiger Solovortrag imaginiert sich in die Stunden vor Maria Stuarts Hinrichtung. Sie agiert in einer die ganze Bühne fassende, sich stetig wandelnde Licht-und-Schatten-Skulptur von Robert Wilson. Es ist eine jener klinisch-kühlen Abstraktionen, mit denen Wilson dem Theater das Weltbebildern und den Menschendarstellungsunsinn austreibt. Darin zählen allein der Rhythmus der Sprache, Raum- und Körperwirkungen. Inhalt wird hier über die Form gemacht. So arbeitet Wilson nahezu unverändert seit gut vier Jahrzehnten, aber man muss neidlos konzedieren, dass das immer wieder aufs Neue spannend ist. Isabelle Huppert steht im Halbschatten, in rotem Kleid mit reflektierenden Elementen, Reifrock und Puffärmeln. Nach präzisen Scherenschnitt-Choreografien beginnt sie zu sprechen und zu schreiten, vor und zurück. Gleichförmig steigert sie beides, lädt ihren Körper auf bis zur Erschöpfung, die in der Geste des stummen Schreis mündet. Huppert gelingt, was nur wenige Menschen im Theater an ihrer Stelle packen würden, diesem strengen formalen Gerüst Leichtigkeit und eine Freiheit im Ausdruck abzuringen. Ihr Text ist ein Monolog in 80 Absätzen des Romanciers und Essayisten Darryl Pinckney. Im Konzert mit Ludovico Einaudis Komposition entlockt sie im peitschenden Sprechrhythmus dessen unterschwelligen Gesang. Über Maria Stuart spricht, wer die Schmerzen des Fortschritts nicht verschweigen kann. Schiller tat es, nachdem ihm die Französische Revolution die Finger verbrannt hatte. Die maßlose Königin, die gegen jedes Machtkalkül und alle abstrakte und politische Vernunft auf die erbliche Legitimation von Gottes Gnaden pocht, muss an der Schwelle zum neuen Zeitalter untergehen. Dennoch bleibt Trauer über vieles, was frühbürgerlichem Furor zum Opfer fällt. Es sind nicht zuletzt die versprengten Inseln weiblicher Autonomie, die von der neuen Tugend ersäuft werden. Huppert und Wilson drehen im Theater am großen Rad, treiben seine Repräsentationsmittel auf die Spitze, bis sie der Welt wieder fremd werden. So fern Castellucci und Wilson einander sein mögen, sie sind komplementäre Elemente eines Theaters, dessen schärfste Waffe Selbstbezüglichkeit ist.
Uwe Mattheiß
Romeo Castelluccis „La vita nuova“ und Robert Wilsons „Mary Said What She Said“ – bei den Wiener Festwochen treffen Antipoden eines Theaters aufeinander, dessen schärfste Waffe die Selbstbezüglichkeit ist
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berliner szenen: Nieten, Glatzen, Irokesen - taz.de
berliner szenen: Nieten, Glatzen, Irokesen T. kennt einen der Musiker, der Mann einer Freundin, und T. fragte mich, ob wir unsere Verabredung dorthin verlegen können, sie habe das Datum durcheinandergebracht. „Zieh dir“, sagte T., „was Schwarzes an, dann bist du auf der sicheren Seite.“ Nachdem wir auflegten, dachte ich, ich habe drei paar Schuhe, und alle sind sie hellbraun, und außerdem wollte ich doch nur noch auf Sitzkonzerte, nur noch was für mein Alter, nicht zu laut und was zum Sitzen. Ich kenne alles Mögliche, Industrial gehört nicht dazu. Es ist voll, der Raum nicht groß, an der Decke hängen vielleicht 70 Scheinwerfer. Alle tragen Schwarz, Band-T-Shirts, Nieten, Tätowierungen, Glatzen, Irokesen, Stellen sind ausrasiert. Industrial-Fans scheinen ziemlich viel Zeit vor dem Spiegel zu verbringen. Die erste Band tritt auf, vier sehr ernsthafte Menschen, und der Sänger brüllt immer wieder: „I want to feel.“ Er hat einen Vollbart, seine Haare sind lang, und während er brüllt, reckt er beide Fäuste seitlich seines Körpers in die Höhe. Es sieht ein wenig lächerlich aus und zugleich ist es imposant zu sehen, wie er dieses Männerbild in seiner ganzen Klischeehaftigkeit über eine halbe Stunde durchhält, dann von der Bühne geht und Cola aus einem Strohhalm trinkt. Die zweite Band möchte nicht, dass man sich bewegt, die beiden Männer haben Laptops vor sich und bemühen sich, keinerlei Rhythmus oder Melodie aufkommen zu lassen, und als die dritte spielt, wechseln wir an die Bar. Als die vierte Band auftritt, der Raum mit Trockeneisnebel vollgepumpt wird und auf der Bühne Kerzen brennen, gehen wir. „Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal so lange wach war“, sage ich zu T., und sie lacht mich aus. Kurz vor dem Hauptbahnhof singt im Fliederduft eine Nachtigall. Wir wechseln die Straßenseite und hören ihr eine Weile zu. Björn Kuhligk
