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Eine Frage der Macht
Demonstration für Pressefreiheit in Budapest am 16.10.2016, eine Woche nach Schließung der Tageszeitung "Nepszabadsag". (dpa / picture alliance / Mohai Balazs) 8. Oktober 2016: Tausende Ungarn haben sich vor dem Parlament in Budapest versammelt. Sie rufen: "Orbán, hau ab". Zu der Demonstration hatte die Redaktion der linksliberalen Tageszeitung "Népszabadság" aufgerufen, der auflagenstärksten im Land. Es hatte ein Erdbeben in der ungarischen Medienszene gegeben. Der Wiener Osteuropa-Experte Paul Lendvai ist entsetzt. "Es war ein Mord mit Gummi-Handschuhen. Und dadurch wird jetzt die wichtigste Stimme der kritischen Intelligenz verstummt. Márton Gergely, damals stellvertretender Chefredakteur der Zeitung, spricht von einem Putsch. "Népszabadság" ist tot. Aus seiner Sicht ein Riesen-Verlust. "Ich glaube, das schadet Ungarn, das schadet der Demokratie. Und es nützt einzig und allein Orbán." Nichts funktioniert am 8. Oktober 2016 Klara Kovács beginnt am Morgen des achten Oktober 2016 ihren Dienst in der Online-Redaktion der "Népszabadság". Einst Organ der Kommunistischen Partei, hat sich das Blatt seit der Wende zu einer linksliberalen Qualitätszeitung gemausert und ist gerade umgezogen. Journalistin Klára Kovács, hat beim staatlichen Fernsehen und Népszabadság gearbeitet. (ARD-Wien / Stephan Ozsváth) "Am Morgen des 8.Oktober hatte ich Dienst. Das Computersystem funktionierte nicht – ich dachte, die Informatiker hätten die Kabel heraus gezogen. Ich versuchte, ins System zu kommen, nicht mal Facebook ließ mich rein. Dann dachte ich: Gut, lese ich die Mail des Chefredakteurs. Das klappte auch nicht. Und da wurde mir klar: Hier stimmt etwas nicht. Ich rufe den Online-Chef an. Der fragt: War der Bote bei Dir nicht? - Was für ein Bote? Dann hat er den Brief vorgelesen. Ich war wie erstarrt. Denn niemand hatte uns etwas gesagt." Der Brief ist die Beurlaubung. Und ein Maulkorb. "Népszabadság" ist trotz der niedrigen Auflage von nicht einmal 40.000 Exemplaren Spitzenreiterin in Ungarn. Denn der Markt ist klein. Népszabadság und ein Dutzend Regionalzeitungen gehören dem Verlag "Mediaworks". Verleger ist der Wiener Finanzinvestor Heinrich Pecina. Welche Rolle spielte die Regierungspartei Fidesz beim Verkauf des Verlages? Stellvertretender Chefredakteur der "Népszabadság" ist im Oktober noch Márton Gergely. "Wir wussten, dass etwas mit der Firma Mediaworks bevorsteht, da sie vier neue Regionalzeitungen kaufen konnte – mit eindeutiger Hilfe von Fidesz und den offiziellen Stellen. Und wir haben uns gedacht: Wenn Fidesz Anstalten macht, dass Mediaworks größer und profitabler wird, dann ist das wie immer – aus Eigennutz." Zeitung geriet unter politischen Druck Das sollte sich schon bald zeigen. András Pethö ist Gründer von "Direkt 36", einem Zusammenschluss von Investigativ-Journalisten aus Budapest. Wochenlang recherchierten er und seine Kollegen den Tod der "Népszabadság". Proteste gegen die Schließung der ungarischen Zeitung "Nepszabadsag". (imago / PuzzlePix) "Zwar waren alle überrascht, wie die Zeitung geschlossen wurde. Aber dass etwas mit der Zeitung passieren würde, sie unter politischen Druck geraten würde - dafür gab es schon länger Anzeichen. So gab es schon länger politisch heikle Themen, mit denen sich die Redakteure nicht in der Tiefe befassen konnten. Und aus politischen Kreisen kamen schon seit Monaten Signale, dass etwas mit dem Verlag, mit der Zeitung geschehen würde. Das heißt: Da steckte die Politik dick drin." Mitte Oktober 2016 veröffentlicht die Budapester Börse auf ihrer Internet-Seite eine kurze Notiz: Mediaworks gehört jetzt Opimus – ein verschachteltes Firmengeflecht, mit Offshore-Konten auf den Seychellen – die Fäden laufen allerdings bei einem Mann zusammen, und zwar im Heimatdorf der Orbáns. Beim Bürgermeister Lörincz Mészáros. Der frühere Gasinstallateur gilt als loyaler Strohmann des Premiers Orbán. Fidesz-Vize Szilárd Németh - Orbáns Mann für´s Grobe – konnte seine Schadenfreude kaum unterdrücken. "Es wurde höchste Zeit, dass Népszabadság geschlossen wird. Ich werde deshalb keine Krokodilstränen vergießen." Kein Wunder: Hatte die links-liberale Zeitung die Regierung doch mit vielen Enthüllungsgeschichten geärgert. Medienforscherin Agnes Urban beschreibt den Verlust für die ungarische Medienlandschaft so. "Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Zum einen, weil jedes Blatt, das verschwindet, weniger Öffentlichkeit bedeutet. Zum anderen war "Népszabadság" die größte politische Tageszeitung im Land. Und in der letzten Zeit haben die Journalisten solche Geschichten in die Öffentlichkeit geworfen, an denen dann über Wochen auch andere Medien gearbeitet haben, kurz: Eine ernsthafte Investigativ-Tätigkeit begann. Diesen Schaden können wir noch gar nicht ermessen." "Niemand ist sicher" Ágnes Kunhalmi, Abgeordnete der Sozialisten, sieht in dem Aus für Népszabadság eine Botschaft an alle Journalisten in Ungarn. "Es sollte jedem klar sein: Das, was mit Népszabadság geschehen ist, und mit ihren Journalisten – das kann jeden Journalisten in Ungarn betreffen. Niemand ist sicher. Was in Orbáns Ungarn geschieht, ist ohne Beispiel. Leider ist es eine Kopie der Putin-Welt in Russland." Népszabadság war nur der Anfang. Getreue der Regierung gehen seitdem auf Einkaufstour. Je ein landesweiter privater Fernseh- und Radiokanal gehören jetzt einem Regierungs-Beauftragten. Orbáns Hofhistorikerin kaufte eine angesehene Wochenzeitung und Orbáns Duz-Freund Mészáros erweitert sein Medien-Portfolio weiter. Auch der rechtsradikale Sender "Echo TV" gehört jetzt ihm. "Ich will ein gutes Fernsehen machen, eines, das man anschauen kann. Eines, das die Regierung im Wahlkampf unterstützt." Vor der Parlamentswahl 2018 sollen offenbar möglichst viele Medien die Melodie der Regierung pfeifen. Die Begründung für die Einkaufstour lieferte Premier kürzlich im Echo TV-Studio. Der ungarische Premierminister Viktor Orban will, dass die Medien nach seiner Pfeife tanzen. (AFP) "Es gibt eine Informationsverzerrung. Die Leute wissen nicht mehr: Was will die Regierung wirklich? Da gibt es eine Störung. Der Grund dafür ist, dass wir unsere Medien verloren haben. Es sind nur noch wenige Medien verblieben, die den Leuten in dieser Hinsicht helfen". Regierung kontrolliert die meisten Medien Orbáns Sicht ist völlig verzerrt, findet Agnes Urbán: Schließlich kontrolliert die Regierung die meisten Medien und den Anzeigenmarkt. Die kritischsten Medien sind Online-Portale wie Index, Átlátszó, Direkt 36 oder 444. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden. Aber Hauptinformationsquelle sind herkömmliche Medien – vor allem auf dem Land – meint Medien-Forscherin Ágnes Urbán. "Das Publikum in Ungarn informiert sich vor allem aus dem Fernsehen. RTL, TV2 und die staatlichen Kanäle sind die wichtigsten Informationsquellen. Die staatlichen Kanäle sind Sprachrohr der Regierung. Und auch TV2 sendet seit dem Eigentümer-Wechsel Regierungspropaganda. Der Besitzer ist ein Regierungsbeauftragter. Unter den Informationsquellen mit der größten Reichweite ist RTL Klub das einzige unabhängige Medium geblieben." Die politische Opposition hatte der Regierung bislang das Medien-Feld überlassen. Jetzt steigen die Sozialisten wieder ein. Ein Tropfen auf den heißen Stein. So sehen also Kriegsgewinnler aus: ein heruntergekommener Siedlungsbau in der Nähe des Budapester Stadtparks. Auf dem verwitterten Klingelkästchen klebt das Logo der Zeitung in Blau: "Népszava", zu Deutsch: Volksstimme. Die Treppe ist etwas schmuddelig, an den Wänden hängen gerahmte Titelseiten aus vergangenen Zeiten. "Ungarn: Republik" lautet eine Überschrift der Nachkriegszeit. Eine Ausgabe von 1922 berichtet vom Ringen der Zeitung um die Pressefreiheit. "Népszava" ist eine sozialdemokratische Zeitung, 1877 gegründet. Zu Ostblock-Zeiten war sie ein Gewerkschaftsblatt. Heute ist die Auflage winzig. Chefredakteur Péter Németh hofft, die Lücke zu füllen, die das linksliberale Konkurrenzblatt hinterlassen hat. Népszava-Chefredakteur Péter Németh. (ARD-Wien / Stephan Ozsváth) "Die "Népszabadság" gibt es ja nicht mehr. Davon profitieren wir. Denn auf dem Markt sind wir jetzt das einzige linke Blatt. Ohne, dass wir groß am Inhalt etwas ändern mussten, hat sich unsere verkaufte Auflage verdoppelt. Wir verkaufen jetzt etwa 20.000 Stück, das ist auf dem ungarischen Markt viel. "Népszava" will die entstandene Lücke ausfüllen Eine Gruppe um den ehemaligen Schatzmeister der Sozialisten hat die Zeitung gekauft. Investor László Puch. "Die Richtung ändert sich nicht. Es wird ein Statut geben. Es gibt nur eine Vorgabe: Rationales Arbeiten. Eine Auflage von 30.-35.000, Zielgruppe: Népszabadság-Leser. Wenn die Gesamtredaktion steht, und sich die Qualität des Blattes in Richtung Presse des 21.Jahrhunderts bewegt - dann kann sich die Auflage von jetzt 20.000 auf 35.000 steigern". Lange Zeit hatten die Sozialisten sich aus dem ungarischen Medienmarkt immer mehr zurückgezogen. Die Folge: Die Regierung dominiert den Werbemarkt, Regionalblätter, Anzeigenblätter, elektronische Medien. Péter Németh. "Der Einfluss der Regierung auch in der Provinz ist unglaublich gewachsen. Die heutige Regierung hält die Medien für außerordentlich wichtig. Viktor Orbán hat sich beklagt, sie hätten keine Medien, obwohl das wichtig sei. In der Hinsicht hat er viel klarere Vorstellungen über die Bedeutung der Medien als jeder Oppositionspolitiker. Sein Ziel war, sowohl in den elektronischen Medien, als auch im Print-Bereich bis zu 95 Prozent des Landes abzudecken. Indem er jetzt auch die Regionalblätter aufgekauft hat, wird die Information auch auf dem Land sehr einseitig". Vorgefertigte Fragen, kein Nachhaken Es ist Freitag. Im staatlichen Kossuth Radio läuft die Sendung "180 Minuten". Viktor Orbán spricht hier regelmäßig, Spötter nennen diese Auftritte "Freitagsgebet". Klára Kovács ist Nachrichten-Profi. "Ja, ich würde das eher anders nennen, ich sage aber nicht wie…(lacht). Es ist völlig klar, dass die Fragen vorher abgesprochen wurden, auf die sich der Ministerpräsident vorbereitet. Da gibt es keine Zwischenfragen, à la 'Herr Ministerpräsident, Sie haben hier einen Halbsatz fallen lassen, lassen Sie mich da mal nachhaken.' Da gibt es acht Fragen, die reißt der Moderator runter und Viktor Orbán sagt das, worauf er sich vorbereitet hat". Die Sendung "180 Minuten" war nicht immer mediale Bühne für den Premier. Am Morgen, nachdem die Regierung 2010 das Mediengesetz beschlossen hatte, war sie noch ein Hort der Rebellion. Die Morgen-Crew sendete eine Schweigeminute. Damals begannen die Säuberungswellen in den staatlichen Medien. Die Sender wurden unter einem Dach zusammen geführt. Hunderte unliebsame Redakteure wurden entlassen, auch Klára Kovács, die 13 Jahre beim ungarischen Fernsehen gearbeitet hatte. "Die blieben, die ein Blatt Papier bekamen. Die, die einen Umschlag mit einem Stoß Papieren bekamen, flogen raus. Wir wurden in Gruppen eingeteilt, jeder hatte eine Viertelstunde. Du bist rein, hast dich hingesetzt, vor dir drei Leute, und dann: 'Du kriegst ein Papier, du einen Umschlag.' Mich hat der Sportchef rausgeschmissen. Mit dem hatte ich nie vorher zu tun gehabt. Ich fragte: 'Sag mir mal, warum?' Sagt er: 'Wir kennen uns ja gar nicht. Ich kann Dir nichts dazu sagen.' Wer bleibt, bekommt einen Vertrag bei MTVA. Das ist jetzt die Nachrichten-Zentrale Ungarns. MTI, die einzige Nachrichtenagentur des Landes, liefert das Rohmaterial. Das wird dann in der Nachrichtenzentrale weiter verarbeitet. Korrespondent mit Maulkorb János Kárpáti erzählt von seinem beruflichen Werdegang. Der Nachrichtenredakteur hat 34 Jahre lang für MTI gearbeitet. Er hat die Wendezeit beobachtet, er war für die ungarische Nachrichtenagentur Auslandskorrespondent in Prag, Washington und zuletzt in Brüssel, erzählt er. Auch er wurde gefeuert. Klubradio-Nachrichtenredakteur János Kárpáti schreibt Nachrichten. (ARD-Wien / Stephan Ozsváth) "Es gab immer mehr Vorgaben. Wenn ich zum Beispiel aus Brüssel Berichte mit Bezug zu Ungarn schickte, dann durfte die nicht jeder Redakteur bearbeiten, sondern nur bestimmte. Und die haben auch nicht selbst entschieden, sondern schickten die Texte auch weiter und warteten auf die Antwort: So kann es raus. So nicht. Ich wurde zum Beispiel kritisiert, weil ich in einem Bericht über eine Europaparlamentsdebatte mehr Sozialdemokraten und Liberale als Christdemokraten zitiert hatte". Ein Interview mit MTVA kommt nicht zustande. Per Mail antwortet der Pressesprecher auf die Anfrage: "Vonseiten der MTVA können wir ein Gespräch nur unter der Bedingung führen, dass ich das Material vor der Ausstrahlung sehen kann. Und damit wir uns verstehen: Weder ich, noch die öffentlich-rechtlichen Medien werden an einem Beitrag mitwirken, dessen Botschaft oder Fokus ist, dass die Pressefreiheit in Ungarn in Gefahr ist." Das Interview mit MTVA findet nicht statt. János Kárpáti hat jetzt einen neuen Job. Er spricht die Nachrichten beim Klubrádió. Eine weitere verbliebene Nische kritischer Berichterstattung. Klubrádió hat jahrelang gegen die Staatliche Medienbehörde prozessiert – um eine Dauerfrequenz. Geschäftsführer András Arató erinnert sich. "In dieser Zeit ging es zwischen Medienbehörde und dem Klubradio hin und her: Die Sendelizenz wollten sie nicht verlängern, eine andere, die wir vor dem Regierungswechsel bekommen hatten, wollten sie uns nicht geben. Es waren dreieinhalb Jahre voller Unsicherheit: Verlängern sie nun die vorübergehende 60 Tage-Lizenz, oder nicht? Man kann sich vorstellen, wie viele Werbeaufträge man bekommt, wenn man dem Kunden sagt: 'Ich kann den Auftrag zwar annehmen, aber ich weiß nicht, ob ich die Werbung ausstrahlen kann.'" Das Klubradio hat nur noch eine Sendelizenz für Budapest. (ARD-Wien / Stephan Ozsváth) Bußgelder und Abmahnungen für kritische Medien Zusammen mit dem Mediengesetz installierte die Regierung Orbán 2010 ihre Leute in der Medienbehörde. Sie vergeben Lizenzen, strafen kritische Medien ab, verhängen Bußgelder. Immerhin: Die Prozesse gegen die Medienbehörde hat Klubradio gewonnen. Der regierungskritische Sender kann weitermachen mit einer Sieben-Jahres-Lizenz. Aber die gilt nur noch für Budapest. Ein Dutzend Regionalfrequenzen verlor Klubrádió, auch viele Werbekunden. Eine "sanfte" Zensur, so das Meinungsforschungsinstitut "Mérték". In einem alten Mietshaus in Budapest hat eines der unkonventionellsten Medien Ungarns seinen Sitz. Draußen tost der Autoverkehr. Im Flur hängen Rennräder von der Wand. In dieser in die Jahre gekommenen Altbau-Wohnung arbeitet die Redaktion des Online-Portals 444.hu. Chefredakteur Péter Új teilt sich ein kleines Zimmer mit zwei Kollegen, einer schneidet gerade ein Video. Die Redaktionsräume von 444.hu. (ARD-Wien / Stephan Ozsváth) "Wir sind von Print zu Online geflüchtet, ich habe früher bei Népszabadság gearbeitet. Auch einige andere. Wir dachten damals schon, die Politik kommt hier zu nah ran. Wir wollten ein mutiges Medium aufbauen, das unabhängiger, außen stehend, in alle Richtungen kritischer ist. Das hat den Sound von 444 ausgemacht, eine scharfe, kritische Stimme". Regierungskritik wandert ins Internet In den letzten Jahren sind Online-Medien wie Pilze aus dem Boden geschossen. Regierungskritik wandert ins Internet. Aber, so gibt Medienforscherin Ágnes Urbán zu bedenken. "Es gibt Pressefreiheit in dem Sinne, dass nicht alle Medien geschlossen wurden. Es gibt nicht diese ‚Die-Partei-Bestimmt-Alles-Ordnung‘ wie vor der Wende. Aber: Die meisten Mediennutzer haben nur Zugang zu einem sehr gelenkten und manipulierten Medienangebot".
Von Stephan Ozsváth
Wer in Ungarn Zeitung liest oder Radio hört, wird nur selten auf regierungskritische Berichte stoßen. Premier Orbán und seine Regierung kontrollieren einen Großteil der Medienlandschaft. Die Pressefreiheit ist extrem eingeschränkt. Nur im Internet gibt es noch ein paar mutige Stimmen.
"2017-02-18T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T10:15:47.631000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pressefreiheit-in-ungarn-eine-frage-der-macht-100.html
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Der Euro ist "das Paradepferd der Stabilität"
Jasper Barenberg: Verläuft alles nach Plan, dann könnte Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti schon am Wochenende damit beauftragen, eine neue Regierung zu bilden. Verläuft alles nach Plan, hat Silvio Berlusconi bis dahin auch formell vollzogen, was er bisher nur angekündigt hat: seinen Rücktritt. Verläuft alles nach Plan schließlich, hat das Parlament bis dahin ein Paket von Reformen und Sparmaßnahmen verabschiedet; heute steht es in der kleineren Parlamentskammer, im Senat, auf der Tagesordnung. Kann Italien mit den geplanten rigiden Reformen den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen, oder sind alle Versuche, den Bankrott des Landes abzuwenden, schon jetzt zum Scheitern verurteilt? Stefan Homburg, Wirtschaftswissenschaftler an der Leibnitz Universität Hannover, er hat heute Morgen hier im Deutschlandfunk ein düsteres Szenario skizziert."Es kann sein, dass durch irgendwelche drastischen Maßnahmen und Rechtsverstöße die Staats- und Regierungschefs es schaffen, die Situation noch zwei, drei, vier Jahre hinauszuschieben. Es kann aber auch sein, genauso gut, dass uns schon nächste Woche gesagt wird, so geht es nicht weiter. Dann wird der Reset-Knopf gedrückt und dann kommt ein Neuanfang. Voraussehen, welcher Neuanfang, kann kein Mensch. Es könnte sein, dass Deutschland zu einer eigenen Währung zurückkehrt, es könnte sein, dass Deutschland einen kleinen Währungsverbund, zum Beispiel mit Österreich oder den Niederlanden, hat. Ich bin kein Hellseher, aber dass der Euro zum Erfolg zurückgeführt wird, das ist nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen."Barenberg: Das sagt Stefan Homburg von der Leibnitz Universität Hannover. - Am Telefon begrüße ich jetzt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremischen Landesbank. Schönen guten Morgen nach Bremen.Folker Hellmeyer: Guten Morgen!Barenberg: Herr Hellmeyer, dass der Euro zum Erfolg zurückgeführt wird, nach menschlichem Ermessen ist das ausgeschlossen. So hat es eben Stefan Homburg formuliert. Ist der Euro am Ende?Hellmeyer: Der Euro ist überhaupt nicht am Ende und ich bin schon sehr irritiert über solche Einlassungen. Fakt ist, dass die Eurozone in der Gesamtheit in der Neuverschuldung seit 2009 gegenüber USA, Japan und dem Vereinigten Königreich das Paradepferd der Stabilität ist. Alle drei anderen genannten Regionen liegen im Dunstkreis von zehn oder über zehn Prozent in der Neuverschuldung, wir liegen dieses Jahr bei 4,3 und kommen von 6,3. Der nächste Punkt ist: in der Gesamtverschuldung liegt die Eurozone unterhalb der von Großbritannien, USA und Japan. In der Reformpolitik sind wir der Weltmeister. Wir haben die stringentesten Reformen in der Geschichte der Industrienationen, und die sind überwiegend erfolgreich, und ich halte es für verantwortungslos, hier solche Positionen einzunehmen, ohne sie mit einem Fundament und diesen Vergleichen zu belegen. Mehr noch: Wenn wir über Italien derzeit sprechen, vergessen diese Herren, dass sie nur auf Verschuldung schauen. Italien ist das Land, das den höchsten Staatsbesitz hat. Italien hat unbelastete Privatvermögen in einem enormen Volumen. Italien ist das einzige Land in der Eurozone mit einem Primärüberschuss, das heißt einem öffentlichen Haushaltssaldo, mit zwei Prozent Überschuss, ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen. Das heißt, das Geschäftsmodell ist in Ordnung. Und vor diesem Hintergrund solche Positionen öffentlich zu bekleiden, ohne diese sachlichen Daten mitzuliefern, halte ich für mehr als ambitioniert.Barenberg: Wie kommt es dann, Herr Hellmeyer, dass die Zinsen, die Italien bezahlen muss, um seine Kredite zu finanzieren, oder alte Kredite zu refinanzieren, dass diese Zinsen sprunghaft angestiegen sind in den letzten Tagen?Hellmeyer: Es hat damit zu tun, dass in der Tat die Politik in Italien unter Herrn Berlusconi nicht optimal gelaufen ist. Aber es hat auf der anderen Seite damit zu tun, dass es eine ausgemachte Spekulation gegen Europa, gegen einzelne Länder gibt in den letzten 18 Monaten. So haben wir zum Beispiel Irland unter den Schutzschirm gezwungen, obwohl Irland eine Cash- und Liquiditätsreserve als einziges Land der Eurozone hatte in der Größenordnung von 25 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und auch hier bei Italien geht es nicht um eine sachliche Diskontierung, sondern es geht um eine hohe Emotionalisierung der Märkte und den Einfluss der Achse London-New York über Kreditausfallversicherungen, mit denen man gegen europäische Länder spekuliert. Das sind unregulierte derivative Märkte, die insbesondere von der angelsächsischen und amerikanischen Bankenprominenz besetzt sind in der Preisfeststellung und die die Preise für die Staatsanleihemärkte wesentlich dominieren.Barenberg: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Hellmeyer, bei dem Misstrauen, was allenthalben auf den Finanzmärkten zu spüren ist, geht es nicht darum, dass das Land selber so schlecht aufgestellt ist wie es scheint, sondern da spielen andere Faktoren eine Rolle?Hellmeyer: Genau so ist es und ich möchte das Beispiel Italien noch einmal anführen. Italien war für die Finanzmärkte nie ein Problem. Italien ist von 1999 bis 2011 in der Staatsverschuldung von 114 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 120 Prozent gestiegen, um sechs Prozentpunkte. Ich sage nicht, dass 120 Prozent ein kommodes Niveau sind, aber es ist eben auch im Verhältnis zu sehen zum Staatsvermögen. Amerika, die USA haben im selben Zeitraum, wo die Staatsverschuldung in Italien um sechs Prozent zugenommen hat, eine Zunahme um über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung zu verzeichnen, und entscheidend ist hier in Amerika insbesondere, dass es eine konsumtive Verschuldung ist. Diese Bewertung ist notwendig, um sachlich zu diskontieren an den Märkten, und ich bin wie gesagt schockiert darüber, dass viele meiner Kollegen, insbesondere aus dem akademischen Zirkel - und das ist nicht nur der genannte Professor, sondern auch ein Professor aus München -, eben diese notwendige sachliche Diskontierung vermissen lassen.Barenberg: Wenn wir darüber reden, was jetzt ansteht in Italien: da soll nun beschlossen werden ein ganzes Paket von Maßnahmen. Es gilt, zu sparen und die Wirtschaft auf einen besseren Kurs zu lenken. Wie lange müssen wir warten und wie wichtig ist das, bis es tatsächlich dann wieder aufwärts geht und das Vertrauen zurück ist an den Märkten?Hellmeyer: Reformen brauchen Zeit für die Umsetzung. Reformen wirken, wenn es wirkliche Reformen sind, in den Strukturen zunächst einmal wachstumsdämpfend, und insofern muss man schon eine Zeitverzögerung von mindestens 6, zwölf bis zu 18 Monaten sehen, bis hier nachhaltige Traktionen kommen. Das gilt nicht für alle Maßnahmen, aber entscheidend ist, dass wir in Italien ein Reformprogramm in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro umsetzen. Das läuft an diesem Wochenende noch durch das Parlament und das zeigt die Reformfähigkeit. Wenn sie es vergleichen mit Japan und den Vereinigten Staaten, die noch nicht einmal den Begriff Reform buchstabieren können, dann zeigt sich hier der qualitative Unterschied der politischen Ansätze der Eurozone einerseits und wie gesagt der USA und Japan andererseits, die von irgendwelchen spekulativen Bewegungen überhaupt nicht betroffen sind. Diese Asymmetrie in der Bewertung der Märkte impliziert im übrigen eine politische Agenda, die an den Finanzmärkten gespielt wird.Barenberg: Mit anderen Worten: Italien kann sich nicht selbst retten. Das war sozusagen die Quintessenz im Gespräch mit Stefan Homburg heute. Ihre Quintessenz ist, Italien kann sich sehr wohl selbst retten.Hellmeyer: Italien kann sich sehr wohl selbst retten, indem sie Reformen umsetzen und damit Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Aber was noch wichtiger in meinen Augen ist, ist, dass wir in Europa begreifen, dass die Integrität, die Solidarität der Eurozone, die Integrität aufrecht zu erhalten ist und dass wir das Paradepferd der Stabilität sind, und dieses Paradepferd gilt es, nicht auf der Schlachtbank der Spekulation zu opfern.Barenberg: Auf der anderen Seite, Herr Hellmeyer, gab es ja gestern beispielsweise schon Gerüchte darüber und die Kanzlerin musste das dementieren, dass man sich auf eine kleinere Währungsunion, auf eine Reduzierung der Zahl in der Währungsunion einstellt.Hellmeyer: Der Punkt ist, dass das keine ernsthafte Planung ist, aber sie müssen heute in einem Unternehmen oder auch beim Staat ein Contingency Planning', eine Notfallplanung, immer bereit haben. Das heißt, dass man mit jeder Situation umgehen kann. Ich kann Ihnen aus den Gesprächen, die ich führe im Hintergrund, deutlich sagen, dass eine ernsthafte Lösung in diese Richtung nicht ernsthaft erwogen wird.Barenberg: Sagt Folker Hellmeyer, der Chefvolkswirt der Bremischen Landesbank. Danke heute Mittag für das Gespräch, Herr Hellmeyer.Hellmeyer: Gerne.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Folker Hellmeyer im Gespräch mit Jasper Barenberg
Der Euro sei nicht am Ende, sagt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Landesbank, und empört sich über entsprechende Äußerungen von Ökonomen. Die Neuverschuldung der Eurozone sei viel geringer als die der USA oder Japans, und auch Italien könne sich selbst retten.
"2011-11-11T12:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:21:17.969000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-euro-ist-das-paradepferd-der-stabilitaet-100.html
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Deutschland tritt bei der Inklusion auf die Bremse
In Inklusionsschulen lernen Kinder mit und ohne Behinderung zusammen. (dpa / Inga Kjer) Die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW will die Förderschulen bis auf Weiteres erhalten. Auch die frisch vereidigte Regierung in Niedersachsen will mehr "Flexibilität" und "Wahlmöglichkeiten" bei der Inklusion und die Förderschulen in den nächsten vier Jahren weiter betreiben. Die Gründe für dieses Umdenken: Viele Regelschulen klagen, dass sie mit der Inklusion schlicht überfordert sind. Es fehlt an qualifiziertem Personal, den Regellehrern mangelt es an entsprechenden Fortbildungen. Und manche Eltern finden, dass ihr Kind auf einer Förderschule einfach besser aufgehoben ist. Statt sich für ein System zu entscheiden, werden nun also beide einstweilen weiter betrieben. Die Folgen: hohe Kosten – und fehlende Sonderpädagogen. Dass Inklusion tatsächlich gelingen kann, zeigen Bundesländer, die schon mehr Erfahrung damit haben: Zum Beispiel Schleswig Holstein, wo bereits vor 25 Jahren mit der gemeinsamen Beschulung begonnen wurde. Campus & Karriere fragt: Wie sinnvoll ist es, beide Systeme parallel zu betreiben? Wie kann die Versorgung mit Sonderpädagogen und Schulbegleitern verbessert werden, wenn Förderschulen erhalten bleiben? Und: muss sich die Lehrerausbildung grundsätzlich verändern, damit auch allgemeinbildende Lehrer inklusiv unterrichten können? Gesprächsgäste: Franziska Müller-Rech, schulpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im NRW-Landtag Astrid Hannemann, Leiterin der Geschwister-Prenski-Gemeinschaftsschule in Lübeck Thomas Binn, Autor des Dokumentarfilmer "Ich, Du, Inklusion" Eine Sendung mit Hörerbeteiligung. Rufen Sie an unter 00800 4464 4464 oder per Mail an [email protected] Weitere Themen: Elin Rosteck Grenzen der InklusionReportage über einen Schüler, der trotz guter Leistungen von der Regel- wieder auf die Förderschule gewechselt ist
Moderation: Manfred Götzke
Die Inklusion, also der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung, wurde in den letzten Jahren massiv vorangetrieben. Schließlich hat auch Deutschland die UN-Behindertenkonvention ratifiziert. Viele Bundesländer treten jetzt aber auf die Bremse. Gibt die Bildungspolitik bei der Inklusion zu früh auf?
"2017-11-25T14:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:19.484000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/foerderschulen-deutschland-tritt-bei-der-inklusion-auf-die-100.html
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"Es gibt keine Entschuldigung"
"Es wäre total naiv zu glauben, dass es nicht wieder passieren kann." (imago/Deutzmann/Eibner-Pressefoto) Mindestens 240 Verdächtige und 692 Opfer zwischen 1970 und heute: Schon diese Zahlen zeigen das erschreckende Ausmaß sexuellen Missbrauchs von Kindern im englischen Fußball. Bis 1995 wurde das Problem komplett ignoriert. Im Sommer dieses Jahres wurde Barry Bennell, früher Trainer bei Crewe Alexandra und Manchester City, in Florida wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Trotzdem dauerte es nochmal fünf Jahre, bis der englische Fußballverband ein umfassendes Schutzprogramm für Kinder auflegte. Clive Sheldon, der den Skandal im Auftrag der Football Association FA untersucht hat, findet unentschuldbar, wie lange das gedauert hat: eben von 1995 bis 2000. "In dieser Zeit hat die FA nicht genug getan, damit die Kinder sicher sind. Das sind gravierende Fehler der ganzen Institution, für die es keine Entschuldigung gibt." Die Reaktionen der Missbrauchsopfer fallen gemischt aus Was Sheldon nicht feststellen muss: Dass es so etwas wie einen Pädophilen-Ring im englischen Fußball gegeben hat. Fünf Jahre lang hat der Anwalt mit Opfern gesprochen. Ihre Aussagen sind anonym in seinen 710 Seiten starken Untersuchungsbericht eingeflossen. Der Autor glaubt nicht, dass die Täter ihre Opfer gemeinsam missbraucht oder sich über den Missbrauch ausgetauscht haben. Obwohl sie sich kannten. Die Fußball-Welt ist auch in England überschaubar in ihrer Größe. Inzwischen, das legt der Bericht nahe, gibt es in ihr keinen systematischen Kindesmissbrauch mehr. Trotzdem ruft Clive Sheldon zur Wachsamkeit auf und dazu, im Kampf gegen das Problem nicht nachzulassen. Die Reaktionen der missbrauchten Jungs, von denen viele Profi-Fußballer geworden sind, fallen gemischt aus. Sie finden es wichtig, dass der Skandal aufgerollt wurde. Es sei ein wichtiger Tag für sie alle, sagt auch Gary Cliffe, der als Nachwuchsspieler bei Manchester City jahrelang von Bennell missbraucht wurde. Clive Sheldon sei aber nicht weit genug gegangen. "Durch den gesamten Bericht zieht sich, dass Leute wussten oder einen Verdacht hegten, aber keiner von ihnen hatte den Mumm, es offen zu sagen: Der Polizei, den Sozialdiensten, irgendwem. Insofern ist es sehr enttäuschend." "Naiv zu glauben, dass es nicht wieder passieren kann" Ian Ackley, dem dasselbe passiert ist wie Gary Cliffe, vertritt die Überlebenden des Missbrauchs in der FA. Er sagt, der Missbrauch sei vielleicht weniger geworden, verschwunden sei er nicht. "Es wäre total naiv zu glauben, dass es nicht wieder passieren kann oder gerade jetzt passiert. Passt auf, dass Eure Kinder in Sicherheit sind!" Der englische Fußballverband hat zerknirscht auf den Bericht reagiert. FA-Geschäftsführer Mark Bullingham hat sich aus tiefem Herzen bei den Opfern entschuldigt. "Kein Kind", heißt es in seinem schriftlichen Statement weiter, "sollte erleben müssen, was Ihr durch den Missbrauch erlebt habt. Ihr habt Schreckliches durchgemacht, und es ist bestürzend, dass der Fußball Euch nicht so beschützt habt, wie ihr es verdient hättet."
Von Christine Heuer
Im Jahr 2016 wurde beim englischen Fußballverband FA das Ausmaß eines Kindesmissbrauch-Skandals publik. Eine vom Verband in Auftrag gegebene Untersuchung kommt jetzt zu dem Schluss: Der Verband selbst hat das Feld für Misshandlungen junger Spieler bereitet und nicht genug für die Sicherheit der Kinder getan.
"2021-03-17T22:54:00+01:00"
"2021-03-18T12:51:47.642000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/studie-zu-kindesmissbrauch-im-englischen-fussball-es-gibt-100.html
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Söder: "Balkanstaaten machen europäische Lösung vor"
Markus Söder von der CSU (dpa / picture-alliance / Peter Kneffel) Trotz der Differerenzen zwischen CDU und CSU sagte Söder: "Die Fraktionsgemeinschaft steht nicht infrage." Er forderte aber, die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg mit den guten Ergebnissen der rechtspopulistischen AfD als Signal wahrzunehmen. "Wir können nicht mit einem 'weiter so' auftreten, sondern mit einem 'wir haben verstanden'." Die Flüchtlingsfrage habe eine tiefe Verunsicherung der Wähler ausgelöst. "Wir müssen den demokratischen rechten Rand integrieren. Wer nach links rückt, lässt rechts Platz frei", klagte Söder über den Kurs der CDU. Söder: Balkanstaaten sorgen für Rückgang der Zahlen Dass die Zahl der Flüchtlinge derzeit zurückgehe, "hängt alleine daran, dass einige Länder am Balkan das tun, was wir seit langem fordern: nationale Maßnahmen." Das entscheidende Problem bleibe, dass die deutschen Grenzen nicht ordentlich kontrolliert würden, sagte Söder. "Es geht nicht darum, die Grenzen dichtzumachen, sondern sie besser zu kontrollieren." Eine Lösung beim EU-Türkei-Gipfel erwarte er eher nicht. "Ich bin sehr skeptisch, was eine europäische Lösung angeht." Mit Blick auf ein Abkommen mit der Türkei müsse man aufpassen, dass diese "nicht mehr türkischen, als europäischen Interessen dienen". Mit einem visafreien Reisen in die EU für türkische Bürger befürchtet Söder, "dass wir den Konflikt zwischen Kurden und der Türkei importieren". Er sei gespannt, ob es in Europa für all diese Fragen eine Mehrheit gebe. Söder forderte zur Integration von Flüchjtlingen weiter eine finanzielle Stärkung der Länder und Kommunen. "Wir wollen eine faire Partnerschaft", sagte er und erneuerte seine Forderung, dass der Bund für die Hälfte der Kosten aufkommen solle. Das Interview in voller Länge: Jochen Spengler: An Telefon ist nun Markus Söder, Finanzminister in Bayern, der vielen in der CSU auch als Kronprinz von Horst Seehofer gilt. Einen guten Morgen! Grüß Gott, Herr Söder. Markus Söder: Schönen guten Morgen! Grüß Gott! Spengler: Wieder keine Annäherung gestern Abend zwischen CDU- und CSU-Spitze. Wie lange wird es denn die Fraktionsgemeinschaft aus beiden Parteien in Berlin noch geben? Söder: Die Fraktionsgemeinschaft steht jetzt nicht infrage. Aber in der Tat: Es gibt einen tief greifenden Dissens. Der hat sich auch am Wochenende ja offenbart. Wenn man von den desaströsen Wahlergebnissen in den drei Bundesländern ausgeht, kann man nicht ernsthaft mit einem "weiter so" politisch agieren. Man muss eher mit einem "wir haben verstanden" gegenüber den Wählerinnen und Wählern auftreten. Und das ist der entscheidende Unterschied: Wir glauben, dass die Flüchtlingsfrage die entscheidende Ursache ist für die tiefe Verunsicherung des deutschen Volkes und der Wähler, und darauf muss man reagieren. "Wir haben nicht das Interesse, eine nationale Rechtspartei zu sein" Spengler: Könnte man nicht so reagieren, dass man eine CSU bundesweit ausweitet? Die würde der AfD sicher das Wasser abgraben, oder? Söder: Wir haben nicht das Interesse, eine nationale Rechtspartei zu sein. Wir sind eine Volkspartei, nach den neuesten Umfragen mit 48 Prozent in Bayern. Das erreicht keine andere Partei in Deutschland. Wir wollen in Bayern bleiben, natürlich mit einem nationalen Anspruch als Regierungspartei. Und es ist auch nicht die Aufgabe von uns anzutreten, sondern die Aufgabe der CDU, national den demokratisch rechten Rand mehr zu integrieren. Man darf nicht nur nach links rücken, denn wer nach links rückt, der lässt am Ende rechts Platz frei. Spengler: Nun haben Sie von der Kanzlerin gefordert, dass die Zahl der Flüchtlinge spürbar reduziert werden muss, und deswegen haben Sie vor einigen Wochen eine Verfassungsklage angedroht. Nun sind die Flüchtlingszahlen spürbar gesunken. Hat sich jetzt Ihre Drohung mit der Verfassungsklage erledigt? Söder: Zunächst mal ist doch eines klar: Dass die Zahlen zurückgehen, hängt doch nicht an einem europäischen Konzept oder an einer deutschen Philosophie, sondern das hängt an anderem, dass etliche Länder am Balkan genau das tun, was wir immer fordern, nationale Maßnahmen zu ergreifen. Deswegen sollte man diese Länder auch nicht tadeln, sondern eher unterstützen. "Wir wollen kein multikulturelles Deutschland" Spengler: Aber ist es nicht egal, ist nicht wichtig, was hinten herauskommt, weniger Flüchtlinge? Söder: Die Frage ist, ob das eine dauerhafte Struktur ist, und zweitens auch, was ganz wichtig ist, wie ist denn eigentlich unsere Haltung dazu. Viele der Bürgerinnen und Bürger erwarten sich jetzt nicht nur eine mathematische Lösung, sondern erwarten sich eine klare Auffassung, eine Haltung, eine geistige Haltung, wie soll die Zukunft Deutschlands aussehen. Wir wollen kein multikulturelles Deutschland, sondern wir wollen auch ein Deutschland, das ganz klar macht, dass wir keine unbegrenzte Zuwanderung wollen in Deutschland. Spengler: Haben wir nicht längst ein multikulturelles Deutschland, Herr Söder? Söder: Keines, in dem alle Werte unterschiedlicher Kulturen einfach so nebeneinander stehen. Wir haben eine Identität, ein Land, das sich zu seinen Werten bekennt. Wer hier herkommt und ein Bleiberecht hat, hart arbeitet, Steuern zahlt, ist natürlich willkommen und der muss sich aber trotzdem zu unseren Werten bekennen: Gleichberechtigung von Mann und Frau, beispielsweise Anerkennung von Pluralismus, von Minderheitenschutz und und und. Sie kennen den ganzen Katalog. Das ist das Entscheidende. "Die deutschen Grenzen werden nach wie vor nicht ordentlich kontrolliert" Spengler: Wann reichen Sie denn dann die Verfassungsklage gegen die Bundesregierung ein? Söder: Das wird jetzt entschieden. Die Bundesregierung wird ja noch antworten auf den Brief. Das sind ja auch juristische Fragen. Wir wollen das ja wasserdicht machen und dann wird am Ende entschieden. Schauen Sie, das entscheidende Problem bleibt doch nach wie vor, dass die deutschen Grenzen nicht ordentlich kontrolliert werden. Das ist nicht nur eine Frage der Flüchtlinge, sondern vor allem auch eine Frage der Sicherheit des Landes, wenn es um die Bekämpfung von Terrorismus geht, und da ist es wirklich schwer, Kompromisse zu machen. "Der Schutz der Bürger ist das oberste Gut eines Staates" Spengler: Um noch mal auf die gesunkenen Flüchtlingszahlen zu kommen. Wieso jetzt in dem Moment noch Grenzen dicht machen und damit den freien Waren- und Personenverkehr beeinträchtigen? Der ist doch auch wertvoll, auch in den Augen der CSU. Söder: Nun, das scheint mir eine Schwarz-weiß-Sicht zu sein. Es geht nicht darum, Grenzen dicht zu machen, sondern die besser zu kontrollieren. Der Schutz der Bürger ist das oberste Gut eines Staates. Dies darf nicht vernachlässigt werden. In Zeiten, in denen das herausgefordert wird durch internationale Entwicklungen, muss ein Staat in der Lage sein zu reagieren. Schauen Sie, die Mehrzahl auch der Hörer, glaube ich, heute Morgen tut sich schwer zu verstehen, warum an der Außengrenze Griechenlands es besser und leichter kontrollierbar sei als offenkundig an der deutsch-österreichischen Grenze. Ich glaube, die richtige Mischung, die richtige Dosierung macht es, und deswegen braucht es einfach mehr Schutz und Sicherheit für die Bürger. Spengler: Welche Erwartungen haben Sie denn heute an den EU-Gipfel? Gibt es die europäische Lösung, von der Frau Merkel träumt? Söder: An sich wäre es sehr schön. Aber ich bin sehr skeptisch, wenn man die Aussagen gerade sieht, etwa aus dem "Morgenmagazin" aus Österreich, was ich gestern gehört habe, wie das spanische Parlament entschieden hat. Das Problem ist doch: Ich glaube, dass die europäische Lösung das ist, was die Staaten am Balkan jetzt vormachen, und diese Idee mit der Türkei ist nicht schlecht. Man muss nur aufpassen, dass am Ende damit nicht mehr türkischen, sondern den europäischen Interessen gedient wird. Ich bin skeptisch, ob dieser Eins-zu-eins-Austausch sinnvoll ist, denn eins zu eins, also der Austausch legaler und illegaler Migration und Zuwanderung, bedeutet ja nicht ein Weniger an Zuwanderung. Und ob die anderen Länder Kontingente abnehmen, steht mehr als in den Sternen, sodass am Ende alles wieder in Deutschland bleibt. Spengler: Sie sind ja auch als CSU gegen Visaerleichterungen für die Türken. Wieso eigentlich? Was fürchten Sie? Söder: Visaerleichterungen im Wirtschaftsbereich, das kann man sich natürlich vorstellen. Aber Visaerleichterungen generell führt natürlich zu einer ganz klaren Entwicklung. Wir werden dann in einem Land wie der Türkei, das innerlich höchst instabil ist und in dem ja offenkundig ein halber Bürgerkrieg droht zwischen der türkischen Staatsmacht und den Kurden, möglicherweise mit der Visa-Freiheit eine enorme Zuwanderung aus den Kurdengebieten bekommen. So was Ähnliches hat es übrigens indirekt gegeben, als wir am Balkan damals die Visafreiheit eingeführt haben. Vor einem Jahr gab es eine massive Zuwanderung. Und wir dürfen nicht vergessen: Wir würden dann auch zusätzlich neben der Zahl der Zuwanderer möglicherweise auch den tiefen Konflikt Türkei und der Kurden ins eigene Land importieren. Spengler: Könnte eine europäische Lösung mit der Türkei möglicherweise an der CSU wegen ihres Widerstands bei den Visaerleichterungen scheitern? Söder: Ich bin erst mal gespannt, ob es in Europa für all diese Fragen eine Mehrheit gibt. Schauen Sie, auch die Debatte um den Beitritt der Türkei ist ja ehrlicherweise sehr unehrlich, denn die überragende Mehrzahl der europäischen Staaten hat kein Interesse. Es würde ja auch bedeuten, dass quasi in dem Moment, wo wir einen Beitritt beschließen, wir die europäische unmittelbar ja fast schon zum Kriegspartner an dem Syrien-Konflikt machen, weil wir die Grenzen der EU dann dahin verlagern würden. Ich glaube, das will niemand ernsthaft in Europa. "Wir wollen reden, wir wollen Partnerschaft" Spengler: Sagt eigentlich auch die CSU wie die Opposition in Berlin, dass ein Deal mit der Türkei ein schmutziger Deal wäre, weil das individuelle Asylrecht ausgehebelt wird? Söder: Zunächst einmal glaube ich, dass diese Begrifflichkeit an der Stelle wenig hilfreich ist. Die Türkei ist NATO-Partner, ein ganz wichtiger Partner. Wir wollen reden, wir brauchen Partnerschaft. Die Frage ist, ob am Ende die ganzen Vereinbarungen, die jetzt da, sagen wir mal, in der Diskussion stehen, die da verhandelt werden, am Ende wirklich nutzen und helfen. Natürlich ist das schon umgekehrt auch eine wichtige Herausforderung, dass man sehen muss, dass die Türkei, was Rechtsstaatlichkeit, Presse-, Justizfreiheit betrifft, natürlich auch eher einen Rückschritt als einen Fortschritt hat. Worüber ich mich nur wundere, dass man dann auf der einen Seite über einen Beitritt der Türkei redet, während man manche osteuropäischen Staaten tadeln will. "Der Bund muss seiner politischen Verantwortung nachkommen" Spengler: Ich möchte zum Schluss noch auf die Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung etc. zu sprechen kommen. Sie haben zusammen mit Ihrem nordrhein-westfälischen Amtskollegen als bayerischer Finanzminister in einem Brief an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verlangt, dass sich der Bund zur Bewältigung der Flüchtlingskrise und ihrer Kosten mit mehr Geld beteiligen soll, bis zur Hälfte beteiligen soll, nicht wie bislang mit einem Fünftel etwa. Jetzt hat Herr Schäuble geantwortet, dass die Länder laut Grundgesetz zuständig sind für Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen. Damit hat er doch recht, oder? Söder: Na ja, eine sehr einfache Sichtweise. Der Bund ist zuständig, und zwar zu 100 Prozent verantwortlich für die Zuwanderung nach Deutschland. Wir haben keine Möglichkeit, die Zuwanderung nach Deutschland zu steuern. Dafür ist der Bund zuständig, und zwar zu 100 Prozent. Er kann den Ländern aber nicht nur wie im bayerischen Fall 17 oder in anderen Ländern 20 Prozent der Kosten ersetzen. Das ist unfair! Es gibt eine politische Konnexität zwischen Zuwanderung und Kosten, die dort anfallen. Und schauen Sie, bei den Kommunen kommt jetzt eine zusätzliche Belastung. Es geht nicht nur um die Kosten der jetzigen Asylverfahren und deren Unterbringung. In dem Moment, wo die Menschen eine Anerkennung bekommen, werden sie ja nach Einschätzung von Bundesagentur und Bundesarbeitsministerium in überragender Zahl, fast 90 Prozent, in die soziale Sicherung zuwandern, in Hartz IV. Dann entsteht für die Kommunen ein enormes Kostenrisiko, beispielsweise bei der Unterkunft. Auch da muss sich der Bund einfach stellen. Der Bund kann sich nicht an der Stelle einfach drücken und auf irgendwelche Rechtsvorschriften verweisen. Er muss da seiner politischen Verantwortung nachkommen, und zwar rasch und dringend. Spengler: Er drückt sich ja gar nicht. Wolfgang Schäuble sagt, Sie hätten genug eigene Mittel. Es gibt Haushaltsüberschüsse der Länder, damit könnten Sie die Flüchtlingsaufgaben erfüllen. Söder: Ich bin ziemlich sicher, dass das am Ende anders aussieht. Spengler: Nämlich wie? "Eine faire Partnerschaft heißt halbe halbe" Söder: Dass es mehr Geld für die Länder und für die Kommunen geben wird. Spengler: Das heißt, Sie beharren auf Ihre 50 Prozent Forderung? Söder: Na selbstverständlich! Es kann ja nicht sein, dass wir Unglaubliches leisten, Länder und Kommunen, und am Ende dabei allein gelassen werden, wo der Bund ja noch niedrigere Zinsen zu zahlen hat mit der Null-Zins-Politik der EZB und jetzt sozusagen sich dann auf Kosten der Länder noch stärker darstellt. Ich glaube, das ist kein faires Verhalten. Wir wollen Partnerschaft, ist doch keine Frage, aber eine faire Partnerschaft, und faire Partnerschaft heißt halbe-halbe. Spengler: Ist das eine, wie Bodo Ramelow, der linke Ministerpräsident Thüringens gesagt hat, Gemeinschaftsaufgabe, so wie damals die Gemeinschaftsaufgabe Ost jetzt die Gemeinschaftsaufgabe Flüchtlinge? Söder: Wenn man sagt europäisch, wir brauchen europäische Lösungen, und es ist wichtig, alle ins Boot zu holen, dann kann man an der Stelle wirklich nicht innerhalb Deutschland dann auf irgendeinen Formelkram verweisen. Ich glaube, dass das die Bürger wenig glaubwürdig finden. "In Bayern bleibt nichts auf der Strecke" Spengler: Wenn es nicht mehr Geld gibt, was bleibt dann auf der Strecke, die Sprachkurse, Integrationskurse, Unterkünfte? Wo müssen Sie dann sparen? Söder: In Bayern bleibt nichts auf der Strecke, weil wir schon ein 500 Millionen Paket für Integration auf den Weg gebracht haben. Aber ich befürchte sehr, dass viele andere Bundesländer, viele andere Kommunen, gerade in Nordrhein-Westfalen beispielsweise, die ja auch sehr stark betroffen sind von der Herausforderung der Integration schon jetzt, unabhängig von den Flüchtlingen, dass das schlechter wird. Und die Folge kann dann sein in einigen Jahren: Entwicklungen wie in Frankreich mit No-go-Areas. Das kann wirklich niemand wollen und darum muss man jetzt in dieser Stunde auch finanziell seinen Beitrag erbringen. Spengler: Habe ich Sie gerade richtig verstanden, dass Bayern die Hilfe vom Bund eigentlich nicht nötig hat? Söder: Wir brauchen auch die Unterstützung. Unsere Kommunen brauchen dringend die Unterstützung. Andere brauchen sie noch dringender. Aber wir sind da solidarisch. Und wenn schon einmal ein nordrhein-westfälischer Finanzminister von der SPD und ein bayerischer Kollege wirklich sich zusammenschließen und alle Finanzminister das unterstützen, dann ist die Sache ernst. "Wir brauchen ein besseres Asyl-Controlling" Spengler: Was halten Sie denn von dem Bremer Ansatz, die Ausgaben für die Flüchtlinge einfach aus den Landeshaushalten herauszurechnen? Söder: Das ist jetzt wieder ein typischer bremischer Haushaltstrick, zu versuchen, mit Statistik und Rechnungen das zu lösen. Das wird nicht gelingen. Was wir uns umgekehrt überlegen müssen, ob alle Ausgaben gerechtfertigt sind. Wenn Sie überlegen: Wir brauchen auch ein besseres Asyl-Controlling, was die Kosten betrifft. Es kann ja nicht sein, dass am Ende die Gesamtkosten für Flüchtlinge höher sind, wenn man es auf den Einzelfall herunterprojiziert in den Pauschalen, als beispielsweise die Rente für Menschen, die ihr Leben lang in Deutschland gearbeitet haben. Darüber kann man sicher reden. Aber es braucht trotzdem eine Unterstützung. Spengler: ... sagt Markus Söder, Bayerns Finanzminister, CSU-Politiker. Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Söder. Söder: Gerne. Spengler: Und einen schönen Tag. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Markus Söder im Gespräch mit Jochen Spengler
Markus Söder beklagt weiter einen "tiefgreifenden Dissens" zwischen CDU und CSU in der Flüchtlingspolitik. Dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel und einer europäischen Lösung blicke er skeptisch entgegen. "Eine europäische Lösung ist das, was die Staaten am Balkan vormachen", sagte der CSU-Politiker im DLF mit Blick auf die Grenzschließungen.
"2016-03-17T05:00:00+01:00"
"2020-01-29T18:19:02.250000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/eu-tuerkei-gipfel-soeder-balkanstaaten-machen-europaeische-100.html
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Afrikanische Literatur in Deutschland
Wie hat sich afrikanische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt entwickelt und was muss getan werden, um neues Interesse zu wecken und vorhandenes zu vertiefen? (picture alliance / dpa / Joel Robine) Manch afrikanischer Autor ist international längst eine literarische Größe und mehrfach ausgezeichnet, bevor seine Werke in Deutschland erscheinen. Literatur aus dem Kontinent gilt noch lange nicht als selbstverständlicher Teil der Weltliteratur. Was führt zu dieser Geringschätzung? Das Kulturgespräch fragt unter anderem, welches Bild von Afrika dem mangelnden Interesse zugrunde liegt und welche (Vor-)Urteile und Annahmen über "hohe" Literatur und solche aus vermeintlichen Ländern der Peripherie. Wie hat sich afrikanische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt entwickelt und was muss getan werden, um neues Interesse zu wecken und vorhandenes zu vertiefen? Gesprächsgäste: Indra Wussow, Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin, Autorin, Initiatorin verschiedener Literaturstipendien auf Sylt, mit Schwerpunkt Afrika, Herausgeberin der Buchreihe "AfrikAWunderhorn" Dr. Manfred Loimeier, Privatdozent für Afrikanische Literaturen in Heidelberg, Redakteur, Literaturkritiker, Übersetzer und Herausgeber, zahlreiche Buchveröffentlichungen über afrikanische Literatur Dr. Moustapha Diallo, Literaturwissenschaftler, Veröffentlichungen über Interkulturalität, deutsch-afrikanische Beziehungen, Afrika in der deutschen Literatur. Herausgeber des Buches "Visionäre Afrikas", war Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Universität Paderborn Literaturhinweise Mia Couto: "Schlafwandelndes Land" Unionsverlag, Zürich 2014. Aminata Forna: "Ein Lied von der Vergangenheit" Verlag DVA, München 2012. Ousmane Sembène: "Gottes Holzstücke" Verlag Otto Lembeck, Frankfurt a.M. 1988. Helon Habila: "Öl auf Wasser" Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2012. Christopher Mlalazi: "Wegrennen mit Mutter" Verlag Horlemann, Angermünde 2014. René Philombé: "Der weiße Zauberer von Zangali" Verlag Aufbau, Berlin 1983. Taye Selassi: "Afrikanische Literatur gibt es nicht" Rede auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin 2013. Chimanda Ngozi Adichie: "Die Gefahr einer einzigen Geschichte" Rede auf der TED Konferenz Edinburgh 2009. M. Moustapha Diallo (Hrsg.): "Visionäre Afrikas. Der Kontinent in ungewöhnlichen Porträts" Verlag Peter Hammer, Wuppertal 2014.
Moderation: Birgit Morgenrath
Die Auflagen afrikanischer Romane sind in Deutschland zwar seit den 70er-Jahren stetig gestiegen und mehrere Verlage kümmern sich beständig um Übersetzung und Verbreitung dieser Bücher. Dennoch nehmen die breite Öffentlichkeit und das offizielle Feuilleton von Literatur aus Subsahara-Afrika wenig Notiz.
"2016-07-08T19:15:00+02:00"
"2020-01-29T18:39:55.938000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/in-die-ferne-lesen-afrikanische-literatur-in-deutschland-100.html
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Eine Hälfte der Gesellschaft fehlt
Corinne Diacre trainiert den französischen Zweitligisten Clermont Foot - damit ist sie eine Ausnahme: Nur sehr wenige Frauen trainieren Männerfußballteams. (Imago) Vor gut zehn Jahren hat die grüne Politikerin Claudia Roth zum ersten Mal in einer Arbeitsgruppe des Deutschen Fußball-Bundes mitgewirkt. Umgeben von Männern: "Das werde ich nie vergessen. Ich kam, die saßen da alle drin in einem großen Raum in Frankfurt. Und ich komme da rein und es war: Schockstarre. Ich übertreibe jetzt nicht: Schockstarre. Erstens: Frau. Und zweitens: So eine. Dann war ich aber vorbereitet auf die Sitzung und habe dauernd Fragen gestellt zur Tagesordnung. Und bei Tagesordnungspunkt zwei sind die alle ganz nervös geworden. Weil sie wollten noch ins Hotel, sich umziehen zum Fußballspiel. Und ich habe dann einen Geschäftsordnungsantrag gestellt und habe gesagt: So geht das nicht, ich bin hier eingeladen, ich will hier arbeiten." Seitdem hat sich ein bisschen getan, aber nicht viel: Bei der EM 2016 wurde Claudia Neumann als erste Frau für den Live-Kommentar bei einem Männerturnier eingesetzt. Der FC St. Pauli berief Sandra Schwedler an die Spitze des Aufsichtsrates. Und in der neuen Saison ist Bibiana Steinhaus die erste Schiedsrichterin in der Männer-Bundesliga. Keine einzige Frau im Präsidium der DFL Darüber hinaus ist die weibliche Hälfte der Gesellschaft in den Entscheidungspositionen des Fußballs so gut wie nicht repräsentiert. Von den fast zwanzig Mitgliedern des DFB-Präsidiums ist eins weiblich. Im Präsidium der Deutschen Fußball-Liga DFL findet sich keine Frau. Bei den Bundesligaklubs war Katja Kraus die erste Frau in einem Vorstand, zwischen 2003 und 2011 beim Hamburger SV. Bis heute ist sie die einzige geblieben. "Es geht darum, tatsächlich auch mal das Bewusstsein dafür zu erlangen, dass Diversität ein Erfolgsfaktor ist", sagt Katja Kraus, "auch für Fußballvereine übrigens. Und dass gemischtgeschlechtliche Gremien und Funktionsteams eine höhere Erfolgsquote versprechen. Das gibt’s im Fußball nicht. Diese Abschottung funktioniert weiterhin. Aber natürlich wären diese Frauen zu finden, wenn man sich Mühe gibt, sie zu suchen. Und qualifiziertes Management außerhalb des Fußballbereiches zu finden, ist ja offenbar auch noch extrem schwierig. Man greift ja häufig auf die bewährten Kräfte zurück. Es gibt eine hohe Versorgungsmentalität von ehemaligen Spielern für ehemalige Spieler. Und es besteht natürlich auch wie überall eine ganz große Angst vor Veränderungen und davor, dass eine Professionalität Einzug erhält, die die eigene Existenz bedroht." Nur wenige Frauen trainieren Männerfußballteams In Frankreich wird der Männer-Zweitligist Clermont Foot von Corinne Diacre trainiert, einer Frau. Weltweit lassen sich solche Beispiele an zwei Händen abzählen. Selbst nun bei der Frauen-EM werden zehn der sechzehn Teams von Männern trainiert. In der abgelaufenen Frauen-Bundesligasaison waren es sogar neun von zwölf. In Verbänden und Klubs wirken Frauen oft als Assistentin und Referentin, seltener als Direktorin oder Abteilungsleiterin. Ihre Vorgesetzten betonen gern, dass sich zu wenige qualifizierte Frauen anböten. Doch Daniela Wurbs sieht die Ursachen vielschichtiger. Als Geschäftsführerin hat sie das internationale Fannetzwerk FSE aufgebaut, Football Supporters Europe. Mehrfach musste sie auf Konferenzen Annäherungsversuche von Funktionären und Sicherheitsbeauftragten abwehren. Und jenseits dieses offenen Sexismus' gebe es eine klischeebeladene Alltagskultur - und die könne engagierte Frauen abschrecken: "Ich glaube, dass Frauen-Geschichten anders erzählt werden müssen", so Wurbs. "Wenn es um Frauen als Zielgruppe im Fußball geht, ist Marketing oder jegliche Form von Story-Telling sehr schnell an Geschlechter-Stereotypen orientiert: das Pinke, Glitzer-Merchandising, gepaart mit einer eher emotionalisierten Geschichte. Wenn Fangeschichten erzählten werden, werden in der Regel Männergeschichten erzählt und selten Frauengeschichten. Und wenn Frauengeschichten erzählt werden, dann sehen die komischerweise immer alle sehr stereoptyp gut aus: dünn, schlank, jung, sexy." Frauenquote für Fußballfunktionäre? Seit 2016 müssen etwa hundert börsennotierte Unternehmen in Deutschland ihre frei werdenden Aufsichtsratsposten mit Frauen besetzen, bis dreißig Prozent weiblich sind. Und im Fußball? Der Weltverband FIFA hat eine Generalsekretärin: die Senegalesin Fatma Samoura. In seinem neuen Führungsrat, dem Council, sollen sechs von 36 Mitgliedern weiblich sein. Und wie sieht es unterhalb dieser Spitzenebene aus? Nicole Selmer ist stellvertretende Chefredakteurin des österreichischen Fußballmagazins Ballesterer und Mitgründerin des Netzwerks "F_in", Frauen im Fußball. Sie sagt: "Wenn man die Strukturen verändern will, geht es nur über Quoten. Also nicht über Selbstverpflichtung und irgendwelche Kooptierung und dann eine Frau von dreißig. Wenn du was verändert willst, brauchst du dreißig Prozent, mindestens. Alles darunter ist ein Feigenblatt." Von den rund 280 hauptamtlichen DFB-Mitarbeitern in Frankfurt sind rund vierzig Prozent weiblich, aber unter den Direktoren gibt es nur eine Frau. In den ehrenamtlichen Gremien der 21 Landesverbände sind die wenigen Frauen meist für Frauenförderung zuständig. Das soll sich ändern, auch durch ein Mentorenprogramm. DFB-Mentorenprogramm für Frauen Seit einem Jahr werden 24 interessierte Frauen mit Führungsaufgaben im Verband vertraut gemacht, erzählt Willi Hink. Als Direktor ist er beim DFB auch für die Qualifizierung verantwortlich: "Ich will jetzt hier keine Namen nennen, aber eher schwerer zugängliche, honorige Funktionäre, mit denen man schon zweimal reden musste. Nachdem sie sich dann haben überreden lassen und auch voll reingehängt haben und dann wirklich gesagt haben: Was kann ich für die Frau in ihrer Situation tun? Aber viel mehr: Wie kann ich ihr bei ihren Selbstzweifeln helfen und welche Tipps kann es geben, damit sie den nächsten richtigen Schritt zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Reihenfolge machen kann?" Dieses "Leadership-Programm" soll auf die Landes- und Kreisebenen ausgeweitet werden. Das ist ein Anfang. Doch zu einer Frauenquote, die in Politik und Wirtschaft längst etabliert ist, kann sich der DFB noch nicht durchringen.
Von Ronny Blaschke
Frauen gewinnen im Fußball Titel und sind sportlich erfolgreich. Doch was sagt das über den Stellenwert von Frauen im Fußball generell aus? Laut Football Against Racism in Europe sind nur 3,7 Prozent der Führungspositionen im europäischen Spitzenfußball von Frauen besetzt - und daran ändert sich nur langsam etwas.
"2017-07-09T19:29:00+02:00"
"2020-01-28T10:36:09.392000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauen-im-fussball-eine-haelfte-der-gesellschaft-fehlt-100.html
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"Starke Zunahme der Schäden"
Helfer arbeiten in dem vom Tiefenbach überfluteten Polling (Bayern). (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand) Lennart Pyritz: Bereits vor knapp zwei Jahren hatten Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, kurz PIK, eine Studie zu möglichen Hochwasserschäden in Deutschland unter Berücksichtigung des Klimawandels vorgelegt. Auftraggeber war der Gesamtverband der Deutschen Versicherer. Diese Studie haben die Experten nun noch einmal überarbeitet. Leitautor beider Veröffentlichungen ist Fred Hattermann vom PIK. Mit ihm habe ich vor der Sendung telefoniert. Derzeit liegen die jährlichen Schadenskosten in Deutschland bei etwa 500 Millionen Euro. Meine erste Frage am Telefon war nun: In welchem Ausmaß müssen wir uns künftig in Deutschland auf Flutschäden einstellen? Fred Hattermann: Auf unseren Computersimulationen sehen wir, dass es im günstigen Fall zu einer Verdopplung bis zum Ende des Jahrhunderts kommt und im ungünstigeren Fall im Mittel bis zu einer Vervierfachung. Günstig bedeutet es, dass wir eben Vorsorge betreiben insofern, als dass der Klimawandel nicht so stark ausfällt und im ungünstigen Fall hätten wir dann eine Temperaturzunahme, die so bis zu 4,5 Grad ginge hier. Und das wäre dann wirklich auch mit einer starken Zunahme der Schäden bis zu einer Vervierfachung verbunden. Lennart Pyritz: Welche Schäden haben Sie da berücksichtigt? Hattermann: Das sind Schäden an Eigenheimen und kleinen Betrieben. Die Daten davon hatten wir von den großen deutschen Versicherern für 5.000 Flussabschnitte in Deutschland, und dann gucken wir uns eben an aus der Modellkette, Klimamodell, biologisches Modell, wie häufig haben wir hier extreme Hochwasser, die dann eben zu Schäden führen. Das summieren wir auf, und dann sehen wir eben, wie stark diese untern den jeweiligen Bedingungen ansteigen. Wärmeatmosphäre nimmt mehr Feuchtigkeit auf Pyritz: Bevor wir genauer auf die Methodik der Studie eingehen, möchte ich nach den Ursachen fragen: Was sind denn konkret die klimatischen Faktoren für das steigende Risiko von Hochwasserschäden, das Ihre Studie zeigt? Hattermann: Es ist insgesamt schon so weltweit, dass die Temperaturen um circa einen Grad gestiegen sind, und eine Wärmeatmosphäre kann auch mehr Feuchte aufnehmen. Und da die meisten Flächen der Erde Ozeane sind, kommt es zu einer Aussättigung der Atmosphäre mit Feuchte, und das ist ein höheres Potenzial für Niederschläge. Tatsächlich steigen die Niederschläge weltweit um sieben, acht Prozent, schon beobachtet, und auch die intensiven Niederschläge steigen. Das ist natürlich auch ein bisschen regional unterschiedlich, aber insgesamt ist das Potenzial einfach höher für starke Niederschläge. Und starke Niederschläge bedeuten dann auch mehr Hochwasser. Pyritz: Sie haben es eben schon erwähnt, Sie haben Modellrechnungen gemacht. Und zwar haben Sie untersucht, wie sich klimabedingte Veränderungen auf die fünf größten deutschen Flüsse – Rhein, Donau, Elbe, Weser und Ems – auswirken werden oder könnten. Wie genau sind Sie dabei vorgegangen? Können Sie das noch mal ein bisschen kleinschrittiger darstellen? Hattermann: Am Ende ist es eine Modellkette. Wir gucken uns erst mal an, wie sind die Temperaturen unter jeweiligen Szenariobedingungen, also wie viel mehr Autos fahren in Zukunft, wie stark vermeiden wir auch Emissionen. Unter diesen Szenariobedingungen läuft dann ein globales Klimamodell, das erst mal den Temperaturanstieg darstellt, und in dieses globale Modell werden dann regionale Klimamodelle genestet. Das ist dann zum Beispiel für Deutschland oder für Europa, das eben kleinskaliger auflöst, wie das Wettergeschehen, das Niederschlagsgeschehen und der Temperaturanstieg in unserer Region ist – in Deutschland zum Beispiel –, und diese Daten. Das sind dann im Grunde tägliche Wetterdaten, die dieses Klimamodell liefert. Das füttern wir dann in ein hydrologisches, also in ein Wassermodell, wobei wir da mehr als 5.000 Flussabschnitte für Deutschland abbilden, also die fünf großen Flüsse auch mit den Oberligagebieten, da wo ja auch die Hochwasser entstehen, zum Beispiel Österreich, Schweiz und so weiter. Dann wird die Hochwasserwelle über die Flussläufe bis zur Nordsee durchgeleitet. Und wir gucken uns dann an, wie hoch diese Hochwasser sind. Dann haben wir wiederum Schadensdaten von den Versicherern für diese Flussabschnitte, also spezifisch für diese Flussabschnitte. Die sehen dann anders aus in Köln-Mitte, sage ich mal so, wie in einem ländlichen Standort. Dann sehen wir, aha, bei dem hätten wir einen Schaden von so und so, und das summieren wir dann über Deutschland auf oder über die Flussgebiete. Und dann kommen wir zu diesen Aussagen des Anstieges. Neue Studie kombiniert verschiedene Klimamodelle Pyritz: Sie haben ja jetzt noch einmal eine Studie aus dem Jahr 2014 überarbeitet. Welche neuen Daten sind da konkret eingeflossen? Hattermann: Die Kritik an der alten Studie war so ein wenig, dass wir nur ein globales Modell betrachtet hatten. Das ist das vom Max-Planck-Institut in Hamburg, das ist das deutsche globale Klimamodell. Und dann hatten wir da verschiedene regionale Klimamodelle genestet und die Daten in das hydrologische Modell gefüttert. Die Kritik war so ein bisschen, na ja, ihr habt ja das deutsche Modell genommen. Was ist denn, wenn ihr das englische nehmt als globalen Treiber oder wenn ihr das schwedische, kanadische und so weiter nehmt, da könnte es ja Unterschiede geben. Die sind ja nicht alle in ihrer Aussage absolut gleich. Das haben wir jetzt gemacht, wir haben das viel breiter aufgestellt, also eine viel größere Kombination von globalen und regionalen Modellen betrachtet. Das Frappierende an den Ergebnissen ist, dass egal welche Kombination wir betrachtet haben und egal, ob wir auch, ich sage mal, eine stärkere Vermeidungspolitik betreiben, also der Klimawandel nicht so stark ausfällt, es kommt in den neueren Szenarien immer zu einem Anstieg der Schäden. Ich hatte durchaus damit gerechnet, dass auch in einer dieser ganzen Läufe – insgesamt haben wir 35 betrachtet – es vielleicht auch mal zu einer Abnahme der Schäden kommt, aber das war nicht der Fall. Pyritz: In diesem Sommer hat sich ja gezeigt, dass bei Starkregen nicht nur Orte an großen Flüssen von Hochwasser betroffen sein können, zum Beispiel Braunsbach oder Oberzinn. Können Sie auch zum Risiko abseits von Rhein und Co Aussagen machen anhand Ihrer Studie? Hattermann: Ja, insofern schon, als dass dieses Risiko auch deutlich ansteigt. Es ist aber, umso kleiner die Gebiete werden – das kann man sich ja vorstellen – umso schwieriger ist die Aussage. Irgendwann kumulieren sich diese ganzen Abflüsse in den großen Flüssen. Die werden eigentlich immer betroffen sein. Es ist aber so, dass diese kleinen Gebiete ... das ist einfach sehr komplex das Wettergeschehen und dann auch ein bisschen vom Zufall abhängig. Insgesamt haben wir überhaupt zwei Hochwasserentstehungsgeschichten: Das sind einmal diese großen Flusshochwasser, wie wir sie 2002, 2013 an der Elbe hatten und in der Donau, und dann gibt es diese Sturzregengeschichten. Die sind einfach viel schwerer allein schon an der Wettervorhersage abzubilden. Die sind auch räumlich viel schwerer einzugrenzen. Was wir sagen können, ist, dass die auch häufiger auftreten werden, aber das lässt sich räumlich sehr viel schwerer eingrenzen. Wie gegensteuern? Pyritz: Mit welchen Maßnahmen lässt sich den steigenden Überschwemmungsgefahren denn nun entgegensteuern? Hattermann: Da gibt es eine ganze Facette von Maßnahmen. Das kann einmal persönlich sein, also dass die Leute auch wirklich auf Hochwasserwarnungen hören, was auch nicht immer der Fall ist, dass sie private Vorsorge treffen, also sich zum Beispiel versichern. Dann auf dem nächsten Level kann das sein, dass auch das Risikomanagement auf der kommunalen Ebene gesteigert wird, dass Deiche wirklich instandgehalten werden oder erhöht werden. Dann gibt es mobile Hochwasservermeidungswände, Sandsäcke, diese ganzen Geschichten. Dann auf der internationalen Skala, dass länderübergreifend das Risiko gemanagt wird, also vom Oberlieger – Schweiz, Österreich, Tschechien – zum Unterlieger, und dann vielleicht auf der ganz großen Skala, dass ein starker Temperaturanstieg tatsächlich vermieden wird. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Fred Hattermann im Gespräch mit Lennart Pyritz
Starkregen hat diesen Sommer schwere Schäden verursacht - und es könnte noch schlimmer kommen: Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung rechnen mit doppelt bis viermal so schweren Flutschäden bis zum Ende des Jahrhunderts, erklärt Leitautor Fred Hattermann im DLF.
"2016-07-20T16:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:42:15.150000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/klimawandel-starke-zunahme-der-schaeden-100.html
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Elektroreturn
Schätzungsweise 83 Millionen Handys liegen in deutschen Haushalten herum, weil die Besitzer ein neues haben, das alte aber eigentlich noch funktioniert und weil man es als Reserve gerne aufheben möchte. Irgendwann liegt dann das dritte oder vierte Reservehandy im Schrank und da schlummern in der Tat Werte, denn in einer Tonne Handys steckt z. B. ein Kilo Gold - oder anders gesagt - in einem Handy steckt Gold im Wert von einem Euro. Außer Gold enthält es aber auch noch andere wertvolle Inhaltsstoffe, die natürlich zum Recyceln interessant sind, sagt Verena Köttker vom Recyclingunternehmen Alba:"Aus dem Handy holt man erst mal die Edelmetalle heraus und die klassischen Metalle, also Kupfer, Aluminium, Silber, Gold. In der Regel sind die Platinen aus Silber oder Gold oder Kupfer, das sind die interessanten Metalle. Seltene Erden werden in der Tat auch verarbeitet, aber sie sind in so geringen Mengen in den Handys drin, dass wir das in Deutschland heute nicht zurückgewinnen können. Aber auch die Kunststoffe in den Handys werden heute recycelt und zurückgegeben in den Produktionsprozess."Damit der Verbraucher es möglichst einfach hat und möglichst viele Geräte bei Alba landen, können die Geräte kostenlos an Alba geschickt werden. Die Deutsche Post ist der Kooperationspartner von Alba. Unter www.electroreturn.de und auf der Internetseite der Post kann man sich einfach einen Aufkleber herunterladen und das Handy in einem Umschlag kostenlos an Alba schicken. Das gilt auch für andere kleine Elektrogeräte wie Rasierer, Navis oder Taschenradios. Das Trennen der Inhaltsstoffe ist dann ein recht aufwendiger Prozess:"Die Trennung des Edelmetalls Silber und Gold voneinander findet in speziellen Hütten statt, das machen wir nicht selber, sondern geben es an diese Hütten, die es dann wieder extrahieren, das geschieht unter großer Hitze. Und die Metalle die extrahieren wir über unserer Anlagen, das erfolgt in der Regel in einem automatischen Prozess der Zerstückelung, da arbeitet man mit der Frage des unterschiedlichen Gewichts der Metalle um die voneinander zu trennen und auch über Magnetabscheider. Dann wird das verkauft an Hütten zum Beispiel im Metallbereich, die das dann wieder einschmelzen und zu neuen Teilen verarbeiten."Bei Alba landen ungefähr 1000 Geräte im Monat. Über die Sammelstellen der örtlichen Abfallunternehmen über den Handel oder über Supermärkte werden inzwischen auch Handys gesammelt und in Teilen wiederverwertet. Das heißt entweder verschrottet und recycelt oder sogar für eine weitere Nutzung wiederaufbereitet. In Großbritannien bietet Apple seit Kurzem das sogenannte "Reuse and Recycling” Programm an. Nutzer können ihr altes iPhone direkt im Appleshop vorbeibringen. Dort wird es technisch inspiziert. Apple arbeitet es wieder auf und verkauft es wieder zu einem günstigeren Preis. Geräte, die nicht mehr verkauft werden können, werden - wie bei Alba auch - auseinandergenommen und recycelt. Als Gegenleistung gibt es einen Einkaufsgutschein für ein neues iPhone. Eine clevere Marketingidee und ein riesiger Markt. Besonders wenn man bedenkt, dass schon drei Tage nach Verkaufsstart für das neue iPhone 5 neun Millionen davon verkauft waren.Also von Apple kein Angebot aus reiner Umweltliebe, aber besser als wegschmeißen ist das allemal. In Deutschland landen immer noch die meisten alten Handys im ganz normalen Hausmüll.Weltweit entstehen laut Umweltprogramm der Vereinten Nationen jährlich 40 Mio. Tonnen Elektroschrott, davon 600.000 Tonnen allein in Deutschland.
Von Anja Nehls
Alte Handys, Rasierer oder Kofferradios - in vielen Haushalten gibt es wohl eine Schublade, in der ausrangierte kleine Elektrogeräte verschwinden. Dabei stecken in solchen Geräten kleine Schätze: Gold, Silber und Kupfer zum Beispiel. Ausrangierte Geräte sind bei einem Recyclingunternehmen besser aufgehoben als zu Hause.
"2013-11-13T11:35:00+01:00"
"2020-02-01T16:44:59.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/elektroreturn-100.html
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Therapie statt Gefängnis
Drogenkonsumenten werden in Portugal wie Kranke angesehen - nicht wie Kriminelle. (dpa / picture-alliance / Christophe Morin) Vor nunmehr 16 Jahren galt er vielen konservativen Politikern und Polizisten als Staatsfeind Nummer eins: João Goulão, Arzt und Leiter der portugiesischen Suchtkrankheitsbehörde SICAD. Damals hatte der Mediziner Portugals Regierung zu einem radikalen Schritt überzeugt. 2001 wurde der Konsum aller Drogen - weicher wie harter - im westlichsten Land Europas per Parlamentsbeschluss entkriminalisiert. João Goulão ist inzwischen einer der anerkanntesten Drogenfachleute der Welt. "Unser oberstes Ziel war und ist, den Menschen die Angebote zu machen, die sie brauchen. Suchtkranke werden beraten und behandelt. Wenn wir Risikofaktoren wie Familienprobleme oder psychologische Anfälligkeit entdecken, können wir eine mögliche Drogenkarriere verhindern. Das ist der große Vorteil unseres Systems." Drogenkonsumenten als Kranke, nicht als Verbrecher Denn in diesem System werden Drogenkonsumenten nicht mehr wie Verbrecher, sondern wie Kranke behandelt. Doch der Weg dahin war voller Widerstände, erinnert sich Goulão. Konservative Politiker fürchteten, Portugal würde zu einem Drogen-Reiseland für Süchtige aus aller Welt werden. Doch das ist nicht geschehen. Portugal habe eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen: Weniger Drogentote, weniger drogenbedingte Verbrechen. Selbst die Zahl der Konsumenten sei niedriger als in anderen Ländern Europas, so Drogenexperte João Goulão. "Heute können wir rückblickend sagen, dass nichts von dem geschehen ist, was die Kritiker sagten. Im Gegenteil, wir hatten eine sehr positive Entwicklung in allen Bereichen." Wer mit Rauschgift zum Eigengebrauch erwischt wird, egal ob Haschisch, Crack oder Crystal Meth, kommt nicht vor den Kadi, sondern vor eine Kommission aus Ärzten, Sozialarbeitern und Psychologen. Vasco Gomes ist Leiter einer Beratungsstelle in Lissabon: "Rund 80 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, sind Gelegenheitskonsumenten, keine Drogenkranken. Die klären wir über die Gefahren auf, informieren sie. Wir helfen ihnen, der Versuchung in Zukunft zu widerstehen." Auch Sanktionen für Konsumenten möglich In Einzelgesprächen wird die Ursache des Konsums hinterfragt und wenn nötig wird eine Therapie angeboten. Die kann der Betroffene nutzen oder nicht, alles geschieht ohne Zwang. In besonders schweren Fällen kann eine Kommission, die es überall im Land gibt, auch Sanktionen aussprechen. Ortsverbote, Gemeindearbeit und sogar Geldbußen. Sozialarbeiterin Elsa Belo ist eine von denen, die den Suchtkranken vor Ort Hilfe anbietet. In einem in die Jahre gekommenen, umgebauten Kleintransporter fährt sie bestimmte Stadtteile ab und verteilt Methadon gegen Rezept und hat ein Ohr für diejenigen, um die sich sonst niemand kümmern würde. "Wir stehen hier gewissermaßen an erster Front. Viele Menschen, die zu uns kommen, wenden sich nicht an andere Stellen. Sie hadern mit ihrem Schicksal. Viele von ihnen haben kein Geld, keine Arbeit, keine Familie, nichts." Staat zahlt Drogenersatzprogramme Das Geld für die Beratungs-Zentren und Drogenersatzprogramme mit Methadon kommt vom Staat. Geld, das bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität eingespart werden kann. Hugo, der beim Konsum von Drogen erwischt wurde, findet das gut. "Das ist doch besser, als jemanden gleich ins Gefängnis zu stecken. Ich finde es richtig, Drogenkonsumenten zu helfen, denn sie sind doch Opfer." Prävention und Heilung stehen beim portugiesischen Modell im Vordergrund, betont der Drogenexperte João Goulão, der das portugiesische Modell mit angeschoben hat. Die Straffreiheit sei nur ein logischer Nebeneffekt.
Von Bianca von der Au
Wer in Portugal mit Haschisch oder Crack für den Eigengebrauch erwischt wird, muss nicht vor den Richter, sondern zum Arzt oder Psychologen. Dort wird über die Gefahren aufgeklärt und, wenn nötig, eine Therapie angeboten. Portugal hat eines der liberalsten Drogengesetze der EU.
"2017-02-13T09:10:00+01:00"
"2020-01-28T10:14:56.384000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/portugals-drogenpolitik-therapie-statt-gefaengnis-100.html
91,342
Was passierte in Stuttgart?
Der Schaden wird auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag geschätzt. (dpa / Julian Rettig) 19 verletzte Polizisten, 24 vorläufige Festnahmen, Sachschäden im sechs- bis siebenstelligen Bereich. Das ist die Bilanz der Krawalle in Stuttgart am Wochenende. Dlf-Korrespondentin in Baden-Württemberg, Uschi Götz, berichtet über die bisherigen Erkenntnisse. Und: Die Forderungen nach stärkerer Positionierung der EU gegenüber China werden immer lauter. Dlf-Korrespondentin Bettina Klein erläutert, unter welchen Vorzeichen die Verhandlungen zu einem Investitionsabkommen stehen.
Von Katharina Peetz
Die Aufklärung der Krawalle in Stuttgart am Wochenende, bei denen Polizisten angegriffen und Geschäfte geplündert worden sind, hält an. Außerdem: Wie hat sich das Verhältnis der EU zu China in letzter Zeit gewandelt?
"2020-06-22T17:00:00+02:00"
"2020-06-23T09:22:38.436000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-was-passierte-in-stuttgart-100.html
91,343
Löschung kann Monate dauern
Der Moorbrand in Niedersachsen dürfte schwer zu löschen sein, so Moorforscher Peters im Dlf (dpa / picture alliance / Stephan Konjer) Prinzipiell sei es naheliegend, Areale wie Moore oder Heidelandschaften für militärische Zwecke zu nutzen, "weil Moore vor allem in früherer Zeit sehr schwer zugänglich waren und Hochmoorgebiete gleichzeitig sehr nährstoffarme, und dafür für die Landwirtschaft und auch Fortwirtschaft relativ unbrauchbare, Gebiete sind", sagte Jan Peters im Dlf. Wenn der Torfkörper ausgetrocknet sei, fange er schnell Feuer. "Und gerade in diesem trockenen Sommer, wo ja auch die Landwirtschaft unter den ausbleibenden Niederschlägen zu leiden hatte, ist eben der Torfkörper ausgetrocknet." Torf bestehe zum größten Teil aus nicht abgebauten totem Pflanzenmaterial, und das brenne sehr gut, so Peters. "Es ist sehr, sehr schwer möglich, das zu löschen" "Wenn es erst mal brennt in den tiefen Torfschichten, dann ist es eben sehr, sehr schwer möglich, das zu löschen." Das merke man auch daran, dass die Einsatzkräfte schon seit zwei Wochen am Werk seien. "Wir haben Erfahrungen aus Russland, wo 2010 große Moorflächen rund um Moskau brannten - da hat man auch noch Monate später im Winter noch Schwelbrände in den Wäldern gefunden. Das kann sich noch Wochen, im schlimmsten Fall Monate hinziehen, bis das zu löschen ist." Ideal sei es, im Vorfeld zu verhindern, dass der Torf vertrockne. Ob es technisch möglich sei, das Moor mit Wasser zu überfluten, um die Brände zu löschen, könne er nicht sagen, so Peters. Dafür brauche es eine große Menge an Wasser, die wohl aktuell sehr schwer zu bekommen sei. "Außerdem besteht von der Naturschutz-Seite auch ein Problem, weil man mit dem Eintrag von Oberflächenwasser, was zum Teil durch Dünger verseucht ist, dem Gebiet zusätzlich schaden könnte und langfristig schaden kann. Das ist sehr schwer abzusehen." Diese Gebiete würden natürlicherweise nämlich nur durch Niederschlagswasser gespeist, was kaum Nährstoffe enthalte.