Björn Kuhligk
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„Hannah Arendt wird in Israel gehasst“ - taz.de
„Hannah Arendt wird in Israel gehasst“ Kein Denker polarisiert in Israel so stark wie Hannah Arendt. Denn ihre Kritik des Zionismus rührt an die Mythologien des israelischen Staates. Doch mit dem Verblassen des Zionismus wächst das Interesse an Arendt, so Idith Zertal taz: Frau Zertal, Hannah Arendts Werk wurde bis heute nicht ins Hebräische übersetzt. Sie wird in Israel noch immer gehasst. Warum? Idith Zertal: Der enorme Hass auf Hannah Arendt ist ein interessantes und empörendes Phänomen, weil er nicht durch die Auseinandersetzung mit ihrem Werk entstand. Denn niemand hatte es gelesen. Deshalb kann man von einer hysterischen, ja fast pathologischen Reaktion sprechen, die nur psychologisch zu erklären ist, gegen etwas sehr Bedrohliches, Beängstigendes. Neulich hat sich eine angesehene Professorin im israelischen TV empört, man hätte Hitlers „Mein Kampf“ übersetzt – und bald würde wohl auch noch Hannah Arendt übersetzt. Woher kommt diese Ablehnung? Wegen Ihrer Haltung zum Zionismus? Ich glaube ja. Denn dieser Konflikt entstand nicht erst nach dem Eichmann-Prozess 1961, sondern in den 30er-Jahren. Ihr Konflikt mit Gershom Scholem, der ihr mangelnde Empathie für die jüdische Sache vorwarf, ist bezeichnend. Im Zionismus sah sie zuerst einen revolutionären Akt in der jüdischen Geschichte, eine Rückkehr in die Geschichte aus einer Lage der Weltlosigkeit, des Zustands, der den Juden nicht nur von außen auferlegt, sondern auch von ihnen selbst akzeptiert wurde. Und da kommt der Zionismus und kehrt dies um. Sie war begeistert. Aber das ändert sich? Ja. Arendt erkannte schnell den exklusiven, auf Ethnie aufgebauten Charakter des Zionismus und sein Gewaltpotenzial, die ihrer Idee eines zivilen Staats widersprach. Gerade den militaristischen Charakter Israels und seine Abhängigkeit von äußeren Großmächten lehnte sie ab, denn darin erkannte sie schon früh eine Quelle zunehmender Isolierung und wachsenden Hasses in der Region. Ein militärisches Projekt, wie der Zionismus nun einmal ist, und ein messianisches Projekt, das „Land der Väter“, eine mythische Urheimat zu besiedeln, konnte Arendt nicht akzeptieren. Ihre Ablehnung des Nationalstaats und dessen Exklusivansprüchen und Ausgrenzungsmechanismen gegenüber ethnischen Minderheiten führte unausweichlich zu einem Konflikt mit dem zionistischen Establishment, das ja den jüdischen Charakter Israels immer betonte. Wie würden Sie dabei die Rolle ihrer Kritik des Eichmann-Prozesses 1961 veranschlagen? Das war der Stein des Anstoßes schlechthin. Die Empörung in Israel hing damit zusammen, dass sie die Judenräte kritisierte. Arendt unterstreicht zwar, dass die Judenräte unter totalem Terror agierten und vor allem Menschen retten wollten, sagt aber auch, dass sie ungewollt der NS-Vernichtungsmaschinerie geholfen haben. Der Zionismus sah das Diaspora-Judentum noch viel negativer, doch der Eichmann-Prozess sollte diesen Konflikt mit der Diaspora wieder entschärfen. Doch dann kommt ein Flüchtling, eine Frau, die keine Zionistin ist, und deckt das Verdrängte in ungewöhnlicher Schärfe auf. Das ging gegen den Strich des zionistischen Mythos, der auf der Dichotomie zwischen dem bösen Nationalsozialismus und dem guten Zionismus aufbaut. Sie haben mit Moshe Zuckermann einen Band herausgegeben, der sich mit Arendt befasst, kürzlich gab es eine Konferenz über Arendt in Tel Aviv. Kommt sie also zum ersten Mal in Israel in Mode? Der israelische Nationalstaat befindet sich in einem Prozess des Zerfalls in einzelne Teile. Der große nationale Diskurs, das große zionistische Narrativ à la Ben Gurion existiert nicht mehr. Heute besteht die israelische Gesellschaft aus vielen großen Minderheiten. Eine einheitliche Gesellschaft mit einer einheitlichen Erinnerungskultur gibt es nicht mehr. Das ermöglicht die Entstehung einer Vielzahl von Diskursen, auch alternativen. Hinzu kommt die Generationsfrage. Meine Studenten haben keine offene Rechnung mit dieser Frau. Kann man von einer Arendt-Renaissance in Israel sprechen? Nein, Arendt