Jan Peters im Gespräch mit Uli Blumenthal
Die Löschung des Moorbrandes im niedersächsischen Meppen könne sich im schlimmsten Fall über Monate hinziehen, sagte der Moorforscher Jan Peters im Dlf. Der Torf sei durch den heißen Sommer ausgetrocknet und bestehe zudem aus totem Pflanzenmaterial - und das brenne sehr gut.
"2018-09-19T16:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:11:41.795000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/moorbrand-in-meppen-loeschung-kann-monate-dauern-100.html
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Automobilexperte: Die nächsten drei Jahre sind für Opel entscheidend
Tobias Armbrüster: Einer der besten Kenner der deutschen Automobilwirtschaft ist Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft Hannover und Bergisch-Gladbach.Mein Kollege Peter Kapern hat gestern Abend mit ihm gesprochen und er wollte von ihm wissen, ob die Schließung des Bochumer Opel-Werks unausweichlich ist. Stefan Bratzel: Aus meiner Sicht ist es unausweichlich und der Schritt kommt aus meiner Sicht relativ spät, weil es war schon eigentlich seit Jahren klar, dass Opel mit den Überkapazitäten, die sie haben, sicherlich nicht durch die nächste Krise kommen werden, und man hat genau den Fehler gemacht, dass man eigentlich viel zu lange gewartet hat, immer sozusagen schrittweise ein bisschen saniert, aber nie so viel, wie es eigentlich notwendig war, um Opel wieder in die schwarzen Zahlen, und zwar nachhaltig in die schwarzen Zahlen zu bringen. Das ist einer der Gründe für die ganze Misere von Opel.Peter Kapern: Bevor wir uns noch mal dieser Misere dieses Traditionsherstellers widmen, noch mal ein Blick auf diesen Standort im Ruhrgebiet. Da heißt es nun von der Unternehmensführung, dort könnten zukünftig wenigstens noch Teile produziert werden. Ist das mehr als weiße Salbe für die Opelaner in Bochum?Bratzel: Ja, ich glaube nicht, dass es viel mehr als weiße Salbe ist. Wir erleben ja schon seit vielen Jahren so ein Sterben auf Raten des Standortes in Bochum, der ja in seinen Glanzzeiten mal über 20.000 Arbeitsplätze hatte. Mittlerweile sind es noch 3000 Arbeitsplätze. Ich glaube, das ist tatsächlich wieder ein weiterer Sargnagel. Und wenn ich eine Prognose wagen darf, dann die, dass in ein paar Jahren wahrscheinlich auch hier die Arbeitsplätze rund um ein mögliches Getriebewerk dann weggefallen sind.Kapern: Sie sagten eben, die Werksschließung in Bochum komme zu spät. Wann wäre sie rechtzeitig gewesen?Bratzel: Nun, es ist so, dass Opel ja schon seit zwölf Jahren in großen Problemen ist. Und man hat tatsächlich immer versucht, so ein bisschen an Symptomen herumzukurieren. Und das hat dann dazu geführt, dass Opel seit vielen Jahren nicht nur immer in den roten Zahlen ist, sondern eben auch immer negativ in der Presse. Spätestens hätte dieser Schritt passieren müssen, als auch GM eine große Zahl, eine zweistellige Zahl von Werken schloss in den USA. Auch da hätte dann in der Krise 2008/2009 man diesen unangenehmen, gerade auch für die Familien harten Schritt eigentlich nehmen müssen und dann eben Bochum schließen. Das wäre aus meiner Sicht rechtzeitiger gewesen und dann hätte man eher zwei, drei Jahre gewonnen als jetzt der Schritt 2016.Kapern: Nun verweist man ja bei den Belegschaften in den Opel-Werken immer darauf, dass General Motors eigentlich die Verantwortung für den Niedergang von Opel trage, weil nicht investiert worden sei, weil Opel seine Autos in Asien nicht verkaufen darf. Wenn also das Problem tatsächlich die Überkapazitäten hier waren, haben die Betriebsräte hier die Sanierung erschwert und nicht die General-Motors-Führung in den USA?Bratzel: Nun, es ist natürlich auch richtig, was die Betriebsräte sagen. Nur es hilft nicht weiter. Es ist tatsächlich so, dass über viele Jahre GM wirklich ein sehr, sehr schlechtes Management in Europa gemacht hat, insbesondere mit Opel gemacht hat, und viele strategische Fehler tatsächlich begangen hat. Insofern hilft es ja nur, nach vorne zu gucken. Und wenn man die Situation jetzt betrachtet, haben wir eine enorm starke Wettbewerbsintensität in der Branche. Opel wird zerdrückt, von oben kommen die Premium-Hersteller, die in das Geschäft von Opel ja auch im Kleinwagen- und Mittelklassebereich gehen. Und von unten drücken die Low-Cost-Billiganbieter aus Korea, Kia, Hyundai beispielsweise. Und man ist als Opel mittlerweile immer mehr ein Massenhersteller, aber ohne Masse, geworden. Und das in einem Hochlohnland Deutschland ist fatal. Das halten nur wenige durch.Kapern: Gleichwohl bleibt ja festzuhalten, dass Opel auf Weisung von General Motors seine Autos auf den boomenden asiatischen Märkten nicht verkaufen darf. Können Sie mir den tieferen Sinn dieses Verkaufsverbots erklären?Bratzel: Nein, kann ich auch nicht. Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, dass Opel auch Fahrzeuge im chinesischen Markt verkauft. Das macht auch Volkswagen sehr gut, verkauft dort Volkswagen, Audi und Skoda mit sehr großem Erfolg. Und das ginge auch sicherlich innerhalb des GM-Konzerns mit Opel. Nur, es ist eben so, dass sich GM erst mal entschieden hat, mit der Marke Chevrolet in diesen Markt China sehr stark hineinzugehen. Und aus der Sicht von GM wollen sie nicht eine Marke, die auch in Europa nicht erfolgreich ist, auch noch in den chinesischen Markt bringen. Also es wurden viele Fehler gemacht, die meisten von GM, auch einige sicherlich hier in Deutschland.Kapern: Herr Bratzel, eben sagten Sie, man müsse jetzt nach vorne schauen. Versuchen wir das mal. Wenn Bochum geschlossen ist, ist Opel dann über den Berg?Bratzel: Nein, Opel ist sicherlich dann nicht durch den Berg Es ist eine wichtige, notwendige Maßnahme, tatsächlich die Kosten reduzieren, die Kapazitäten zu reduzieren, aber diese Maßnahme ist sicherlich nicht hinreichend. Was es sicherlich braucht ist eine Verbreiterung des Produkt-Portfolios. Man muss sozusagen so gut werden wie Wettbewerber wie Volkswagen beispielsweise. Dazu ist eine Verbreiterung der Produktpalette notwendig, es sind neue Motoren und Getriebe notwendig und, was ganz wichtig ist: Man muss aus diesen negativen Schlagzeilen hinaus, um das Image der Marke nicht weiter zu belasten.Kapern: Wenn Opel vor ein paar Jahren an Magna verkauft worden wäre, ginge es dem Konzern heute besser?Bratzel: Aus meiner Sicht wäre das keine Option gewesen. Wir sehen im Moment, dass Unternehmen, die nicht eine strategische Größe haben, in große Probleme kommen. Schauen Sie sich beispielsweise Peugeot-Citroen an, ein Hersteller aus Frankreich, der rund 60 Prozent seiner Verkäufe nur in den europäischen Markt bringt. Der hat riesige Probleme allein, auch weil er nicht auf die Stückzahlen kommt und weil es ihm nicht gelingt, in diese großen Wachstumsmärkte wie China reinzugehen. Und das hätte mit Magna sicherlich auch nicht geklappt, weil Magna als Automobilzulieferer eben auch diesen Zugang nicht gehabt hat. Insofern ist das aus meiner Sicht überhaupt keine Option, Opel gar alleine auf die Reise zu schicken in einem hoch wettbewerbsintensiven, globalen Markt.Kapern: Wie viele Jahre hat Opel noch Zeit, um sich zu retten?Bratzel: Aus meiner Sicht ist das jetzt die letzte Chance. Die nächsten drei Jahre sind sicherlich entscheidend. Diese Sanierung muss gelingen, sonst sieht es tatsächlich sehr schlecht aus für die Marke Opel.Armbrüster: Soweit der Autoexperte Stefan Bratzel im Gespräch mit meinem Kollegen Peter Kapern.Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.Weitere Beiträge bei dradio.de:Opel legt Autoproduktion in Bochum ab 2016 still - Rösler kritisiert General Motors
Stefan Bratzel im Gespräch mit Peter Kapern
Der Automobilexperte Stefan Bratzel hält die Schließung des Bochumer Werkes für unausweichlich, auch der geplanten Fortführung des Getriebewerks gibt er keine Chance. Opel sei schon seit zwölf Jahren in großen Problemen, immer mehr zu einem "Massenhersteller, aber ohne Masse" geworden.
"2012-12-11T05:20:00+01:00"
"2020-02-02T14:37:14.706000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/automobilexperte-die-naechsten-drei-jahre-sind-fuer-opel-100.html
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"Die Plattform wird vorsichtig sein, Inhalte zu zensieren"
Die beliebte Kurzvideo-App TikTok gehört zu dem chinesischen Konzern ByteDance. (picture alliance/dpa) Bettina Schmieding: Spätestens seit die Tagesschau letzte Woche auf TikTok äußerst erfolgreich startete, überlegen auch andere deutsche Medien, ob an dieser Plattform ein Weg vorbeigeht, wenn man junge Nutzer erreichen will. In einem Mini-Video ist unser aller Tagesschau-Sprecher Jan Hofer in einem animierten Clip dabei zu beobachten, wie er sich eine Krawatte aussucht. Stephan Scheuer ist Redakteur beim Handelsblatt, war China-Korrespondent. Sie sagen, TikTok will in Deutschland gut Wetter machen - wie genau kann das funktionieren? Stephan Scheuer: Der Fokus von TikTok hier in Deutschland liegt ganz klar auf Themen, die sehr vorausschauend sind, also beispielsweise Body Positivity. Das ist ja so ein Bereich, in dem sich gerade auch Medienmacher damit auseinandersetzen, dass eben Menschen, die vielleicht nicht einem klassischen Schönheitsideal entsprechen, dafür nicht diskriminiert werden sollen, sondern das als etwas Positives dargestellt wird. Und da hat TikTok eine ganze Reihe von Videoaktionen angestoßen, um genau dieses Thema voranzubringen. Und das ist etwas, wo wir uns ja auch alle drauf einigen würden, dass es was Gutes ist, Menschen, die von der Norm abweichen, nicht zu diskriminieren. Schmieding: Trotzdem gibt es ja diese Vorwürfe und die lassen nicht nach: dass TikTok oder die chinesische Führung über TikTok, wenn es diese Verbindung denn gibt, zensiert, vielleicht auch manipuliert in der Art und Weise, wie dort Inhalte moderiert werden. Wird TikTok aus Peking gelenkt? Was meinen Sie? Scheuer: Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Aber das, was man sich immer vor Augen führen muss, ist, dass in China alle Unternehmen, die sich gerade mit Inhalten und gerade auch mit Medienproduktion, also mit Nachrichten, beschäftigen, sehr, sehr strengen Vorgaben unterworfen sind. Und ich halte es für unwahrscheinlich, dass jetzt irgendwie der chinesische Staat TikTok lenkt. Allerdings ist TikTok eben ein Unternehmen, das all diesen Regeln unterworfen ist. Und wenn TikTok international negativ auffallen sollte, für beispielsweise die Verbreitung von chinakritischen Inhalten, besteht natürlich immer die Gefahr, dass das zu Verwerfungen auf dem Heimatmarkt führt. Sprich, dass TikTok dafür Ärger bekommt, was auf der Plattform im Ausland stattfindet. "Unterschiedliche Länder, unterschiedliche Regeln" Schmieding: Also wenn TikTok politische Inhalte zum Beispiel unterdrückt, würde die App das proaktiv tun, weil sie nach chinesischen Regeln handelt? Scheuer: Wir müssen da ein bisschen unterscheiden. Also: Wenn TikTok jetzt international als Plattform für besonders chinakritische Inhalte gelten sollte, ist die Gefahr sehr groß, dass das zu negativen Konsequenzen in China führen könnte. TikTok selbst hat natürlich die Schwierigkeit, wie auch alle möglichen anderen Plattformen aus den USA, dass sie in sehr vielen unterschiedlichen Ländern aktiv sind, in denen unterschiedliche Regeln gelten. Das, was TikTok derzeit versucht, ist, Moderationsregeln für einzelne Länder anzupassen. Und eine dieser Ideen geht dahin, sich gerade auf Themen zu stürzen, die eben nicht so kontrovers sind. Schmieding: netzpolitik.org konnte in diese Moderationsregeln hineinschauen, hat mit einer Quelle aus TikTok selber gesprochen. Was konnten Sie daran erkennen? Wie geht TikTok hier in Deutschland mit chinakritischen Inhalten um? Scheuer: Was interessant ist an dieser Bereitstellung der Moderationsregeln über netzpolitik.org ist, dass eben ein großer Teil dieser Überprüfung von Inhalten in Deutschland gar nicht in Deutschland selbst geschieht. Also TikTok hat zwar ein Team von Menschen, die sich Inhalte anschauen, die in Berlin sitzen, allerdings wird auch ein großer Teil dieser Kontrolle in Spanien bzw. auch in China vollzogen. Was dort dann auch von netzpolitik.org aufgedeckt wurde, ist, dass diese Moderationsregeln sehr, sehr vage sind. Und gerade solche vagen Regeln, wissen wir natürlich auch immer wieder, führen auch dazu, dass der eine oder andere Regeln vielleicht noch viel, viel strenger auslegt. Und genau das ist, was dort passieren könnte. Wo laut netzpolitik.org einer der Bereiche besteht, die sehr kritisch gesehen werden, sind politische Auseinandersetzungen generell. Das heißt, bei ganz vielen Bereichen, wo nicht klar ist, ob das jetzt in Ordnung ist oder nicht, wird vermutlich ein Moderator eher versuchen, Inhalte zu unterdrücken oder nicht zirkulieren zu lassen. TikTok selbst betont die ganze Zeit, dass man auch über Hongkong kritisch reden kann. Es gibt zwar, wenn man die Plattform anschaut, auch Inhalte zu Hongkong - das ist allerdings nicht besonders viel. "Gelingt es, kritische Berichterstattung zu trannsportieren?" Schmieding: Das, was Sie sagen, im Hinterkopf, Herr Scheuer: Ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll, dass die Washington Post beispielsweise oder auch die Tagesschau bei TikTok mitmischen? Scheuer: Das ist unglaublich spannend, weil man da aus zwei Perspektiven draufschauen kann. Das Eine ist erst einmal der Ansatz, zu sagen: Na gut, wenn die Tagesschau auch TikTok nutzt, dann wird TikTok auch sehr, sehr vorsichtig sein, Inhalte der Tagesschau dort zu zensieren. Von daher kann sowas wie das Auftreten großer Medien dazu führen, dass diese Plattform auch offener wird und auch mehr Diskussion zulässt. Auf der anderen Seite führt natürlich die Tagesschau, die jetzt TikTok nutzt, dazu, dass die Plattform eine Legitimation bekommt. Ich finde, man muss sich das sehr, sehr genau angucken und muss auch sehr genau angucken, ob es der Tagesschau denn gelingt, genauso eine kritische Berichterstattung, wie sie sie normalerweise vorantreibt, auch auf TikTok zu transportieren. "Peking hat einen anderen Blick darauf, was Journalisten sollen" Schmieding: Ein aktueller Anlass für diese kritische Art der Berichterstattung wäre jetzt die Recherche zu "China Cables". Wie gespalten das Verhalten der chinesischen Führung zu Medien ist, wie ja auch die Tagesschau eines ist. Das kann man bei "China Cables" erkennen: Eine journalistische Recherche wie diese, die hat herausgefunden, dass die Minderheit der Uiguren in Internierungslagern einsitzt. Die erste Reaktion von China war: Die Medien sind schuld, sie stören die Ordnung. Ist das typisch, Ihrer Erfahrung nach? Scheuer: Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist, dass die Arbeit für uns als ausländische Journalisten, aber auch gerade für unsere chinesischen Kollegen und Kolleginnen immer weiter eingeschränkt worden ist. Das heißt, Peking gibt immer weniger Möglichkeit für Journalisten, sich auch kritisch mit der chinesischen Politik auseinanderzusetzen. Und ganz im Gegensatz dazu wird häufig betont, dass Journalisten doch eine Rolle spielen sollen dabei, ein positives Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Und genau diesem Narrativ entspricht dann natürlich der Blick auf solche Skandale. Peking hat einen anderen Blick darauf, was Journalisten sollen. Sie sollen eben nicht unabhängig und kritisch berichten, sondern sie sollen eher dafür sorgen, dass Harmonie in der Gesellschaft herrscht. Aber das hat aus unserer Sicht natürlich überhaupt gar nichts damit zu tun, was die Kernaufgabe von Journalismus ist. Und das ist sehr gefährlich. Schmieding: Ist es trotzdem möglich, dass solche Recherchen wie die zu "China Cables" in irgendeiner Weise Veränderungen der chinesischen Politik nach sich ziehen? Scheuer: Das Interessante dabei ist, dass die Dokumente von chinesischer Seite mit Journalisten geteilt worden sind. Kristin Shi-Kupfer vonm Mercator-Institut für China-Studien hat sich damit auseinandergesetzt und hat gesagt: Das könnte doch ein Hinweis darauf sein, dass es eben in China auch Kräfte gibt, die das eben auch sehr kritisch sehen, was dort von der Parteiführung vollzogen wird. Und die gerade deswegen den Weg über internationale Medien gesucht haben, um dort auf Missstände hinzuweisen. Also: Ja, es scheint schon möglich zu sein, dass es dort auch Veränderungen gibt. Und es scheint dort auch Menschen zu geben, die genau diese Politik sehr, sehr kritisch sehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stephan Scheuer im Gespräch mit Bettina Schmieding
Sorgt die Tagesschau für mehr Offenheit bei TikTok? Oder sorgt Deutschlands renommierte Nachrichtenredaktion dafür, dass die Plattform Legitimation erhält? Dass große Medien TikTok nutzen, könne unterschiedlich gewertet werden, sagte IT-Journalist Stephan Scheuer im Dlf.
"2019-11-26T15:35:00+01:00"
"2020-01-26T23:20:59.008000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tagesschau-auf-tiktok-die-plattform-wird-vorsichtig-sein-100.html
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Eine Art Zivilisationsrevolution
Studierende bei einer Kundgebung in Minsk am 26. Oktober 2020 (www.imago-images.de) Seinen 2018 geschriebenen Essay im Auftrag der Boris Nemtsov-Stiftung für die Freiheit hat Maksim Goriunov für den Deutschlandfunk aktualisiert. In der Neufassung hat er die universellen sowie politischen Motive und die nationalen Besonderheiten in Belarus neu eingeordnet. Maksim Goriunov, geboren in Uman, Ukraine. Abschluss an der Philosophischen Fakultät der Lomonossow-Staatsuniversität Moskau. Seit 2018 ist er ständiger Co-Präsident der Sendung "IDEA X" im Europäischen Radio für Belarus. 2020 wurde auf der Grundlage des Programms das Buch "Die belarussische Nationalidee: 85 Interviews über das, was Belarus ist und wer die Belarussen sind" veröffentlicht. Belarus - Texte und Stimmen Eine Reihe in sieben Teilen Über Minsk (20.12.2020) Stadt, Land, Widerstand - das Phänomen Andrus Horvatelarus (25.12.2020) Swetlana Alexijewitsch: "Ich sah plötzlich ganz andere Menschen" (26.12.2020) Der Gefangenentransporter Awtosak (27.12.2020) Die Frage der Nation (01.01.2021) Eine Art Zivilisationsrevolution (03.01.2021) Die mutigen Frauen in Kunst und Politik (10.01.2021) Wie viele Intellektuelle der jüngeren Generation ist auch Maksim Goriunov Anhänger von Thesen Valentin Akudowitschs. Er nennt ihn "Patriarchen der belarussischen Philosophie". Über Akudowitschs Buch "Der Abwesenheitscode" haben wir in dieser Sendereihe bereits gesprochen. Das finden Sie online in der Dlf-Audiothek. Im Sinne von Akudowitsch geht es um die Idee eines Staates mit freien und gleichen Bürgern. Wie sieht es aus, wenn Maksim Goriunov darüber nachdenkt, die jüngere Generation im Blick? 2018 nahm er an einer Tagung zum Zukunftsbild der neuen Generation der Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit teil. Seinen damals formulierten Essay über die gesellschaftliche Entwicklung in Belarus hat Maksim Goriunov für den Deutschlandfunk neu aufgesetzt: Belarus Belarus tauchte urplötzlich und gleichsam aus dem Nichts in den weltweiten Massenmedien auf. Weder internationale Experten noch solche innerhalb des Landes hatten erwartet, dass das belarussische Volk, das Alexander Lukaschenko fünfmal nacheinander gewählt hatte (beim ersten Mal im zweiten Wahlgang), plötzlich entscheiden könnte, dass das Land reif sei für Veränderungen. Alle waren davon ausgegangen, dass die Menschen in Belarus und Lukaschenko eine starke Beziehung zueinander hätten und dass die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 genauso ruhig verlaufen würden wie die Wahlen im Jahr 2015. Als im August 200.000 Bürger in Minsk auf die Straße gingen, schrieben viele, dass ein politisch aktiver Belarusse ein neuer "schwarzer Schwan" sei. Belarus - Texte und Stimmen (1/7) - Über MinskDie Medien zeigen die großen Straßen und Prospekte von Minsk seit dem 9. August 2020 als Zentrum von Demonstrationen hunderttausender Menschen gegen Machthaber Lukaschenko und die manipulierte Präsidentschaftswahl. Für Europäer ist Minsk bislang eher eine Durchfahrts-Stadt. Über Minsk führt der Weg von Berlin nach Moskau. Trotz der Überraschung gab es zunächst keine Diskussionen darüber, warum der Wunsch der Bürger von Belarus, frei zu leben, seit 30 Jahren nicht mehr gehört worden war. Der Etikette folgend begegnet man Belarus als einem weiteren unbekannten, aber vielversprechenden Land Osteuropas vorsichtig und voller Optimismus. Wenn wir uns nicht in die Vergangenheit vertiefen und nur die aktuellen Aktivitäten junger Menschen und der Diaspora betrachten, dann sieht Belarus tatsächlich wie ein Land mit guten Perspektiven aus. Die Medien heben oft die beeindruckende Sauberkeit und den gesetzestreuen Gehorsam der Demonstranten hervor. Wenn die Belarussen nach den Kundgebungen nach Hause gehen, räumen sie ihren Müll hinter sich auf. Sie spenden in Rekordzeit riesige Summen, um den Opfern der Behördenmaßnahmen zu helfen. Die Nachricht darüber, dass die Belarussen innerhalb von einer Woche zwei Millionen Pfund für diejenigen sammelten, die wegen ihres bürgerlichen Engagements entlassen wurden, stand in vielen Zeitungen. Wie Leo Tolstoi in seinen Predigten gefordert hatte, dass man Böses nicht mit Bösem vergelten dürfe, so verzichten sie beharrlich auf eine Erwiderung der durch die Polizei ausgeübten Gewalt. Bis Ende November 2020 kamen 14 Teilnehmer der Proteste zu Tode. Keiner von ihnen wurde jedoch bei Rangeleien getötet. Die meisten wurden auf barbarische Weise entführt und von anonymen schwarzgekleideten Männern zu Tode geprügelt. Ohne ins Detail gehen zu wollen: Die Wahlen in Belarus gewann wieder einmal eine Frau, Svetlana Tichonovskaja, eine Englischlehrerin, die als Kind lange in Irland gelebt hat. Die Fotos mit ihren Mitarbeiterinnen Veronika Tsepkalo und Svetlana Kolesnitschenko ähneln frappierend dem aufsehenerregenden Foto des finnischen Kabinetts mit der Premierministerin, der Finanz-, Innen-, Bildungs- und der Justizministerin im Dezember 2019. Svetlana Tichonovskaja ist 38 Jahre alt und Sanna Marin, die finnische Ministerpräsidentin, ist 35. Vergleicht man ihre Fotos, kommt man leicht zu dem Schluss, dass es sich bei Belarus um eine hochentwickelte Gesellschaft mit der Tendenz zu Gleichheit und Freiheit handelt. Andererseits ist es schwer nachzuvollziehen, wie eine so hochentwickelte Gesellschaft seit 26 Jahren von einer so grobschlächtigen Figur wie Lukaschenko regiert wird. Zum Beispiel hat er sich nicht davor gescheut, einen der Präsidentschaftskandidaten öffentlich als "Eber", seine Frau als "Sau" und ihre totgeborenen Kinder als "Ferkel" zu bezeichnen: "Die Qualität der Ferkel hängt nicht nur von der Sau, sondern auch vom Eber ab." Das Video, auf dem er dies sagt, wurde von seiner Administration veröffentlicht. Belarus - Texte und Stimmen (2/7) - Das Phänomen Andrus HorvatIn seinem Blog schreibt der belarussische Journalist Andrus Horvat von seinem Leben in einem kleinen abgelegenen Dorf und zieht damit viele Leser an. Themen sind der dort gebräuchliche Dialekt, Geschichten von Einsamkeit, Downshifting – und Gespräche über eingelegte Salzgurken. Die Einschätzungen der Experten außerhalb von Belarus lassen keine Antwort auf diese Frage erkennen. In den meisten Fällen betrachten sie Lukaschenko als einen Fehlgriff und vergleichen salopp, was in Minsk vor sich geht, mit Polen zu Beginn der achtziger Jahre, mit der Ukraine nach der Jahrtausendwende, mit Rumänien Ende der achtziger Jahre und sogar mit dem, was zur Zeit in Hongkong passiert, wobei sie das verbindende Element in der Rolle von Messenger-Diensten bei der Kommunikation zwischen den Protestierenden sehen. Im Inneren von Belarus herrschen gänzlich andere Meinungen vor. Auch drei Monate nach Beginn der Massenproteste weigern sich viele belarussische Experten zu glauben, dass dies tatsächlich in Belarus geschieht und nicht in irgendeinem anderen Land. Die vielen jungen Männer und Frauen mit weiß-rot-weißen Flaggen verwirren sie völlig. Und die Nachricht, dass die Belarussen eng mit der Diaspora vernetzt sind, die die Proteste unterstützt, erstaunt sie. Dies betrifft vor allem die "alte Garde". Lukaschenkos Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen 1994, Zenon Poznjak, glaubt so wenig an die Aufrichtigkeit des Geschehens, dass er bei den Kundgebungen die Hand Moskaus im Spiel sieht und vermutet, dass sich Belarus dadurch noch tiefer in die Fänge der Russischen Föderation begibt. Zwei ehemalige Präsidentschaftskandidaten aus den Jahren 2010 und 2006, der Rechtsanwalt Ales Michalewitsch und Professor Alexander Kozulin, weigern sich rundheraus, mit den Medien zu kommunizieren und die Geschehnisse zu kommentieren. Ratlosigkeit Der Grund für die Ratlosigkeit der Experten liegt in der seit Jahrzehnten andauernden politischen und sozialen Apathie des belarussischen Volkes. Noch zu Beginn dieses Jahres schien es den Belarussen vollkommen gleichgültig zu sein, wer sie regiert und wie. Dafür gab es zahlreiche Beispiele. Im Frühjahr 2020 fand sich Lukaschenko in den Schlagzeilen buchstäblich aller Medien dieses Planeten wieder, als er sich weigerte, die Gefährlichkeit von COVID‑19 anzuerkennen, und Wodka und die Feldarbeit auf einem Traktor als Medizin dagegen empfahl. Viele Experten behaupten, diese Empfehlungen hätten ihn seine Karriere gekostet. Das Problem besteht darin, dass er schon früher nicht weniger extravagante Erklärungen abgegeben hat, doch die Menschen in Belarus haben bisher so getan, als sei das nicht ihr Präsident und nicht ihr Land. Im Juni 2017 ordnete Lukaschenko an, mit der landwirtschaftlichen Nutzung der nach dem Tschernobyl-Unfall verstrahlten Gebiete zu beginnen. Seiner Meinung nach sei die Strahlung verschwunden. Das staatliche Fernsehen sendete einen Bericht darüber, wie er in die Gebiete an der Grenze zur Sperrzone fuhr und Bienenstöcke, Bauernhöfe und Viehweiden inspizierte. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Krebsrate in diesem Land viel höher ist als in seinen Nachbarländern. In den ersten Jahren nach dem Unfall wurden Kinder ins Ausland gebracht, um sie vor der Strahlung zu schützen. Svetlana Tichanovskaja wuchs als Kind genau aus diesem Grund in Irland auf. Das schwerste Buch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ist den Schrecken des Strahlungstodes gewidmet. Die Aussicht, dass bald Lebensmittel aus Tschernobyl in den Regalen stehen werden, hat die Menschen nicht auf die Straße getrieben. Es gab ein leises Gemurmel in den sozialen Netzwerken und die Empfehlung, Lebensmittel aus relativ sauberen Gebieten in der Nähe der lettischen Grenze zu kaufen. Im April 2019 befahl Lukaschenko, die Gedenkkreuze von den Orten der stalinistischen Massenhinrichtungen auf dem Kuropaty-Gelände bei Minsk zu entfernen. Verschiedenen Berichten zufolge wurden hier mehr als 30.000 Menschen hingerichtet. Das Ausmaß der Repression wird durch die Tatsache erhärtet, dass 10 von 10 Führern der Zwischenkriegszeit in Belarus hingerichtet wurden. Im Jahre 1988 wurde erstmals in einem Artikel der Zeitung "Literatur und Kunst" darüber berichtet, warum in diesem Wald so viele menschliche Knochen gefunden werden. Das Vorwort zu diesem Artikel schrieb Vasil Bykov, einer der angesehensten Schriftsteller in Belarus. 1994 besuchte der US-Präsident Bill Clinton das Kuropaty‑Gelände. Lukaschenko behauptet, dass es keine stalinistischen Hinrichtungen gab. Sein ehemaliger Innenminister, Igor Schunewitsch, trug an staatlichen Feiertagen die Uniform eines NKWD-Kommissars. Im Dezember 2019 flog Lukaschenko zu Vladimir Putin nach Sotschi, um Verhandlungen über eine neue Etappe der "tiefen Integration" von Belarus in die Russische Föderation zu führen. Vor dem Hintergrund der Besetzung der Krim, des fortdauernden Krieges im Osten der Ukraine und der toxischen Kolonialpropaganda in den russischen Medien, die auch in Minsk empfangen werden, gab es viele Gerüchte darüber, dass Lukaschenko dahin geflogen sei, um "das Land zu übergeben". Seine Regierung hat mit ihren ungeschickten Kommentaren die Situation nur verschärft. Aus Angst vor dem Verlust der Souveränität rief der Oppositionelle Pavel Severinets die Bürger auf, sich auf dem Platz zu versammeln: Fünf- oder sechshundert Menschen kamen. Sie liefen mehrere Stunden lang durch das finstere und halbleere winterliche Minsk und gingen dann wieder auseinander. Einige Wochen später erhielt Severinets eine Vorladung vor Gericht. Nur wenige Menschen kamen, um ihn zu unterstützen. Da man Dutzende solcher Beispiele kannte, fiel es schwer sich vorzustellen, dass dieselben Leute eines Tages beschließen würden, dass es jetzt reicht. Man hätte eher annehmen können, dass sie weiterhin ihre wunderliche Anpassung demonstrieren würden. Die Europäische Union ist immer in der Nähe Belarus liegt an der Schwelle zur EU. Die Belarussen selbst glauben, dass sich Europa bis zum Ural erstreckt und dass sie daher in seinem Zentrum leben. Belarus grenzt an drei EU-Staaten. Von Minsk bis zur nächsten Hauptstadt eines EU‑Staates, Vilnius, sind es zwei Stunden mit dem Schnellzug. Hinzu kommt eine Stunde Abfertigungszeit beim behäbigen litauischen Zollbeamten. Der Weg nach Riga und Warschau dauert zwar etwas länger, doch nur unwesentlich. In Vilnius haben die Bürger von Belarus nicht das Gefühl, dass sie in einer fremden Stadt sind. Litauen und Belarus haben eine gemeinsame Geschichte im Großherzogtum Litauen. Das litauische und das belarussische Wappen (bis zu Lukaschenko) – ein Reiter auf einem springenden Pferd – unterscheiden sich nur im Detail: Beim litauischen Pferd zeigt der Schweif nach oben, beim belarussischen nach unten. In den belarussischen Medien finden sich regelmäßig Texte des Inhalts, dass die Hauptstadt von Belarus auch das barocke Vilnius statt des konstruktivistischen Minsk hätte sein können, wenn die Geschichte zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein wenig anders verlaufen wäre. Solche Texte haben nicht zum Ziel Grenzen neu zu definieren, sie werden vielmehr als historische Anekdoten präsentiert. Belarus - Texte und Stimmen (3/7) - „Ich sah plötzlich ganz andere Menschen“Im August 2020 war die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch zu den Literaturtagen in Lana eingeladen. Doch wegen der Proteste kam es nicht zu der Reise. Stattdessen aber zu einem intensiven Gespräch per Videokonferenz mit der Literaturnobelpreisträgerin über ihre Arbeit. Im Zentrum von Vilnius gibt es viele Gedenktafeln mit den Namen belarussischer Dichter und Politiker. Eine der ersten Zeitungen in belarussischer Sprache, "Nascha Niva" (Unsere Flur), wurde 1906 in Vilnius gegründet. Bis zur Einstellung 1912 wurden eine Million Exemplare verkauft. Für die Belarussen war es die erste Erfahrung mit einem großen Medium in ihrer Sprache. Die Zeitung wurde 1991 kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR ebenfalls in Vilnius wiederbelebt. Die "Nascha Niva" existiert heute noch, ihre Journalisten wurden kürzlich bei Protestaktionen festgenommen. Es gibt keine Billigflüge von und nach Minsk: Lukaschenko schützt seine Fluggesellschaft sorgsam vor Konkurrenz. Ohne sich mit Lukaschenko anzulegen, nutzen die findigen Belarussen den Flughafen von Vilnius, von dem es günstige Flüge gibt. Sogar jetzt, während der Epidemie und der Sanktionen, fährt ein Bus von Minsk nach Vilnius mit Zwischenstopp am Hauptflughafen in Litauen, den die Belarussen scherzhaft "Minsk 3" nennen (der derzeitige nationale Flughafen von Belarus heißt "Minsk 2"). Blutiges Land, durch Strahlung verseucht Nach allgemeiner Meinung hängen die Eigenheiten der Belarussen, ihre Apathie, Reserviertheit und Passivität, mit ihrer äußerst traurigen Geschichte zusammen. Die Menschen von Belarus begaben sich viel später als alle anderen in dieser Region in die Städte, in die Neuzeit. Zur Zeit der Romanovs war dies die ärmste Region im Westen ihres Reiches. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts lebten die Belarussen weit entfernt von den Städten, auf Bauernhöfen, getrennt voneinander. Der sumpfige Boden im Norden warf trotz harter Arbeit nur wenig Getreide ab. Die Belarussen lebten in größerer Armut als ihre Nachbarn und konnten oft weder lesen noch schreiben. Es gab in Belarus keine Universitäten, keine Fabriken und kein weitverzweigtes Eisenbahnnetz. Für Belarus waren die beiden Weltkriege zwei große humanitäre Katastrophen. Während des Ersten Weltkriegs flohen als Folge des rücksichtslosen Wütens der Armee von Nikolaus II. etwa zwei Millionen belarussische Bauern bis tief ins Innere des Russischen Reiches. Die von zu Hause mitgenommenen Vorräte gingen schnell zur Neige und Pläne für eine Evakuierung sowie Flüchtlingslager wurden nicht schnell genug in die Tat umgesetzt. Die Forscherin Aneta Prymaka-Oniszk schreibt in ihrem Buch "Bieżeństwo 1915. Zapomniani uchodźcy" (Die Flucht von 1915. Die vergessenen Flüchtlinge), dass im Spätherbst 1915 die nach Osten führenden Straßenränder mit frischen Gräbern übersät waren. In Timothy Snyders berühmtem Buch "Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin" (Blutige Länder: Europa zwischen Hitler und Stalin) bildet Belarus, in dem jeder dritte Einwohner starb, das Zentrum der blutigen Länder. Die beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung nach dem Krieg führten zu einer massiven Umsiedlung in die Stadt. In den 1960er-Jahren war Minsk die am schnellsten wachsende Stadt des Ostblocks. Heute leben zwei Millionen Menschen in Minsk, was bedeutet, dass es nach dem Krieg um das 27-fache gewachsen ist. Mit dem Umzug in die auf Ruinen errichtete sowjetische Industriestadt wurden die Bindungen zwischen den Menschen, die auch so schon durch die beiden Katastrophen geschwächt waren, noch spärlicher. Und am Ende der sowjetischen Ära machte die Tragödie von Tschernobyl die Gebiete im Süden des Landes unbewohnbar. In den ʹ70er-Jahren gab es von den Städten an den Ufern der Nebenflüsse des Dnjepr morgens Wassertaxis nach Kiew. An einem einzigen Tag konnte man in der Hauptstadt der Ukraine die berühmte Kiewer Torte kaufen und abends auf dem Fluss nach Hause zurückkehren. Heutzutage garantiert eine solche Reise fast eine gefährliche Strahlendosis. Bauernschläue vs. Nationalromantik Auch heute noch leben die Belarussen in größerer Armut als ihre Nachbarn. Seit 2008 verspricht Lukaschenko, das Durchschnittsgehalt auf bis zu 500 Dollar pro Monat anzuheben: "Das ist eine heilige Zahl", bekräftigt er. Während der vergangenen zwölf Jahre gelang es ihm, diese "heilige Zahl" zwei- oder dreimal zu erreichen; es gibt den Verdacht, dass dies nur mit Hilfe von Manipulationen in der Statistik möglich war. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt im estnischen Tallinn liegt bereits seit vier Jahren höher als in Moskau: bei 1.800 €. In Riga antworten die lettischen Bürger auf die Frage nach ihrem "Traumgehalt" mit 3.000 €. Am besten verdienen in Belarus die Bergleute, die in den Bergwerken in einer Tiefe von einem halben Kilometer Kalisalz abbauen. In der Stadt Soligorsk wird etwa ein Fünftel des gesamten Kalisalzes der Welt abgebaut. Das Durchschnittsgehalt eines Bergarbeiters liegt bei fast 1.000 Dollar. Ungefähr das gleiche Gehalt kann man in der Hauptstadt verdienen, in der Regel im IT-Sektor. Im riesigen Minsker Traktoren- und im Automobilwerk, die Belarus beide von der UdSSR geerbt hat, schwanken die Gehälter um geschätzte 500 Dollar. Dörfer und Kleinstädte leben in adretter sowjetischer Armut. Zeitungen enthalten oft Berichte über Melkerinnen, die weniger als 100 Dollar im Monat erhalten und von ihren Gärten leben. Der niedrige Lebensstandard, das autoritäre Regime und die Nähe zur EU: Zu diesen drei universellen Motiven für die Auswanderung junger Menschen kommen nationale Besonderheiten hinzu. Genauer gesagt, ihre Schwäche bis hin zum Nichtvorhandensein. Formell ist Belarus ein slawischer Staat mit einer einheitlichen Nation wie Slowenien oder die Slowakei. Der Volkszählung von 2010 zufolge bezeichneten sich 85 Prozent der Bürger als Belarussen. Gleichzeitig gaben 50 Prozent an, dass sie die belarussische Sprache beherrschen, doch nur 21 Prozent sprechen sie zu Hause. Die Kluft zwischen der nationalen Identität und der Sprache des Alltags weist auf die Probleme hin, die die Slowenen so nicht kennen. Der tschechische Nationalismusforscher Miroslav Hroch charakterisiert in seinem Buch "Im nationalen Interesse: Forderungen und Ziele der europäischen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts ", die Belarussen als "verspätete Nation". Mit anderen Worten, die modernen Belarussen, die den IT-Markt aktiv beherrschen, und die slowenischen Bauern der Mitte des vorletzten Jahrhunderts haben eines gemeinsam: Sie sind weit entfernt von einer breiten politischen Solidarität, die Millionen von Teilnehmern umfasst. Die letzte Nicht-Nation Europas Von außen betrachtet unterscheiden sich die Belarussen scheinbar durch nichts von den modernen Slowenen. Wie diese haben die Belarussen eine anerkannte Republik, eine Verfassung, ein Parlament, eine Steuerinspektion und ein breites Netz von Museen. Wenn man die Armeen vergleicht, hat Belarus möglicherweise sogar mehr Flugzeuge, Soldaten und Panzer. Der Unterschied besteht darin, dass die Belarussen kein oder fast kein Bewusstsein für ihre Nation haben, keinen Sinn für die Teilhabe an der politischen Gesellschaft; kein Bewusstsein für die kollektive Verantwortung für Recht und Ordnung im ganzen Land. Alexej Marotschkin, ein bekannter belarussischer Künstler und politischer Dissident mit einem halben Jahrhundert Erfahrung, erzählt gerne, wie 1991, nach der Nachricht vom Zusammenbruch der UdSSR und der Unabhängigkeitserklärung von Belarus, eine Nachbarin zu ihm kam, die ihr ganzes Leben lang in einem Dorf im Norden des Landes gelebt hatte, und ihn fragte: "Alexej, und unter wem werden wir jetzt leben?" Die Vorstellung, dass die Belarussen unabhängig leben könnten, erschien ihr recht merkwürdig. Auch im Ausland verhalten sich die Belarussen ähnlich, sie schaffen keine Diaspora, sondern bevorzugen die Assimilation. Der Vorsitzende der Association of Belarusians in Great Britain, Mikałaj Pačkajeŭ, beschrieb in einem Interview mit dem European Radio for Belarus, wie sich in London von Zeit zu Zeit Briten an ihn wenden, deren Eltern ihnen ihr ganzes Leben lang verschwiegen haben, dass sie aus Belarus nach England gekommen sind, und beschlossen haben, dies buchstäblich auf dem Sterbebett zu beichten. Kinder und Enkelkinder müssen nun selbst herausfinden, wer die Belarussen sind. Waren zu Beginn der ʹ90er‑Jahre die traditionell im Osten Polens lebenden orthodoxen Belarussen so zahlreich, dass sie von Warschau kulturelle Autonomie forderten, so bitten sie jetzt darum, Spenden für ihre älteste Zeitung "Niva" zu erhalten. Neue Generationen, die in die Städte gezogen sind, ändern nicht nur ihre ethnische Zughörigkeit, sondern auch ihre religiöse, sie wechseln von der Orthodoxie zum Katholizismus. Menschen mit belarussischen Wurzeln sind sogar in lokalen polnischen ultrarechten Organisationen zu finden. Daher leben junge Männer und Frauen in Belarus in einer brüchigen und zerbrechlichen Gesellschaft, die wenig Verständnis für die Grenzen zwischen sich selbst und den Nachbarn hat. So wie die slowenischen Bauern vor dem "Völkerfrühling" ihre Identität nicht zu schätzen wussten und sie als Zeichen eines niedrigen sozialen Status ansahen, so suchen die Belarussen, die nicht frei sind vom kolonialen Minderwertigkeitskomplex, nach einer Möglichkeit, irgendjemand auf der Liste der entwickelten Länder zu werden. Der Vorteil belarussischer Gefängnisse Wir können nicht sagen, dass es für den belarussischen Pass aus Sicht der Belarussen überhaupt keine Argumente gibt. Wie der Patriarch der belarussischen Philosophie Valentin Akudowitsch scherzhaft bemerkte, sitzen dank der Souveränität seit 30 Jahren keine Belarussen mehr in sibirischen Straflagern. Die Gerichte und die Polizei in Belarus sind nicht besser als die russischen, aber die Gefängnisse sind um 5.000 Kilometer näher gerückt. Neben der Freiheit von sibirischer Zwangsarbeit haben die Belarussen auch die Freiheit von der Teilnahme an den Kriegen erlangt, die Russland ständig führt. Der letzte Krieg, an dem Belarussen teilnahmen, war der in Afghanistan. Von 1979 bis 1989 starben am Hindukusch bei der Erfüllung ihrer "internationalen Pflicht" 771 Belarussen. 1.500 wurden verwundet. Die Belarussen sprechen ohne jegliche Pietät von diesem Krieg. In Swetlana Alexijewitschs Buch "Zinkjungen", in dem Soldaten interviewt werden, sprechen diese von ihrer großen Enttäuschung. Auf Befehl Moskaus ihr Leben zu riskieren, um afghanische Bauern zu zwingen, Marx und Lenin statt Suren aus dem Koran zu lesen, ist keine offensichtliche oder logische Beschäftigung. Neueste Nachrichten Heutzutage hat die Situation völlig unerwartet den toten Punkt überwunden, doch wir sprechen über die allerersten Schritte. Als im August Tausende von Menschen in Minsk auf die Straße gingen, fragten sich Politikwissenschaftler, wann die Demonstranten Anführer bekämen, doch die Protestierenden dachten darüber gar nicht nach. Sie waren unglaublich überrascht von der Tatsache, dass es sie gab, dass ihrer so viele waren und dass sie protestieren konnten. Es gab Momente, in denen die Menschen mit weit geöffneten Augen einfach auf die Demonstrationsteilnehmer blickten, ohne etwas zu skandieren. Vereinfacht können wir sagen, dass sich die Belarussen im August 2020, als sie auf die Straße gingen, zum ersten Mal als Belarussen, als Teilnehmer einer politischen Gemeinschaft, als Bürger eines gemeinsamen Landes sahen. Gewöhnlich gehen solche Treffen dem Erscheinen eines neuen Staates auf der politischen Landkarte voraus. Im Falle von Belarus folgten diese Treffen dem Erscheinen des neuen Staates. Harvard auf Belarussisch Die Proteste dauern nun schon fünf Monate, doch niemand wagt es, andere Forderungen zu erheben als Lukaschenkos Rücktritt. Vor sieben Jahren erhob man bei den Protesten in der Ukraine die klare Forderung: "Wir wollen in die EU und in die NATO." Eine solche klare Forderung gibt es in Belarus nicht. Bei der Diskussion um die Zukunft sprachen sich die Präsidentschaftskandidatinnen vorsichtig für eine Neutralität wie in der Schweiz und den Status der Blockfreiheit aus. Meiner Meinung nach zeichnen sich die Konturen zukünftiger Forderungen in der Reaktion auf die Vorschläge ab, die man den Studenten unterbreitet hat, die von belarussischen Universitäten aufgrund der Teilnahme an den Kundgebungen ausgeschlossen wurden, nämlich zur Fortsetzung ihrer Ausbildung in Russland oder der EU. Die Belarussen zelebrieren als eine Gesellschaft, die erst vor relativ kurzer Zeit in der modernen Zeit angekommen ist, einen fast religiösen Kult der höheren Bildung. Wo sie studieren möchten, sagt viel über ihre politische Orientierung aus. Angebote aus Russland sorgen in sozialen Netzwerken immer für Gelächter. Vorschläge aus der EU hingegen sind willkommen. Die Umstellung vom Diplom in russischer Sprache zum Diplom in Englisch ist relativ neu, gewinnt aber rasch an Dynamik. Im Sommer 2018 diskutierten die belarussischen Familien heftig über Maxim Bogdanowitsch, einen 16jährigen Schüler aus Minsk, der sich eigenständig um eine Aufnahme in Harvard bewarb. Alle waren von der für einen Belarussen unglaublichen Tatkraft überrascht: Während er auf die Ergebnisse wartete, besuchte der Schüler in einem privaten Nachhilfeinstitut gebührenpflichtige Kurse seiner Muttersprache. Der junge Mann gab dem größten unabhängigen Portal von Belarus ein Interview in perfekter literarischer belarussischer Sprache. Bis zu dieser Geschichte waren Harvard und die belarussische Sprache in den Vorstellungen der Belarussen so weit voneinander entfernt wie nur möglich. In den vergangenen 100 Jahren verlief der Weg der Belarussen von Minsk nach Harvard strikt über Moskau: indem man von der heimischen "bäuerlichen" Sprache zum Hochrussischen wechselte. Die Tatsache, dass es möglich ist, direkt von Minsk unter Umgehung von Moskau und Dostojewski nach Harvard zu gelangen, hat in vielen Köpfen eine Art "Zivilisationsrevolution" ausgelöst. (Teil 7 am 10.01.2021)
Von Maksim Goriunov
Bis vor kurzem interessierten sich junge Bürger aus Belarus weniger für Politik als ihre Altersgenossen in der Ukraine und in Russland. Das fand zumindest Maksim Goriunov heraus, der sich intensiv um die Gründe der Abwanderung junger Menschen nach Litauen, Polen und in andere europäische Länder befasst hat.