ist Minderheitengeschmack. Aber es gibt heute in Israel Menschen, die ihre Fragen nutzen, um das zionistische Narrativ in einem radikal kritischen Licht zu betrachten. Auch die für Arendt bedeutende Frage der Zivilcourage? Ja, natürlich. Denn das ist immer noch schwierig in Israel. Gerade in Krisensituationen steht die gesamte Nation in einer Reihe an der Seite der Armee. Und jeder, der eine kritische Stimme erhebt, wird als Verräter wahrgenommen. Weil Israel sich selbst als Opfer wahrnimmt? Ja. Unsere Fähigkeit, uns als ewiges Opfer zu betrachten, während wir Furchtbares tun – nach innen wie außen –, ist nur durch die Beibehaltung eines unkritischen, irrationalen und mythologisierenden Narrativs möglich. Arendt dekonstruiert das. Deshalb gibt es kaum einen Denker, der so dringend gelesen werden sollte in Israel – und deshalb wurde und wird sie auch so gehasst. INTERVIEW: TSAFRIR COHEN
TSAFRIR COHEN
Kein Denker polarisiert in Israel so stark wie Hannah Arendt. Denn ihre Kritik des Zionismus rührt an die Mythologien des israelischen Staates. Doch mit dem Verblassen des Zionismus wächst das Interesse an Arendt, so Idith Zertal
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Städtebauliche Blockade im Hafen - taz.de
Städtebauliche Blockade im Hafen Als „Standort der Möglichkeiten“ bezeichnen Stadtplaner und Wirtschaftsförderer das fast 300 Hektar große Gebiet der Bremer Überseestadt. Und damit ist – freilich durch die Blume – das Problem dieses riesigen Gebietes auch schon benannt. Es beherbergt nach wie vor viele, über das ganzen Gelände verstreute Betriebe, die zum Teil lautstark, zum Teil geruchsintensiv ihrer Arbeit nachgehen. Und es soll zugleich in nächster Zukunft zu einem urbanen Stadtteil werden, in dem Menschen nicht bloß arbeiten, sondern auch wohnen sollen. Insbesondere die Grünen insistieren seit langem darauf, die citynahe Fläche der Überseestadt sehr viel mehr für diese urbane Zukunft zu öffnen. Auch Bausenator Jens Eckhoff (CDU) pflichtet ihnen hier bei. Vorbild sind unter anderem die Hamburger Hafencity oder auch andere umgenutzte europäische Binnenhäfen wie die in Rotterdam oder Amsterdam. Dann allerdings müsste aus dem Industriegebiet, das die Überseestadt planungsrechtlich noch immer ist, wenigstens streckenweise ein Misch- oder sogar Wohngebiet werden. Vor einer solchen Vision schrecken viele der fast 300 kleinen und großen Betriebe in den ehemaligen Hafenrevieren zurück. Juristisch könnte es für den künftigen, lärmempfindlichen Bewohner der Überseestadt nämlich ein Leichtes sein, das produzierende Gewerbe durch einklagbare Grenzwerte in die Knie zu zwingen. Also bestehen die Betriebe auf dem Status des Industrie- oder Gewerbegebietes – Wohnen soll dort höchstens in Ausnahmefällen möglich sein. Die Politik agiert unentschieden. Einerseits hat sie allen in der Überseestadt ansässigen Unternehmen „Bestandsschutz“ garantiert. Keiner darf sie vertreiben. Andererseits sind die urbanen Pläne, die die Überseestadt-GmbH verfolgt und die in einem Masterplan und einem Modell bereits handfesten Ausdruck gefunden haben ein Verunsicherungsfaktor für die Unternehmer. Und so gibt es inzwischen Klagen von beiden Seiten. Die grüne Baupolitikerin Karin Krusche fordert von den Überseestadt-Machern ein sehr viel offensiveres und kleinteiliges Werben um urbane Nutzer: vom Studenten, der in ein günstig renoviertes Apartment im ehemaligen Lagerschuppen einziehen könnte bis zum Yuppie, der nach getaner Arbeit ein Stockwerk höher in seinem Speicher-Loft relaxt. Umgekehrt wünschen sich die Unternehmer, dass die Stadt gezielt um Firmen und Investoren wirbt, die die jetzt noch ansässigen Betriebe ergänzen und einen modernen Gewerbe- und Dienstleistungsstandort aus der Überseestadt machen. Zur Zeit jedenfalls scheint der Standort der Möglichkeiten eher einer der Unmöglichkeiten zu sein. In loser Folge wollen wir in diesem Sommer und Herbst Unternehmen aus der Überseestadt porträtieren. Was genau machen sie? Wie viele Mitarbeiter haben sie? Sind sie abhängig von einem Standort im ehemaligen Hafen? Und: Wie viel urbane Nachbarschaft vertragen sie? Wir beginnen mit einem der imposantesten und baulich attraktivsten Betriebe: der Roland-Mühle, seit sechs Generationen als Familienbetrieb geführt von den Erlings. hey Graphik: Stefan Bargstedt