"2021-01-03T09:30:00+01:00"
"2021-01-02T11:57:39.129000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/belarus-texte-und-stimmen-6-7-eine-art-100.html
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Das Ende des Digi-Dinos naht
Totgesagte leben länger - noch ist ISDN weiter im Einsatz (imago/blickwinkel ) Manfred Kloiber: Wenn es eine Technik gibt, die man als echten Digi-Dino bezeichnen könnte, dann ist es ISDN. 1989 wurde ISDN in Deutschland eingeführt – quasi als digitale Revolution im Telefonbereich und bis heute ist sie in Benutzung: Mit dem "Integrated Services Digital Network" waren erstmals Telefongespräche in sehr guter Qualität möglich, aber nicht nur das. Auch Datenübertragung, Kanalbündelung, Multiplex-Telefonanlagen mit Dutzenden Leitungen und mehr waren möglich. Doch ISDN ist in die Jahre gekommen und steht den Netzbetreibern beim Breitbandausbau im Weg. Deshalb heißt es schon seit geraumer Zeit: Das Ende für ISDN droht. Doch wie so oft: Totgesagte leben länger, und so ist ISDN bis heute weiter im Einsatz. Bald soll aber dann wirklich Schluss sein. Und dann? Jan Rähm beobachtet die ISDN-Abwicklung seit geraumer Zeit, Jan, wie geht’s dem digitalen Opa? Umstellung bei Geschäftskunden bis 2020 Jan Rähm: An sich gut, die Technik läuft, aber die Luft wird knapp, denn ISDN wird stark zurück gedrängt. Die Telekom, die den Großteil an ISDN-Netzen betrieb, teilt mit, dass die 2015 begonnene Migration von ISDN auf IP-basierte Netze voranschreite. ISDN und analoge Anschlüsse zählt der Betreiber zusammen und teilt mit, es seien bereits 24 Millionen Anschlüsse umgestellt worden. Bei privaten Kunden werde in diesem Jahr der letzte ISDN-Anschluss umgestellt, bei Geschäftskunden dauere es noch bis 2020. Pro Woche würden demnach 70.000 Anschlüsse migriert, so der Netzbetreiber. Kloiber: Was das für Unternehmenskunden bedeutet, hören wir im folgenden Beitrag. Das Ende des eigenen ISDN-Anschlusses kommt meist unscheinbar per Brief oder Anruf. Darin heißt es dann sinngemäß: Die Leitung müsse abgeschaltet werden, man könne aber auf einen anderen, meist auf einen DSL-Anschluss wechseln. Doch obwohl die drohende Abschaltung schon lange bekannt ist, sind nicht alle Nutzer auf den Wechsel vorbereitet, berichtet Fabian Mahr, Geschäftsführer der Mahr EDV aus Berlin - obwohl die Fristen verlängert wurden. "Da hat man dann auch die Fristen für 2020 und 2022 für Unternehmenskunden verlängert. Und natürlich haben wir einige Kunden, die nach wie vor über ISDN kommunizieren oder auch über ISDN kommunizieren müssen in Teilbereichen. Man hat Möglichkeiten, nur sie kosten natürlich Geld." Alarm- oder Brandmeldeanlagen durch IP-basierte Anschlüsse gefährdet Grundsätzlich müssen Kunden ihre Technik von ISDN auf das Internet Protokoll umstellen. Das erfordere einen Paradigmenwechsel, erklärt IT-Fachmann Fabian Mahr: "ISDN ist grundsätzlich eine Direktverbindung zwischen zwei Punkten. Da ist vielleicht noch eine Vermittlungsstelle dran beteiligt. Aber grundsätzlich kommunizieren diese zwei Punkte direkt mit einer geringen Bandbreite, aber sehr stabil. Bei Voice over IP funktioniert die Kommunikation über's Internet. Das heißt, es sind diverse Server daran beteiligt. Das gibt für die Stabilität ganz andere Herausforderungen und man ist von der Kapazität oder der Datenübertragungsgeschwindigkeit des Internets abhängig." Bei ISDN als leitungsvermittelter Technik haben Anwender den Vorteil einer garantierten und reservierten Bandbreite mit sehr hoher Fehlertoleranz und klarer Signallaufzeit. Bei IP-basierten, also paketvermittelten Anschlüssen dagegen kann weder die Bandbreite noch die Laufzeit der Signale vorhergesagt, schon gar nicht garantiert werden. Selbst mit einem Verlust von Datenpaketen muss gerechnet werden. Das stellt Anwendungen wie beispielsweise Alarmanlagen oder Brandmeldeanlagen, die auf Hochverfügbarkeit ausgelegt sind, vor Herausforderungen. Bisher nutzten diese den sogenannten D-Kanal, um ihre Betriebs- und Statusmeldungen sicher dauerhaft zu übertragen. Diese schmalbandige Leitung blieb permanent offen. Doch der D-Kanal wird verschwinden. Fabian Mahr: "Es gibt einige Spezialangebote von Providern, die sowas noch proprietär unterstützen. Das ist aber der Einzelfall und nicht in jedem Gebiet verfügbar. Ansonsten simuliert ISDN over IP den klassischen Anschluss, wandelt diese analogen oder teilweise auch digitalen Pakete um und verschickt sie dann in Häppchen über das klassische Internet-Protokoll, also die IP." Nicht zukunftsfähig: Pensionierte Programmierer wieder in Dienst holen Den wohl größten Problembereich durch das ISDN-Ende bilden aber Telefonanlagen, wie sie Unternehmen jeder Größe nutzten und teilweise noch nutzen. Viele wurden bereits erneuert, doch einige sind immer noch in Betrieb – dank Adaptern auch an IP-Anschlüssen. Fabian Mahr: "Natürlich kann ich Anlagen, die ich intern betreibe, noch eine Weile nutzen, aber auch das ist es so langsam vorbei. Dann werde ich keine Ersatzteile mehr finden. Ich werde keine Programmierer mehr finden, die das Protokoll kennen. Auch da hatten wir schon Fälle, egal ob es Software oder Hardware ist, dass sich Hersteller bemüht haben, pensionierte Programmierer wieder in den Dienst zu holen oder freiberuflich zu beschäftigen, um irgendwie Lösungen für Kunden zu finden. Das sind natürlich alles nur Workarounds und keine zukunftsfähigen Lösungen mehr."
Von Jan Rähm
Bald soll Schluss mit ISDN sein. Es steht Netzbetreibern beim Breitbandausbau im Weg. Doch nicht nur für Firmen mit ISDN-Telefonnetzen stellt die künftige Abschaltung eine Herausforderung dar, sondern auch für Anwendungen wie Alarm- und Brandmeldeanlagen.
"2019-08-31T16:30:00+02:00"
"2020-01-26T23:08:39.873000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/digitales-telefonnetz-isdn-das-ende-des-digi-dinos-naht-100.html
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"Die Liga schafft es nicht, Spitzenqualität zu entwickeln"
Spieler von Bayern München jubeln mit der Meisterschale (dpa/ picture alliance/ Sven Hoppe) Bayern München hat das Fernduell gegen Borussia Dortmund gewonnen und ist zum siebten Mal in Folge Deutscher Fußball-Meister. Die Meisterschaft sei ein runder Abschluss für die Bayern gewesen, resümiert Oliver Fritsch, Sportredakteur bei ZEIT Online. Dennoch sei Trainer Nico Kovac angezählt – immer wieder stehe das fehlende Offensiv-Konzept in der Kritik. "Nico Kovac hat auch in den Jahren zuvor noch nicht bewiesen, dass er ein Trainer von Spitzenformat ist. Fritsch kritisiert jedoch den stillosen Umgang mit dem Bayern-Trainer. Für den BVB hat es am Ende im Kampf um die Meisterschale nicht gereicht. Der BVB sei eine Mannschaft "die vor allem vom Spirit" und weniger von der Struktur und vom Spielaufbau lebe, meint Oliver Fritsch. Leverkusen in der Champions League Leverkusen sichert sich den Champions-League-Platz 4: Die Mannschaft habe in der Hinrunde nicht alles richtig gemacht, sich aber dann in der Rückrunde gesteigert. Mit der Besetzung des Kaders wäre mehr möglich gewesen, meint Fritsch. Die Mannschaft hätte durchaus ins Meisterrennen eingreifen können. "Eigentlich könnten sie 15-20 Punkte mehr haben." Es habe vor allem Defizite in der Abwehr gegeben. "Die Fragen ist jetzt, ob sie die Spieler halten können." Mit Blick auf die Champions League hänge viel davon ab, wie die Mannschaft in der nächsten Saison aufgestellt sei. Spannender Kampf um europäische Plätze Der Kampf um die europäischen Plätze sei in dieser Saison spannend gewesen. "Es waren Mannschaften auf einem ähnlichen Niveau", so Fritsch. Für Hoffenheim und Trainer Julian Nagelsmann, der jetzt nach Leipzig wechselt sei Platz neun am Ende der Saison allerdings eine Enttäuschung. "Ob das wirklich der kommende deutsche Spitzentrainer ist: Möglich, aber bewiesen hat er es noch nicht." In den europäischen Ligen habe sich auch gezeigt, dass die Bundesliga weit weg sei von England und Spanien. "Wenn die Bayern ausfallen sieht man, dass da nicht mehr viel kommt". Ein Krisensymptom, das nicht wirklich zu erklären sei. "Zumindest in der Europa-League müsste ein Titel her." "Minusrekorde" im Abstiegskampf Mit Blick auf die Punkte im Abstiegskampf hätte Nürnberg "fast schon einen Minusrekord" aufgestellt. Nürnberg und Hannover hätten auswärts nicht gewonnen. Dort kämpfe der Verein auch mit schlechter Stimmung. Auch Stuttgart sei einer "der ganz großen Verlierer". In der Relegation spreche jedoch für den VfB, "dass sich der Bundesligist meistens durchsetzt", so Fritsch. Spitzenqualität sieht der Fußball-Experte in der Bundesliga nur noch bei Bayern München. "Ich fürchte, dass sich das Monopol Bayern München wieder durchsetzt. Darunter leidet die Liga" "Die Bundesliga könnte besser sein" Die Liga schaffe es nicht, Spitzenqualität zu entwickeln. Man erlebe ein großes Mittelmaß. Überraschungen habe es nur bei Düsseldorf, Bremen und Frankfurt gegeben – "und bei Dortmund zumindest bis zur Winterpause". Fritsch kritisiert auch die hohe Zahl der Hand-Elfmeter – viele davon falsch gepfiffen. "Auch die Qualität der deutschen Schiedsrichter war schon mal besser, da muss man ansetzen." Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Oliver Fritsch im Gespräch mit Matthias Friebe
Bayern München ist zum 29. Mal Deutscher Meister, Bayer Leverkusen sichert sich den letzten freien Platz in der Champions League. Gladbach, Wolfsburg und Frankfurt ziehen in die Europa League ein. In der Liga sei jedoch viel Mittelmaß festzustellen, bilanziert Fußball-Experte Oliver Fritsch im Dlf.
"2019-05-18T19:15:00+02:00"
"2020-01-26T22:52:46.348000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundesligagespraech-die-liga-schafft-es-nicht-100.html
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Geist in der Falle
Extrem leicht und überaus rätselhaft - das ist der Steckbrief eines Neutrinos. Genauer gesagt gibt es diese Geisterteilchen, die mit gewöhnlicher Materie kaum interagieren, in drei Sorten: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Seit gut zehn Jahren gehen die Physiker davon aus, dass sich diese Sorten buchstäblich im Fluge ineinander umwandeln können. Die Fachleute sprechen von "Neutrino-Oszillationen". Bislang aber gab es dafür nur indirekte Beweise. Einem riesigen, 1500 Tonnen schweren Klotz in Italien scheint nun der erste direkte Beweis gelungen zu sein. "Opera ist ein großer unterirdischer Detektor. Er liegt im Gran-Sasso-Labor in Italien, dem größten Untergrundlabor der Welt. Opera fängt einen künstlichen Neutrinostrahl auf, der in 730 Kilometern Entfernung am Teilchenforschungszentrum Cern in Genf erzeugt wird", sagt Professor Antonio Ereditato von der Universität Bern. Er ist der Sprecher eines 170-köpfigen internationalen Forscherteams, das Opera in Italien aufgebaut hat und seit knapp drei Jahren betreibt. Der Strahl, der in Genf mit einem Teilchenbeschleuniger erzeugt wird, besteht aus einer ganz bestimmten Neutrino-Sorte, aus Myon-Neutrinos. Er fliegt von Genf aus durch die Erde nach Italien, wo er auf den Opera-Detektor trifft."Das Herz des Detektors besteht aus fotografischen Filmen. Diese Filme nehmen im Gegensatz zu einer normalen Kamera kein Licht auf, sondern die Spuren von Teilchen, die von den Neutrinos erzeugt werden. Ganz selten nämlich interagiert eines der aus Genf kommenden Neutrinos mit dem Detektor, und dann entsteht eine Kaskade von seltenen, kurzlebigen Teilchen. Diese Teilchen hinterlassen charakteristische Spuren auf den Filmen. Und durch eine genaue Analyse der Spuren können wir rekonstruieren, dass uns tatsächlich ein Neutrino ins Netz gegangen ist." Bislang hatten die Forscher immer nur Myon-Neutrinos aufgefangen – also jene Sorte, die in Genf als ein gebündelter Strahl erzeugt wird. Doch nun scheint das erste Tau-Neutrino ins Netz gegangen zu sein – vorausgesetzt, die Forscher wurden nicht durch Störsignale getäuscht."Es ist sehr wahrscheinlich, zu etwa 98 Prozent, dass dieses Ereignis von einer Verwandlung eines Myon-Neutrinos in ein Tau-Neutrino stammt und nicht von irgendwelchen Störsignalen. Ältere Detektoren hatten nur beobachten können, wie die Myon-Neutrinos verschwinden – ein indirekter Beweis der Neutrino-Verwandlungen. Wir dagegen konnten nun messen, wie ein Tau-Neutrino auftaucht. Das wäre der erste direkte Beweis der Neutrino-Verwandlungen." Als Entdeckung aber darf man das Resultat noch nicht sehen. Dazu müssen Ereditato und seine Leute noch ein paar mehr Tau-Neutrinos aufschnappen. "Letztlich wollen wir eine Wahrscheinlichkeit von 99,99 Prozent erreichen, und dazu müssen wir noch vier oder fünf weitere Ereignisse messen. Mit etwas Glück könnte das in den nächsten beiden Jahren passieren." Für die Teilchenphysik wäre das Ergebnis auf jeden Fall hochwillkommen. Schließlich geben die Verwandlungskünste der Neutrinos manche theoretische Rätsel auf. Und je mehr man über sie weiß, umso größer ist die Chance, dass die Physiker eines Tages die letzten Geheimnisse aus der Welt der kleinsten Teilchen lüften können.
Von Frank Grotelüschen
Die sogenannten Neutrinos sorgen bei Physikern für Stirnrunzeln – vor allem durch den Umstand, dass sich die mysteriösen Teilchen im Fluge in andere Neutrinoarten umwandeln können. Nun scheint diese Umwandlung erstmals direkt nachgewiesen worden zu sein.
"2010-06-01T16:35:00+02:00"
"2020-02-03T18:02:51.558000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/geist-in-der-falle-100.html
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Zwischen Tannenbaum und Terrorabwehr
Der Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wird gegen Terroranschläge gesichert (dpa / Paul Zinken) Am Jahrestag des Terroranschlags soll es eine Gedenkfeier für die Opfer geben. Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz ist zur Hochsicherheitszone geworden – mit schweren Metallpollern, Stahlgitterkörben und Betonsockeln. Die Polizei hat den Markt zum Modell-Ort für ein neues Sicherheitskonzept gemacht. Wie fühlt sich das an? Wo geht es um Terrorgefahr, wo um den Tod, wo um Vorweihnachtsfreude? Henning Hübert und Claudia van Laak haben Angehörige der Opfer, Berliner Sicherheitsbehörden und Glühweinstände besucht.
Von Henning Hübert und Claudia van Laak
Es bleibt bei Lebkuchen und Currywurst hinter massiven Absperrgittern: Der Berliner Schaustellerverband hält am Weihnachtsmarkt neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fest – auch zwei Jahre nach dem islamistischen Terroranschlag mit zwölf Toten und mehr als 70 Verletzten.
"2018-12-01T09:10:00+01:00"
"2020-01-27T18:22:47.056000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/weihnachtsmarkt-am-berliner-breitscheidplatz-zwischen-100.html
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Der Konflikt um Katalonien
Annäherung auf der Straße: Ein Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit im Gespräch mit einer Gegnerin - sie ist in die Flagge der fiktiven katalanischen Region Tabarnia gehüllt (AFP/ Josep Lago) "Wir konstituieren die katalanische Republik als unabhängigen und souveränen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat", erklärte das katalanische Parlament am 27. Oktober 2017 nach einem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum. Eine rein symbolische Erklärung, beteuerten zahlreiche Abgeordnete später. Die Zentralregierung in Madrid sah darin einen Putschversuch. Puigdemont in Deutschland festgenommen Madrid setzte die katalanische Regionalregierung ab und kündigte Neuwahlen an. Zahlreiche Politiker wurden verhaftet. Der ehemalige katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont wurde im März 2018 an der deutsch-dänischen Grenze von der Bundespolizei festgenommen. Zugeständnisse der neuen spanischen Regierung Mehr als ein halbes Jahr später bemüht sich die neue spanische Regierung um Entspannung. Katalonien erhielt die Kontrolle über seine Finanzen wieder, von einer möglichen Verfassungsreform ist in Madrid nun die Rede. Der neue sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez setzt anders als sein Vorgänger Mariano Rajoy auf Entgegenkommen, stellt aber auch klar: Ein neues Referendum über die Unabhängigkeit wird es nicht geben. Zerrissene Familien Julia Macher und Hans-Günter Kellner waren für "Gesichter Europas" in Barcelona und Madrid und haben sich mit Unabhängigkeitsbefürwortern, spanischen Nationalisten, Psychologen und Familien getroffen, die der Konflikt um Katalonien zu zerreißen droht. Die Verteidiger der RepublikSpaniens neue Regierung setzt im Konflikt um Katalonien offenbar auf Entspannung. Die Region hat beispielsweise die Kontrolle über ihre Finanzen wiedererhalten. Den "Komitees zur Verteidigung der Republik" reicht das nicht. Sie wollen die Unabhängigkeit. Flagge zeigen - eine Frage der EhreWährend nationale Symbole in Katalonien sehr präsent sind, war der Umgang mit der Nationalflagge im Rest Spaniens schon immer schwieriger. Erst seit dem Streit um die Unabhängigkeit sind auch in Madrid wieder mehr rot-gelb-rote Fahnen zu sehen. Zerrissene FamilienDer Konflikt zwischen Barcelona und Madrid ist kein Streit zwischen zwei verfeindeten Lagern. Die Katalanen Julia und ihr Mann Ignasi sind das beste Beispiel dafür. Während er für die Unabhängigkeit lebt, kann sie nur den Kopf darüber schütteln. Eine echte Belastungsprobe für ihre Ehe. Angst, Unruhe und FrustrationDie Psychologin Ingeborg Porcar leitete nach dem umstrittenen Referendum einen Krisenstab. Die harten Auseinandersetzungen mit Polizei und Politik haben bei vielen Katalanen für Angstzustände und Unruhe gesorgt, berichtet sie. Auf der Suche nach VerständigungDer Konflikt um Katalonien polarisiert. Auch die Medien haben ihren Teil dazu beigetragen. Eine kleine Gruppe von Journalisten aus Barcelona und Madrid möchte das ändern und bietet jenen moderaten Stimmen eine Bühne, die bisher untergegangen sind.
Von Julia Macher und Hans Günter Kellner
Unabhängigkeitsreferendum, Zwangsverwaltung, Inhaftierungen, Neuwahlen: Der Streit um die Unabhängigkeit Kataloniens spaltet nicht nur Spanien, sondern auch die katalanische Gesellschaft, Familien und Freundeskreise. Eine Spurensuche – jenseits der politischen Propaganda.
"2018-06-23T11:05:00+02:00"
"2020-01-27T17:52:56.033000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-unabhaengigkeit-der-konflikt-um-katalonien-100.html
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Asselborn: Keine Reformen ohne deutsche Regierung
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. (dpa/Peter Steffen) Philipp May: In vielen Hauptstädten Europas schaut man verwundert und wohl auch ein wenig besorgt nach Berlin. Vom größten und wirtschaftlich stärksten Land war man eigentlich stabile Verhältnisse gewohnt, und jetzt wird die Regierungsbildung zur Hängepartie. Heißt Stillstand in einem Land, das eigentlich Motor der EU sein will und sein soll, und zwar in einem Moment, in dem viele Probleme zu lösen und viele Reformen angegangen werden sollten. – Am Telefon ist jetzt Jean Asselborn, Außenminister Luxemburgs. Ihn erreichen wir gerade in Tokio. Guten Tag, Herr Asselborn! Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr May. May: Machen Sie sich Sorgen beim Blick auf die Lage in Berlin? Asselborn: Ich glaube ja nicht, dass jetzt eine politische Mondfinsternis in Deutschland ausgebrochen ist. Es gibt auch keine Krise. Es wäre eine Krise, wenn Gauweiler Bundeskanzler würde. Das ist alles nicht der Fall, da sind wir sehr weit weg davon. Aber es ist natürlich eine Lage in Deutschland, die man eigentlich, wie Sie richtig sagen, vom größten und stärksten Land in der Europäischen Union nicht so gewohnt ist. May: Sie meinen Gauland wahrscheinlich und nicht Gauweiler? Wobei: Gauweiler wäre für Sie vielleicht mittlerweile auch schon kritisch. Asselborn: Gauland? Okay. Ich habe den noch nie gesehen, aber irgendwie so heißt er, ja. "Deutschland legt eine Pause ein beim Regieren" May: Also alles nicht so schlimm? Asselborn: Wissen Sie, wenn ich jetzt sage, Deutschland braucht eine starke Regierung, eine handlungsfähige Regierung – das habe ich schon gesagt -, das Gegenteil kann man nicht erwarten von einem Europäer, denn Deutschland ist zu wichtig. In diesen Zeiten, die recht schwierig sind, nervöse Zeiten, wo man auch natürlich profitieren soll, um die Reformpläne der Europäischen Union durchzusetzen, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, der jetzt herrscht, Brexit und so weiter und so weiter, kann man ja nicht sagen, es ist gut, dass Deutschland jetzt, sagen wir mal, eine Pause einlegt beim Regieren. Aber man muss auch sagen, dass das demokratische Prozedere auch diesmal nach Wahlen in Deutschland zeigt, dass man etwas Zeit braucht, und das ist, glaube ich, der Fall. Und wenn ich sage, Deutschland braucht eine stabile Regierung, ich weiß, was dann der Hintergedanke ist, dass einer sich einmischt und sagt, wir brauchen eine Große Koalition. Das sage ich nicht. Ich glaube, dass nach Jamaika und wenn keine Neuwahlen kommen sollen, was ich auch verstehe – das Resultat könnte dasselbe sein -, dass dann entweder es eine Minderheitsregierung gibt, wo die zwei größten Parteien in Deutschland sich darüber verständigen, oder es gibt eine Große Koalition. May: Das glauben Sie auch aus Ihrer europäischen Sicht, eine Minderheitsregierung könnte auch in Deutschland funktionieren? Asselborn: Das war ja, glaube ich, seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht der Fall. Aber es gibt ja Minderheitsregierungen in der Europäischen Union. Natürlich: Deutschland ist nicht Schweden oder ein anderes Land der Europäischen Union. Es wäre, glaube ich, im Interesse Deutschlands und im Interesse auch der Europäischen Union gut, wenn es eine handlungsfähige Regierung gäbe. Ich sage jetzt nicht, dass das nicht möglich ist. Wenn die CDU zum Beispiel oder die CSU führen würde, dann müsste ja trotzdem sehr eng zusammengearbeitet werden mit der SPD. Anders geht es ja nicht, dass in wichtigen Fragen, in entscheidenden Fragen innenpolitischer Natur und auch natürlich europäischer Natur ein Konsens hergestellt wird. Es kann ja nicht sein, dass eine Minderheitsregierung in Deutschland aufs Ungefähre aufgebaut wird. Es müsste, glaube ich, schon eine enge Zusammenarbeit dann zwischen den zwei Parteien stattfinden. Das sind ja zwei Parteien, die europafreundlich sind. May: Diesen Konsens hat es ja auch schon in der Vergangenheit gegeben, als die CDU beziehungsweise die Union in der Regierung und die SPD in der Opposition, Stichwort Griechenland-Rettung zum Beispiel. Da hat das ja auch ganz gut funktioniert. Asselborn: Ja. "Sachen, die man mit einer Übergangsregierung hinbekommen kann" May: Wie lange kann sich Deutschland denn Ihrer Meinung nach mit einer Regierungsbildung Zeit lassen? Asselborn: Es ist nicht meine Sache, jetzt zu sagen, wie lange das jetzt dauert. Ich glaube, der Bundespräsident gibt sich sehr viel Mühe. May: Oder anders gefragt: Wie lange verträgt Europa ein Deutschland, das mehr oder weniger nur kommissarisch regiert wird? Asselborn: Okay. Ich glaube, Deutschland hat eine Übergangsregierung, die funktioniert. Es hat ein Parlament, das funktioniert. Auch was die europäische Politik angeht gibt es Sachen, die man, glaube ich, auch mit einer Übergangsregierung hinbekommen kann. Sachen, die zum Beispiel sich auf die gemeinsame Verteidigung beziehen, die GSVP, glaube ich, sagen Sie, Digitalisierungsfragen, Klimawandel, sogar die gemeinsame Flüchtlingspolitik. Da, glaube ich, ist auch Deutschland mit einer Übergangsregierung in der Lage zu agieren. Sogar beim Brexit: Wenn alles klar wäre beim Brexit, dann könnte auch die Regierung, die jetzt im Amt ist, die Übergangsregierung, mit entscheiden. May: Aber es ist ja nicht alles klar. Asselborn: Ja, beim Brexit ist nicht alles klar, aber das hängt auch nicht alles an Deutschland. Das hängt zum Beispiel auch daran, was in Irland geschieht. Aber wenn nicht alles klar ist – das wissen wir ja und wir hoffen, Barnier wird Mitte Dezember vor dem Europäischen Rat sagen, was er glaubt. Die Kommission wird ihre Meinung sagen. Und wenn alles klar wäre in den drei Punkten, dann könnte auch, nehme ich an, eine Übergangsregierung Deutschlands hier zügig mithelfen, dass man vorankommt. Allerdings Sie haben recht: Wenn es Auseinandersetzungen gibt, fundamentale Auseinandersetzungen gibt, dann, glaube ich, wird das schwierig werden. Aber auch in der Europapolitik gibt es schon Sachen, die man mit einer Übergangsregierung Deutschlands bewerkstelligen kann. Was man nicht tun kann, das sind Reformen ankurbeln. "Erwartung, was Reformprozesse angeht, tendiert gegen null" May: Sie sprechen es an: Am 15. Dezember ist der Eurozonengipfel in Brüssel, wo ja vor allem über die Reformideen auch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beraten werden sollte und möglicherweise auch schon Beschlüsse gefasst. Kann man sich den jetzt schenken? Asselborn: Ich glaube, dass eine deutsche Regierung in dieser Phase, wo sie ist in Deutschland, dass das Erwartungspotenzial prinzipiell, was die Reformprozesse angeht nicht nur beim Euro, mit dieser Übergangsregierung oder provisorischen Regierung, dass da trotzdem die Erwartung gegen null tendiert. Das muss man so sehen. Man kann sich nicht vorstellen, dass zum Beispiel was ein Eurobudget angeht, was Juncker vorgeschlagen hat im Haushalt der Europäischen Union, oder was Macron vorgestellt hat, spezifischer Haushalt, dass ein Europäischer Währungsfonds, dass ein europäischer Finanzminister, dass diese Debatte läuft, bevor man Klarheit hat, was Sache ist, was die Regierung angeht in Deutschland. May: Nichtsdestotrotz: Möglicherweise hat sich ja gerade für diese Vorschläge, die Sie gerade genannt haben, die Stimmung aus europäischer Sicht verbessert, wo die FDP sich erst mal aus der Regierungsbildung zurückgezogen hat. Die FDP war ja der schärfste Gegner eines gemeinsamen Eurobudgets. Asselborn: Ja. Die FDP hatte ein Wahlprogramm, so wie ich das gesehen habe. Aber es kam ja nicht zu Jamaika. Darum mische ich mich da nicht ein. Was ich nur sagen will als Europäer ist, dass nach den Reden von Juncker und von Macron, nach dem Willen, der besteht in dieser Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, auch tiefere Reformen, was die Demokratisierung zum Beispiel des Euros angeht, dass hier auch erwartet wird, dass Bewegung aus Deutschland kommt. Und egal wie jetzt, ob es eine Minderheitsregierung wird oder eine Große Koalition, ich glaube, die zwei Parteien, die da europäisch trotzdem sehr stark engagiert sind, dass die es auch fertig bringen, kritisch, aber auch konstruktiv nicht alles blockend zu diesen Reformprojekten Stellung zu beziehen. May: Jetzt ist Deutschland letzte Woche bei der Verteilung der EU-Behörden, die nach dem Brexit aus London wegziehen müssen, leer ausgegangen. Glauben Sie, das war auch eine Folge, dass das Land so sehr mit sich selbst beschäftigt war und vergessen hat, Lobbyarbeit in Brüssel zu machen? Asselborn: Ich glaube das nicht. Das war ein System, was wir ausgearbeitet haben, wo nach dem Eurovisionsprinzip abgestimmt wurde. Ich glaube, da war keine große Kohärenz drin. Jedes Land hat versucht, mit zwei, drei anderen Ländern zu schauen, wer stimmt für mich, dann stimme ich für Dich. Das, was rausgekommen ist, ist rausgekommen. Die Tendenz war ja eher auch, dass ein osteuropäisches Land eine Agentur bekommen soll. Das ist auch hingefallen. Das war aber nicht gegen Deutschland gerichtet. Das kann ich mir nicht vorstellen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jean Asselborn im Gespräch mit Philipp May
Deutschland hat nach Ansicht des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn eine funktionierende Übergangsregierung, die auch in der Europapolitik in der Lage ist zu agieren. Reformen innerhalb der EU anzukurbeln, sei in der derzeitigen Situation allerdings nicht möglich, sagte Asselborn im Dlf.
"2017-11-28T06:50:00+01:00"
"2020-01-28T11:02:43.923000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-union-asselborn-keine-reformen-ohne-deutsche-100.html
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EZB öffnet Geldhahn
Die Europäische Zentralbank beginnt mit dem Ankauf von Staatsanleihen, um die Wirtschaft anzukurbeln. (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt) Bis zum Herbst nächsten Jahres will die EZB 1,1 Billionen Euro in die Märkte pumpen, indem sie Staatsanleihen fast aller Euroländer kauft. Das Ziel: Für die Banken im Euroraum soll es nicht mehr so attraktiv sein, in solche Anleihen zu investieren. Durch den Masseneinkauf will die EZB die Rendite bei solchen Investitionen schmälern. Die Hoffnung der europäischen Währungshüter liegt darin, dass Banken dann eher Kredite an Unternehmen vergeben, also in die Wirtschaft investieren und diese in Schwung bringen. EZB-Chef Mario Draghi hat außerdem als Zielmarke ausgegeben, die Inflation auf knapp unter zwei Prozent ansteigen zu lassen. Niedrige Teuerungsrate Die Teuerungsrate bewegt sich im Euroraum derzeit auf niedrigem Niveau - auch in Deutschland. Im Januar waren die Verbraucherpreise in der Bundesrepublik zum ersten Mal seit September 2009 nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Die niedrigen Preise für Rohöl hatten die Rate aber auch überdurchschnittlich stark gedrückt. Der massenhafte Kauf von Staatsanleihen durch die EZB ist umstritten. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, befürchtet, dass durch das Programm der Reformdruck auf europäische Krisenländer sinkt. Durch die Geldschwemme steigt aus Sicht der Kritiker außerdem die Gefahr, dass an den Märkten Preisblasen entstehen - etwa auf dem Immobilienmarkt. (pr/böl)
null
Pro Monat etwa 60 Milliarden Euro - für diese Summe will die Europäische Zentralbank ab heute Staatsanleihen und andere Papiere in der Eurozone kaufen. Das soll die Wirtschaft flott machen. Kritiker befürchten aber, dass das Gegenteil eintreten könnte.
"2015-03-09T06:24:00+01:00"
"2020-01-30T12:25:29.486000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/staatsanleihen-kauf-ezb-oeffnet-geldhahn-100.html
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"Libyen könnte neues Epizentrum des Terrorismus werden"
Guido Steinberg, Terrorismus- und IS-Experte, von der Stiftung Wissenschaft und Politik (dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler) Steinberg sagte weiter, die Luftangriffe der "Koalition der Willigen" seien nicht effektiv. "Man braucht die Bodentruppen", an diesen mangele es aber. Im Irak benötige man arabische Sunniten, um den IS wirksam zu bekämpfen. Die gebe es aber nicht. Auch in Syrien brauche man aufständische arabische Sunniten, mit denen man zusammenarbeiten könne. "Im Moment zeichnet sich ab, dass man nur sehr schlechte Verbündete hat, nämlich die Kurden oder auch schiitische Milizen, mit denen man in sunnitischen Gebieten tatsächlich IS nicht erfolgreich bekämpfen kann." Deswegen werde sich die Terrororganisation noch weiter ausbreiten in der arabischen Welt. Derzeit gebe es Ableger des IS in Ägypten, im Jemen, in Algerien und Afghanistan. "Das lässt zumindest die Sorge zu, dass IS ein internationales Netzwerk aufbaut so wie Al-Kaida nach 2001 und dadurch enorm gestärkt wird." Steinberg sagte, es sei zwar wünschenswert, wenn der Kampf gegen den IS auch auf Libyen ausgeweitet werde. "Es ist wohl so, dass Libyen in Nordafrika das neue Epizentrum des dschihadistischen Terrorismus werden könnte." Allerdings gebe es dort keine möglichen Verbündeten. Die europäische und amerikanische Politik sei vollkommen ratlos. Ein erster Schritt könne sein, den Nachbarstaat Tunesien zu stabilisieren. Das Interview in voller Länge: Peter Kapern: Der Papst ist empört und Volker Kauder, der Fraktionschef der Union im Bundestag auch. Empört wegen der Ermordung von 21 koptischen Christen in Libyen. Sie waren Gastarbeiter aus Ägypten, die Ende vergangenen Jahres entführt und nun bestialisch ermordet wurden, und zwar vom IS, vom sogenannten Islamischen Staat, der auch in Libyen über militante Kämpfer verfügt. Die Antwort der ägyptischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Präsident Abdel Fattah al-Sisi schickte seine Luftwaffe los, um Stellungen und Camps der IS-Milizen zu bombardieren. Dutzende der Steinzeit-Islamisten sollen dabei ums Leben gekommen sein. Und bei uns am Telefon ist jetzt Guido Steinberg, der Terrorismusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Herr Steinberg! Guido Steinberg: Guten Tag, Herr Kapern! Kapern: Der IS jetzt auch in Libyen. Wie kommt er dahin? Steinberg: Das ist die große Frage, die auch unter Experten höchst umstritten ist. Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass es da kleinere Gruppen gibt, die aufgrund des so großen Erfolges von IS in Irak und Syrien einfach mal sagen, wir sind jetzt IS. Es zeigt sich allerdings in den letzten Wochen und Monaten, dass es doch mehr als reine Absichtserklärungen sind dieser kleineren Gruppierungen. Das sind mittlerweile in Libyen drei, die sich dem IS angeschlossen haben. Und es scheint so, als hätten die doch einige Kontakte, als würden die unterstützt. Und das gilt eben nicht nur für Libyen, sondern wir haben jetzt, wie wir auch eben gehört haben, einen IS-Ableger in Ägypten, wir haben einen kleinen im Jemen, einen kleinen in Algerien, einen in Afghanistan. Und das lässt doch zumindest die Sorge zu, dass die Organisation IS ein internationales Netzwerk aufbaut, so wie Al Kaida nach 2001, und dadurch enorm gestärkt wird. Bündnisse machen "die militärischen Aktivitäten dieser einzelnen Gruppen sehr, sehr viel effektiver" Kapern: Sie haben es gerade gesagt, Herr Steinberg, wo überall Terrororganisationen sich plötzlich auf den IS berufen.Das klingt ja fast so, als würden Dschihadisten das Trikot wechseln wie Fußballprofis im europäischen Fußball und mal für diese, mal für jene Terrororganisation in den Kampf ziehen. Nach welcher Logik, nach welchen Kriterien wird da eigentlich entschieden? Steinberg: Nun, es geht da zunächst nach dem Erfolg. Und der Vergleich mit dem Fußball ist durchaus treffend. Man konnte nach 2001 beobachten, dass es ein sogenanntes Ablegernetzwerk gab, das sich entwickelte. Und zwar mit der Entstehung eines Ablegers in Saudi-Arabien 2003, dann im Irak 2004 und so weiter. Und da schien es oft darum zu gehen, dass man, wenn man dieses Label Al Kaida übernahm, man Zugriff auf Rekruten vor allem aus der Golfregion bekam, aber auch aus der ganzen Welt, und auf die Finanzierungsnetzwerke. Und so ähnlich scheint es bei IS auch zu sein. Es gibt mittlerweile recht detaillierte Nachrichten darüber, dass der ägyptische IS-Ableger durchaus Delegationen in den Islamischen Staat in Irak und Syrien entsandt hat, daraufhin beispielsweise finanzielle Unterstützung erhielt. Und seitdem er zu IS gehört, ist diese Einheit, die vor allem auf dem Sinai unter dem Namen Provinz Sinai, also Provinz des Islamischen Staates agiert, wesentlich effektiver geworden. Und das ist auch die große Gefahr, das deutet sich auch in Libyen an, vor allem, wenn man sich das Video betrachtet, auf dem diese 21 koptischen Geiseln ermordet werden. Da stellt man nämlich fest, dass das auch in der Öffentlichkeitsarbeit, in der technischen Ausarbeitung so gut ist wie auch die anderen Videos des IS, das verweist darauf, dass es da tatsächlich eine effektive Zusammenarbeit zwischen den Organisationen gibt. Also kurz: Das macht dieses Bündnis, macht die Öffentlichkeitsarbeit, aber auch die militärischen Aktivitäten dieser einzelnen Gruppen sehr, sehr viel effektiver. Europäische und amerikanische Politik in der Syrien-Frage "vollkommen ratlos" Kapern: Sieht ja nun ganz so aus, Herr Steinberg, als sei Libyen ein genauso zerfallener Staat wie jene Bereiche des Irak oder Syriens, die vom IS kontrolliert werden. Muss der Kampf gegen den IS auf Libyen ausgeweitet werden? Steinberg: Ja, das wäre zumindest wünschenswert. Es ist wohl so, als ob Libyen in Nordafrika das neue Epizentrum des dschihadistischen Terrorismus werden könnte. Allerdings ist die große Frage, wie man diesen Kampf denn in Libyen führen will. Man hat ja da eine ähnliche Situation wie auch in Syrien, dass es eigentlich keinen Verbündeten für die westliche Politik gibt. Da gibt es islamistische Gruppierungen, da gibt es kriminelle Milizen und da gibt es einen ehemaligen Militär, Chalifa Haftar, der im Bündnis mit den Ägyptern, den Vereinigten Emiraten und mit Saudi-Arabien eine säkularistische Diktatur neu errichten will. Es ist also die große Frage, wie man dort eingreifen will. Und das ist ja auch ganz offensichtlich, dass nicht nur die europäische, sondern auch die amerikanische Politik da vollkommen ratlos ist. Ich denke, der erste Schritt für die Europäer wäre, die Nachbarländer zu stabilisieren, in Ägypten wird das sehr schwierig und da sind auch eher die Golfstaaten involviert, aber ich denke da vor allem an Tunesien. Das ist ja weiterhin die einzige mögliche Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings. Die Tunesier haben große Sorge wegen dessen, was da in Libyen passiert, sie fragen immer wieder nach Waffen in Europa nach, sie fragen nach Hilfe bei der Grenzsicherung nach Libyen. Und ich denke, das wäre zumindest ein Schritt, bei dem die Europäer eine Rolle spielen können, vor allem die Sicherung der Südgrenze Tunesiens, um zu erlauben, dass das tunesische Experiment möglicherweise ein Erfolgsfall wird. In Libyen, denke ich, da wird der Bürgerkrieg sich noch intensivieren und das werden die Europäer leider nicht verhindern können. Entstehung des IS im Irak "auf politische Fehler der Regierung" zurückzuführen Kapern: Was hat eigentlich die Koalition der Willigen bislang im Kampf gegen den IS erreicht? Steinberg: Nun, sie hat den IS zumindest gestoppt und leicht zurückgedrängt. Das ist durchaus ein Erfolg, den man den Luftangriffen der Amerikaner und ihrer Verbündeten zuschreiben kann, aber auch der Unterstützung, die beispielsweise die Deutschen für die irakisch-kurdischen Truppen geleistet haben. Allerdings ... Kapern: Aber gleichzeitig, das haben wir gerade festgehalten, Herr Steinberg, weicht der IS verstärkt nach Libyen und auf den Sinai aus! Steinberg: Ja, allerdings sind diese Gruppen dort ohnehin präsent. Die schließen sich jetzt nur der Organisation an. Ich denke trotzdem, dass, wenn es um die Organisation im Irak und Syrien geht, wir davon ausgehen müssen, dass das immer noch eine getrennte Organisation ist, auch wenn die jetzt ein Bündnis mit anderen Gruppen eingeht. Aber das große Problem im Irak und Syrien ist, dass diese Luftangriffe jetzt an Effektivität verlieren, weil die großen Ziele alle zerstört sind. Und jetzt zeigt sich, dass man bei dieser Bekämpfung des IS auch dort nicht weiterkommt. Und da haben Sie recht: Man kommt im Irak und Syrien nicht weiter und in anderen Gebieten mehren sich die Anzeichen, dass sich Gruppierungen anschließen. Es wird jetzt darum gehen, Verbündete vor Ort zu finden, und das ist das große Problem. In Syrien wird das sehr, sehr schwer möglich sein, im Irak gibt es da einige Anzeichen, aber es zeigt sich da, wie auch anderswo, dass die Entstehung des IS auf politische Fehler der Regierung zurückgeht. Die irakische Regierung, die schiitisch geprägt ist, ist weiterhin nicht bereit, auf die Sunniten im Land zuzugehen in einer Art und Weise, die sie davon überzeugen würde, dass die irakische Regierung die bessere Alternative ist als der IS. Und ohne dass das passiert, wird es im Irak keinen großen Erfolg gegen IS geben, und ohne dass das beispielsweise in Libyen passiert, wird die Organisation dort auch stärker werden. "Wir werden mit dem IS noch lange zu tun haben" Kapern: Ganz kurz noch mal nachgefragt, Herr Steinberg, weil die Nachrichten heranrücken: Wenn Sie von Verbündeten vor Ort sprechen, die man benötigt, das ist eine Umschreibung dafür, dass es Bodentruppen braucht, um den IS zu schlagen? Steinberg: Ja, selbstverständlich. Man braucht die Bodentruppen, diese Luftangriffe sind nicht effektiv, und an diesen Bodentruppen mangelt es. Man braucht im Irak arabische Sunniten, um IS wirklich wirksam bekämpfen zu können. Die gibt es nicht. Man braucht in Syrien Aufständische, arabische Sunniten, mit denen man zusammenarbeiten kann. Und im Moment zeichnet sich ab, dass man nur sehr schlechte Verbünde hat, nämlich die Kurden oder auch schiitische Milizen, mit denen man in sunnitischen Gebieten tatsächlich nicht erfolgreich IS bekämpfen kann. Deswegen werden wir mit dieser Organisation lange zu tun haben. Und wir werden beobachten, dass sie auch noch weiter ausgreifen wird in der arabischen Welt. Kapern: Guido Steinberg, der Terrorismusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Steinberg, danke, dass Sie uns mit Ihrer Expertise weitergeholfen haben! Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und tschüss! Steinberg: Gleichfalls, ich danke! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Steinberg im Gespräch mit Peter Kapern
Die Terrormiliz "Islamischer Staat" bekomme immer mehr Ableger, sagte Guido Steinberg, Nahost- und Terrorismusexperte im DLF. Das lasse die Sorge zu, dass der IS ein internationales Netzwerk aufbaue und dadurch enorm gestärkt werde. Der Westen müsse sunnitische Verbündete vor Ort finden.
"2015-02-17T06:50:00+01:00"
"2020-01-30T12:22:15.040000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-is-terror-libyen-koennte-neues-epizentrum-des-100.html
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Die verschwundenen Flüchtlinge
Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt. (picture alliance / dpa / Olivier Corsan) Ein rätselhaftes und vor allem verstörendes Phänomen der Flucht übers Mittelmeer: Immer wieder verschwinden minderjährige Bootsflüchtlinge, in Italien mehr als 5.000, meldet Europol. Viele, vor allem männliche Jugendliche, machen sich auf eigene Faust auf den Weg zu Verwandten in Europa. Doch Hilfsorganisationen fürchten, dass etliche Kinder und Jugendliche Opfer von Erpressung, Menschenhandel und Ausbeutung werden. "Save the children" hat herausgefunden, dass das Risiko versklavt zu werden für nigerianische Mädchen und ägyptische Jugendliche besonders hoch ist. Eine Einrichtung der italienischen Caritas für minderjährige Flüchtlinge vor den Toren Palermos. Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren stehen auf dem Balkon des Hauses und spielen Tischkicker spielen. Psychologin Anna Cullotta legt Wert auf ein offenes Klima. Jeder kann gehen und kommen, wie es ihm gefällt. Und immer wieder passiert es, dass Anna Cullotta von einem auf den anderen Tag feststellen muss: Da fehlt jemand. Erklärung oft harmlos "Hier hat es Personen gegeben, die angekommen sind und schon am nächsten Tag nicht mehr da waren. Manchmal sagen sie es uns und wir erklären ihnen sogar den Weg zum Bahnhof." In den vergangenen zwei Jahren sind 10.000 minderjährige Flüchtlinge verschwunden, meldet die europäische Polizeibehörde Europol. Allein in Italien fehlt von mehr als 5000 Kindern und Jugendlichen jede Spur. "Oft ist die Erklärung harmlos", sagt Carlotta Bellini von der Hilfsorganisation "Save the children". "Sie verschwinden oft schon nach wenigen Stunden aus dem Hafen, wo sie ankommen, um vor allem Richtung Rom oder Mailand weiterzufahren. Von dort organisieren sie ihre Weiterfahrt in andere europäische Länder. Ihr bevorzugtes Ziel ist Deutschland." Junge Männer, die sich auf eigene Faust auf den Weg machen, auf der Suche nach Verwandten im Ausland oder nach Arbeit. "Save the children" hat festgestellt, dass vor allem junge Ägypter unter menschenunwürdigen Bedingungen in Italien arbeiten. Jugendliche, die eigentlich in die Schule gehören und nicht auf die Baustelle oder in den Großmarkt. "Weil sie Geld nach Hause schicken müssen, nehmen sie jede Arbeit an. Man kann sie auf dem Obst- und Gemüsegroßmarkt finden, wo sie ausgenutzt werden und ein, zwei Euro die Stunde verdienen. Oft arbeiten sie 12 Stunden am Stück." Kinder müssen Schuld der Eltern abarbeiten Um die Kinder nach Europa schicken zu können, haben sich die Eltern verschuldet. Und die Kinder müssen diese Schuld in Europa abarbeiten. Auch das ist Teil des kriminellen Schleppergeschäfts. Besonders gefährdet sind junge Mädchen aus Nigeria. Sie werden häufig Opfer von Menschenhändlern, sagt Carlotta Bellini. "Sie landen in Hotels oder Pensionen. Viel öfter noch auf dem Straßenstrich. An diese Mädchen kommt man praktisch nicht heran. Sie werden streng kontrolliert, nicht nur von Männern, auch von Frauen, den sogenannten 'Mamans'. Die halten den Kontakt zu den verschiedenen Männern aus Libyen oder Nigeria, die die Mädchen kaufen und verkaufen." Italien scheint dem Phänomen der verschwundenen Flüchtlingskinder wenig entgegensetzen zu können und zu wollen. Hilfsorganisationen wie "Save the children" fordern mehr Kontrollen und vor allem mehr Plätze in Aufnahmeeinrichtungen für Minderjährige. Das Haus der Caritas in Palermo gilt da als vorbildlich. Hier erhalten die Jugendlichen aus Afrika Sprachunterricht, Rechtsberatung und therapeutische Angebote. In ein Gefängnis will Anna Cullotta ihr Haus nicht verwandeln. "Die Türen bleiben immer offen. Die Jugendlichen wissen, dass dies kein geschlossenes Lager ist. Es ist ein Aufnahmezentrum und wir versuchen, ihnen zu vermitteln, dass das eine Chance für sie ist."
Von Tilmann Kleinjung
Immer wieder verschwinden Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben. In Italien sind vor allem Minderjährige betroffen. Die Hilfsorganisation "Save the children" befürchtet, dass viele Opfer von Erpressung, Menschenhandel und Ausbeutung werden.
"2016-02-01T13:23:00+01:00"
"2020-01-29T18:11:34.723000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/italien-die-verschwundenen-fluechtlinge-100.html
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Eine Geschichte erzählen und Stars schaffen
OK der Frauenweltmeisterschaft 2011 (dpa / Marius Becker) Über 70.000 Zuschauer sind im ausverkauften Berliner Olympiastadion, als der damalige Bundespräsident Christian Wulff die erste Frauen-Fußball-WM auf deutschem Boden eröffnet. Fünf Jahre nach dem an gleicher Stelle das Weltturnier der Männer stattfand, jetzt die große Bühne für die Frauen. "Diese tolle Kulisse hier im Olympiastadion in Berlin, die kann bei den Männern nicht besser sein. Das muss man sagen", frohlockt Fußballfan Angela Merkel. Zu den insgesamt 32 Spielen kommen im Schnitt 26.400 Zuschauer in die Stadien, das ist gerade einmal halb so viel wie bei der Männer-WM zuvor. Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der FIFA-Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland (imago sportfotodienst) Das liegt aber auch daran, dass nicht in den ganz großen Arenen in Dortmund und München gespielt wird, sondern in Leverkusen, Augsburg oder Sinsheim. Live dabei kann man aber auch von zu Hause sein und zwar zum ersten Mal bei allen Spielen einer Frauen-WM. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky musste dafür in den Chefetagen seines Senders ordentlich kämpfen: "Einige Direktoren in der ARD haben mich für bekloppt erklärt und haben gesagt: 'Bist Du wahnsinnig geworden?' Da habe ich gesagt: 'Nee. Wenn wir das ernst nehmen und wenn wir unseren Auftrag ernst nehmen, dann ist das genau das Beispiel, wo wir das machen können.' Und am Ende hat diese Frauen-WM funktioniert." Keine Frauen in Führungspositionen Und das obwohl die deutsche Mannschaft als Titelverteidiger überraschend im Viertelfinale ausscheidet und das Finale im Vorfeld nicht als Straßenfeger gilt. "USA-Japan. Da hatten wir 15 Millionen Zuschauer. Das heißt aber nicht, dass das danach so bleibt, das muss man klar sagen. Die Frauen-Länderspiele werden heute von 10-12 % geschaut, bei Europameisterschaften und Weltmeisterschaften steigt es deutlich an", erklärt ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky. Man habe sich aber bewusst dafür entschieden, auch weiter die Länderspiele zu zeigen, weil man dies auch als gesellschaftliche Aufgabe verstehe. Was Gleichstellung angeht ist es im Sport nicht anders als in Wirtschaft und Gesellschaft. In Führungsposition finden sich kaum Frauen. Genau eine sitzt im Präsidium des Deutschen Fußball-Bundes. Wie kann sich Frauensport entwickeln? Genau wie bei den Handballern, wie Mark Schober, der Vorstandsvorsitzende des DHB beinahe peinlich berührt zugibt: "Bei uns im Verband haben wir jetzt eine Frau im Präsidium, es gibt eine Quotenregelung. Da sind wir noch weit weg von einem sinnvollen Ziel. Das vertrete ich auch ganz offen." Und so setzt er, wie er auf dem Podium der Deutschlandfunk-Sportkonferenz im November sagt, auf Veränderungen in der Gesellschaft, auch wenn die wohl noch Jahrzehnte dauern werden: "Dann wird sich auch der Frauensport in Deutschland entwickeln, weil er insgesamt ja, das kann man über alle Mannschaftssportarten sagen – Beachvolleyball vielleicht jetzt nicht, aber alle anderen Sportarten – deutlich zurückstehen muss." Kira Walkenhorst (r.) and Laura Ludwig haben bei den Olympischen Spielen in Rio die Goldmedaille im Beach-Volleyball gewonnen. (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert) Beach-Volleyball ist eines der Paradebeispiele für Frauensport, der sich großer Aufmerksamkeit und Beliebtheit erfreut. Das liegt nicht zuletzt an den Erfolgen von Laura Ludwig und Kira Walkenhorst, vor allem durch ihren Olympiasieg 2016 in Rio de Janeiro. Trotz nachtschlafender Zeit in Deutschland einer der Quotenhits bei den Spielen in Brasilien. Über mangelnde Quoten müssen sich auch die Wintersportlerinnen nicht beklagen. Dort sind viele der Sportarten nahezu gleichauf, das gilt auch für die Übertragungszeit im Fernsehen. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky: "Im Biathlon oder Ähnliches sind die erfolgreichen Übertragungen ganz oft die der Frauen gewesen, weil die in den letzten Jahren eben Persönlichkeiten herausgebildet haben mit Magdalena Neuer und vielen anderen." Aufmerksamkeit generieren Persönlichkeiten bekanntmachen. Eine Geschichte erzählen und so Stars schaffen, eines der Ziele immer wieder von Verbänden, um die Aufmerksamkeit für ihre Sportart zu generieren. Bestens zu beobachten erst vor wenigen Wochen. Heim-Weltmeisterschaft der Handballerinnen. Wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel sagte Kapitänin Anna Loerper im Deutschlandfunk-Sportgespräch: "Der Frauenhandball kennt es ja nicht anders, dass wir eher eine Randsportart sind, das öffentliche Interesse nicht ganz so groß ist. Es wäre natürlich schön, dass Gesichter nach der hoffentlich erfolgreichen WM mehr in der Öffentlichkeit stehen. Ich denke, das ist die Chance dieser WM, dass die Frauen-Handball-Sparte mehr publik wird." Deutschlands Svenja Huber (l.) und Friederike Gubernatis freuen sich über den Sieg gegen Südkorea (dpa / Hendrik Schmidt) Man will dem Publikum zeigen, dass auch der Frauenhandball eine attraktive Sportart ist, über Leidenschaft, Herz und Kampfgeist die Fans erreichen. Nach der WM das ernüchternde Fazit. Zwar wurde jedes Spiel der "Ladies", wie sie sich selbst nennen, im Spartenkanal Sport1 gezeigt. Zur Übertragung im öffentlich-Rechtlichen Fernsehen, das mit dem Halbfinale eingestiegen wäre, ist es aber nicht mehr gekommen. Aus im Achtelfinale. Schwer aus der Nische herauszukommen Und damit auch keine Chance für das vor dem Turnier ausgegebene Mantra. Bekanntwerden durch die Heim-WM: "Das heißt natürlich aber auch für uns, dass wir das am einfachsten über Erfolg lösen können." Und so wird es auch in den nächsten Jahren sehr schwer, Frauenhandball zu etablieren und aus der Nische herauszukommen.
Von Matthias Friebe
Die "Bad Boys" sind vielen ein Begriff für die Männer-Handball-Nationalmannschaft. Dass sich die Frauen "Ladies" nennen, weiß kaum einer. Ein Beispiel, wie man viele finden könnte. Frauensport ist in Deutschland - vor allem in den Mannschaftssportarten - in einer Nische. Warum hat er es so schwer?
"2017-12-23T19:11:00+01:00"
"2020-01-28T11:06:28.937000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/frauensport-eine-geschichte-erzaehlen-und-stars-schaffen-100.html
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Im Schatten der Brexit-Debatte
Gilt in Schottland als unsozial: Der britische Premierminister David Cameron. Am 23. Juni will er die Briten über den Verbleib in der EU abstimmen lassen. (afp / Emmanuel Dunand) Ein Wahlspot der Schottischen Nationalpartei: Mhairi Black wirbt um die Stimmen der First Time Voters, der Erstwähler und –wählerinnen, deren Interessen von den Tories in London missachtet würden. Sie selbst wurde im Alter von nur 20 Jahren zur jüngsten Abgeordneten im britischen Unterhaus gewählt. Nicola Sturgeon, die schottische Regierungschefin von der SNP, ruft die Jungen zur Wahl auf. Erstmals dürfen 16- und 17-jährige das schottische Parlament mitwählen. 2013 hatte Sturgeons Partei das Wahlgesetz geändert. Junge Wähler begeisterten sich für die Idee von einer Unabhängigkeit. Und sie sind trotz der Niederlage weiter politisiert. "Wenn die Menschen ihre Meinung ändern, z. B. vor dem Hintergrund, dass uns die Tories aus der Europäischen Union herausreißen wollen gegen unseren Willen. Und wenn dann klar wird, die Unabhängigkeit ist zur Präferenz für eine Mehrheit der schottischen Bevölkerung geworden, dann hat kein Politiker das Recht, sich dem demokratischen Willen der Schotten in den Weg zu stellen." Ein zweites Referendum fordert also die Schottische Nationalpartei. Vielleicht, unter bestimmten Umständen, nicht jetzt, höhnt dagegen Kezia Dugdale, die Vorsitzende der schottischen Labour-Partei: "2011 haben in Ihrem Manifest auf Seite eins 15 Wörter ausgereicht, um ein Referendum zu fordern. Jetzt brauchen Sie in ihrem Wahlmanifest auf Seite 24 schon 210 Wörter dafür: Vielleicht ja, vielleicht nein, wir sind nicht sicher, vertraut uns oder fragt lieber die Meinungsforscher. Es gibt so viele Menschen, die vom Referendum und der Vergangenheit wegwollen." Ziel der Tories: das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten Manche Beobachter meinen, die SNP könne froh sein, dass es 2014 nicht zur Unabhängigkeit gekommen ist. Das Thema bleibt so am Lodern. Die schottischen Nationalisten werden ihre Mehrheit im Parlament in Edinburgh noch weiter ausbauen. Es geht um die Plätze dahinter. Labour ist dabei in der größten Bedrängnis. Das war 2011, bei den letzten Regionalwahlen in Schottland. Labour verliert in einem Wahlkreis drei Prozent. Und das war nur der Auftakt. Die Unterhauswahl 2015 wurde zum Desaster. Einst hatte Labour in Schottland dominiert, letztes Jahr gingen mit zwei Ausnahmen alle Sitze an die SNP. Nun droht der einst stolzen Arbeiterpartei auch noch die Schmach, hinter den Tories auf Platz 3 im Parteienspektrum zurückzufallen. Ruth Davidson ist die Vorsitzende der schottischen Konservativen. "Viele Leute können sich nicht überwinden, konservativ zu wählen", fragt der Moderator. Ihr Problem ist, dass die Tories als scheußlich und unangenehm gelten, oder? ‑ Was wir sagen, ist, wir wollen etwas tun, und wenn Sie uns wählen, geht es nicht darum, ein Tory zu sein. Lasst uns darauf fokussieren, was für die Menschen wirklich wichtig ist." Camerons Politik gilt als unsozial Ruth Davidson ist in Schottland beliebt, sie lebt mit einer Frau zusammen, ist Kickboxerin – das entspricht nicht unbedingt dem gängigen elitären Tory-Klischee. Ihre Wahlkämpfer stellen sich lieber als Mitglieder des Team Ruth Davidson vor, als sich als ungeliebte Tories im linken Schottland zu outen. "Es ist eine Botschaft mit Herz und Verstand. Ich und andere kümmern uns leidenschaftlich darum, das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten." Das nehmen die Schotten David Cameron, ihrem ungeliebten Premierminister, schon lange nicht mehr ab. Seine Politik gilt als unsozial und dann kamen auch noch zuletzt die Berichte über ein anrüchiges privates Konto in einer Steueroase auf den Bahamas. In den letzten Wochen hat sich Cameron nördlich der Grenze zu Schottland jedenfalls kaum mehr blicken lassen.
Von Friedbert Meurer
Die Schotten sind Umfragen zufolge in der Mehrheit europafreundlich und gegen einen Austritt aus der EU, über den die Briten Ende Juni in einem Referendum abstimmen werden. Die Schottische Nationalpartei hofft, dass ihr diese Angst vor einem Brexit in die Hände spielt - morgen bei der Wahl zum schottischen Parlament.
"2016-05-04T09:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:27:38.487000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schottische-regionalwahl-im-schatten-der-brexit-debatte-100.html
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"Unsere Unternehmensspitzen müssen bunter werden"
Tobias Armbrüster: Brauchen deutsche Unternehmen eine Frauenquote? Und wenn ja, wie hoch soll der Frauenanteil sein? Die Frage wird heute Mittag in Berlin gestellt, dort werden sich Vertreter der 30 DAX-Unternehmen mit mehreren Ministern der schwarz-gelben Koalition treffen. Die Unternehmensvertreter sollen dabei vor allem sagen, welchen Frauenanteil sie in ihren einzelnen Unternehmen erreichen möchten.Am Telefon ist Rita Pawelski. Sie ist Sprecherin der Frauen in der Unions-Fraktion im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen, Frau Pawelski.Rita Pawelski: Guten Morgen, Herr Armbrüster.Armbrüster: Frau Pawelski, was erwarten Sie von diesem Treffen heute Mittag?Pawelski: …, dass ein Durchbruch sich entwickelt für Frauen in Führungspositionen, und wenn ich von Frauen in Führungspositionen rede, dann meine ich nicht nur die Frauen im oberen Management, sondern ich meine ausdrücklich die Frauen in den Vorständen und in den Aufsichtsräten.Armbrüster: Wie soll denn so ein Durchbruch aussehen?Pawelski: Ich erwarte von den Unternehmen, dass sie heute ganz klar definieren, wie viel Frauen sie demnächst auch in Vorständen und Aufsichtsräten berücksichtigen wollen.Armbrüster: Warum brauchen wir eine solche Quote, eine solche Voraussage für eine Quote?Pawelski: Wir brauchen Unternehmen, die erfolgreich und wirklich mit einem festen Willen mehr Frauen in ihren Unternehmen entwickeln wollen, weil es bewiesen ist – es gibt da ja viele Wirtschaftsstudien -, dass geschlechtergemischte Unternehmensführungen besser sind als rein männerdominierte, und darum ist es gut für die deutschen Unternehmen, wenn sie Frauen mehr berücksichtigen, auch vor dem Hinblick der demographischen Entwicklung, Fachkräftemangel. Wir müssen die Frauen fördern, wir müssen sie berücksichtigen und wir müssen zulassen, dass sie auch in den Vorständen und Aufsichtsräten sind.Armbrüster: Reicht es denn dann aus, Frau Pawelski, wenn man da der Wirtschaft sozusagen freie Hand lässt, oder brauchen die vielleicht ein bisschen Druck?Pawelski: Sie brauchen Druck, und was da Druck erzeugt, das haben wir in dem letzten Jahr gesehen. Die Gruppe der Frauen hat vor 14 Monaten einen Beschluss gefasst zur Frauen in Führungspositionen, sie haben einen Stufenplan bis hin zur Quote entwickelt, und als wir diesen Plan aufgestellt haben, gab es zwei Frauen in den Vorständen, mittlerweile sind es sieben.Armbrüster: Das heißt, Sie wollen konkrete Vorgaben machen für die Unternehmen, wie viele Frauen sie in Führungspositionen beschäftigen sollen?Pawelski: Unser Endziel ist eine Quote von 30 Prozent, die 2018 erreicht sein sollte. Aber wir sind mit einem ersten Schritt, mit einer Flexiquote für Vorstände, nicht für Aufsichtsräte, wären wir einverstanden, wenn es dann eine deutliche zweistellige Zahl ist.Armbrüster: Das klingt jetzt alles nach Zwang, Frau Pawelski.Pawelski: Druck!Armbrüster: Druck.Pawelski: Zwang ist es, wenn wir Gesetze erlassen, ist ja meist ein Zwang dahinter. Wer zahlt schon freiwillig Steuern? Auch das ist ja ein gewisser Zwang, oder?Armbrüster: Aber meinen Sie, kann man mit Zwang wirklich wirtschaftlichen Erfolg erreichen?Pawelski: Da in der Vergangenheit in dem Bereich wenig getan wurde, aber klar ist, dass wir die Frauen in den Führungspositionen brauchen, denke ich, müssen wir einen gewissen Zwang ausüben. Aber noch mal: ich sage nicht Zwang, sondern ich sage Druck, und durch Druck entwickelt sich etwas. Und allein, dass sich heute 30 DAX-Unternehmen treffen, um über das Thema zu reden, und zwar nicht das erste, sondern das zweite Mal, beweist, dass unser Papier schon Erfolg hat, dass wir auf dem richtigen Wege sind, dass sie sehen, wenn sie von alleine nichts machen, kommt wirklich dann eine starre feste Quote.Armbrüster: Nun gibt es ja, was die Frauenquote angeht, in der Bundesregierung zwei sehr unterschiedliche Positionen. Da ist einmal die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, sie möchte die Flexiquote, Sie haben die angesprochen, also dass jedes Unternehmen sozusagen für sich selbst festlegen kann, wie viele Frauen es in Führungsetagen beschäftigt. Und dann ist da die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, sie will eine feste Quote. Wo stehen Sie mit Ihrem Vorschlag?Pawelski: Ursula von der Leyen unterstützt unser Papier, das wir entwickelt haben. Wir haben eine feste Quote vorgesehen. Aber wir wollen unsere Familienministerin und Frauenministerin Kristina Schröder auf ihrem Weg begleiten. Noch mal: Wenn es der erste Schritt sein kann, wirklich Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten, nicht in allgemeinen Führungspositionen, sondern ganz ausdrücklich in diesen beiden Positionen, unterzubringen, wenn wir dort eine höhere Beteiligung von Frauen sehen, dann kann es für eine gewisse Zeit eine Flexiquote geben. Aber klar muss sein, dass zu einem bestimmten Datum die 30 Prozent erreicht sein müssen.Armbrüster: Das heißt, da meinen Sie, da müsste Kristina Schröder noch mal nachbessern?Pawelski: Ich kenne nicht ihr genaues Papier, ich kenne den Gesetzentwurf noch nicht. Wir müssen schauen, was drinsteht, und dann müssen wir uns darüber unterhalten. Und wie gesagt: Es geht kein Gesetz aus dem Parlament so raus, wie es reingekommen ist.Armbrüster: Es gibt, Frau Pawelski, gegen alle Quotenbemühungen allerdings auch eine Menge Widerstand. Auch viele Frauen sind dagegen, zum Beispiel die Hauptgeschäftsführerin des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Gabriele Sons. Sie hat sich strikt dagegen ausgesprochen und gesagt, so was sei Unsinn und außerdem ein Risiko, weil mit einer solchen Quote ganz neue Vorstandsressorts geschaffen werden, die es bislang gar nicht gab und die auch nicht gebraucht werden. Was sagen Sie dazu?Pawelski: Es gibt ja ganz viele Vorurteile gegen die Quote und da werden ja auch viele konstruiert, damit man Frauen abschreckt. Noch mal ganz deutlich: Eine Quote ist nur eine Hilfskrücke, um Frauen in bestimmte Ämter zu bringen. Nachher müssen sie selbstverständlich Leistung bringen, sie müssen kompetent sein. Eine Quote ist kein Regenschirm, der die Frauen ständig schützt, sondern sie müssen nachher natürlich dann auch ihre Frau stehen. Aber wir brauchen eben eine Quote, um Frauen durch die gläserne Decke kommen zu lassen und in die Ämter reinzubringen. Und natürlich gibt es Frauen, die sagen, wir brauchen das nicht. Das sind oft die Frauen, die es schon geschafft haben. Aber Hunderte Frauen schaffen es nicht, weil sie die gläserne Decke nicht durchstoßen können. Und wir haben mittlerweile in den Universitäten, in den bestimmten Bereichen mehr gut ausgebildete Frauen. Sie verlassen mit besseren Abschlüssen die Universitäten, sie sind in den Assessmentcentern besser als die Männer. Und sie sollen nicht in der Lage sein, wirklich einen Vorstandsposten zu erfüllen, auszufüllen? Das kann ich mir nicht vorstellen und ich glaube das einfach nicht, weil wir haben gute Unternehmerinnen im Mittelstand und der Mittelstand zeigt uns, dass es durchaus mit Frauen geht. Über 25 Prozent der Führungspositionen im Mittelstand sind Frauen und da läuft es oft besser als in den großen Unternehmen.Armbrüster: Sie haben jetzt gesagt, Frau Pawelski, die Frauen müssen sich in diesen Posten bewähren. Können Sie sich dann vorstellen, mal angenommen, sie bewähren sich nicht, dass man eine Quote auch wieder absenkt?Pawelski: Wir wollen, dass die Quote gänzlich abgeschafft wird, wenn dann die 30 Prozent erreicht sind. Das ist ja kein Dauerzustand. Aber man muss erst mal den Frauen eine Möglichkeit geben, eben zu beweisen, dass sie es können. Und zurzeit ist es ja so, es werden ja die Positionen, auf die man sich ja nicht bewerben kann, sondern man wird berufen, nach einem Ähnlichkeitskriterium besetzt. Also man nimmt den, der einem ähnlich ist, und das sind ja dann in der Regel Männer. Darum haben Frauen zurzeit kaum eine Chance, überhaupt in diese Positionen zu kommen.Armbrüster: Und dann können wir in einigen Jahren davon ausgehen, dass dann Frauen nach ähnlichen Kriterien ihre Nachfolger bestimmen?Pawelski: Wenn es dann ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gibt, ja.Armbrüster: Das heißt, Frauen werden auch wieder Netzwerke schaffen und dann Männer rauslassen?Pawelski: So wie das jetzt Männer machen.Armbrüster: Das heißt, da haben Sie keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert?Pawelski: Es sollte sich was ändern. Wir brauchen nicht nur Frauen, wir brauchen auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mit einem ausländischen Hintergrund in den Unternehmen, wir brauchen mehr junge Menschen. Unsere Unternehmensspitzen müssen bunter werden, so wie das in anderen Ländern schon möglich ist. Aber schauen wir doch mal die Länder zum Beispiel wie Norwegen. Norwegen hat als erstes Land eine Quote eingeführt. Mittlerweile ist es so, dass selbst die Unternehmen, die nicht unter das Gesetz fallen, Frauen in Führungspositionen übernehmen, weil sie merken, dass es dadurch ihren Unternehmen besser geht, dass das soziale Klima in den Unternehmen besser wird, dass das Unternehmen sich besser entwickelt, und von diesen Ländern kann man doch nur lernen. Frankreich hat eine Quote bestellt, Belgien, Österreich, Italien wollen eine Quote einführen. Viviane Reding, die europäische Justizkommissarin, hat ganz deutlich gesagt, dass sie, wenn bis 2012 sich das nicht ändert, eine Quote auf europäischer Ebene einführen will. Das sollten wir alles bei der Beratung dieses Gesetzes im Hinterkopf haben.Armbrüster: Wir werden darüber sicher heute im Laufe des Tages noch mehrfach hören. Im Bundesarbeitsministerium diskutieren heute Unternehmensvertreter gemeinsam mit der Bundesregierung über die Frauenquote in börsennotierten Firmen. Wir sprachen darüber mit Rita Pawelski. Sie ist Sprecherin der Frauen in der Unions-Fraktion im Deutschen Bundestag. Besten Dank, Frau Pawelski, für das Gespräch.Pawelski: Ich danke Ihnen!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rita Pawelski im Gespräch mit Tobias Armbrüster
Die Sprecherin der Frauen in der Unions-Fraktion, Rita Pawelski, legt den 30 DAX-Unternehmen nahe, freiwillig mehr Frauen in ihre Führungsspitzen zu holen. Andernfalls werde die Politik noch deutlich stärkeren Druck ausüben müssen, sagt sie.
"2011-10-17T08:10:00+02:00"
"2020-02-04T02:21:05.292000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unsere-unternehmensspitzen-muessen-bunter-werden-100.html
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Lehren aus dem Fall Schlesinger
Patricia Schlesinger ist als rbb-Intendantin zurückgetreten (picture alliance / dpa / Britta Pedersen) Nachdem Patricia Schlesinger bereits den ARD-Vorsitz abgegeben hatte, folgte nun auch der Rücktritt als RBB-Intendantin. "Aktuell steht nicht mehr die journalistische und publizistische Leistung des Senders im Vordergrund, sondern es geht nur um mögliche und angebliche Verfehlungen der Intendantin. Das bedauere ich sehr und ich entschuldige mich bei den Beschäftigten des RBB  für diese Entwicklung“, so Schlesinger in ihrer Rücktrittsmitteilung. rbb untersucht Vorwürfe gegen Schlesinger Der ehemaligen Journalistin wurden Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme vorgeworfen. Kritik gab es unter anderem an fragwürdigen Beraterverträgen, Schlesingers Gehaltsehöhung auf 303.000 Euro, zusätzlichen Boni, einem luxuriösen Dienstwagen mit hohem Hersteller-Rabatt oder einem Essen in der Privatwohnung der Ex-Intendantin auf Kosten des RBB. Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. „Jeder einzelne Vorgang ist möglicherweise noch irgendwie begründbar, aber in der Summe verfestigt sich ein Eindruck, dass da jemand einfach komplett abgehoben von der Realität agiert hat“, so Olaf Steenfadt. Mit der Initiative „Unsere Medien“ setzt er sich für einen transparenteren und zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein. Bärendienst für öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Steenfadt kritisiert, dass der Rücktritt von Schlesinger zu spät gekommen sei – und sie mit ihrem Verhalten dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Ganzes einen Bärendienst erwiesen habe. In einer Zeit, in der öffentlich-rechtliche Medien nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien oder Frankreich zunehmend unter Druck stünden, „so eine offene Flanke zu bieten mit so einer Summe von Punkten, das ist das, was alle so sprachlos macht". Redaktionell empfohlener externer Inhalt Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren. Der Sprecher der Initiative "Unsere Medien" befürchtet, dass „immer etwas kleben bleibt – das gilt sicher für die Protagonistin, das gilt für den RBB, aber das gilt fatalerweise auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt. Und das erleben wir ja schon, wie die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks das als Steilvorlage nutzen, um das System als Ganzes zu attackieren.“ Forderung nach Reform der Kontrollorgane Um Fälle wie den von Schlesinger in Zukunft zu vermeiden, fordert Steenfadt eine Reform der Kontrollorgane der Landesrundfunkanstalten – sowohl im Bereich der Interessenvertretungen der Beitragszahlenden als auch auf der unternehmerischen Seite: "Da braucht es in der Tat Profis". Steenfadt kann deshalb zum Beispiel auch dem jüngsten Vorschlag des brandenburgischen SPD-Fraktionschefs Daniel Keller etwas abgewinnen. Der brachte in einem Interview im Tagesspiegel die Landesrechnungshöfe Berlins und Brandenburgs ins Spiel. Die sollten den RBB, seine Verwaltung und insbesondere die finanziellen Vorgänge des Senders der Prüfung unterziehen.
OIaf Steenfadt im Gespräch mit Mirjam Kid
Mit ihrem Verhalten hat Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger dem ganzen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland einen Bärendienst erwiesen, glaubt Olaf Steenfadt von der Initiative "Unsere Medien". Und sieht großen Reformbedarf bei den Kontrollorganen der Landesrundfunkanstalten.
"2022-08-08T15:35:00+02:00"
"2022-08-08T16:10:39.710000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schlesinger-ruecktritt-rbb-steenfadt-100.html
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War Hindenburg Demokrat?
Porträt von Paul von Hindenburg (1947–1934) aus den Staatlichen Museen Berlin (picture alliance / Heritage-Images)
Reinhardt, Anja
Die Hessische Landeszentrale für politische Bildung zählt das Hindenburg-Grab in Marburg zu einem von zehn "positiven Orten der Demokratiegeschichte“. Damit macht sie aus einer historischen Figur, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus entscheidend beitrug, eine positive demokratiegeschichtliche Figur, sagte der Historiker Eckart Conze im Dlf.
"2022-03-20T17:46:29+01:00"
"2022-03-20T18:22:28.108000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/war-hindenburg-ein-demokrat-historiker-eckart-conze-ueber-eine-ehrung-in-hessen-dlf-6354f7b4-100.html
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Übergriffe auf Kirchen und Moscheen
Während auf der Tropeninsel der Tourismus boomt, schwelen die alten ethnischen Konflikte zwischen der singhalesisch-buddhistischen Mehrheit und der tamilisch-hinduistischen Minderheit. In jüngster Zeit kommt jetzt auch vermehrt zu Übergriffen extremistischer Buddhisten auf christliche und muslimische Gemeinden. Lautstarker Protest Mitte Januar auf dem Weg zu einer evangelischen Kirche in Hikkaduwa an der Südküste von Sri Lanka, eine Region, die bei Touristen besonders beliebt ist. Die Lautsprecher, die man hier in dem Fernsehbeitrag eines kleinen privaten Senders hört, sind auf einem der landesüblichen Dreirad-Taxis montiert, dahinter buddhistische Mönche, die eine Menschenmenge anführen, flankiert von vereinzelten Polizisten in Uniform. Vandalismus in Kirchen nimmt zu Was friedlich begann, schlägt bei der kleinen Kirche in Zorn und Vandalismus um. Steine fliegen gegen die Fenster, Glas splittert: Die Mönche und der Mob haben die Kirchentüren aufgebrochen und stürmen einfach an den halbherzig agierenden Polizisten vorbei. Johlend zertrümmern sie Stühle und Bilder, Schränke werden geplündert, einige der Bibeln finden sich nach Presseberichten später halb verkohlt auf den nahen Bahnschienen wieder. Für Albert Jebanesan, Bischof der Methodistischen Kirche von Sri Lanka (MC-SL), sind solche Ereignisse längst keine Einzelfälle mehr: "Nach 2009 haben solche Übergriffe gegen Kirchen und muslimische Moscheen zugenommen, seit dem Ende des Krieges, aber jetzt erleben wir die Umsetzung eines systematischen Plans. Anfangs hieß es, das richtet sich nur gegen die kleineren 'neuen Kirchen' wie Charismatiker und Pfingstler, weil sie Buddhisten zum Christentum bekehren würden - auch mit materiellen Anreizen - das wurde 'unethische Bekehrung' genannt. Aber heute sind auch die großen Kirchen betroffen." "Angriffe auf Kirchen in Sri Lanka nehmen zu", stellt auch die Menschenrechtsorganisation Open Doors fest. In ihrem Anfang Januar in Berlin vorgestellten "Weltverfolgungsindex 2014" taucht erstmals seit Jahren Sri Lanka wieder auf. Es hat auf Anhieb Platz 29 unter den 50 gelisteten Ländern erreicht, direkt hinter dem großen Nachbarn Indien - eine traurige Bilanz. Sri Lanka versteht sich zwar als multireligiöse Demokratie, mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind singhalesische Buddhisten, 12 Prozent tamilische Hindus, knapp 10 Prozent Muslime und gut 7 Prozent Christen. Die Religionsfreiheit der Minderheiten jedoch wird immer mehr eingeschränkt, erzählt Albert Jebanesan: "Ein Beispiel ist etwa die 200-Jahrfeier der Methodistischen Kirche dieses Jahr. Wir haben beschlossen dafür an einem Ort namens Buttala eine kleine Kirche für die Feierlichkeiten zu vergrößern. Dazu braucht man Baupläne und Genehmigungen, das war alles erledigt und wir haben angefangen zu bauen, aber als wir beim Dach angekommen waren, haben Demonstranten die Fertigstellung verhindert. Wir sind vor Gericht gegangen und der Richter hat gesagt: 'Sie haben doch alle nötigen Papiere.' Dann hieß es von der Verwaltung: 'Wir ziehen die Baugenehmigung zurück.' Aber das geht gar nicht, das ist gegen das Gesetz!" Die Liste der Übergriffe ist lang Behördenwillkür, Diskriminierung, Angriffe auf Menschen und Gebäude, Untätigkeit von Polizei und Justiz - die Liste der Übergriffe ist lang, die überall im Land stattfinden, das ist Alltag auch für die muslimische Menschenrechtsaktivistin Shreen Saroor. "Wir sehen eine deutliche Zunahme der Übergriffe. Alleine im letzten Jahr gab es 217 Angriffe auf Muslime und etwa 60 bis 100 auf andere Minderheiten wie Hindus und Christen." "Wir beobachten auch, dass die Polizei nichts unternimmt, wenn diese extremistischen Gruppen Moscheen und Kirchen angreifen, sie kommen sogar zusammen und schauen zu. Wir haben viele Fälle dokumentiert, bei denen die Angreifer nicht verhaftet wurden, oder wenn sie vor Gericht erscheinen mussten, dann sind sie vom Richter auf Kaution frei gelassen worden." Verletzung der Releigionsfreiheit Deutliche Worte, die Shreen Saroor hier findet. Für ihre mutige Friedensarbeit vor allem unter Muslimen und Hindus im Norden ist sie international ausgezeichnet worden. Seit Kriegsende 2009 wurde Sri Lanka unter der Regierung Rajapakse immer autoritärer: Kritische Anwälte, BürgerrechtlerInnen und Journalisten sind verschwunden, verhaftet oder getötet worden. Aus Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen und die juristisch nicht aufgearbeiteten Kriegsverbrechen sind einige Länder im letzten November nicht zum Commonwealth-Gipfel nach Colombo gereist. Die Verletzung der Religionsfreiheit ist ein Punkt mehr in der langen Liste. Shreen Saroor macht politische Gründe verantwortlich dafür: "Indirekt fördert die Regierung den extremen Buddhismus, um die anderen Bevölkerungsgruppen klein zu halten und deutlich zu machen, dass sie weniger zählen. Das haben sie nach dem Sieg über die Tamilen schon so gemacht. Hinzu kommen Vetternwirtschaft, Korruption und die Militarisierung. Sri Lanka ist keine Demokratie, das sieht man auch am Abberufungsverfahren der Obersten Richterin letztes Jahr: Sie ist einfach von jemandem ersetzt worden, der regierungskonform ist. Das zeigt doch, dass Sri Lanka sich in ein gesetzloses Land verwandelt hat, das von nur einer Familie beherrscht wird." Gebet für den Präsidenten und alle politisch Verantwortlichen bei einem Open Air-"Gottesdienst für religiöse Freiheit" in der srilankischen Hauptstadt Colombo. Ende Januar nahmen mehrere tausend Menschen aller Religionen daran teil. "Wir verurteilen alle Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Menschen, die friedlich und dem Gesetz folgend ihre Religion ausüben", hieß es dort. Gegen die buddhistische Lehre: Mönche schweigen zu den Übergriffen Einer der Redner hier neben Katholiken, Anglikanern und anderen Kirchenführern war auch Bischof Albert Jebanesan. Der interreligiöse Dialog ist ihm wichtig, gleichzeitig hat er wenig Hoffnung, in führenden Buddhisten des Landes Verbündete zu finden. Der Buddhismus, eine friedliche Religion, wie sie sich im Westen darstellt? In Sri Lanka zeigt sich - in Verbindung mit der politische Elite - ein anderes Gesicht. "Leider schweigen die leitenden Mönche zu dieser Sache. Der Buddhismus funktioniert nicht wie die Kirchen, die einen Bischof haben, die klar strukturiert sind und verbindliche Entscheidungen treffen. Im Buddhismus wird jeder Tempel von einem Mönch geleitet, der seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Aber der Buddhismus ist keine gewalttätige Religion, er ist friedlich, tolerant und verurteilt Gewalt. Es ist nur ein bestimmter Teil des Buddhismus, der ihn jetzt bei uns als gewalttätige Religion erscheinen lässt. Für mich ist das völlig gegen die buddhistische Lehre."