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Das 49-Euro-Ticket bringt Studis in die Bredouille - taz.de
Das 49-Euro-Ticket bringt Studis in die Bredouille Langsam wird die Zeit knapp: Die Landesverkehrsminister finden keine Lösung für den Fortbestand des Semestertickets, der Bundesverkehrsminister fühlt sich nicht zuständig Hängepartie um das Semester­ticket: Die H-Bahn auf dem Campus der TU Dortmund dürfen Studierende mit ihrem Fahrschein nutzen    Foto: S. Ziese/blickwinkel/picture alliance Von Ralf Pauli und Anja Krüger In den kommenden Wochen können sich die Studierenden an den Hochschulen zurückmelden, wenn sie im Wintersemester weiterstudieren wollen. Doch noch immer ist unklar, wie hoch der sogenannte Semesterbeitrag sein wird, den sie vorher zahlen müssen. Der Semesterbeitrag besteht meistens aus einer Verwaltungskostenpauschale für die Hochschule, Anteilen für das Studierendenwerk und für die Studierendenvertretung sowie – dem größten Brocken – dem Preis für das Semesterticket. Mit diesem Ticket können Studierende sechs Monate den öffentlichen Nahverkehr vor Ort oder teilweise im ganzen Bundesland nutzen. An vielen Hochschulen müssen die Studierenden insgesamt mehr als 200 Euro, mitunter mehr als 300 Euro zahlen. Das könnte erheblich weniger werden – aber das wäre kein Grund zur Freude. Denn: An vielen Hochschulen steht aktuell auf der Kippe, ob es künftig noch ein Semesterticket geben wird. Erste Hochschulen wie die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg haben sich bereits gegen­ die Fortführung des Semestertickets entschieden. Die Studierendenschaften stünden vor der Wahl, „einen Grundpfeiler studentischer Sozialpolitik“ abzuschaffen oder sich rechtlich „auf dünnes Eis“ zu begeben, beschreibt der Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen die aktuelle Lage. Der Hintergrund ist das im Mai eingeführte 49-Euro-Ticket, mit dem alle Bür­ge­r:in­nen deutschlandweit den Nahverkehr nutzen können. Das Problem: Das Semesterticket ist für die Studierenden obligatorisch. Es beruht auf einem Solidarmodell, alle müssen es kaufen – auch wenn sie lieber zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem Auto zur Uni kommen. Dadurch wird es deutlich günstiger als bei einer Wahlfreiheit. Solche Lösungen sind aber nur unter engen Voraussetzungen möglich, in der Vergangenheit gab es etliche Klagen gegen das Semesterticket. Den Zwang halten Gerichte für gerechtfertigt, solange es einen eindeutigen Preisunterschied für den Einzelnen gibt im Vergleich zum normalen ÖPNV-Angebot. Das 49-Euro-Ticket stellt dieses Modell nun in Frage, weil die Differenz zum Semesterticket vielerorts nur noch gering ist. Den Allgemeinen Studierendenausschüssen, kurz ASten, bereitet die 49-Euro-Alternative deshalb erhebliches Kopfzerbrechen. Sie sind schließlich die Ver­trags­part­ne­r:in­nen der Verkehrsverbünde und müssen in diesen Tagen entscheiden, ob sie die Verträge mit den Verkehrsbetrieben vor Ort verlängern, kündigen oder zumindest pausieren. An vielen Unis ist die Deadline dafür Ende Juni – bevor die Studierenden im Juli den Semesterbeitrag für das Wintersemester überweisen müssen. Die Entscheidung fällt den Studierendenschaften schwer. Weiter auf das Semesterticket zu bauen ist rechtlich heikel: „Falls jemand gegen das Semesterticket klagt und die Klage erfolgreich ist, ist die Studierendenschaft in der Haftung“, sagt der AStA-Vorsitzende der TU Dortmund, David Wiegmann. Die Verträge mit dem Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) vorsorglich zu kündigen hält Wiegmann aber auch für ein Wagnis: „Ob wir dann später problemlos wieder zum Semesterticket zurückkehren können, ist ungewiss.