Von Nina Waldorf
"Angriffe auf Kirchen in Sri Lanka nehmen zu", stellt die Menschenrechtsorganisation Open Doors fest. Sri Lanka versteht sich zwar als multireligiöse Demokratie, mit über 70 Prozent stellen singhalesische Buddhisten aber die überwiegende Mehrheit der Gläubigen dar. Die Religionsfreiheit der Minderheiten wird immer mehr eingeschränkt.
"2014-03-03T09:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:28:36.880000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sri-lanka-uebergriffe-auf-kirchen-und-moscheen-100.html
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Unruhen in der Ostukraine beunruhigen den Westen
Die Regierung in Kiew reagierte alarmiert auf die Lage im Osten der Ukraine. Die Proteste zielten darauf ab, einen Einmarsch ausländischer Truppen zu provozieren, sagte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk. Russische Truppen stünden 30 Kilometer von der Grenze entfernt. Sie seien entgegen entsprechender Forderungen auch aus dem Westen nicht zurückgezogen worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich enttäuscht über fehlende Fortschritte bei dem von Putin zugesagten Truppenabzug. Kiew will Spaltung nicht zulassen Die Ukraine werde nicht zulassen, dass ausländische Truppen einmarschierten und ukrainisches Gebiet besetzten, betonte Jazenjuk. Inzwischen riefen in der Großstadt Donezk pro-russische Demonstranten eine "souveräne Volksrepublik Donezk" aus, die von der Regierung in Kiew unabhängig sein soll. Die regionale Nachrichtenwebsite Ostrow berichtete, die Aktivisten in Donezk hätten beschlossen, das Gebiet in die Russische Föderation einzugliedern. Die Entscheidung wurde demnach mit Beifall und Aufrufen an Russlands Präsident Wladimir Putin quittiert, das Vorhaben zu unterstützen. Der Nachrichtenagentur Interfax zufolge wollen die prorussischen Aktivisten bis spätestens 11. Mai eine Volksabstimmung über die künftige Zugehörigkeit des Gebiets abhalten. Um das Verwaltungsgebäude harrten am Montag rund 2000 prorussische Demonstranten aus, die teilweise bewaffnet waren. Ministerpräsident Jazenjuk machte Russland für die jüngsten Unruhen im Osten des Landes verantwortlich. Moskau setze momentan alles daran, die Ukraine weiter zu destabilisieren, berichtet Deutschlandfunk-Korrespondentin Sabine Adler. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) richtete einen Appell an Russland. Es sei wichtig, "dass Russland sich zurückhält bei der öffentlichen Kommentierung oder gar Unterstützung dieser Ereignisse". Russland hat inzwischen jede Verantwortung für die Erstürmung öffentlicher Gebäude durch moskautreue Aktivisten in der Ostukraine zurückgewiesen. "Genug der Anschuldigungen gegen Russland, das für alle aktuellen Probleme der Ukraine verantwortlich gemacht wird", teilte das Außenministerium in Moskau mit. Moskau erneuerte Forderungen nach einer Föderalisierung des Nachbarlandes. Die prowestliche Führung in Kiew müsse unverzüglich ihre "unverantwortliche Einstellung zum Schicksal des Landes" ändern, hieß es. USA hat Hinweise auf Bezahlung der prorussischen Aktivisten Die prorussischen Kräfte in der Ostukraine wurden nach US-Informationen zum Teil bezahlt. Es gebe "starke Hinweise" darauf, dass zumindest einige von ihnen dort gar nicht wohnten und bezahlt worden seien, sagte Präsident Barack Obamas Sprecher Jay Carney. Die "Provokationen" seien ein Ergebnis des wachsenden Drucks aus Russland. Carney wiederholte Obamas Worte, der bei neuen Interventionen Russlands in der Ukraine mit "weiteren Konsequenzen" gedroht hatte. Eine offene oder heimliche Intervention in der Ost-Ukraine bedeute eine "ernsthafte Eskalation". US-Außenminister John Kerry warnte seinen Amtskollegen Sergej Lawrow per Telefon, jeder Versuch, die Ukraine weiter zu destabilisieren, brächte "weitere Kosten" für Russland mit sich. Er forderte die russische Regierung auf, sich von Aktivitäten von Separatisten, Saboteuren und Provokateuren zu distanzieren. EU beobachtet Entwicklung mit großer Sorge Die EU-Kommission erklärte, sie beobachte die Entwicklungen in der Ostukraine "mit Sorge". "Wir unterstüzen entschieden die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine und in dieser Hinsicht stehen wir an der Seite der ukrainischen Regierung", sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. "Wir fordern weiterhin die Vermeidung einer weiteren Destabilisierung in der Ukraine." Seit dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch Ende Februar und der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation am 21. März gibt es im Osten des Landes immer wieder prorussische Proteste. Am Sonntag hatten Demonstranten Verwaltungsgebäude in Donezk, in Charkiw und Lugansk gestürmt und russische Flaggen gehisst. Auf der Krim tötete eine russischer Soldat einen ukrainischen Marine-Offizier. (fwa/bor/tzi)
null
Nach der Erstürmung öffentlicher Gebäude im Osten der Ukraine wirft die Übergangsregierung in Kiew Russland die Vorbereitung einer Invasion vor. Es gebe den Plan, die Grenze zu überschreiten und das Land zu zerstückeln. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier richtete einen Appell an Russland.
"2014-04-07T18:08:00+02:00"
"2020-01-31T13:34:50.155000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-unruhen-in-der-ostukraine-beunruhigen-den-westen-100.html
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"Der experimentelle Impfstoff wirkt"
Dank wirkungsvoller Impfung könne verhindert werden, dass der Ausbruch derzeit explodiere, sagte die Ärtzin Marylyn Addo im Dlf (AFP / Junior D. Kannah) Christiane Knoll Wie bekämpft man eine Epidemie, wenn das Virus hochinfektiös ist und der Ausbruch inmitten politischer Unruhen stattfindet? Auf den aktuellen Ebola-Ausbruch im Kongo trifft genau das zu. 2.300 Fälle, 1.500 Tote - und trotzdem wirkte der zuständige WHO-Direktor Ibrahim Fall bei der letzten Pressekonferenz eher sachlich als panisch: "Im März und Mai haben wir uns große Sorgen gemacht über Butembo und Katwa, eine Städteregion mit fast drei Millionen Einwohnern. Inzwischen sehen wir dort nur noch vereinzelt Fälle, aber das Risiko ist da, denn es reicht bei Ebola ein Fall, der nicht adäquat behandelt wird." Was genau in der Region passiert, darüber habe ich gestern mit Marylyn Addo gesprochen, Professorin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Sie ist unter anderem an der Entwicklung des Ebola-Impfstoffs beteiligt, der in Afrika gerade getestet wird. Marylyn Addo: Der jetzige Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo spielt sich im Nordosten des Landes ab, das ist ein relativ umschriebener Bereich, er grenzt aber an einige andere Länder, Uganda, Sudan. Und insofern ist es ein Gebiet, in dem es auch zu Rebellenkämpfen kommt und sehr viele Unsicherheiten diesbezüglich vorliegen. "Rebellengruppen torpedieren die medizinische Versorgung" Knoll: Sind dort überhaupt noch Gesundheitshelfer zugange? Es gab Meldungen, dass die eben auch von Kämpfen betroffen sind, und es gab auch Todesfälle unter den Gesundheitshelfern. Addo: Das ist natürlich ein großes Problem dieses Ausbruchs, dass halt in einigen dieser Provinzen - nicht in allen - Rebellengruppen unterwegs sind und die medizinische Versorgung auch torpedieren und medizinisches Personal angreifen. Es sind auch Behandlungszentren schon angegriffen und abgebrannt worden. Das macht natürlich die Situation schwierig, und in diesen Regionen können Helfer nicht tätig sein. Es gibt Friedensgruppen oder Soldatengruppen, die die medizinischen Helfer in diesem Bereich unterstützen, um da eine Sicherheit zu gewähren. Aber das ist sicherlich eine der großen Herausforderungen dieses Ausbruchs. Hohes lokales, geringes globales Risiko Knoll: Eine neue Hiobsbotschaft kam in den letzten Tagen aus dem Ebola-Gebiet in der Provinz Ituri: Im Nordosten des Kongos sind infolge einer Gewaltwelle 300.000 Menschen offenbar geflohen. Muss man damit rechnen, dass die Ebola-Epidemie sich dadurch noch einmal weiter ausbreitet? Addo: Insgesamt sind das natürlich sehr schwierige Zustände, und wir sind in einer schwierigen Situation, um einen Ausbruch in den Griff zu bekommen. Die WHO schätzt derzeit - und dass hatten wir zum letzten Mal Mitte des Monats noch mal evaluiert - den Ausbruch als hochriskant ein für die Region und das Land, also die umgebenden Länder Ruanda, Südsudan und Uganda, aber schätzt das globale Risiko als gering ein und das Risiko, dass es zu Fällen in Europa oder in Deutschland kommt, ist als sehr gering einzuschätzen. Und die haben nochmal sich explizit dagegen ausgesprochen, den internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen in der Region. Impfungen haben schon früh begonnen Knoll: Erste Fälle wurden bereits im Nachbarland Uganda entdeckt, drei Menschen sind gestorben. Auch Tansania und Kenia fürchten ein Übergreifen der Epidemie auf ihre Länder. Andererseits muss man dazu sagen, sind gerade diese Länder viel besser aufgestellt als die betroffenen Gebiete im Kongo. Welche Gegenmaßnahmen hat man da inzwischen ergriffen? Addo: Schon früh im Ausbruch - der Ausbruch hat ja schon im letzten Jahr im August begonnen - sind die Nachbarländer miteinbezogen worden in die Maßnahmen zur Bekämpfung, es wurde schon in allen Ländern medizinisches Personal geimpft, vorsorglich, also falls es zu Fällen kommt. Es wurden die Gemeinden und die Dorfältesten geschult, die Länder der Region arbeiten sehr eng zusammen und werden auch von der WHO unterstützt. Knoll: Wie viele Menschen sind inzwischen geimpft, haben Sie da Zahlen? Addo: 150.000 sind nach dem letzten Stand der Dinge schon geimpft. Das sind vor allem medizinisches Personal und es wird nach dem Prinzip der Regelimpfung vorgegangen. Das heißt, wenn Fälle identifiziert werden, werden um diese Fälle herum alle bekannten Familienmitglieder und Kontakte geimpft – und auch noch die Zweitkontakte. Das ist das Prinzip, nach dem die Impfung momentan durchgeführt wird. "Impfeffektivität wird auf über 97 Prozent geschätzt" Knoll: Noch ist es ja ein experimenteller Impfstoff, aber Sie haben jetzt erstmals Zahlen vorgelegt im April: Der Impfstoff scheint zu wirken. Wie sehen die Zahlen aus? Addo: Das ist eine sehr, sehr erfreuliche Nachricht, und man muss ja sagen, dass man Impfstoffwirksamkeit tatsächlich nur in einem Ausbruch überprüfen kann. Und die Impfeffektivität wird in diesem Ausbruch auf über 97 Prozent geschätzt. Das ist natürlich ein hervorragendes Ergebnis und sicherlich trägt das gerade in dieser schwierigen Situation im Land dazu bei, dass der Ausbruch derzeit nicht explodiert. Er ist zwar immer noch nicht unter Kontrolle, aber der Impfstoff ist eine wirksame Gegenmaßnahme. Keine flächendeckende, sondern gezielte Impfung Knoll: Wie viele Menschen kann man denn auf die Schnelle impfen? Idealerweise würde ja jetzt wirklich die ganze Region geimpft werden. Wie schnell kann man den Impfstoff produzieren? Vielleicht können Sie auch noch mal den Namen nennen, es waren ja mehrere Impfstoffe im Gespräch, die jetzt nach dem letzten Ausbruch in Westafrika entwickelt worden sind. Addo: Der Impfstoff nennt sich RVSV Zebov und aktuell stehen noch mal 250.000 Impfdosen zur Versendung in den Kongo bereit. Wir glauben, dass wir zum Ende des Jahres noch einmal 100.000 Impfdosen verfügbar haben und auch für die Nachbarländer noch mal in den nächsten zwölf Monaten weitere 450.000 Impfdosen. Es bleibt trotzdem zu sagen, dass Impfstoff ein rares Instrument ist, wir haben nicht Impfstoff, um flächendeckend die Bevölkerung zu impfen, sondern müssen das ganz gezielt um die cases herum machen. Das ist auch in anderen Impfkampagnen schon bewiesen worden, dass das die effektivste Maßnahme ist. Medikamente und Therapien noch im Text Knoll: Im Kongo sind ja auch neue Therapien im Einsatz, auf Basis von Antikörpern zum Beispiel. Die sind 2014 bei dem Ausbruch bereits schon vereinzelt eingesetzt worden, aber eben noch nicht in einer systematischen Studie. Jetzt haben Sie den breiteren Einsatz: Können Sie denn schon eine Aussage machen, wie gut die wirken? Weil andererseits die Mortalitätsraten offenbar sehr hoch sind. Addo: Die Mortalitätsraten im jetzigen Ausbruch sind sehr hoch. Im derzeitigen Ausbruch laufen klinische Studien, die vier Medikamente und Therapien gegen Ebola testen sollen, zwei davon sind Antikörpercocktails und zwei sind antivirale Medikamente. Es ist schwierig derzeit zu sagen, wie diese neuen Therapien wirken, weil es gibt noch keine belastbaren Zahlen, wie viele Patienten behandelt wurden mit diesen Medikamenten und wie das Outcome oder die Überlebensraten bei diesen behandelten Patienten sich darstellt. Ich denke, diese Daten und Ergebnisse werden wir in den nächsten Monaten, wenn der Ausbruch sich vielleicht insgesamt etwas beruhigt hat, sicherlich zur Verfügung gestellt bekommen. Und ich bin da sehr zuversichtlich, weil die Daten, die es bisher gibt zu diesen Medikamenten – auch in Einzelfallbehandlungen– sehr vielversprechend aussahen. Und wir hoffen, dass wir aus diesen Versuchen und Studien für die nächsten Ausbrüche noch einmal besser vorbereitet sind. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marylyn Addo im Gespräch mit Christiane Knoll
Inmitten politischer Unruhen wütet im Kongo das Ebola Virus. Erstmals wurde ein experimenteller Impfstoff an weite Teile der Bevölkerung verabreicht. Die Erfolgsquote liege bei 97 Prozent, sagte die Ärtzin Marylyn Addo im Dlf. Entwarnung gibt die Weltgesundheitsorganisation dennoch nicht.
"2019-07-05T16:35:00+02:00"
"2020-01-26T23:00:45.918000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ebola-im-kongo-der-experimentelle-impfstoff-wirkt-100.html
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Jamsession mit Verbrüderung (5/6)
The Bite traten auch abends unter freiem Himmel live vor den Soldaten auf. (Deutschlandradio / Axel Rahmlow ) Der Bereitschaftsraum der Rettungsflieger sieht aus wie eine kleine Skihütte. Massive Holzbalken halten die Decke. Überall Fotos von Hubschraubern. "The Bite" sind im Heli Inn. Ein gemütlicher Rückzugsort, von der Gemeinschaft aufgebaut und betreut. In der Mitte die Fliegerband "The Captains and the Morgans". "Starten wir mal ganz, ganz sachte." Die Hausherren spielen einen Song von Udo Lindenberg. Am Schlagzeug sitzt Gabriel, Chris übernimmt ein Gitarrensolo. Im Publikum: Piloten, Techniker, Ärzte, ein Militärpfarrer. Und mittendrin Nadine und Stefan. Nadine: "Ich genieß es in vollen Zügen. Es könnte keinen besseren Abschluss geben als dieses Konzert." Stefan: "Es ist der Hammer. Ich muss betonen, ohne dass da groß Alkohol im Spiel ist. Eine richtig schöne Party, ohne Exzesse." Und exklusiv. Denn nur wer Zugang zu den Rettungshubschraubern hat, kommt auch hier rein. Man kennt sich, vertraut sich. Die Stimmung ist viel gelöster als bei den bisherigen Konzerten. Bandwechsel. Der Sänger der "Captains" verabschiedet sich ins Publikum. "Wir haben spontan gesagt, wir machen mit denen Musik. Der Sound kommt gut raus und es muss vor allem den Leuten vor der Bühne Spaß machen, dann macht es den Leuten auf der Bühne erst recht Spaß." The Bite brauchen einen Freiwilligen. Sie wollen "Highway to Hell" von AC/DC singen. Torsten V. wird von den anderen Soldaten freundlich in Richtung Bühne geschubst. Das Heli Inn wird zur Karaoke-Bar. Weil "der Freiwillige" stimmlich ziemlich gut an das Original herankommt. Und weil die Soldaten sich hier auch trauen, mitzusingen und zu johlen. Danach tröpfelt Torsten V. der Schweiß von der Glatze. Zusammen mit Nadine geht es in den Innenhof für ein Erinnerungsfoto. "Das war absolut Hammer. Ich wurde ins kalte Wasser geschmissene. Hat geschockt. Absolut Wahnsinn. Herzklopfen pur." Das sieht der Rest der Rettungsflieger am Ende des Abends ähnlich. Spontan gibt es eine Abstimmung im Heli Inn: Die Band wird Ehrenmitglied der Einheit. Sie kriegen das Erkennungszeichen der Rettungsflieger. Denselben runden Aufnäher, den Stefan und viele andere hier tragen, den Nazgul aus dem "Herrn der Ringe". Einer der älteren Soldaten im Raum, um die 50, kommt auf die Bühne. Das scheint eine Tradition zu sein. "Als wir vor langer, langer Zeit, nach Afghanistan gekommen sind, nur die Besatzungen haben diesen Patch bekommen. Heute war der Beschluss, dass ihr uns einen geilen Abend gemacht habt, dass ihr überhaupt den Arsch in der Hose gehabt habt, nach Afghanistan zu kommen. Und deswegen möchten wir euch hier den Patch geben." Die Band ist einen Moment still. Für solche Situationen ist Chris zuständig. "Wow. Also … Wir sind echt umgehauen. Vielen, vielen herzlichen Dank. Und hey, wir haben gesagt, ja, wir machen das für die Jungs da unten und alleine der Abend heute, der war es wert. Stay safe und macht weiter so. Jungs, Riesenapplaus." Und dann ist ganz schnell wieder 22 Uhr, Sperrstunde. Und Schluss. Keine Exzesse. Die Soldaten machen Fotos mit der Band, Adressen werden ausgetauscht. Dann ist Ruhe im Heli Inn. Morgen müssen alle wieder früh raus. Die Band muss packen. In ein paar Stunden geht es zurück nach Hause.
Von Axel Rahmlow
Die vier Musiker der Elektro-Pop-Band The Bite spielen vor deutschen Soldaten in Afghanistan. Dabei verwandeln sie den Bereitschaftsraum der Rettungsflieger in eine Karaokebar und erhalten am Ende eine Auszeichnung.
"2014-01-04T15:05:00+01:00"
"2020-01-31T13:19:58.589000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-band-in-afghanistan-jamsession-mit-verbruederung-100.html
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Der gute Hacker aus Berlin
Das ist die Geschichte: ehemaliger australischer Hacker namens Julian Assange gründet Internet-Plattform für Whistleblower."Also, was ist der neue Leak, den Sie im Ärmel haben? Muss was Wichtiges sein bei so viel Interesse der CIA."Julian Assange, charismatisch, besessen. Sein engster Mitarbeiter - Daniel Domscheit-Berg - genialer Techniker mit intaktem ethisch-moralischem Fundament. Auf deren engste Zusammenarbeit folgen Verwerfungen, Streits, das Zerwürfnis. Der eine sitzt am Ende ungebrochen im Exil der ecuadorianischen Botschaft in London. Der andere bekommt die Hübsche, die ihn immer schon vor dem Australier gewarnt hatte. - Die Geschichte. Des Spielfilms.Wer ist Julian Assange? Was ist seine historische Bedeutung? - Eine schwierige Frage, umso komplizierter, wenn sie nicht nur in, sondern mit einem Spielfilm gestellt und versuchsweise beantwortet wird. Wobei, nicht zu vergessen: Die zentralen Veröffentlichungen von WikiLeaks über den Afghanistan- und Irakkrieg gerade mal drei Jahre zurückliegen. 2010. "Inside WikiLeaks", der Film, erzählt seine Geschichte basierend auf den Büchern von Domscheidt-Berg und zweier britischer Journalisten entlang der Fakten - sind die schon gesichert oder eher noch nicht? -, gleichzeitig ist dies aber auch ein Thriller in der Tradition von Alan J. Pakulas "Die Unbestechlichen", dem Film über den Watergate-Skandal von Anfang der 1970er Jahre mit Robert Redford und Dustin Hoffman. "Die wollen uns platt machen. Los raus aus Skype. Alles abschalten. - Alle Telefone aus!"Wer ist Julian Assange? Welche historische Bedeutung hat WikiLeaks? Man könnte die Frage, angesichts dieses Films, aber auch anders stellen: Was bleibt zurück nach dem Spielfilm "Inside WikiLeaks"? Was gräbt sich ein? Zunächst das Gesicht des Schauspielers, der einen genialen wie hochgradig neurotischen Sherlock Holmes darstellte, der als Bösewicht im letzten "Star Trek"-Film Kirk, Spock, Scotty und Uhura genüsslich an die Wand spielte: Benedict Cumberbatch, der Julian Assange in "Inside WikiLeaks" als egomanischen wie genialen Aktivisten "gibt". Aber den Sherlock-Holmes- und Star-Treck-Touch kann Cumberbatch mit seinen weißen Assange-Haaren eben doch am Ende nicht loswerden. "Wir gewinnen einen Informationskrieg, der weit bedeutender ist als unsere bisherigen Allianzen mit den Mainstream-Medien. Und du willst das alles wegwerfen, weil du Angst hast, dass ein US-Informant vielleicht zu Schaden kommt.""Es geht immer um Menschen, Julian, und ihr Leben steht auf dem Spiel."Was bleibt noch hängen? Daniel Brühl, klar, als Daniel Domscheit-Berg, der gute Hacker aus Berlin mit diesem danielbrühlschen "guter wie empörter Schwiegersohn"-Touch."Ich dachte, es ginge um den Schutz von Whistleblowern."Und dann bleibt da noch zurück der emotionale Eindruck einer Szene, eigentlich nur am Rande, aber eine mit Laura Linney und Stanley Tucci. Beide sind im Film als Mitarbeiter der US-Administration sozusagen Assanges größte Gegner in diesem großen Informationskrieg. Sie sind im Film an sich Nebenfiguren. Und trotzdem - hat das mit dem Spiel von Tucci und Linney zu tun, mit einer Frisur, einem Lächeln, einer Berührung, wer weiß? -, trotzdem rührt diese Szene emotional an, wenn Laura Linney wegen der Assange-Veröffentlichungen ihren Job in Washington verliert und mit Kollege Stanley Tucci in ihrem leer geräumten Büro einen letzten Whiskey trinkt. Spätestens hier wird klar, wie die emotionale Wirkung eines Spielfilms schwer zu kontrollieren ist, wo scheinbar Nebensächliches auf einmal Wucht bekommt. Es geht gar nichts anders, wie brisant die Ereignisse auch sein mögen, welche politische Bedeutung sie auch haben mögen: Im Spielfilm werden sie psychologisiert. Und so läuft am Ende hier alles, die ganze Geschichte von WikiLeaks, schlicht auf die Frage nach der Größe des Egos von Julian Assange hinaus. "Das sind Informationen, die die Welt wissen muss. Also, wenn du das nächste Mal glaubst, mich belehren zu müssen über diese Organisation, versuch dich bitte zu erinnern, wieso ich sie gegründet habe. Und wieso ich dich eingestellt habe als Hilfe für mich."Spielfilm ist Emotion, kann nicht anders sein. Aber was ist das für ein Film, in dem ein letzter Whiskey zweier Arbeitskollegen intensiver nachwirkt als dieses Video, das wir im Film nur als Schnipsel sehen. Dieses von WikiLeaks veröffentlichte grauenhafte, brutale Video aus einem Apache-Kampfhubschrauber im Irak, in dem ja gezeigt wurde, wie US-Kampfpiloten wie in einem Computerspiel gnadenlos Zivilisten abknallen. Das ganz zu zeigen - ungeschnitten -, das hätte die Erzähl-Dramaturgie von "Inside WikiLeaks - Die fünfte Gewalt" vollkommen aus dem Ruder geworfen. Nur hätte das diesem bemühten und letztendlich vollkommen unpolitischen Thriller, den wir jetzt zu sehen bekommen, es hätte ihm ziemlich gut getan!
Von Hartwig Tegeler
Mit dem Portal WikiLeaks, der Person Julian Assange und anderen Whisteblowern sind einige handfeste Staatsaffären verbunden. Bester Stoff also für Hollywood, den Regisseur Bill Condon für seinen Film "Inside WikiLeaks" verarbeitete. Mit dabei: der deutsche Schauspieler Daniel Brühl.
"2013-10-30T15:05:00+01:00"
"2020-02-01T16:42:42.606000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/der-gute-hacker-aus-berlin-100.html
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Republikaner: "Trump hat den Hass nicht befeuert"
"Sie können nicht mit einem Wort nachweisen, dass der Präsident rassistische Sprache benutzt", sagte der Vize-Präsident der deutschen Republikaner Ralph Freund im Dlf über Donald Trump (dpa / AP Photo / Evan Vucci) In der Bundesrepublik gebe es einen "Wohlfühlsprech", der am Ende zu einer Aufsplitterung in der Gesellschaft führe. Der US-Präsident habe so etwas in seinem Land verhindert, so Freund. In Bezug auf die Massenschießereien sagte Freund, dass es diese auch unter der Admininistration von Ex-US-Präsident Barack Obama gegeben habe. Dass Trump nun die Todesstrafe für solche Todesschützen fordere, können zwar ein Zeichen für jene sein, die sich unsicher fühlten. Eine Lösung des Problems sei es aber nicht. Ralph Freund, Vizepräsident der Republicans Overseas Germany (imago / Jürgen Heinrich) Prinzipiell werde es aber in Zukunft Veränderungen geben. So würden sich die Käufer von Schnellfeuerwaffen anders legitimieren müssen. Das werde ein großes Thema im US-Wahlkampf werden. Der Republikaner Trump werde dabei auf die Demokraten zugehen müssen. Das Interview in voller Länge: Tobias Armbrüster: Zwei Attentate am Wochenende, zwei Massaker mit vielen Toten, es war ein blutiges Wochenende in den USA. Im Fokus steht jetzt auch Präsident Trump, der sich immer wieder gegen schärfere Waffengesetze ausgesprochen hat. Viele sagen außerdem, Trumps aggressive Rhetorik sei mit verantwortlich für diese Bluttaten. Am Telefon hier im Deutschlandfunk ist jetzt Ralph Freund, der Vizepräsident der Republicans Overseas Germany, das ist sozusagen die deutsche Vertretung der US-Republikaner, der Partei von Donald Trump also. Schönen guten Morgen, Herr Freund! Ralph Freund: Guten Morgen! Armbrüster: Herr Freund, ist der US-Präsident ein Rassist? Freund: Nein, ganz klar nicht. Dieser Hass, den es dort gibt bei Einzelgängern, gab es vorher schon, den gab es danach. Präsident Trump hat die Sache nicht befeuert, der Hass war vorher da. Präsident Trump nennt die Dinge, die Missstände, die in Amerika existieren, nicht nur in Amerika im Übrigen, wir erleben es ja auch in Europa, und das ist Teil der US-republikanischen Partei, Extremismus und Hass ist definitiv nicht Teil davon. Armbrüster: Aber ganz klar ist ja: Der US-Präsident benutzt immer wieder rassistische Sprache. Freund: Da bin ich mir gar nicht so sicher. Sie können nicht mit einem Wort nachweisen, dass der Präsident rassistische Sprache benutzt. Er sagt, es gibt Missstände unter den Immigranten, es gibt illegale Migration und man muss die Themen benennen. Schauen Sie, wenn Sie Deutschland reflektieren: Wir haben einen sogenannten Wohlfühlsprech, wir versuchen immer, die Dinge nicht zu benennen, die ganzen Missstände, es kocht unter der Oberfläche, und was dann passiert, ist eine Aufteilung der politischen Gesellschaft. Wir werden es in den neuen Bundesländern erleben, wir haben drei Landtagswahlen, da wird die AfD möglicherweise in zwei Landtagen stärkste Partei werden. Das verhindert Präsident Trump, das ist ein großer innenpolitischer Verdienst, dass er eine Aufsplitterung der Gesellschaft dort an der Stelle nicht zulässt. Er reagiert, aber er distanziert sich ganz klar von politischen Extremisten. "Trump beschreibt die Dinge" Armbrüster: Ein Beispiel ist ja unter anderem die Verwendung des Begriffs Invasion, er spricht da von einer Invasion von hispanischen Einwanderern über die mexikanische Grenze, und genau das ist ja so ein Begriff, den auch der Attentäter von El Paso benutzt hat, also durchaus eine Parallele zwischen dem Präsidenten und dem Attentäter. Freund: Ja, gut, wortgleich, ja, da gebe ich Ihnen recht. Aber Sie haben eben in dem Beitrag auch erwähnt, die Administration Obama, auch die hatte diese Gun Shootings, diese Mass Shootings, auch das hat es nicht verhindert. Also es bedarf wohl mehr als nur eine andere Sprache. Trump beschreibt die Dinge. Er wird Extremisten in dem Bereich niemals unterstützen. Armbrüster: Jetzt hat er gestern im Weißen Haus in seiner Rede vorgeschlagen, es soll die Todesstrafe für solche Todesschützen geben. Ist das jetzt die Lösung des Problems? Freund: Also natürlich ist es ein Zeichen für die Leute, die sich unsicher fühlen. Es ist natürlich nicht Lösung des Problems, denn die meisten dieser Attentäter unterliegen ohnehin, je nachdem, in welchem Bundesstaat es geschieht, der Todesstrafe. Es wird aber ein Umdenken eingeleitet werden, dass dort eine schnellere, wie soll ich sagen, Verurteilung dieser Täter und dieser Einzeltäter stattfinden wird. Darüber hinaus möchte ich auch bedenken: Die schärferen Waffengesetze, die jetzt angedacht sind, auch das wird in irgendeiner Art und Weise kommen. Ich glaube nicht, dass es weiterhin möglich sein wird, Schnellfeuerwaffen in den Staaten zu kaufen, ohne dass man sich vorher einer gewissen Identität oder vorher einer, wie soll ich es mal sagen, einer einwandfreien Vorgeschichte des Käufers … muss man sich vorlegen. Also ich denke, da wird es einige Veränderungen geben. Armbrüster: Was macht Sie da so zuversichtlich? Diese Forderung gibt es ja seit vielen Jahren immer wieder, nach jedem neuen Massaker werden diese Forderungen erhoben. So richtig getan hat sich da eigentlich nichts, vor allen Dingen nicht in Ihrer Partei, bei den Republikanern. Freund: Also es hat sich in der Tat nicht viel getan. Nun gibt es da auch einen Wandel. Ich verweise darauf, bei der Vorgängeradministration Obama gab es auch mehrere Mass Shootings und dann ist seinerzeit Obama mit dem Vizepräsidenten, dem damaligen Joe Biden, auf Wahlkampftour gegangen, das ist jetzt sechseinhalb Jahre her, und da hat man dann vor US-demokratischen Anhängern gesprochen und die waren empört, in den Südstaaten vor allen Dingen, die waren empört, dass die Waffengesetze geändert werden sollten. Und Biden sagte seinerzeit zu seinen eigenen Anhängern, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, Sie können sich immer noch verteidigen, kaufen Sie sich eine Schrotflinte. Also das ist jetzt nicht zynisch, sondern das ist wirklich so vorgefallen. Das heißt, auch in den US-demokratischen Reihen gibt es massive Widerstände. Aber es wird definitiv dazu kommen, da bin ich mir sicher, in den nächsten 24 Monaten. Es wird auch ein großes Wahlkampfthema werden, das war es übrigens auch schon bei den Zwischenwahlen, dass die Käufer von Schnellfeuerwaffen, von hochgefährlichen, hochbrisanten Waffen sich anders legitimieren müssen als vorher. Freund: Waffe ist für viele Amerikaner ein Statussymbol Armbrüster: Warum sind diese laschen Waffengesetze denn eigentlich in Ihrer Partei, bei den Republikanern, so populär? Freund: Na ja, weil natürlich Waffen nicht nur als Angriff dienen, sondern vor allen Dingen auch zur Verteidigung dienen. Ich erinnere daran, dass seinerzeit das Attentat in Paris gewesen ist, dass in Kommentaren nicht nur von republikanischer Seite war: Wäre jemand von diesen Opfern bewaffnet gewesen, hätten sie sich verteidigen können und nicht viereinhalb Minuten lang beschießen können. (Anm d. Red. Gemeint war vermutlich 'beschießen lassen müssen') Also das heißt, eine Waffe ist für viele Amerikaner auch ein Statussymbol, es ist ein Symbol der Verteidigung, Amerika ist viel, viel dünner besiedelt als Deutschland, man muss sich das ganz anders vorstellen, bis dort jemand kommt, der einen verteidigt, bis die Polizei eintrifft, haben viele Amerikaner das Verständnis, selbst zur Waffe zu greifen. Für uns Europäer und auch für mich ein unvorstellbarer Vorgang, aber so denken viele Amerikaner. Armbrüster: Jetzt ist der US-Präsident natürlich immer auch mit Worten ein Taktierer. Wir haben da auch schon drüber gesprochen, über die Sprache. Viele sagen, das ist eine rassistische Sprache, viele sagen, er macht eigentlich die ganze Zeit nur Wahlkampf. Natürlich, das Land blickt auch voraus auf einen neuen Präsidentschaftswahlkampf im kommenden Jahr. Warum sollte der Präsident ausgerechnet jetzt in dieser Lage von den Waffengesetzen Abschied nehmen? Freund: Also die Zeit bis zur nächsten Wahl und bis zur Vereidigung des Präsidenten Anfang 2021 ist noch ganz schön lange hin. Bis dahin wird sich auch im Kongress noch einiges tun. Trump wird auch auf die Demokraten zugehen müssen, schon allein wegen der politischen Konstellation: Die Demokraten haben die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Dort wird es jetzt mit Sicherheit eine Gesetzesvorlage geben und dem muss Trump sich stellen, und er wäre gut beraten, wenn er zumindest diese Hoch- und diese Schnellfeuerwaffen stärker kontrollieren würde, und ich glaube, da gibt es auch jede Menge Bewegung. Ich habe gerade gestern mit einem Kollegen von mir gesprochen in der US-republikanischen Partei, wir werden uns das noch genau anschauen. Trump hat versucht, (Anm d. Red. Wort leider nicht verständlich) zu machen, sprich, eine Rechtsverbindung zwischen einem neuen Einwanderungsgesetz und einem schärferen Waffengesetz. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. "Ich denke, er hat Führungsstärke" Armbrüster: Warum hat der Präsident so lange gebraucht, um diese Worte zu finden? Warum war er Golf spielen am Wochenende? Freund: Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es auch nicht viel bringt, gleich vor Ort zu sein. Man soll sich die Sachen erst mal anschauen. Und was der Präsident privat macht, danach sollten wir nicht beurteilen. Ich denke, er hat Führungsstärke. Er sorgt dafür, dass Amerika, dass auch Leute und auch Waffenbesitzer in Amerika nicht vorverurteilt werden. Es bedarf einer strengen Kontrolle der Waffen und der dahinterstehenden Personen. Ein pauschales Waffenverbotsgesetz, glaube ich, das wissen wir alle, bringt da nicht viel. Extremisten werden immer Wege und Zugang zu Waffen finden. Armbrüster: War dieses Wochenende ein Wendepunkt in der Präsidentschaft von Donald Trump? Freund: Also ein Wendepunkt möglicherweise nicht, aber es war definitiv ein Tag, an dem alle angehalten haben, nachgedacht haben und sich möglicherweise dann bei einem neuen Gesetzesverfahren in Capitol Hill sich ihrer Verantwortung bewusst werden müssen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ralph Freund im Gespräch mit Tobias Armbrüster
US-Präsident Donald Trump sei kein Rassist. Er thematisiere nur existierende Missstände wie beispielsweise die illegale Migration, sagte der Vize-Präsident der deutschen Republikaner Ralph Freund im Dlf. Man müsse die Themen benennen und sie nicht unter der Oberfläche kochen lassen, wie in Deutschland.
"2019-08-06T06:50:00+02:00"
"2020-01-26T23:04:52.391000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/usa-nach-den-anschlaegen-republikaner-trump-hat-den-hass-100.html
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Inside Africa
Konzerne, Unternehmer, Geschäftsideen - was gibt dem Kontinent Auftrieb? (imago stock&people / Thomas Imo) Chinas konjunkturelle Schwächen wirken sich aus. Der Verfall der Ölpreise schlägt sich nieder. Und es zeigt sich, dass aus dem Reichtum an Rohstoffen noch längst kein Wohlstand für die Bevölkerung der Staaten Afrikas wird. "Africa rising" hat sich entzaubert, aber wer gibt eigentlich "inside Africa" den Ton an? Unter diesem Titel stellen die vier Afrika-Korrespondenten der ARD im "Firmenporträt" im Deutschlandfunk Konzerne, Unternehmer, Geschäftsideen aus vier Staaten Afrikas vor. Im Fokus stehen überraschende Kooperationen, omnipotente Konzerne und widerstandsfähige Unternehmer. "Inside Africa" ab dem 16.6.2017, jeweils freitags, in der Sendung "Wirtschaft am Mittag". Beiträge der Reihe Inside Africa: Ägypten Der Unternehmer El Bahay - mit Frühstücksflocken und Enthusiasmus durch die Krise Von Björn Blaschke Inside Africa: Nigeria Der Macht-Manager - Aliko Dangotes Konzernimperium Von Jens Borchers Inside Africa: Angola Über-Konzern Sonangol - der Staat im Staate Von Jan-Philippe Schlüter Inside Africa: Eritrea Bier als Staatsaffäre - Asmara Brewery braut regierungsamtlich Von Linda Staude Inside Africa: Eritrea Dolce Vita - italienischer Modemacher trifft Armenhaus Von Linda Staude
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Afrika erschien noch vor wenigen Jahren als Kontinent der großen Chancen. Doch der schnelle Aufstieg aus Armut und Misswirtschaft blieb aus. Wer gibt heute "inside Africa" den Ton an? In einer Reihe stellt das "Firmenporträt" Konzerne, Unternehmer, Geschäftsideen aus vier Staaten Afrikas vor.
"2017-06-16T13:55:00+02:00"
"2020-01-28T10:32:16.693000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/reihe-im-firmenportraet-inside-africa-100.html
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Miss Universe of music?