“ Dass das 49-Euro-Ticket in den kommenden Jahren erheblich teurer wird, ist sehr wahrscheinlich. Deshalb nennen es Ver­kehrs­po­li­ti­ke­r:in­nen auch lieber „Deutschlandticket“. Fakt ist: Eine erfolgreiche Klage gegen das Semesterticket träfe den AStA Dortmund hart. Und dieses Szenario ist laut einem Rechtsgutachten, das Wiegmann und seine Kom­mi­li­to­n:in­nen im April in Auftrag gegeben haben, durchaus möglich. Im schlimmsten Fall könnten alle Studierenden der TU Dortmund ihren Beitrag für das Semesterticket über 220,02 Euro vom AStA zurückverlangen. Das macht bei 32.476 Studierenden einen Schuldenberg von mehr als 7 Millionen Euro. „Wir wären auf einen Schlag zahlungsunfähig“, so Wiegmann. Möglicherweise ist er als AStA-Vorsitzender auch persönlich haftbar. Solche Sorgen haben Stu­die­ren­den­ver­tre­te­r:in­nen in ganz Deutschland. Auch Mathis Lorenzen vom AStA der Uni Hamburg ist sich sicher: „Es finden sich immer Leute, die klagen“. Als einzigen Ausweg sieht der 27-Jährige ein Semesterticket, das preislich deutlich unter dem 49-Euro-Ticket liegt. Aktuell zahlen Hamburger Studierende etwas mehr als 30 Euro pro Monat. Ob das günstig genug ist, um vor Klagen zu schützen, ist unklar. „Das ist einer der Gründe, weshalb wir schon lange ein 9-Euro-Ticket für Hamburg fordern“, so Lorenzen. Alle Verhandlungen mit dem Hamburger Verkehrsverbund (HVV) über ein günstigeres Semesterticket blieben bislang aber ergebnislos. Ähnliches berichtet Wiegmann auch von den Verhandlungen diverser ASten im Raum Dortmund mit dem VRR. Die beiden Studenten hoffen jetzt auf eine politische Lösung. Eine Möglichkeit wäre ein deutschlandweit einheitliches Semesterticket. Die Studierendenvertretungen in NRW haben bereits im März eine Petition für so einen Fahrausweis zu einem Preis von 21,50 Euro im Monat gestartet, also 129 Euro pro Semester. Die saarländische Verkehrsministerin Petra Berg (SPD) hat einen Preis von 29,40 Euro pro Monat empfohlen. Doch bislang bewegt sich auf politischer Ebene nichts. Die Konferenz der Lan­des­ver­kehrs­mi­nis­te­r:in­nen hat im März eine Übergangslösung vorgeschlagen. Danach sollen die Studierenden einen Aufpreis auf das Semesterticket zahlen können, um es zum Deutschlandticket upzugraden – was viele Bundesländer mittlerweile anbieten. Außerdem haben die Ver­kehrs­mi­nis­te­r:in­nen eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die eine langfristig tragfähige Lösung erarbeiten soll. Ergebnisse gibt es noch nicht. „Daran wird gearbeitet“, sagt der Sprecher des NRW-Verkehrsministers Oliver Krischer (Grüne), der Vorsitzender der Verkehrsministerkonferenz ist. „Ein Deutschland-ticket für 49 Euro können sich Studierende nicht leisten“Walter Rosenthal, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sieht sich nicht als Ansprechpartner in dieser Frage. „Eine Bundeszuständigkeit ist nicht gegeben“, sagt eine Ministeriumssprecherin. Aus Sicht des Bundes sei eine einheitliche Lösung zu begrüßen. „Eine Einigung auf Länderebene gab es bisher allerdings nicht“, erklärt sie. Unterstützung erhalten die Studierenden vom Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Walter Rosenthal: „Ein Deutschlandticket für 49 Euro können sich Studierende nicht leisten.“ Angesichts der Inflation und der viel zu niedrigen Bafög-Sätze seien auch 30 Euro „ein hoher Preis“, so Rosenthal, Rektor der Uni Jena. Da die Studierenden damit aber eine bessere Gegenleistung bekämen als bisher, wäre das jedoch ein „annehmbarer Kompromiss“. Ob eine Entscheidung rechtzeitig bis zum Herbst steht, ist völlig offen. Für viele Studierendenschaften dürfte das zu spät sein. An der TU Dortmund will das Studierendenparlament in zwei Wochen über das Semesterticket abstimmen. Bleibt der Vertrag bestehen, wird es für den AStA-Vorsitzenden David Wiegmann ein spannendes Wintersemester.
Ralf Pauli
Langsam wird die Zeit knapp: Die Landesverkehrsminister finden keine Lösung für den Fortbestand des Semestertickets, der Bundesverkehrsminister fühlt sich nicht zuständig
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Statt Russenmafia - taz.de