Debüt mit Jazz beeinflussten Titeln über Popsongs bis zu Rockstücken: Nilüfer Yanya (Hollie Fernando) Musik: "Paralyzed" Nilüfer Yanya ist freundlich, aber zurückhaltend - eben keine Frau der großen Worte. Warum auch Aussagen in endlose Satzkaskaden kleiden, wenn es sparsamer geht. Die Sache mit dem Singen zum Beispiel: Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, aber anfangs fand sie es befremdlich. Denn beim Singen gibt sie mehr von sich preis als beim Spielen eines Instruments. Nilüfer Yanya : "Ich habe vorher Klavier gespielt, bin damit auch aufgetreten, das war kein Problem für mich, auch mit der Gitarre. Aber Singen, das ist eben dein eigenes Instrument, das bist du selbst." Onkel Joe mit eigenem Studio Nilüfer Yanya wuchs in einer kreativen Familie auf, ihre Eltern sind beide Künstler und arbeiten als Maler und Fotograf bzw. Textildesignerin. Musikalischen Input, Hinweise und Bestätigung für ihr Gitarrenspiel und ihre Songs bekam Yanya vor allem von ihrem Onkel Joe, einem Musiker mit Studio in Cornwall. Dort verbrachte seine Nichte oft Zeit, machte mit ihm Musik - und hat dort schließlich auch Stücke für ihr Debüt aufgenommen. "Er war eine sehr ermutigende Person, die sich auch Zeit für mich genommen hat. Als ich Gitarre gelernt habe, hat er mir einiges dazu gezeigt. Und als ich zu schreiben begonnen habe, hat er Demos mit mir aufgenommen in seinem Studio. Da er Produzent ist, klang das schon sehr gut. Danach haben wir auch zusammen geschrieben, haben viel im Studio gearbeitet – er hat einfach viel gemacht in seinem Leben, und von so einem Menschen zu lernen, den du noch dazu sehr gut kennst, ist wunderbar." Musik: "Keep on calling" "Keep on calling", von Nilüfer Yanyas erster EP aus dem Jahr 2017. Popmusik im weitesten Sinne ist Teil ihres Lebens, seit sie denken kann. Sie hörte Musikerinnen wie Nina Simone und Amy Winehouse, Surf-Punk-Combos, so unterschiedliche Bands wie The Cure, The Strokes oder die Pixies. Aus einigen ihrer frühen Songs klingt zudem ein wenig King Krule oder eine entspanntere Version einer Kate Tempest. Musik: "Golden Cage" Mit Zwölf bekam Nilüfer Yanya nach einigen Jahren Klavierspiels endlich eine Gitarre. Besonders die E-Gitarren hatten es ihr schon immer angetan. Einer ihrer ersten Lehrer war niemand geringeres als der Gitarrist der englischen Alternative-Band The Invisible: Dave Okumu, der sie an einer Schule in London unterrichtete. Sie fügte ihrem persönlichen Musikmix noch etwas Jazz hinzu - was auch beim gerade gehörten Titel "Golden Cage" auffiel. Denn Jazz ist in Yanyas Londoner Jugend und auch heute noch alles andere als altmodisch - ganz anders als beim jugendlichen Musikgeschmack in Deutschland. "Es gibt einen großen Einfluss von Jazzmusik in London. Auch als Jugendliche, mit 16, 17, 18 haben alle Jazz gehört, das war immer gegenwärtig. Und meine Freundin Jazzi Bobbi spielt Saxofon, also habe ich sie zum Beispiel beim Titel "Melt" aufs Album genommen - es ist spannend, was sie daraus gemacht hat." Das Phänomen des intensiven Gemeinschaftsgefühls "Melt" ist ein Titel, der sich mit dem Phänomen des großen, intensiven Gemeinschaftsgefühls beschäftigt - das in Clubs, bei Konzerten und Festivals entstehen kann und häufig mit der Einnahme diverser Drogen verbunden ist. "Es geht darum zu beobachten, wie Menschen langsam abdrehen. Sie wollen dabei sein, intensiv leben, irgendwas erfahren und nutzen Alkohol und Drogen dafür. Also quasi als Mittel, um sich mit anderen verbunden zu fühlen. Denn ansonsten fühlen wir uns oft allein und getrennt von den anderen." Was die Musikerin nun aber nicht zur Abstinenzlerin macht... "Ich trinke auch manchmal, ich bin da definitiv schuldig. Es geht halt darum, dass wir denken, wir brauchen das regelrecht." Musik: "Melt" "Ich hatte immer Songs für eine Band im Kopf" "Manche Songs müssen einfach für sich stehen. Es ist witzig, als ich jünger war, hatte ich immer Songs für eine Band im Kopf. Und als ich dann begonnen habe aufzutreten, merkte ich, dass nicht alle Songs diese Band-Struktur brauchen. Ich habe dann meine eigenen Weg entwickelt, Gitarre zu spielen, weil ich damals noch keine Band hatte. Jetzt habe ich die Möglichkeit, mit Band zu arbeiten und Songs größer klingen zu lassen, wenn ich das möchte." Aber auch als sie ihre Songs noch ohne Band aufgenommen hat, schaffte Nilüfer Yanya bereits Abwechslung in ihren Arrangements, legte Gitarrenstimmen und Gesangslinien übereinander, um die Musik voller klingen zu lassen. So etwa bei "Small crimes", das sie mit einem kleinen, das Griffbrett hoch rutschenden Gitarrenriff beginnt, später eine Rhythmusgitarre hinzufügt und ein dezentes Stimmenbett in den Hintergrund legt. Musik: "Small Crimes / Angels" "Miss Universe" betitelt Nilüfer Yanya ihr Album, das im Februar 2019 erschienen ist. Ein Titel der, so sagt sie, nichts mit der Musik zu tun habe und zu dem sich jeder und jede ihre eigenen Gedanken machen könne. Eine Besonderheit findet sich mit vier kurzen Interludes, die zwischen den Titeln gesetzt sind: eine fiktive Hotline-Stimme eines ebenso fiktiven Unternehmens für Wellness und Gesundheit, mit der sie die moderne Konsumwut und den Drang zur Perfektionierung von Körper und Geist kritisiert. Ihr Album ,Miss Universe’ wurde von Dave Okumu produziert (Molly Daniels) "Wir sorgen uns um deine Gesundheit, ja, das sagt die Stimme in einem Interlude… Für mich ist das so etwas wie die Stimme, die wir in der Gesellschaft hören, die mir sagt, was ich machen soll, die mich beeinflusst und bedrängt. Eine Stimme, die mich ablenkt von dem, was wirklich wichtig ist." Musik: "Wway health / Baby Blue" Sie ist vielschichtig, die Musik auf Yanyas Debut - von Jazz beeinflussten Titeln über regelrechte Popsongs bis zu energetischen Rockstücken. Letztere könnten durchaus einen größeren Platz einnehmen, denn gerade da zeigt die junge Musikerin, was sie kann. "Es ist schon eine größere musikalische Bandbreite auf dem Album. Das war aber gar nicht beabsichtigt. Ich habe mich immer nur auf eine Sache konzentriert beim Komponieren – aber es war so, als ob die Stücke in die jeweilige Richtung gehen wollten." Musik: "In your head" Yanyas Gitarrenspiel auf ihrer Fender Stratocaster ist wiedererkennbar. Es gibt kräftig verzerrte Passagen, wie beim gerade gehörten "In your head", es gibt melodiöse Mini-Motive und sehr häufig ein perkussives Spiel, bei dem sie die Saiten leicht dämpft, sodass die Anschläge gegenüber den eigentlichen Tönen mehr in den Vordergrund treten. So auch – im Wechsel mit verzerrten Passagen - beim Song "Heavyweight champion of the year". "Heavyweight champion of the year" ist mein Lieblingssong auf dem Album. Ich glaube, es ist auch mein bester. Es ist interessant, ich weiß selbst nicht genau, worum es geht - aber es bringt etwas in mir zum Schwingen. Auch wenn ich es live spiele. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass viele Menschen dieses Stück besonders verstehen oder darauf anspringen. Das Video spielt in LA, es war das erste Video, das wir gemacht haben, das den Song quasi interpretiert hat. Ich sehe mich selbst auf der Bühne - und es ist nicht klar, was mein richtiges "Ich" ist, als ob es nicht existiert." Musik: "Heavyweight Champion Of The Year" Auch Nilüfer Yanyas Gesang ist besonders: Eine Stimme, die sanfte Töne genauso beherrscht, wie expressiven Rock-Gesang, mit einer guten Amplitude zwischen tieferen Tönen und hohen Passagen, einem organischen Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme. Leben im Flüchtlingscamp Neben ihrer musikalischen Tätigkeit ist die Künstlerin politisch aktiv - obwohl sie diesen Begriff eigentlich nicht mag: "Artists in transit" ist eine Initiative, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester gegründet hat: Sie lebten einige Zeit in griechischen Flüchtlingscamps, verteilten Essen, halfen bei der Organisation und initiierten sportliche und spielerische Beschäftigungen. Ein weiteres Statement: Nilüfer Yanya trat 2017 nach dem Terroranschlag in der Manchester Arena als Vorband von Broken Social Scene auf. "Ich mag es nicht, wenn die Politik sich Dinge aneignet, die einfach getan werden müssen, so wie bei "artists in transit" - wir sind nicht politisch, wir sind einfach Menschen. Und als wir Broken Social Scene supportet haben, in der Manchester Show - da ging es auch nur darum, man selbst zu sein. Klar, ich sehe, dass das mit Politik verbunden ist, auch die Organisation "artists in transit" mit dem Thema Immigration und Flüchtlinge ist letztlich politisch. Aber ich mag einfach nicht, wie die Politik solche Dinge für sich besetzt. Musik: "The Florist" Die junge Musikerin Nilüfer Yanya überzeugt auf vielen Ebenen: Ihr Gitarrenspiel, ihr Gesang, auch ihre kompositorischen Ideen – man erkennt bereits eine persönliche Handschrift, einen eigenen Klang. Sie müsste sich nur - bei aller Freude am stilistischen Experimentieren - entscheiden, welchen musikalischen Weg sie weiter geht. Und vor allem ihren roheren, direkteren Songs mehr Raum geben. Einen Konzerttermin von Nilüfer Yanya in Deutschland gibt es noch, bevor sie auf Tour in den USA unterwegs sein wird: Am 30. Mai auf dem Immergut-Festival in Neustreelitz. Musik: "Baby Luv"
Von Anja Buchmann
Eigenwillig und eigenständig bohrt sich die musikalische Stimme der britischen Sängerin und Gitarristin Nilüfer Yanya in die Gehörgänge. Mit "Miss Universe" hat sie ein interessantes Debüt zwischen britischem Indie-Rock, Pop und Soul veröffentlicht.
"2019-05-12T15:05:00+02:00"
"2020-01-26T22:41:21.826000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/britische-musikerin-niluefer-yanya-miss-universe-of-music-100.html
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Mehr als wickeln und spielen
In Zeiten den Frühförderung reicht es aber nicht zu wissen, wie man richtig wickelt oder Windeln wechselt: Konzentrationsübungen, selbstständiges Spielen und Sprachförderung stehen inzwischen auf den meisten Kita-Programmen. (picture alliance / dpa / Matthias Hiekel) Die Hälfte ist geschafft. Für Maria Bagala-Costa endet diese Woche das erste von zwei Ausbildungsjahren zur staatlich anerkannten Erzieherin. "Die Ausbildung ist schon eine Herausforderung. Es ist nicht nur mit Schule und Arbeiten abgetan. Man muss einiges investieren an Freizeit, um zu lernen, um viel aufzuarbeiten und sich informieren." Doch gerade das theoretische Wissen will die 44-Jährige nicht mehr missen. Was ihr an drei Tagen pro Woche in der Schule beigebracht wird, kann sie in der Kita- in die sie die restlichen zwei Tage der Woche geht- direkt umsetzen. Ein Beispiel: "Man denkt, man wickelt ein Kind und es ist damit abgehakt. Aber es ist ja auch für's Kind ein Schambereich und man muss erst mal sehen, dass da eine Bindung entsteht." Richtiges Wickeln will gelernt sein Wie das funktionieren kann, wird zunächst im Unterricht besprochen, dann von den angehenden Erziehern in der Praxis beobachtet und schließlich in einem Bericht beschrieben: "Acht Seiten. Da dachte ich, acht Seiten über Wickeln- was schreibt man da alles? Aber was da dann alles zusammen kommt, an was man alles denkt: an den Heizstrahler, an die Wickelauflage und Desinfektion und Streicheleinheiten, das Bilderbuch. Und das alles zusammenzuschreiben und zu berichten- ganz viele Sachen entstehen da, also ein langer Bericht." In Zeiten den Frühförderung reicht es aber nicht zu wissen, wie man richtig wickelt oder Windeln wechselt: Konzentrationsübungen, selbstständiges Spielen und Sprachförderung stehen inzwischen auf den meisten Kita-Programmen. Christine Klimroth, Mutter zweier Kleinkinder, erwartet zum Beispiel, dass ihre Söhne in der u3-Betreuung mit klaren Vorschriften konfrontiert werden: "Das ist schon auch eine gewisse Art Vorbereitung auf die Schule, wo sie ja diese richtigen, strengen Regeln haben, wo sie immer auf dem Stuhl sitzen müssen. Und hier dürfen sie Kind sein, haben aber spielerisch trotzdem ihre Aufgaben und Regeln und das finde ich schon wichtig." Selbstständiges Spielen und Sprachförderung Den gewachsenen Anspruch an die frühkindliche Erziehung versteht Maria, selbst Mutter von drei Kindern, sehr gut. Bevor sie sich für die Ausbildung entschlossen hat, arbeitete sie als Frisörin, danach war sie knapp zehn Jahre als Streetworkerin in Frankfurt unterwegs. Die Arbeit mit Jugendlichen habe ihr gezeigt: Je früher man kleinen Kindern Vertrauen und Zuneigung schenke, desto weniger gerieten sie später auf die schiefe Bahn, sagt Maria. Und genau das motiviere sie täglich- besonders für die Arbeit mit unter Dreijährigen: "Wie die Kinder schon miteinander umgehen, so Kleine schon. Also wenn jetzt jemand traurig ist und weint, dann geht der andere und holt aus dem Fach seinen Schnuller und bringt es ihm. Also ich finde das total faszinierend.„ Um solche Situationen nicht nur zu beobachten, sondern auch aktiv eingreifen zu können, paukt sie gemeinsam mit 23 anderen Schülern, wie man zum Beispiel richtig lobt. Ebenso lernen sie in der Ausbildung Kinderlieder, fantasieanregende Spielkonzepte oder muskelstärkende Bewegungsabläufe kennen. Die Alterspanne ihrer Klasse erstreckt sich von 25 bis 53 Jahre. Erzieher werden mit auch 53 Jahren Die Voraussetzungen für die Ausbildung sind bundesweit unterschiedlich. Als Aufnahmekriterien gelten jedoch meistens: ein mittlerer Bildungsabschluss und mindestens ein halbes Jahr Praxiserfahrung mit Kindern. Verkürzt in zwei bis drei Jahren legt man dann die Ausbildung an einer Berufsfachschule ab. Teilweise finanziert die Bundesagentur für Arbeit die Umschulung, in manchen Fällen gibt es Stipendien, so wie für Maria, in Höhe von 200 Euro monatlich von der Caritas Frankfurt. Birgit Knobloch, die Leiterin der Kita „Lichtblick", in der Maria gerade arbeitet, ist dankbar für die Unterstützung der angehenden Erzieher: "Die Schule ist für den theoretischen Teil zuständig. Und hier haben sie dann die Möglichkeit das in Projekten umzusetzen und vielleicht auch ein Stück in Anführungszeichen "ausprobieren"." Noch ein Jahr, dann darf Maria mit all ihrem Wissensschatz Klein- und Kleinstkinder erziehen. Für diesen Augenblick, meint sie, lohne sich die Ausbildung- egal wie anstrengend sie ist.
Von Afanasia Zwick
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"2014-08-01T14:35:00+02:00"
"2020-01-31T13:55:57.695000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/ausbildung-von-erziehern-mehr-als-wickeln-und-spielen-100.html
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Diesel-Pkw schädlicher für die Umwelt als Lkw
Die Reaktionen aus der Bundespolitik auf die ICCT-Studie fallen unterschiedlich aus. (picture alliance / dpa / Foto: Daniel Reinhardt) Wieder geht es um Diesel-Fahrzeuge. Und wieder geht es um den hohen Ausstoß von Stickoxiden. Eine Studie des Forschernetzwerks ICCT hatte nun belegt, dass Diesel-Pkw der Euro VI Norm pro Kilometer mehr Stickoxide ausstoßen als Diesel-Lkw. Demnach liegen die Personenwagen bei 500 Milligramm Stickoxid, Laster bringen es nur auf 210 Milligramm. Die Ursachen liegen laut Peter Mock von ICCT Deutschland nicht in der Technik begründet, sondern in den rechtlichen Vorgaben. Die seien bei Pkw laxer als bei Lkw. Mock sagte im Deutschlandfunk: "Bei den Pkw werden die Fahrzeuge nur im Labor getestet. Und da auch nur ausgewählte Prototypen, die von den Herstellern bereitgestellt werden. Bei den Lkw ist es schon seit 2013 so, dass Messungen auf der Straße vorgeschrieben sind." Unerwartete Dimensionen Ihn habe die Dimension der Abweichungen überrascht. Das ICCT beruft sich auf Daten von verschiedenen europäischen Behörden wie dem Kraftfahrtbundesamt. Die Reaktionen aus der Bundespolitik fielen unterschiedlich aus. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt appelliert in der ARD an die Auto-Industrie: "Wir sehen ja gerade im Bereich der LKW, was moderne Diesel-Technologie in der Lage sind auch an sauberer Technik zu generieren. Das muss auch bei den PKW Einzug halten." Eine Sprecherin von Verkehrsminister Alexander Dobrindt, CSU, verwies am Mittag auf die neuen Testverfahren RDE und WLTP, die ab September schrittweise in der EU gelten werden und auch von Deutschland unterstützt würden. Von ihnen erhofft man sich verlässlichere Messwerte. Strengere Tests gefordert Schärfer äußerte sich Umweltministerin Barbara Hendricks, SPD. Sie sprach sich für strengere Tests als Konsequenz aus. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter plädierte für einen Ausstieg aus der Dieseltechnologie. Das ist der Anfang vom Ende des Diesels, sagt auch Fraktions-Vize Oliver Krischer, der dem Abgas-Untersuchungsausschuss des Bundestags angehört: "Ich glaube, das ist ein weiterer Sargnagel für die Diesel-Technologie, das muss man einfach so sagen." Viele deutsche Städte stehen vor dem Problem, dass sie die Stickoxid-Grenzwerte zur Luftreinhaltung überschreiten. Gegen Deutschland läuft deshalb auch ein Vertragsverletzungsverfahren der EU. Obwohl die Pkw auf dem Papier immer sauberer werden. Schon seit Längerem wird aus Luftschutzgründen über Fahrverbote für Diesel diskutiert. Im September 2015 war bekannt geworden, dass Volkswagen Abgasmessungen illegal manipuliert hat. Seit letztem Jahr untersucht ein Bundestagsausschuss, ob Ministerien bei der Aufklärung versagt haben.
Von Nadine Lindner
Diesel-Pkw stoßen mehr Stickoxid aus als Lkw. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschernetzwerk ICCT in einer neuen Studie. Umweltministerin Barbara Hendricks fordert schärfere Tests. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter geht sogar noch einen Schritt weiter.
"2017-01-06T18:10:00+01:00"
"2020-01-28T09:26:32.278000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/stickoxid-diesel-pkw-schaedlicher-fuer-die-umwelt-als-lkw-100.html
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Sommerfestivals und Ferienkurse
Seit 1991 Spielort des Kammeroper Festivals: Schloss Rheinsberg (picture-alliance/ dpa) Kammeroper Schloss Rheinsberg 2016Autorin: Irene Constantin Das Festival Summertónar auf FäröerAutorin: Magdalene Melchers Die 71. Sommerlichen Musiktage Hitzacker mit Oliver Wille als neuem IntendantenAutorin: Martina Brandorff Buchrezension: Frank Schneider - Eine Welt auf 16 SaitenAutor: Stefan Amzoll Zwischenbilanz: Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 2016Autorin: Barbara Eckle Redaktion: Frank Kämpfer
Am Mikrofon: Frank Kämpfer
Vor 25 Jahren veranstaltete der Komponist Siegfried Matthus erstmals das Festival Kammeroper im Theater des historischen Schlosses Rheinsberg - mit dem Ziel, junge Sänger in bekannten und neuen Produktionen vorzustellen. Im "Musikjournal" blicken wir ebenso auf das diesjährige Festival wie auf die berühmten Darmstädter Ferienkurse.
"2016-08-09T22:05:00+02:00"
"2020-01-29T18:46:18.273000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/rheinsberg-faeroeer-und-darmstadt-sommerfestivals-und-100.html
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Radiolexikon Gesundheit: Mammografie
"Wenn es ihnen anfängt, unangenehm zu werden, dann sagen sie bitte was." "Ich nehme hier Platz?""Ja, ich nehme jetzt die Brust, ich drücke jetzt, die Schulter ganz locker lassen. Nicht helfen, wunderbar. Ist das so in Ordnung?""Ja, es geht so.""Ok, dann gehen wir jetzt raus und machen die Aufnahme."Brustzentrum der Uniklinik Düsseldorf. Eine Situation, die immer auch ein wenig Unwohlsein erzeugt. Denn zum einen ist die Untersuchung der Brust durch eine Mammografie unangenehm. Sie muss dabei durch zwei Platten regelrecht zusammengepresst werden, bevor dann Röntgenstrahlen die Brust durchleuchten. Zum anderen ist das Ergebnis unter Umständen Anlass zur Sorge. Denn Brustkrebses ist die mit Abstand häufigste Krebserkrankung der Frau."Jetzt haben wir die vier Aufnahmen gemacht, sie nehmen bitte in der Kabine Platz, hängen sich was über, dass die Lüftung nicht zieht, nicht ganz anziehen, weil die Ärztin noch kommt, abtastet und den vorläufigen mündlichen Bescheid sagt."Die moderne Mammografie setzt im Kern immer noch auf die herkömmliche Röntgentechnik. Röntgenstrahlen durchdringen die Brust und treffen dann auf einen Film oder auf einen elektronischen Sensor. Das Bild, das entsteht, hat die typischen Eigenheiten einer Röntgenaufnahme: Dunkel erscheinen Bereiche mit geringer Dichte, also zum Beispiel Fettgewebe. Hell bis Weiß erscheinen Bereiche mit hoher Dichte. Das das können Kalkeinlagerungen sein oder dichtes Brustdrüsengewebe. Oder ein Tumor. "Hier hätten wir eine Mammografie mit heterogenen dichtem Brüsenparenchym, der Knoten, der tastbar war, ist schwer zu erkennen, aber der Tumor zeigt sich durch die zusätzlichen gruppierten Mikrokalzifikationen, die im Bereich des Tumors gewachsen sind."Prof. Silvia Obenauer ist Radiologin an der Uniklinik Düsseldorf. Vor ihr auf dem Bildschirm ist die Aufnahme einer Brust, auf der für ein ungeschultes Auge nichts Auffälliges zu sehen ist. Das Innere der Brust erscheint mehr oder weniger durchgehend hell. Lediglich winzige, stecknadelkopfgroße weiße Punkte zeigen, dass dennoch ein Tumor wächst. Diese Mikrokalkablagerungen sind typisch für einen bestimmten Brustkrebs, der in den Milchgängen entsteht. Andere Tumore im Drüsengewebe werden dagegen leicht übersehen."Dieses Drüsengewebe ist ganz platt gesprochen weiß auf dem Röntgenfilm. Und die Erkrankung, die wir suchen, nämlich Brustkrebs, ist ebenfalls weiß. Und das ist dann so, wie wenn sie einen Schneehasen im Hochgebirge suchen, nämlich weiß auf weiß, das ist ein schlechter Kontrast, im Zweifelsfall überhaupt kein Kontrast, das heißt, dass sie auch größere Krebserkrankungen in der Brust mit der Röntgenmammografie nicht diagnostizieren können." Bemängelt Prof. Regina Kuhl, Direktorin der Klinik für Radiologie an der RWTH Aachen. Viele Tumore bleiben also unerkannt. Gerade jüngere Frauen haben häufig sehr dichtes Brustgewebe, Tumore müssen schon 2 Zentimeter und mehr messen, damit Ärzte sie dann überhaupt erkennen können. Um die Effektivität der Mammografie zu verbessern, sind seit rund 10 Jahren strenge Richtlinien für deren Durchführung in Kraft. So müssen grundsätzlich zwei Ärzte jede Aufnahme begutachten. Sie müssen außerdem besonders geschult und erfahren sein. Dennoch liegt die Trefferquote der Röntgenmammografie auch nach neueren Studien kaum über 50 Prozent. Um Krebs zu finden, gibt es aber noch andere Möglichkeiten, sagt Dr. Jürgen Hoffmann, stellvertretender Direktor des Brustzentrums der Uni Düsseldorf."Wesentliche ergänzende Methoden sind eigentlich Dinge wie die Ultraschalluntersuchung, die insbesondere bei dichtem Brustdrüsengewebe die Strukturen anders auflösen kann. Der Ultraschall kann sehr gut differenzieren zwischen beispielsweise Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe oder auch soliden, das heißt festen Tumoren." Nachteil vom Ultraschall: Das Ultraschallbild ist sehr stark abhängig davon, wer es macht, für Reihenuntersuchungen ist es daher nicht geeignet. Doch es gibt noch eine weitere Mammografie-Methode:" Die Füße hoch, liegen sie so bequemer?"Eine Patientin wird in die Röhre eines Magnetresonanz-Tomografen gefahren, kurz MRT. "So, ich gebe ihnen noch eine Klingel in die Hand, wenn irgendetwas ist, drücken sie drauf, wir hören sie dann draußen.""Die Studien, die wir zu dem Thema haben - und das sind mittlerweile eine ganze Reihe von Studien - zeigen, dass mit der Magnetresonanztomografie etwa doppelt, in einigen Studien sogar dreifach höhere Empfindlichkeiten für Brustkrebs erzielt werden kann, als mit der Mammografie allein. Das sind drastisch bessere Ergebnisse." Prof. Regina Kuhl empfiehlt daher jeder Frau, die zum Beispiel ein höheres, familiäres Risiko für Brustkrebs hat, eine MRT durchführen zu lassen. In solchen Risikofällen zahlt die Krankenkasse auch die deutlich höheren Kosten. Aber nur dann. Und das wird auch so bleiben. Denn eine MRT-Mammografie kostet rund 400 Euro, eine Röntgenmammografie dagegen nur 60 Euro. Gerade für das Brustkrebs-Screening, also die hierzulande angebotene Reihenuntersuchung für alle Frauen zwischen 50 und 69, bleibt daher das Röntgen die Methode der Wahl. Genau deshalb ist das 2005 hierzulande gestartete Screening aber von Anfang an auch in der Kritik, räumt Jürgen Hoffmann von der Uniklinik Düsseldorf ein.O-Ton 9: Es gibt immer auch Gegner des Screenings, das ist manchmal auch durchaus nachvollziehbar, dass man den Eindruck hat, wir machen hier Strahlenbelastung für eine relativ große Bevölkerungsgruppe oder Ähnliches. Dazu muss man aber auch sagen, dass die Rate an potenziellen Patientinnen in wesentlich früheren Stadien entdeckt wurde. Wir haben heute mit wesentlich mehr Frühstadien oder Vorstufen dieser Erkrankung zu tun, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.Doch was das Screening wirklich bringt, ist mittlerweile in einer Reihe von Studien untersucht worden. Unterm Strich sind die Zahlen ernüchternd. Wenn 1000 Frauen 10 Jahre lang zum Screening gehen, so wird bei gerade mal 2 von diesen 1000 Frauen das eigentliche Ziel erreicht: Sie werden vor dem Krebstod gerettet. Im gleichen Zeitraum werden aber über 100 Frauen mindestens einmal mit einem falschen Krebsverdacht konfrontiert. Dieses eher ungünstige Verhältnis von Nutzen und Schaden spricht nicht grundsätzlich gegen das Mammografie-Screening, aber es macht einmal mehr deutlich: Die Mammografie ist eine Methode mit Schwächen, vor allem bei Frauen unter 50. Dennoch ist sie zur Abklärung vieler einzelner Befunde unerlässlich:"Ich habe sehr gute Nachrichten für sie. Der Befund in der rechten Brust, der im Ultraschall auffällig war, ist eine Zyste. Also kein Brustkrebs bei ihnen.""Wunderbar, Erleichterung!"
Von Thomas Liesen
Brustkrebs ist für jede Frau ein Angstthema. Viele Frauen lassen deswegen regelmäßig eine Mammografie durchführen. Die Trefferquote der Röntgenmammografie liegt jedoch auch nach neueren Studien kaum über 50 Prozent. Um Krebs zu finden, gibt es aber noch andere Möglichkeiten.
"2013-08-06T10:10:00+02:00"
"2020-02-01T16:29:40.189000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/radiolexikon-gesundheit-mammografie-100.html
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Keine weiteren Zwischenfälle
In Ostjerusalem beruhigte sich die Lage, Ausschreitungen gab es in anderen Städten. (AFP / Ahmad Gharabli) Die Nachricht der israelischen Polizei kam um die Mittagszeit. Der ursprüngliche Status auf dem Berg sei wieder hergestellt, schrieben die Polizisten auf Twitter. Mit dem Berg meinten sie den Tempelberg. Auf Arabisch: Haram-asch-Scharif. Der Tag in Ostjerusalem verlief weitgehend ruhig. Mehr noch: Zum ersten Mal seit zwei Wochen beteten Tausende Muslime an ihren heiligen Stätten, ohne das es zu Zwischenfällen kam. Unruhiger wurde es in anderen Teilen des von Israel besetzen Westjordanlandes. In mehreren Städten kam es zu Ausschreitungen. An einer Kreuzung südlich von Jerusalem griff ein Palästinenser nach Angaben der israelischen Armee Soldaten mit einem Messer an. Die Soldaten erschossen den Angreifer daraufhin. Bei Konfrontationen zwischen Palästinensern und Israelis an der Grenze zwischen Gaza und Israel wurde nach Angaben von Nachrichtenagenturen ein Palästinenser getötet. Muslime feierten die Entferung der Sicherheitsvorrichtungen Die sogenannte Tempelberg-Krise hatte in den vergangenen zwei Wochen zu einer Welle der Gewalt geführt. Vier Palästinenser kamen ums Leben, bei einem Attentat in einer jüdischen Siedlung tötete ein Palästinenser drei Israelis. Israel hatte eine Woche zuvor die Sicherheitsmaßnahmen am Tempelberg erhöht und reagierte damit auf einen tödlichen Anschlag. Die Muslime weigerten sich daraufhin, das Areal zu betreten. Gestern hatte Israel auch die letzten Sicherheitsvorrichtungen entfernt. Von Muslimen in der ganzen Region wurde das gefeiert. Auch im Gazastreifen gingen die Menschen auf die Straße. Nach Lesart der islamistischen Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, haben die Palästinenser einen Sieg errungen. "Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die Israelis unterworfen haben, als sie die Sicherheitsmaßnahmen entfernt haben", sagte der Hamas-Politiker Moschier al Masri. "Dieser Sieg kam nicht wegen der Einmischung arabischer Staaten. Er kam wegen des Widerstandes auf den Straßen wegen des Durchhaltewillens Palästinenser." Netanjahu unter Druck Worte, die in Israel mit Besorgnis aufgenommen werden dürften. Umfragen hatten gezeigt, dass eine Mehrheit der Israelis gegen den Abbau der Sicherheitsvorrichtungen am Tempelberg ist. Auch Yaakov Perry äußerte heute im israelischen Radio seine Bedenken. Er ist der ehemalige Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. "Die andere Seite, und dazu gehören nicht nur die Palästinenser, sondern auch der jordanische König und andere Länder der arabischen Welt, verbucht die letzten Vorfälle als einen Sieg für sich und als unsere Kapitulation. Sobald die andere Seite bei uns Schwäche und ein Zickzackverhalten erkennt, wird die Hetze gegen uns nur noch weiter angespornt." Israels Premierminister Benjamin Netanjahu steht wegen seines Umgangs mit der Krise in Israel unter Druck, auch innerhalb seiner eigenen Regierung. Gestern hatte Netanjahu den Ton verschärft. Für den palästinensischen Attentäter, der vor einer Woche drei Israelis ermordete, forderte er die Todesstrafe.
Von Benjamin Hammer
Der Tag am Tempelberg verlief ruhig, Tausende beteten dort ohne weitere Eskalationen. Dagegen kam es in anderen Teilen des von Israel besetzen Westjordanlandes zu Unruhen. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu steht wegen seines Umgangs mit der Krise in Israel unter Druck - auch intern.
"2017-07-28T18:10:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:22.367000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tempelberg-krise-keine-weiteren-zwischenfaelle-100.html
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"Christen schämen sich für ihre eigene Geschichte"
"Es geht nicht darum, das Christentum reinzuwaschen, sondern den Stand der Wissenschaft zu haben." Manfred Lütz erkundet die "Geheime Geschichte der Wissenschaft" (picture-alliance / dpa / Richard Nowitz) Christiane Florin: Hexen, Heilige Kriege, Scheiterhaufen, die Guten und die Bösen; diese Worte - aus dem Lied "Hexeneinmaleins" von Konstantin Wecker - lösen bei meinem heutigen Gast Redebedarf aus, vor allem, wenn die Bösen die Christen sein sollen. Mir gegenüber sitzt Manfred Lütz, Chefarzt einer Psychiatrischen Klinik in Köln, zudem Diplom-Theologe und Autor zahlreicher Bücher, unter anderem "Gott. Eine kleine Geschichte des Allergrößten" und "Irre. Wir Behandeln die Falschen" Guten Morgen, Herr Lütz! Manfred Lütz: Guten Morgen, Frau Florin. Florin: "Der Skandal der Skandale" heißt Ihr neues Buch. Vieles, was als Skandal der Kirchengeschichte dargestellt wird, ist gar keiner, sagen Sie. Wir werden nicht jeden Posten im Sündenregister ansprechen können, aber fangen wir mal mit den Kreuzzügen an. Mit einem "Gott will es" auf den Lippen ging es im 11., 12., 13. Jahrhundert gen Jerusalem. Aber von Heiligen Kriegen, von einer Art christlichem Dschihad, wollen Sie gerade nicht sprechen. Warum keine Heiligen Kriege in der Geschichte des Christentums? Lütz: Also, ich muss vielleicht zunächst einmal sagen, was ich mit dem Buch eigentlich wollte. Das ist gar nicht meine Meinung. Ich habe selbst Theologie studiert, ich habe fünf Jahre Theologie studiert. Und vieles von dem, was ich in dem Buch "Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert" von Arnold Angenendt gelesen habe, war für mich völlig neu. Dazu gehört auch das, was Sie vorhin gesagt habe: Ich war davon ausgegangen, Hexenverfolgungen waren wesentlich auch von der Kirche. Ich war davon ausgegangen, Kreuzzüge waren Heilige Kriege. Und dann habe ich bei Arnold Angenendt den neuesten Stand der Wissenschaft gelesen. Das ist aber ein dickes Buch, 800 Seiten, 3.000 Anmerkungen. Und ich habe dann versucht, da dann ein knappes Buch draus zu machen, 286 Seiten mit Arnold Angenendt zusammen, damit mal eine breitere Öffentlichkeit informiert wird. Aber über Wissenschaft und nicht über meine Meinung. "Christen waren ursprünglich Total-Pazifisten" Florin: Da kommen wir jetzt noch drauf. Aber bleiben wir mal bei den Heiligen Kriegen, weil das ja nun gerade so ein Thema ist, auf das viele anspringen und sagen: Wenn wir über Dschihad jetzt sprechen aktuell - das hatten die Christen auch. Warum sind Sie der Ansicht, das stimmt nicht? Lütz: Ich bin nicht der Ansicht. Das muss ich immer noch mal sagen. Florin: Naja. Lütz: Das ist der Forschungsstand. Und mir war wichtig - ich habe das von führenden deutschen Historikern lesen lassen, dass das auch wirklich der Forschungsstand ist. Ich habe das auch von meinem Frisör lesen lassen, damit es verständlich bleibt. Aber bei den Heiligen Kriegen, also bei den Kreuzzügen - die sind ja immer mit Kreuz in den Krieg gezogen. Das war, und das sagt das Buch auch, ein Skandal! Es geht nicht darum, das Christentum reinzuwaschen, sondern den Stand der Wissenschaft zu haben. Es war ein Skandal, 1.000 Jahre lang hatten die Christen so etwas nicht gemacht und dann plötzlich diese Kreuzzüge. Die Christen waren ursprünglich Total-Pazifisten und da gab es Schwierigkeiten. Deswegen haben sie sich von den Juden getrennt, weil die Juden einen Aufstand gegen dir Römer gemacht haben. Die Kreuzzüge waren ursprünglich Kriege, weil die östlichen Christen sich angegriffen fühlten und dann die westlichen Christen um Hilfe baten. Und die einzige Instanz - es gab keine Vereinten Nationen, es gab keine Europäische Gemeinschaft - die einzige internationale Instanz im westlichen Christentum war nicht der Kaiser - Heinrich IV: war zeitweilig exkommuniziert -, sondern die einzige Instanz, die von Norwegen bis Sizilien akzeptiert wurde, war der Papst. Und deswegen war es dann der Papst, den man fragte. Und Urban II. hat gezögert. Und die Kreuzzüge waren aber keine heiligen Kriege zur Ausbreitung des Christentums. Ich wusste das nicht. Es gab überhaupt keine Missionsbemühungen. Es gab auch keine Eroberungsabsichten ursprünglich, sondern das Papst hatte angeordnet: Alle Kirchen, die man wiederbekam, den östlichen Christen zurückzugeben, dass nicht die westlichen Christen jetzt etwas eroberten. Das ist dann erheblich aus dem Ruder gegangen. Das ist skandalös. Und auch die Tatsache - da haben Sie Recht -, dass ein Papst dazu aufruft, wäre für die Christen in den ersten Jahrhunderten absolut so skandalös gewesen wie für uns heute. "Es geht nicht darum, die Kreuzzüge schönzureden" Florin: Also "Gott will es" war schon ein Traditionsbruch. Lütz: "Gott will es" - das wusste ich auch nicht, ich dachte, der Papst hätte das gesagt - das rief das Volk zur Überraschung des Papstes, eigentlich als er sagte: Wir müssen den Christen im Osten helfen. Er hat das dramatisch formuliert vor den Toren von Clermont in Südfrankreich im Jahre 1095, große Rede, französischer Papst. Und dann antwortete das Volk: "Gott will es!". Und dann kam ein Volkstumult zustande, der überhaupt nicht beabsichtigt war und mit dem keiner gerechnet hatte. Es gab schlimme Pogrome, Judenverfolgung vor allem am Rhein. Die Juden flohen in die Häuser der Bischöfe, die Bischöfe haben zum Teil unter Einsatz ihres Lebens versucht, Juden zu retten. Es war schrecklich! Es war ganz furchtbar! Also es geht nicht darum, die Kreuzzüge irgendwie schönzureden. Florin: Aber es geht schon darum, die Rolle der Religion zu relativieren. Taugt das Christentum noch als geistiges Fundament Europas? Dieser Frage ist der Autor und Theologe Manfred Lütz nachgegangen (deutschlandradio / Nahar) Lütz: Nein, darum geht es auch nicht. Sondern es geht darum … Ich habe mich wirklich sehr bemüht. Ich habe Meinungsbücher geschrieben, alle möglichen, wo ich kontroverse Meinungen vertreten habe. Aber hier habe ich mich wirklich pingelig bemüht, den Stand der Forschung zu beschreiben. Und ich habe diese Historiker gebeten: Gucken Sie bitte genau hin, dass das nicht so ein Christentum-Verteidigungs-Buch wird. Das ist ja uninteressant. Sondern dass es der Stand der Wissenschaft ist über die Dinge, die die Leute für die Skandale halten. Denn ich finde tatsächlich ein Problem - und jetzt sind wir noch mal bei der Frage des Christentums -, dass viele Christen sich für ihre eigene Geschichte schämen - sicherheitshalber, ohne sie überhaupt zu kennen. Ich habe Theologie studiert, da gab es Professoren, die sagten so: 2.000 Jahre ist die Kirche in die Irre gegangen und dann kam ich, der Professor! Da kann man doch eigentlich als Atheist nur sagen: Dann warten wir mal 2.000 Jahre ab, ob es jetzt besser wird. Dann ist das Christentum diskreditiert, wenn das alles Mist war. Florin: Gut. Dann müssen wir doch erst mal unterscheiden zwischen Christentum und Kirche. Lütz: Richtig. "Das Christentum hat die Toleranz erfunden" Florin: Die Idee des Christentums ist eher pazifistisch, obwohl auch Jesus vom Schwert spricht. Und die Idee der Kirche - sehen Sie da keinen Bitte-um-Vergebungs-Bedarf? Lütz: Natürlich. Und das Buch endet damit, mit der Bitte um Verzeihung von Papst Johannes Paul II. Das heißt, man darf diese Skandale der Kirchengeschichte auch nicht irgendwie schönfärben. Warum soll man das als Christ eigentlich überhaupt tun? Die Leute denken ja immer … Evangelisierung heißt ja nicht, Müllermilch den Leuten näher zu bringen und dann alle möglichen Sachen von Müllermilch zu behaupten, die überhaupt nicht stimmen. Sondern man muss dann schon die Wahrheit sagen. Und die Unterscheidung zwischen Christentum und Kirche - wenn ich mir das jetzt richtig überlege: Wenn man dann sagen würde, das Christentum theoretisch ja, so in der Bibel, und dann die Kirche praktisch - diese Trennung finde ich problematisch. Wir haben heute die Situation, dass viele Leute vom christlichen Menschenbild reden, vom christlichen Abendland, von christlichen Werten. Keiner weiß genau, was das ist, und man hat den Eindruck, jeder kann für dich beanspruchen: Ich lese die Bibel eben so und dann ist es eben christlich. Und ich finde, die Geschichte von 2.000 Jahren, die ist nicht beliebig. Was die Christen wirklich gemacht haben in den 2.000 Jahren, das ist entscheidend. Und da habe ich bei Angenendt zum Beispiel gelernt: Das Christentum hat die Toleranz erfunden. Toleranz hieß im klassischen Latein Lasten tragen, Baumstämme tragen. Die Christen haben daraus gemacht: Menschen anderer Meinung ertragen. Das wusste ich gar nicht. Aber die Christen wissen es auch nicht und deshalb habe ich das Buch geschrieben. "Alle Skandale des Christentums auf 286 Seiten" Florin: Um noch mal auf die Kreuzzüge zurückzukommen. Lütz: Okay. Florin: Sie zitieren an einer Stelle, eben in diesem Kapitel über die Kreuzzüge, den Theologen Hans Küng, der sich auch intensiv mit dem Islam befasst hat als katholischer Theologe. Und Sie zitieren ihn mit dem Satz, der Islam habe vom Ursprung her einen militanten gotteskämpferischen Charakter. Sie zitieren ihn aber nicht mit der Aussage, dass das Christentum keinen Deut besser war. Dass man zwar vielleicht die Idee der Toleranz entwickelt hat, aber sich nicht immer daran gehalten hat. Also was haben Sie sozusagen von der Wissenschaft zitiert, weil es passte, und was haben Sie nicht zitiert? Lütz: Ja, das kann ich Ihnen ganz offen sagen, wie es gewesen ist. Das habe ich aus Arnold Angenendt übernommen. Ich habe mit ihm zusammen das Buch geschrieben. Er ist also sozusagen Mit-Autor des Buches. Und er hat das ausgewählt. Und natürlich kann man bei einem 286-Seiten-Buch, alle Skandale des Christentums auf 286 Seiten, auf den heutigen Stand der Wissenschaft immer sagen, da fehlt was. Das hätten Sie auch zitieren müssen. Das muss ich mir auch anziehen, ja. Die Auswahl habe ich vor allem Arnold Angenendt sozusagen überlassen und das damalige Werk ist in der wissenschaftlichen Literatur auch sehr akzeptiert worden. Und das kann man natürlich immer sagen, da fehlt dies, da fehlt das. Ich habe versucht redlich den Stand der Wissenschaft zu diesen Dingen rüberzubringen. Und Arnold Angenendt zitiert vor allen Dingen säkulare Historiker. Also Küng, da haben sie jetzt mal einen Theologen zitiert. Was ich spannend finde, die meisten zitieren israelische Historiker, amerikanische Historiker, also nicht Kirchen-Historiker. Also nicht schon wieder gleich fromme Leute, bei denen man die Befürchtung haben muss … Florin: Echt, sind die alle so fromm, dass sie schreiben, was die Kirche will, die Kirchenhistoriker? Lütz: Das weiß ich nicht, das können Sie vielleicht besser überprüfen als Journalistin. "Es gibt auch gesichertes Wissen" Florin: Ist immer mein Verdacht, wenn ich das so lese. Aber es geht nicht um das, was fehlt, sondern es geht um den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, weil Wissenschaft von der Kontroverse lebt und man in ganz seltenen Fällen sagen kann: So war es. Weil man auch weiß, zum Beispiel als Historiker, in fünf Jahren wird jemand kommen und aus denselben Dokumenten etwas anderes ableiten. Natürlich kann man über Zahlen und Daten nicht so streiten, aber über Schuldanteile und Verantwortungsanteile. Lütz: Also ich bin letztlich interviewt worden dazu, und da hat jemand gesagt: Sie behaupten also, die Hexenverfolgungen waren in der Neuzeit, nicht im Mittelalter, Sie behaupten also, dass das die weltliche Justiz war. Und ich sagte: Das behaupte ich nicht. Wie sollte ich das behaupten? Das sagt die Wissenschaft. Dann sagte der: Ja, ja gut, aber die Wissenschaft, das sagen Sie auch, hat unterschiedliche Auffassungen. Dann sage ich: Ja, da haben Sie Recht natürlich so, aber es gibt auch gesichertes Wissen. Dass der Mond um die Erde kreist, ist gesichertes Wissen. Und ich habe mich bemüht, in diesem Buch tatsächlich den Stand der Wissenschaft zu bringen. Und das Werk von Arnold Angenendt ist wissenschaftlich unumstritten. Das heißt: Das ist wirklich Stand der Wissenschaft. Und ich habe das dann natürlich noch etwas auf den allerneusten Stand gebracht. Aber ich bilde mir jetzt nicht ein, dass ich als Psychiater und Theologe meinen kann, ich kann den Stand der heutigen historischen Forschung darstellen. Das wäre ja hybride. Ich habe versucht, das einigermaßen lesbar zu machen, ein bisschen locker zu schreiben. Ich habe es von meinem Frisör lesen lassen, damit es auch lesbar ist. Aber mir geht es darum, eine breitere Öffentlichkeit zu informieren, also auch Atheisten zu informieren, was war die Geschichte des Christentums. Wie war … was ist der Stand der Wissenschaft. Die Entwicklung des Toleranzgedankens im Christentum Florin: Sie haben vorhin gesagt, das Christentum hat die Toleranz erfunden. Das klingt arrogant. Lütz: Das ist eine steile These, würde ich mal sagen. Und dazu muss man jetzt natürlich wieder ein bisschen runtertunen und sagen: Natürlich hat es vor dem Christentum und außerhalb des Christentums Menschen gegeben, die tolerant waren. Was ich damit gesagt habe, ist genau das, was ich eben zitiert habe: "tolerancia" hieß im klassischen Latein Baumstämme tragen. Die Christen haben daraus gemacht, aus dem Wort "tolerancia" haben sie gemacht: Menschen anderer Meinung ertragen. Und sie haben zum Beispiel, wusste ich auch nicht, die Internationalität erfunden. Ein ganz aktuelles Thema. Das heißt, in den Stammesreligionen, auch bei den Römern, war das eigene Volk das entscheidende Volk. Und alle anderen hatten gar keine Menschenrechte. Und die Christen haben daraus gemacht: Wir glauben nur an einen Gott, der hat alle Menschen geschaffen, alle Völker - das heißt, alle Völker sind vor Gott gleich. Das war revolutionär. Das Karlsreich ist eigentlich nur dadurch richtig entstanden, das war die große Leistung Karls des Großen, dass Karl für die Christianisierung der Germanen gesorgt hat, dass sie sich nicht gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben. Und wenn heute Leute das christliche Abendland hochleben lassen, wie wir das ja erlaben, und gleichzeitig "Deutschland, Deutschland über alles" brüllen, dann haben die nicht eine falsche Meinung - die sind nicht richtig informiert. Und darum geht es diesem Buch. Florin: Ja. Jetzt haben Sie gerade wieder das Stichwort Menschenrechte genannt. Das ist auch irritierend. Sie sagen, das Christentum hat die Menschenrechte erfunden, hat schon früh … Lütz: Nein, nein, nein. Florin: … diese Idee der Menschenrechte gehabt. Ja, ich muss es jetzt auch etwas zugespitzt zusammenfassen. Und dann wissen wir alle: Es gab im 19. Jahrhundert den Papst mit "Syllabus errorum", der sagt, die Menschenrechte waren ein Irrtum, nachdem die Aufklärung auch eine sehr religions- und kirchenkritische Seite hatte. Also wie kriegen Sie das zusammen? Das Christentum, Menschenrechte im Mittelpunkt, und dann dieser Papst mit "Syllabus errorum"? Lütz: Noch mal: Das sage ich nicht. Das Christentum hat auch nicht die Menschenrechte erfunden. Ich schreibe in dem Buch auch … Florin: Aber sie waren früh da, sagen Sie. Lütz: Nein, nein. Also die Menschenrechte hat zum ersten Mal die Stoa erfunden. Die Stoiker haben die Menschenrechtsidee zum ersten Mal ausbuchstabiert - das waren keine Christen. Aber diese philosophische Idee hat sich eigentlich nicht umgesetzt, das war das Problem. Dass tatsächlich die Sklaven befreit wurden, das sagt die Sklavenforschung heute, lag daran, dass die Christen sagten: Alle sind gleich vor Gott. Und die einzige Region auf der Welt … Der Syllabus von Pius IX: "ein schreckliches Dokument" Florin: Gehen Sie mal auf den Papst ein. Warum verurteilt ein Papst die Menschenrechte als Irrtum? Lütz: Also ich habe das in dem Buch beschrieben. Florin: Die Hörer haben das Buch nicht gelesen. Lütz: Ich finde das schrecklich. Ich finde den "Syllabus" von Papst Pius IX., den Sie nennen, ein schreckliches Dokument. Es wird erklärt, womit das zusammenhängt. Im 19. Jahrhundert war dieser Papst eigentlich als Hoffnungsträger angetreten. Es gab Pius-Vereine - endlich mal Liberalität! Und dann kam die Revolution von 1848 und der Ministerpräsident des Papstes wurde ermordet. Der Papst musste verkleidet aus Rom fliehen. Und er wurde dann ein reaktionärer Papst. Und der "Syllabus", den Sie zitieren, war dieses Dokument. Aber was ich nicht wusste, ich habe ja Kirchengeschichte auch studiert, was ich nicht wusste, ist: dass der Papst viel weniger Einfluss hatte. Auf die Entwicklung des Katholizismus in Europa. Die Belgische Revolution 1830 haben die Katholiken und die Liberalen gemacht. Der Sozialkatholizismus entsteht vor allen Dingen in Deutschland, wo die Zentrumspartei als Freiheitspartei im Kulturkampf sozusagen entsteht unter Bismarck. Das heißt, die Katholiken hatten nachher im 20. Jahrhundert viel mehr Möglichkeiten, sich der Demokratie der Weimarer Republik anzuschließen, als es zum Teil die Protestanten hatten. Das sagen protestantische Historiker. Da zitiere ich jetzt eben auch nicht Katholiken. Florin: Ist einem natürlich auch nicht neu, wenn man sich mit der Geschichte des Protestantismus auseinandergesetzt hat. Lütz: Mir aber schon. "Jeder Christ muss wissen, was das Christentum eigentlich ist" Florin: Aber Sie sagten vorhin: Es geht um Wissen. Es geht nicht um Meinung. Dennoch: Schuldanteile zu bemessen oder Verantwortung zu bemessen, das ist keine Frage, die man so klar beantworten kann und sagen kann: Der hat Recht, der hat Recht. Lütz: Sehr richtig. Florin: Was erhoffen Sie sich davon? Nicht doch auch, ich sage mal, durch das Wissen ein positiveres Image speziell der katholischen Kirche? Lütz: Nein. Ich habe das Buch vorstellen lassen von Gregor Gysi und Jens Spahn in Berlin und von Herrn Schilling, dem Historiker und Luther-Biografen, unter dem Titel "Taugt das Christentum noch als geistiges Fundament Europas?". Und dann hat zum Schluss der Journalist gefragt: Wie beantworten Sie die Frage? Und da habe ich gesagt: Ich beantworte die Frage eigentlich gar nicht. Ich finde, um die Frage zu beantworten, stellt das Buch Material zur Verfügung. Am Schluss soll man jetzt nicht in die Kirche eintreten oder so. Man soll etwas wissen. Ich finde, jeder Christ muss das lesen, muss wissen, was das Christentum eigentlich ist, und kann nicht sagen: Ich entschuldige mich für alles, das war ja alles furchtbar. Auch jeder Atheist muss sowas wissen, aus meiner Sicht, wenn er an den gesellschaftlichen Debatten teilnehmen will. Gregor Gysi hat mal gesagt, er sei Atheist, habe aber Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne. Hat er 2005 gesagt. Wir sehen das zum Teil im Osten Deutschlands. Habermas hat gesagt: Wir brauchen rettende Übersetzungen der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Und um das Christentum sozusagen für die gesellschaftliche Debatte zu retten, habe ich das Buch geschrieben. Damit man substanziell diskutiert und nicht nur mit solchen Leerformeln. Florin: Aber müssen Sie das Christentum überhaupt retten? Wenn … Lütz: Ich nicht. Florin: Wenn Sie sich Meinungsumfragen anschauen von Allensbach, dann ist ja auffallend: das Wort "christlich" hat in dieser Gesellschaft einen sehr guten Klang. Das Wort "katholisch" hat keinen so guten. Also wollen Sie nicht doch eher das Katholische retten als das Christliche? Lütz: Überhaupt nicht. Wie gesagt, protestantische Kirchenhistoriker haben das gelesen. Ich fände es unseriös, wenn man sozusagen über diesen Weg irgendwas retten will. Ich finde, man muss "sine ira et studio", man muss nüchtern wissenschaftlich schildern, wie es war. Und ich habe so viel Angenendt gelernt, dass ich gehofft habe, dass das möglichst auch mal eine breitere Öffentlichkeit wenigstens weiß. Ich wusste vieles von dem, was ich da gelesen habe, nicht. Florin: Was bleibt an Skandalen übrig, von denen Sie auch sagen, das war ein Skandal? Lütz: Die Kreuzzüge zum Beispiel. Die Kreuzzüge sind ein Skandal. Es wäre für die frühen Christen entsetzlich gewesen, das zu hören, dass man mit dem Zeichen des Kreuzes in den Krieg zog - wie für uns heute auch. Ich finde, die Ketzerverbrennungen im Mittelalter waren ein Skandal. Aber man muss auch dazu wissen, im ersten Jahrtausend war das Christentum die einzige Religion, die keine Ketzer getötet hat, was ich auch so nicht wusste. Und das war ein Skandal, dass man dann damit anfing, gegen den ausdrücklichen Wunsch Jesu. Florin: Manfred Lütz war das über sein Buch "Skandal der Skandale". Erschienen ist es im Herder Verlag. Herzlichen Dank, Manfred Lütz. Lütz: Bitteschön. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Manfred Lütz im Gespräch mit Christiane Florin
Manfred Lütz, Psychiater und Theologe, behauptet in seinen neuen Buch: Hexenverbrennung oder Heilige Kriege werden dem Christentum zu Unrecht angekreidet, das behaupte auch die Wissenschaft. Grund zum Nachfragen.