Statt Russenmafia Im Klischee verrannt: Ist die Berliner jüdische Gemeinde krimitauglich? Eine Polemik zum nächsten SFB-Tatort „Tod im Jaguar“  ■ Von Marcus Hertneck In der guten alten Zeit lachten wir noch unsere rauhen Lacher über die Kastratensänger in den deutschen Feuilletons, als sie uns den Begriff der political correctness lehren wollten. Bunter Mann dürfe man nicht mehr sagen, so schrieben sie, sondern: African Native, und Roma und Sinti seien auch keine umherziehenden Zigeuner. Und so ging das in einem fort. Wir Ossi-Wessis, Fixer, Techno-Popper und Yuppies, Singles und Junkies konnten da nur dämlich grienen. Political correctness im wilden Land der Tribes und Zielgruppen? Wie soll das gehen? Heute aber bleibt einem das Lachen irgendwo stecken. Eine Art von political barbarism scheint sich durchzusetzen. Inzwischen sagt keiner mehr Bundesrepublik, weil es jetzt Standort D heißt. Auch so herrliche Wörter wie Kapitalist und Proletarier sind verschollen. Buchstabenreihen wie „links“ und „rechts“ haben sich ins Bedeutungs-Off geschwungen. Und nun wollen sie im Fernsehen auch noch das Wörtchen „Diskriminierung“ tilgen. Zwei Stern-Journalisten haben sich für ihr allererstes Drehbuch einen „Tatort“ einfallen lassen. Das stimmt gütig. Allererst! Da wird natürlich viel und wild geplottet. Das muß man verstehen. Aber Peter Sandmeyer und Raimund Kusserow haben eine recht eigenartige kriminelle Energie in ihrem Büchlein walten lassen. Arglos schrieben sie von einem Berliner Juden als einem Opfer-Täter, der im Import von Geld und im Export von Waffen nach Arabien tätig ist. Ein hochgeachtetes Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Berlin, das vordergründig Synagogen bauen läßt und hinterrücks seine wunderschöne Tochter enterbt. Einer, der von sich selbst sagt, er lebe in einem „goldenen Käfig“ – und dafür andere darben läßt. Zum guten Schluß soll der Mann dann als Opfer seiner eigenen Intrigen versuchen, uns mitleidig zu stimmen... Mehr soll hier nicht verraten werden. Schließlich wird das Stück erst am 9. Juni versendet. Nur soviel: Der Film ist nicht gerade gut. Und er ist, so möchte man wohl meinen, politisch inkorrekt (ha, jetzt ist es aufs Papier hingewühlt!). Die Grundstory hätte in so ziemlich allen kriminellen Milieus spielen können, die Berlin zur Zeit zu bieten hat: das Postlermilieu, die BVG-Seilschaften, die Schwabenmafia etc. Warum also wählten die Autoren gerade das Jüdische als Krimi-Ornament? Um in uns Zuschauern den Hauptstadt-Suspense zu erzeugen? Justus Boehnke, der Leiter der „Tatort“-Abteilung des SFB, meinte dazu in einer ersten Pressemitteilung, daß seine Autoren nicht die üblichen Klischees von Stasi und Russenmafia bedienen wollten. „Gleich der erste Fall spielt in Berlins jüdischer Gemeinde, die in Deutschland einzigartig ist. Im Moment hat sie ungefähr 200.000 Mitglieder, wobei die Zahl weiterhin sprunghaft ansteigt, vor allem durch den Zuzug aus Ost-Europa. Da verbirgt sich eine politische Problematik, mit der man sich einfach auseinandersetzen muß.“ Der SFB hat diesen Bericht in Hamburg verteilt und rasch wieder einstampfen lassen, zumal der „Druckteufel“ aus 20.000 Juden flotte 200.000 gemacht hatte. Und das, wo diese Gemeinde zur Zeit nicht mal über 20.000, sondern nur über etwas mehr als 10.000 Mitglieder verfügt. Der Druckteufel war also zudem schlecht informiert. Politisch korrekt, wie wir bewegt sind, bohren sich diese Fragen ins Hirn: Welches Klischee soll uns da das heißgeliebte Stasi-Russen-Klischee ersetzen? Eine „einzigartige“ jüdische Gemeinde, die da „sprunghaft“ wächst und uns politisch „Probleme“ machen will? Was für eine neue Sorte Bösmensch soll das sein, die da unseren SFB-Kommissar Winfried Glatzeder narrt und deppt? Die Redaktion, der Regisseur Jens Becker, auch der Darsteller des reichen Juden, Ivan Desny, haben indes alles unternommen, um die Drehbuchfigur des undurchsichtigen Spekulanten-Juden möglichst freundlich und individuell erscheinen zu lassen. Leider nur geht dieses nette Zurechtschminken eines Bösewichts auf Kosten der Spannung. Denn auch in schlechten Krimis ist es üblich, daß der Gegenspieler des Kommissars dämonische Züge tragen muß. Krimis arbeiten mit Alltagsmythen. Deswegen funktioniert dieser auf honorig getrimmte SFB-Waffenschieber, Töchter-Enterber und Spekulant auch nicht so richtig. Er zeugt nur von einer heillosen Vermischung haschender Polit-Mythen aus der Unzeit und dem unmöglichen Bemühen, uns das auf eine politisch korrekte Weise verkaufen zu wollen. Aber! Der politische Anstand, den wir in unseren Liedern besingen, ist keine Formsache, die da mäntelt. Political correctness ist von ihrer Wurzel her der Ausdruck von Feinsinn, von Neugier und von historischem Bewußtsein, auch in unseren rauhen Popzeiten. Und an diesem SFB-„Tatort“ ist was so tumb wie faul, daß es einem weh tun kann.
Marcus Hertneck
Im Klischee verrannt: Ist die Berliner jüdische Gemeinde krimitauglich? Eine Polemik zum nächsten SFB-Tatort „Tod im Jaguar“  ■ Von Marcus Hertneck
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berliner szenen Mittelstandslatein - taz.de
berliner szenen Mittelstandslatein Die Anzüge sitzen nicht Während wir bescheiden von dem leben, was uns die Umverteilungspolitik an Brosamen vom Tische der Wohlhabenden fegt, sorgen sich andere darum, dass es weiter aufwärts geht. Früher taten sie das anderswo und ließen uns damit in Ruhe, doch Dank Berlin-Hype und Aufschwung bekommt man immer häufiger Gelegenheit, Vertreter des berühmten Mittelstandes aus nächster Nähe zu erleben. Neulich zum Beispiel in einem Restaurant in Schöneberg. Drei mittelalte Männer mit edlen Uhren und teuren, aber schlecht sitzenden Anzügen. Bei Bier und Schlachteplatte geht es um nichts weniger als den Standort Deutschland: „Das Land ist noch lange nicht über den Berg. Wir brauchen Reformen!“ „Die ganzen Verordnungen hemmen nur, in Rumänien arbeiten sie auch ohne Filtersystem, da dürfen wir uns nicht unflexibel zeigen.“ „Unsere Leute müssen lernen, sich in Zeiten der Globalisierung nach der Decke zu strecken – ein bisschen Staub schadet dabei niemand.“ „Wir stehen schließlich international mit im Wettbewerb, die Wärmestuben der sozialen Marktwirtschaft einmal gründlich auszukehren! Die meisten wollen doch gar nicht arbeiten.“ „Sorry, aber bei meinen Renditeerwartungen sind Lohnerhöhungen von zwei bis drei Prozent einfach nicht drin: Inflationsausgleich maximal – sonst hat sich das mit Exportweltmeister!“ „Ich sag mal, alles deregulieren. Nur Wirtschaft macht Wirtschaft. Die ganzen Vorschriften nützen nur den Chinesen.“ „Und Qualitätskontrolle steigert bloß den Ausschuss.“ „Der Staat soll für die Infrastruktur sorgen, verdienen müssen wir – Unternehmertum muss sich doch wieder lohnen.“ „Genau! Und Geldverdienen wieder Spaß machen.“ – „Die Rechnung bitte!“ CARSTEN WÜRMANN
CARSTEN WÜRMANN
Die Anzüge sitzen nicht
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100 Jahre Oktoberrevolution: Bei Lenin wird jetzt gejodelt - taz.de
100 Jahre Oktoberrevolution: Bei Lenin wird jetzt gejodelt In Sankt Petersburg begann der Siegeszug der Bolschewiki. Im neuen Russland spielt die Revolution keine große Rolle mehr. St. Petersburg, wo die Revolution 1917 begann Foto: reuters ST. PETERSBURG taz | Auf der Haseninsel ist es eng. Touristen schieben sich an den Mauern der Peter-und-Paul-Festung in Richtung der Kathe­drale mit dem 123 Meter hohen vergoldeten Spitzturm und wieder zurück. Die Anlage ist neben dem Newski-Prospekt das touristische Zentrum St. Petersburgs. Die Petersburger, die sich an den Sandstränden der Newa die letzten warmen Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen lassen wollen, mag das Gedrängel nerven. Sie sehen wahrscheinlich längst nicht mehr, welcher Schund an den Souvenirständen auf der Festungsinsel verkauft wird. Und vielleicht haben sie sich daran gewöhnt, dass es tatsächlich Männer gibt, die mit T-Shirts durch die Sehenswürdigkeiten laufen, auf denen Russlands Präsident Wladimir Putin mit ­Pilotenbrille so gar nicht cool wirkt, weil sich sein Antlitz, über einem dicken Bauch gespannt, doch arg verzieht. Ein paar Meter weiter, unweit der gewaltigen Troizki-Brücke über die Newa, warten die Angestellten des Museums für politische Geschichte oft minutenlang, bis sie wieder ein Ticket verkaufen können. Die Ausstellung, die zum 100. Revolutionsjubiläum aufgebaut wurde, ist alles andere als überlaufen. Zu ­Sowjetzeiten war mehr los in der Jugendstilvilla, die das Museum beherbergt. Da hieß die Stadt noch Leningrad, und das Haus war eine der größten Kultstätten auf den Pilgerwegen der Gläubigen der Sowjetreligion. Hier hatte Wladimir Iljitsch Lenin sein Arbeitszimmer, als sich die Bolschewiken im Revolutionsjahr 1917 aufmachten, die Macht an sich zu reißen. Wer mit einer Reisegruppe durch das sowjetische Leningrad unterwegs war, dem wurde vor allem der Balkon des Hauses gezeigt. Von dort aus sprach Lenin zu den Massen, nachdem er im ­April 1917 aus dem Exil in die revolutionäre Hauptstadt Russlands zurückgekehrt war. Umstrittener Film um Zar-Mätresse Heute macht die revolutionäre Villa wieder von sich reden. Das liegt an der Frau, der sie gehörte, bevor die Bolschewiken das Haus zur ­Revolutionszentrale umfunktionierten: Matilda Kschesin­skaja. Ein Historienschinken, der das Leben der Primaballerina des Mariinski-Theaters nachzeichnet, soll Ende des Monats in den russischen Kinos anlaufen. Die orthodoxe Kirche will das unbedingt verhindern. Denn die ­Tänzerin war lange die Mätresse des jungen Nikolaus, des letzten russischen ­Zaren. Die wilden Liebesszenen in dem Film passen nicht zu dem Bild, das die Kirche vom letzten Herrscher der ­Dynastie der Romanows zeichnet. Sie hat ihn gar heiliggesprochen und so ihrem Wunsch nach Wiederherstellung des russischen Reiches nach vorrevolu­tionärem Muster Ausdruck verliehen. In Staatspräsident Wladimir Putin glaubte die Kirche lange einen Verbündeten für die Erfüllung dieser Wünsche zu haben. Er hat der Kirche in der Tat viel an Gebäuden und Ländereien zurückgegeben, was ihr die roten Revolutionäre einst abgenommen hatten. Bei der Verfolgung kirchenkritischer Künstler und Aktivisten traten die Truppen des Innenministeriums wie willfährige Vollstrecker der Urteile von Patriarch Kyrill I. auf. Doch dem Wunsch, den Film verbieten zu lassen, kamen staatliche Behörden bislang nicht nach. Putins imperiale Politik, der vom Präsidenten so gern zur Schau gestellte Kreml-Prunk, all das mag an vorrevolutionäre Zeiten erinnern. Doch Putin ist kein Zar. Demos gegen die Rückgabe der Kathedrale Das gibt all denen in St. Petersburg Hoffnung, die gerade erleben, dass die Rückgabe der Isaak-Kathedrale an die Kirche nicht vollzogen wird, obwohl sie schon im Januar beschlossen wurde. Einmal in der Woche versammelt sich eine Handvoll Aktivisten und protestiert dagegen, dass aus dem staatlichen Museum, das die Isaak-Kathe­drale heute ist, wieder ein Gotteshaus und nichts als ein Gotteshaus wird. Auch wenn die Pläne für ein Referendum über die Zukunft des monumentalsten Sakralbaus in der Stadt abgeschmettert wurden, so stellen die Aktivisten doch fest, dass ihr Engagement nicht folgenlos bleibt. So ganz soll der Rote Oktober eben doch nicht rückgängig gemacht werden. Auch das riesige Lenin-Denkmal vor dem Finnischen Bahnhof wird so schnell niemand einreißen. Der Platz vor dem Bahnhof wird für die Feiertage des neuen Russland genutzt. Zum Tag der Russischen Fahne am 22. August spielt eine Blaskapelle aus Tirol schmissige Marschmusik zu Füßen Lenins. Und als der Kapellmeister dann auch noch anfängt zu jodeln, ist die Begeisterung der 100 versammelten Fahnenaktivisten aus dem Stadtteil groß. Was Lenin davon gehalten haben könnte, hat sich wohl keiner der Versammelten gefragt. St. Petersburg hat nie aufgegeben Natürlich gibt es auch die ganz große Reichsschau. Wenn des Großen Vaterländischen Kriegs gedacht wird, des Zweiten Weltkriegs, scheint kaum einer der 5 Millionen Einwohner der zweitgrößten Stadt Russlands zu fehlen. Eine Million Menschen verhungerten während der fast 900 Tage dauernden Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht. Als Heldenstadt wird St. Petersburg bis heute gefeiert, weil die Stadt sich nicht aufgegeben hat. Das Gedenken an den siegreichen Krieg gegen den Faschismus ist das ideologische Fundament für Wladimir Putins imperiales Denken. Ein riesiges Museum, das an die Zeit der Belagerung erinnert, soll hier demnächst errichtet werden. Mit dem Entwurf für einen tempel­artigen Monumentalbau von sowjetischen Ausmaßen hat Architekt Nikita Jawein gerade den städtischen Wettbewerb gewonnen. Wie die Geschichte der siegreichen Armee im Kampf gegen die Deutschen erzählt wird, wird ganz oben im Staat entschieden. Wer fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Stadt der Wehrmacht zu übergeben, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, bekommt Ärger. So ist es dem TV-Sender Doschd gegangen, der nur noch im Internet senden darf, seit er genau das bei einer Straßenumfrage von den Menschen wissen wollte. Putin, der neue Revolutionär? Für die Geschichte der Revolution gibt es dagegen kaum Vorgaben. Im Museum für politische Geschichte enthalten sich die Ausstellungsmacher dennoch einer Wertung. Mit der Revolution sei ein neuer Staat entstanden, der viel zur Veränderung in der Welt beigetragen habe. Dem wird gewiss keiner widersprechen können. Und doch wird eines klar: Für die Identität des neuen Russland spielt die Revolution nur eine untergeordnete Rolle. Wer die Ausstellung verlässt, kommt an einem Bildschirm vorbei, auf dem der noch junge Wladimir Putin spricht. Es ist eine Aufzeichnung der Ansprache, die er gehalten hat, nachdem ihm Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 die Amtsgeschäfte übergeben hat. Gegenüber laufen auf Monitoren Filmschnipsel, die daran erinnern, wie Jelzin 1991, auf einem Panzer stehend, das Volk zum Widerstand gegen die kommunistischen Hardliner aufruft. Putin – ein Kind der Revolution, einer anderen Revolution.
Andreas Rüttenauer
In Sankt Petersburg begann der Siegeszug der Bolschewiki. Im neuen Russland spielt die Revolution keine große Rolle mehr.
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