"2018-03-14T09:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:43:13.181000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/theologe-und-bestsellerautor-manfred-luetz-christen-100.html
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Verschwörung oder Massenaufstand?
Die Gewalt zwischen Regierungsgegner und Sicherheitskräften in Venezuela reißt nicht ab: Erneut wurden zwei Menschen getötet. (dpa picture alliance / Miguel Gutierrez) "En contacto con Maduro" - im Kontakt mit Maduro. Der angeschlagene venezolanische Präsident hat jetzt eine eigene Fernsehsendung. Auf den Straßen des Landes protestieren seit mehr als einem Monat Regierungsgegner, die Polizei knüppelt und räumt Barrikaden - und Nicolas Maduro erklärt, worum es seiner Ansicht nach geht: "In Venezuela gibt es zwei Pole. Den der Revolution und den der Contra-Revolution. Es geht um unser anti-imperialistisches Projekt, das sozialistische oder um die Restauration des neoliberalen Kapitalismus, der vollständig den US-amerikanischen Eliten untergeordnet ist und der Venezuela wieder der US-Kontrolle unterwerfen will." Maduro betont gerne, dass die Proteste in seinem Land eine US-Verschwörung seien. Und da passt es für die Sozialisten ins Bild, dass die führende venezolanische Oppositionspolitikerin Maria Corina Machado in diesen Tagen nach Washington gefahren ist. Gesprächstermine, Pressekonferenzen, Werben für den Protest: "Die Regierung übt eine brutale Repression aus. Sie wirkt dabei zunehmend verzweifelt und geschwächt. Wir müssen diese tiefe Krise in Venezuela nach den Regeln der Verfassung lösen. Die Verletzung der Menschenrechte hat ein Niveau erreicht, dass wir nicht ignorieren dürfen." USA: Terror gegen eigene Bevölkerung einstellen Klar ist: Die venezolanische Protestbewegung hat viel Unterstützung in den USA - von dort lebenden Venezolanern, von Menschenrechtsgruppen und auch der Politik. Aber die US-Regierung hält sich bisher eher zurück. Sanktionen gegen Venezuelas Führung will sie zwar nicht ausschließen, hat sie aber auch noch nicht verhängt - trotz entsprechenden Drucks aus dem US-Senat. Außenminister John Kerry hat in den letzten Tagen Maduros Regierung aber mehrfach aufgefordert, die Menschenrechte zu achten und den Terror gegen die Bevölkerung einzustellen, wie er sagte. Notwendig sei ein Dialog zwischen Regierung und Opposition: "Ich glaube, zur Zeit müssen wir am ehesten auf das Engagement der Nachbarländer setzen. Sie sind besorgt über die Entwicklung und können vielleicht einen Dialog in Gang bringen, der nach vorne führt." Aber die Länder der Region sind gespalten. Das wurde gestern auch bei einer Sitzung der Organisation Amerikanischer Staaten in Washington deutlich. Während Panama der Oppositionspolitikerin Machado vorübergehenden seinen Platz überließ, um sie zu Wort kommen zu lassen, sorgten Venezuelas Verbündete wie Nicaragua dafür, dass die Sitzung am Ende nicht-öffentlich abgehalten wurde. Machado sprach so hinter verschlossenen Türen. Ziel: Dialog zwischen Regierung und Opposition aufbauen Immerhin: Das südamerikanische Bündnis UNASUR wird in der kommenden Woche eine Kommission nach Venezuela schicken, die einen Dialog zwischen Regierung und Opposition aufbauen soll. Jeden Tag Proteste. Und der Staat hat die Zügel zuletzt noch einmal angezogen – ein Oppositionsbürgermeister wurde festgenommen, ein anderer zu gut zehn Monaten Haft verurteilt. Vorwurf: Sie hätten gewalttätige Proteste zugelassen und damit ihre Amtspflichten verletzt. Die Folge: Wieder gehen Menschen auf die Straße: "Die Festnahme ist vollkommen illegal. Sie müssen unseren Bürgermeister wieder freilassen." "Wir sind absolut nicht einverstanden. Wir lassen uns keinen neuen Bürgermeister vorsetzen. Wir erklären den zivilen Widerstand." Seit einem Monat bereits sitzt der führende Oppositionspolitiker Leopoldo Lopez im Gefängnis – wegen angeblicher Anstachelung zur Gewalt. Und auch Maria Corina Machado könnte dieses Schicksal drohen. Die Sozialisten wollen die Abgeordnete wegen Landesverrats und Terrorismus vor Gericht bringen – die Immunität muss allerdings noch aufgehoben werden. Machado gibt sich gelassen: "Diese Bürgerbewegung hat Millionen Anführer. Wenn die Regierung glaubt, einzelne attackieren zu können, irrt sie sich. Andere werden nachrücken." Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht Maduros Sozialisten stemmen sich nach 15 Jahren an der Macht gegen den Niedergang, die Wirtschaft des ölreichen Landes liegt am Boden, es herrscht akuter Devisenmangel. Unübersehbar ist aber auch: Die Opposition hat Unterstützung vor allem in der Mittelschicht. Das reicht aber nicht, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Die Regale werden zwar immer leerer, aber die Basis der Chavisten hat Angst, alles zu verlieren, falls die Opposition übernehmen sollte. Die Sozialisten haben viel Geld aus den Erdöleinnahmen des Landes in die Armenviertel geleitet, öffentliche Jobs geschaffen und so nebenbei auch eine Art Klientelsystem aufgebaut. Geld gegen Gefolgschaft. Die Opposition habe es versäumt, dem etwas entgegenzusetzen, sagt die regierungskritische Soziologin Colette Capriles: "Es gibt eine breite Unzufriedenheit in Venezuela - unabhängig von den politischen Präferenzen. Aber es fehlt das Vertrauen in eine Alternative. Die Regierung ist fürchterlich. Aber die Opposition hat bis heute kein gesellschaftliches Angebot gemacht, dass die Leute attraktiv genug finden, um den Chavismus zu ersetzen." Mehr als einen Monat Proteste in Venezuela. Mindestens 30 Menschen sind bisher umgekommen, das Land ist tief zerrissen. Aber ein Ausweg aus der Krise ist bisher nicht in Sicht.
Von Martin Polansky
Seit mehr als einem Monat gehen Venezolaner gegen die sozialistische Regierung auf die Straße. Bei den Protesten sind mindestens 30 Menschen umgekommen. Dem angeschlagenen Präsidenten Nicolas Maduro gelingt es bisher nicht, die Lage im Land zu beruhigen.
"2014-03-22T13:30:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:16.246000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/venezuela-verschwoerung-oder-massenaufstand-100.html
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Rheinland-Pfalz wartet aufs Geld
Für den Flughafen Hahn muss jetzt womöglich ein neuer Käufer gefunden werden. (dpa / Thomas Frey) Die rheinland-pfälzische Landesregierung wollte den defizitären Flughafen Hahn im Hunsrück eigentlich an eine Firma aus China verkaufen. Sie hatte den Käufer bereits ausgesucht. Der rheinland-pfälzische Landtag sollte den Kauf im Juli absegnen. Doch nun zieht die Landesregierung die Notbremse. Der Grund: Der Käufer hat eine Frist zur Vorlage von weiteren Belegen verstreichen lassen. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz: "Die Landesregierung hatte den Käufer daraufhin gemahnt und ihm eine abschließende Frist zur Übersendung von Unterlagen gesetzt, um die Gründe für die Verzögerung überprüfen zu können. Diese Frist ist heute morgen verstrichen. Die Landesregierung hat sich wegen der laut Käufer noch ausstehenden Genehmigung des Geldtransfers an die staatlichen chinesischen Stellen gewandt und prüft derzeit zudem die weiteren rechtlichen Schritte." Käufer spricht von fehlender Genehmigung Nach Angaben des Käufers konnte er noch kein Geld überweisen, weil eine Genehmigung der chinesischen Regierung für den Geldtransfer fehle. Diese erreichte Mainz bis heute nicht. Außerdem hätten bereits Anzahlungen fließen sollen, die auch nicht kamen. Dazu kommt: SWR-Recherchen hatten erhebliche Zweifel an der Seriösität des Hahn-Käufers und dessen Geldgebers aufkommen lassen. Ein Reporter wollte den Investor in Shanghai aufsuchen, doch an der Adresse fand er lediglich einen Reifenhändler und kein großes Bauunternehmen. Als die Recherchen öffentlich wurden, lud das Innenministerium eilig zu einer Pressekonferenz ein. Lewentz verteidigte, dass die ausgewählte Firma aus China den Zuschlag bekommen hat: "In diesem mehrstufigen Verfahren hat die Shanghai Yiqian Trading Company das höchste Kaufpreisangebot unterbreitet. Mit Blick auf die maßgeblichen Vorschriften vor allem auch des EU-Rechts war diesem Unternehmen daher der Zuschlag zu erteilen. Im Rahmen dieses Verfahrens hat [die Unternehmensberatung] KPMG im Auftrag des Landes eine sogenannte Integritätsprüfung durchgeführt. Die Durchführung dieser Integritätsprüfung hat keine Anhaltspunkte für entsprechende Risiken ergeben." Opposition sieht Skandal wie beim Nürburgring Das sieht die CDU-Opposition ganz anders. Sie spricht von einem Skandal. Fraktionsvize Alexander Licht: "Ich halte das für eine Katastrophe. Und alles, was wir befürchtet haben, trifft wirklich Punkt für Punkt ein. Das ist die Blaupause Nürburgring. Frau Dreyer muss jetzt liefern. Sie hat die Transparenz uns versprochen, und Frau Dreyer muss jetzt und nicht irgendwann liefern: Wen hat sie denn überprüft? Was hat sie denn überprüft? Also Desaster hoch drei. Ich bin überzeugt davon, dass das Konsequenzen haben muss. Wie, in welcher Form und für wen, ob in welcher Tragweite, das muss man sich erst einmal genau ansehen." Doch für personelle Konsequenzen sieht Innenminister Lewentz keinen Anlass. Er kündigte an: Der Verkauf des Flughafens Hahn werde fortgesetzt, notfalls mit einem der anderen Bieter. Insgesamt drei Bieter waren interessiert, den Flughafen Hahn zu kaufen. Den Zuschlag bekam die Firma, die am meisten geboten hatte. Die Rede ist von rund 13 Millionen Euro. Ein Verkauf des defizitären Flughafens gilt als unumgänglich. Denn die EU-Kommission hat beschlossen, ab 2024 dürfen Regionalflughäfen nicht mehr subventioniert werden. Die neuesten Entwicklungen um den Flughafen Hahn sind für die Landesregierung peinlich. Sie wecken unangenehme Erinnerungen an die Pleite am Nürburgring.
Von Armin Angele
Eigentlich sollte der Käufer des defizitären Flughafens Frankfurt-Hahn im Hunsrück bis heute einen Teil des Kaufpreises überweisen. Doch es kam kein Geld. Grund sei eine fehlende Genehmigung der chinesischen Behörden. Die rheinland-pfälzische Regierung mahnt das Geld jetzt an. Die Opposition fordert Aufklärung.
"2016-06-29T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:38:16.619000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/flughafen-hahn-rheinland-pfalz-wartet-aufs-geld-100.html
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Filmminister Goebbels
Goebbels war zwar von seinen Vorbildern im sowjetischen und amerikanischen Film beeindruckt, doch letztendlich war er von der Idee beseelt, einen faschistischen Film zu schaffen. Allerdings wußte er nur, was dieser nicht sein sollte. Immer wieder wandte er sich deshalb gegen SA-Filme, die - wie er kritisierte - "Propaganda mit dem Holzhammer machen". Selbst der Film "SA-Mann Brand", immerhin im Juni 1933 während einer großen Galapremiere in Anwesenheit Hitlers uraufgeführt, konnte ihn nicht zufriedenstellen. Nein, Goebbels wollte den Propagandafilm, der sich an ästhetischen und technischen Qualitäten orientiert. Er wollte einen Film, der nicht einfach, so Goebbels, das "Parteiprogramm dialogisiert", sondern einen Stoff wirklich gestaltet. Im faschistischen Italien waren keine Vorbilder zu sehen. Daß aber gerade die ideologischen Gegner auf diesem Gebiet Erstaunliches geleistet hatten, ließ den Filmminister nicht ruhen. Er träumte vom "nationalsozialistischen Potemkin". Er träumte von einer deutschen Filmindustrie, die es mit Hollywood aufnimmt und zur "beherrschenden kulturellen Weltmacht" wird. Heute wissen wir, daß die deutsche Filmindustrie unter dem gebieterischen Einfluß von Goebbels allenfalls Mittelmaß erzeugt hat. Dies ist die Geschichte, die uns Felix Moeller in seiner umfangreichen Abhandlung "Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich" erzählt. Um es gleich vorwegzunehmen: Aus dem faschistischen Film, der sich mit den innovativen Filmen eines Eisenstein, Wertow, Pudowkin oder Dowshenko messen könnte, ist nichts geworden. Statt dessen: eine Handvoll "nationaler Großfilme" wie der antisemitische Hetzfilm "Jud Süss", der Burenfilm "Ohm Krüger", der Friedrich-Film "Der große König". Und schließlich, nicht zu vergessen, "Kolberg": die letzte militärisch-cineastische Großoffensive des Nationalsozialismus. Mit diesem Film über den Widerstand der pommerschen Hafenstadt Kolberg gegen die napoleonischen Truppen wollte Goebbels, wie Felix Moeller betont, den Film zum Vehikel des "totalen Krieges" machen. Zum Katalysator des deutschen Widerstands und zum Mittel der "geistigen Kriegsführung". Für Goebbels war dieser Film die Verlängerung der militärischen Kriegsführung in die Kinosäle. Niemals standen einem deutschen Regisseur mehr Ressourcen zur Verfügung als Veit Harlan für "Kolberg": Laut offizieller Anordnung des Ministers sollten die Dienststellen von Wehrmacht, Staat und Partei ihm jeden Wunsch erfüllen. Deswegen konnte Harlan im Film allein 187.000 Soldaten-Statisten aufmarschieren lassen. Doch der am 30. Januar 1945, dem 13. Jahrestag der Machtergreifung, uraufgeführte Film konnte die erhoffte Massenmobilisierung nicht mehr in Gang setzen. Einer der interessantesten Aspekte von Moellers materialreicher Studie bildet die Filmproduktion in den Kriegsjahren. Zwar wurden nun weit weniger Filme hergestellt, und auch ausländische Produktionen kamen weniger zur Aufführung. Dennoch konnte der Propagandaminister im kriegszerstörten Deutschland eine hocherfreuliche Meldung verkünden: "Die Filmwirtschaft blüht trotz des Krieges in unvorstellbarer Weise." Noch Ende März 1944 schwärmte er: "Die Filmspielergebnisse sind in diesem Monat weiter gestiegen, trotz des Luftkrieges. Der Film ist einfach nicht totzukriegen." Es ist unbestritten: Goebbels setzte auf die Wirkungsmöglichkeiten des neuen Mediums. Zwar spielte der politische Film, trotz eines Veit Harlan und Karl Ritter, im Dritten Reich kaum eine Rolle, doch die politische Funktion des Filmes war von zentraler Bedeutung. Goebbels schien durchaus vom Stalin-Regime gelernt zu haben, das seit dem ersten Fünf-Jahres-Plan hauptsächlich "Movies for the Millions" in die Kinos brachte. Denn auch die deutschen Kinos brachten vornehmlich seichte Unterhaltungsfilme, die dem Ablenkungsbedürfnis der Zuschauer Rechnung tragen sollten. So kam es, daß während des Kriegsbeginns, wie Moeller berichtet, für den Film "Mutterliebe" eine enorme Propagandakampagne gestartet wurde. Und gar im Februar 1943, nach dem Stalingrad-Desaster, konnten sich die deutschen Kinogänger an Filmen wie "Geliebte Welt", "Liebe kann lügen" und "Hab mich lieb" erfreuen. Trotz Hitlers Forderung nach heroischen Soldatenfilmen ist auch nach Kriegsbeginn der anspruchsvolle politische Film nur in Konturen sichtbar. Dennoch darf der Propagandafaktor der Wochenschauen nicht unterschätzt werden. Immerhin standen den Abteilungen der Wehrmacht "Propagandakompanien" aus Fotografen, Journalisten, Kameraleuten und Rundfunksprecher zur Seite. Allein 14.000 Mitglieder dieser PKs waren dafür verantwortlich, daß der Krieg zum medialen Ereignis wurde. Einen wichtigen Hinweis hat Felix Moeller in seiner allzu historisch ausgerichteten Studie übersehen. In seinem Pariser Exil schrieb Walter Benjamin 1935, die Nazis hätten die Kontrollmechanismen des Films perfektioniert, indem sie sich seine "Schockwirkung" zunutze machten. Denn diese fördere nicht die Konzentration aufs Kunstwerk, sondern das Zerstreuungsbedürfnis der Massen. Zu einer Zeit als der "Blitzkrieg" in vollem Gange war, träumte Goebbels, auch die Wochenschauen sollten "wie ein Blitz einschlagen".
Klaus Englert
Wer weiß schon, daß Joseph Goebbels als radikaler Antibolschewist ein großer Fan des russischen Revolutionskinos war? Ein großer Bewunderer etwa von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“? Ebenso überraschend ist die Tatsache, daß der Propaganda- und Filmminister das Hollywood-Epos „Vom Winde verweht“ und die sozialkritische Steinbeck-Verfilmung „Früchte des Zorns“ über den grünen Klee gelobt hat. Bei all diesem Lob drängt sich zwangsläufig die Frage auf: Wo bleibt denn hier das nationalsozialistische Feindbild?
"1998-08-12T16:10:00+02:00"
"2020-06-07T03:38:59.272000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/filmminister-goebbels-100.html
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Nicht das Ende im Kampf gegen Armut
Gerwald Herter: Rückwirkend zum 1. Januar 5 Euro monatlich mehr für die etwa 4,7 Millionen erwachsenen Hartz IV-Bezieher in Deutschland, nochmals 3 Euro mehr dann Anfang nächsten Jahres, außerdem mehr Unterstützung für Kinder und – das hatte die SPD durchgesetzt – Mindestlöhne zum Beispiel für Zeitarbeiter. Bei Weitem nicht jeder, der bedürftig scheint, wird von diesen Verbesserungen profitieren, die zwischen Opposition und Koalition so mühsam ausgehandelt wurden.Ich bin jetzt mit dem Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), mit Michael Sommer verbunden. Guten Morgen, Herr Sommer.Michael Sommer: Guten Morgen, Herr Herter.Herter: Herr Sommer, erschreckend viele Menschen in Deutschland Arbeiten, ohne dass sie davon anständig leben können? Die SPD hat in den Verhandlungen über die Hartz IV-Nachbesserung bestimmte Forderungen durchgesetzt. Dazu gehören auch Mindestlöhne, aber nur in bestimmten Bereichen. Hätte die SPD aus Ihrer Sicht mehr herausholen müssen?Sommer: Ja die Frage wäre dann natürlich gewesen, ob sie den Kompromiss insgesamt scheitern lässt. Man darf nicht vergessen, es handelt sich ja um ein Vermittlungsverfahren und man kann in einem Vermittlungsverfahren nicht die Wahlergebnisse zum Beispiel der Bundestagswahl von 2009 rückgängig machen. Auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sind ja nicht so, dass die SPD oder Rot-Grün dort eine gestalterische Mehrheit hätte. Von daher ist das immer eine relative Frage. Es hat kleine Fortschritte gegeben, aber dass das jetzt heißt "Ende gut, alles gut", das kann ich überhaupt nicht teilen. Das darf auch nicht das Ende sein im Kampf gegen Armut in Deutschland.Herter: Also weitere Forderungen hätten dazu geführt, dass Hartz IV-Empfänger noch lange leer ausgehen, und dieser Preis wäre Ihnen zu hoch gewesen?Sommer: Na das weiß ich nicht, ob das so gewesen wäre. Das ist dann auch eine Frage, die müssen dann die Verhandlungsführer entscheiden. Wir haben ja nicht am Verhandlungstisch gesessen. Wenn Sie das Ergebnis materiell bewerten, dann können Sie sagen, für die eigentlichen Regelsatzfragen ist viel zu wenig herausgekommen, das Bildungspaket, das kann sich, glaube ich, sehen lassen, da haben beide Verhandlungsführerinnen sicherlich recht. Aber was die Frage des Kampfes gegen Armut anbetrifft, da gibt es Minischritte im Bereich der Mindestlöhne. Den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gibt es nicht. Sicherlich: für 1,2 Millionen Menschen gibt es Verbesserungen, ohne Frage, aber eben auch nur bedingt. Und die große Frage des Missbrauchs der Leiharbeit und damit ein dauerhaftes Programm zum Lohndumping in Deutschland insbesondere bei industrieller und Dienstleistungsarbeit ist nicht beantwortet worden. Also von daher ist das Ergebnis bei Weitem nicht zum Jubeln, sondern man muss weiter kämpfen und wir werden das auch tun.Herter: Wird diese Einigung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben? Die Grünen sagen Nein, die SPD ist sich da nicht ganz sicher. Weiß der DGB, ob die Sache in Karlsruhe noch scheitern kann?Sommer: Na ja, man wird erst mal sehen müssen, ob überhaupt jemand eine Normenkontrollklage einreicht, wie zum Beispiel die Grünen. Das müssen die jetzt selber entscheiden. Ich glaube, wenn man sich das alte Urteil des Bundesverfassungsgerichts anguckt, was ja dem ganzen Kompromiss zugrunde liegt oder dem Ringen um einen Kompromiss, dann haben die damals gesagt, es geht ja nicht nur um die Berechnung, sondern es geht darum, dass ein Regelsatz menschenwürdig sein muss, und dann können Sie sich auch angesichts des Beitrages, den Sie eben selber gehört haben, über die Situation armer Menschen in Deutschland, die Frage stellen, ob das ein menschenwürdiges Leben ist Ja oder Nein und ob der Staat dort mehr zahlen muss. Ich glaube, dass die betroffenen Menschen, die Hartz IV-Empfänger, wesentlich mehr erwartet haben, und die sind jetzt enttäuscht worden. Ob fünf oder acht Euro, das ist in deren Augen mit Sicherheit immer zu wenig.Herter: Sie, der DGB will es anderen überlassen, in Karlsruhe tätig zu werden?Sommer: Wir müssen sehen, ob Menschen klagen. Wenn Menschen bei uns Mitglied sind und Rechtsschutz beantragen, dann werden sie auch diesen Rechtsschutz bekommen. Aber wir sind jetzt erst mal nicht im Klagen drin, wir sind übrigens auch nicht in erster Linie eine Sozialorganisation, sondern die Organisation der Arbeit. Von daher werden wir sehen. Für uns ist entscheidend, dass wir Fortschritte machen müssten insgesamt im Kampf gegen Armut. Je mehr Menschen anständige Löhne haben, je mehr Menschen anständige Arbeit haben, desto weniger sind sie aufs Sozialamt oder auf Hartz IV angewiesen, und das wäre die eigentliche Lösung des Problems, nicht die Frage, ob man die Regelsätze weiter erhöht, um welchen Satz auch immer.Herter: Sie hören den Deutschlandfunk, DGB-Chef Michael Sommer im Interview über den Hartz-IV-Kompromiss und dazu gleich die Wahlen in Hamburg. – Herr Sommer, mit Olaf Scholz hat ein Mann in Hamburg die absolute Mehrheit für die SPD geholt, der neben Hartz selbst wohl wie kein anderer für die Hartz-IV-Reformen stand. Können Sie sich darüber freuen?Sommer: Na ja, erst mal: Das Hamburger Wahlergebnis zeigt, dass Bewegung in diesem Land drin ist. Das zeigt übrigens auch ein zweites, dass man Wahlen in der Mitte gewinnt, aber bei den Stammwählern verliert. Diese Erfahrung hat die SPD 2009 gemacht und diese Erfahrung hat jetzt Herr Ahlhaus und die CDU in Hamburg gemacht. Wenn man seine eigene Klientel bitter enttäuscht, dann werden die auch nicht kommen. Das ist ein Punkt, den man bei allem Reden, was ich jetzt so höre, von der Verbindung von wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Verantwortung immer wieder hört. Wirtschaftliche Vernunft wäre tatsächlich Armut zu bekämpfen, den Industriestandort Deutschland zu stärken und gleichzeitig für die Menschen anständige Löhne und gute Arbeitsbedingungen zu sichern. Das wäre wirtschaftliche Vernunft, daran werden wir dann auch Olaf Scholz messen. Ich freue mich erst mal, dass es überhaupt wieder eine politische Bewegung gibt, auch in Richtung auf mehr soziale Verantwortung, aber was ich da teilweise an Kommentaren höre, macht mich dann schon sehr nachdenklich, denn ich frage mich immer, wenn da dann die sogenannte wirtschaftliche Vernunft gefeiert wird, was damit gemeint ist, denn insbesondere viele wirtschaftspolitische Maßnahmen der rot-grünen Koalition kann man ja nicht wirklich als vernünftig bezeichnen, von der Zulassung von Hedgefonds bis zu Veräußerungsgewinnen, bis zur Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen, die ja zur Auflösung, sagen wir mal, der sogenannten Deutschland AG führten, und Deutschland in der engen Verbindung von Kapital und Industrie hat ja nicht gerade dazu geführt, dass es diesem Land besser gegangen ist, und die Einführung des Niedriglohnsektors auch nicht. Deswegen: Ich freue mich, ja, wenn aus dem Wahlergebnis jetzt auch die richtigen Lehren gezogen werden, nämlich auch insbesondere Politik für Arbeit gemacht wird.Herter: Sie hoffen also, dass die SPD nicht in Versuchung gerät, ihren Kurs zu ändern und etwas weiter nach rechts zu gehen, so wie Olaf Scholz das in Hamburg gemacht hat?Sommer: Ach wissen Sie, ich habe ein bisschen Schwierigkeiten mit dem Begriff rechts oder links. Menschen wie ich waren in den 70er-Jahren in der SPD rechts, wir gelten heute als links. Ich bin mehr dafür, dass man eine Politik macht für die Menschen, die arbeiten und die Arbeit suchen. Dazu gehört jetzt vordringlich übrigens die Einführung eines gleichen Lohns für gleiche Arbeit bei Leiharbeitern. Das ist eine der zentralen Fragen. Da sind wir übrigens bei den Verhandlungen überhaupt nicht weitergekommen aufgrund der Blockadehaltung der FDP, und da muss dringend nachgebessert werden. Wir werden dort auch nachsetzen, weil das die zentrale Frage ist, ob wir in Deutschland weiterhin anständige Löhne bezahlen, und zwar in allen Branchen, oder nicht.Herter: Werden die Proteste und Forderungen der Gewerkschaften in diesem Frühjahr hörbarer sein, lauter sein als im letzten Herbst?Sommer: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das hängt immer natürlich auch vom Engagement der Menschen ab. Wir werden jetzt morgen und übermorgen vor allen Dingen, also am Donnerstag, einen großen Aktionstag gegen den Missbrauch von Leiharbeit in Deutschlands Betrieben und auf Deutschlands Plätzen machen. Ich glaube, da werden wir hörbar sein. Wir werden insgesamt den Druck verstärken müssen, um zu politischen Fortschritten zu kommen, denn wir haben auch jetzt gesehen, wir waren ziemlich weit in der Diskussion auch zum Thema doch dem Schritt gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch in der Leiharbeit näher zu kommen. Zum Schluss ist es am Veto der FDP gescheitert, der Druck hat offensichtlich nicht ausgereicht und ich kann die Kolleginnen und Kollegen nur auffordern, mit uns gemeinsam den Druck zu erhöhen.Herter: Das war der DGB-Vorsitzende Michael Sommer über den Hartz IV-Kompromiss und den Wahlsieg der SPD in Hamburg. Herr Sommer, danke für dieses Gespräch und schönen Tag.Sommer: Bitte schön!
Michael Sommer im Gespräch mit Gerwald Herter
In seinen Augen ist der Hartz-IV-Kompromiss nicht ausreichend: DGB-Chef Michael Sommer sieht zwar kleine Fortschritte wie Mindestlöhne für weitere Branchen, vor allem die Frage des Missbrauchs der Leiharbeit sei aber noch nicht beantwortet.
"2011-02-22T08:10:00+01:00"
"2020-02-04T02:19:15.147000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nicht-das-ende-im-kampf-gegen-armut-100.html
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"The Buzzard" bereitet aktuelle Diskussionen auf
Die Gründer von "The Buzzard" Dario Nassal und Felix Friedrich. (Deutschlandradio / Julian Mathieu) Plagwitz im Leipziger Westen. In einem ehemaligen Speicher direkt am Karl-Heine-Kanal befindet sich auf drei Stockwerken das Gründerzentrum "Social Impact Lab". Es ist derzeit auch das Hauptquartier von thebuzzard.org. Gründer Dario Nassal und Felix Friedrich, beide Mitte 20, sind Stipendiaten des Labs, sie profitieren vom Netzwerk, bekommen Coachings und die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Im Gruppenraum im ersten Stock zeigt Felix Friedrich die Website. Das Prinzip: Wie der namensgebende Vogel, der Bussard, behält das Team von "the Buzzard" den Überblick über die Medienvielfalt im Internet, aus denen es Beiträge aussucht und sie den Nutzern präsentiert. Einordnung von Quellen zum besseren Verständnis "Wenn man sich bei´the Buzzard´, also dem Debattenportal, was wir machen, einloggt, dann kommt man erstmal auf den Debattennavigator. Da können unsere Nutzer direkt die verschiedenen Debatten, die gerade aktuell sind, verfolgen, und können zum Beispiel unser aktuelles Thema zum Familiennachzug einsehen. Da ist die Frage: Gibt es gute Gründe, den Familiennachzug zu verbieten? Und dann sieht man hier unterschiedliche Argumente." Zehn Artikel pro Debatte. Grün umrandeten Kästen mit einer bejahenden Meinung stehen rot umrandete mit einer ablehnenden gegenüber. Ausgewählt aus Tageszeitungen wie der "Süddeutschen Zeitung" oder "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", aber auch aus dem Magazin von Pro Asyl und einem Menschenrechtsblog. Jeden Text haben die Macher von Buzzard zusammengefasst und begründet, warum sie ihn ausgewählt haben. Außerdem die Quellen eingeordnet, unter ihnen regelmäßig auch ausländische. Zu den Quellen gehört beim Thema Familiennachzug auch "Tichys Einblick", ein Blog, das sich selbst als liberal-konservativ (*) bezeichnet, von Beobachtern aber auch als rechtspopulistisch eingeordnet wird. Positionen werden gegenübergestellt Dario Nassal: "Zum Beispiel auch Positionen vom rechten Rand nehmen wir auch mit auf. Um zu zeigen: sie sind Teil der Debatte. Zum Beispiel hier wäre eine dieser Positionen, die ein bisschen konfrontativ ist, 'Wir holen uns nur Arbeitslose ins Land'. Das sind Leute am rechten Rand der CDU, aber auch in der AfD, die so argumentieren. Und dann sieht man in diesem Beitrag, wie begründen Menschen tatsächlich diesen Punkt? Dem gegenübergestellt ist dann das Argument, ein Verbot des Familiennachzugs ist unmenschlich. Darin wird erklärt, was es eigentlich für reale Konsequenzen hat für ganz viele Familien. Was das bedeutet, wenn ein Teil der Familie in Griechenland ist. In einem Auffanglager und die anderen hier in Berlin warten müssen und nicht wissen, wann sie sich sehen können." Einen Service wollen sie denjenigen liefern, die sich umfassend informieren und auch Gegenargumente hören wollen. Die in der Fake-News-Debatte ihre Filterblase verlassen wollen. Zum Lesen morgens in der Bahn oder nach der Arbeit auf der Couch. Werbefrei, für 8,95 Euro im Monat. Ein Basis-Zugang ist kostenlos. 60 bis 70 Arbeitsstunden investiere das Team von "the Buzzard" für die wöchentliche Recherche zu einem Thema. Außer den beiden Gründern arbeiten noch vier Frauen und drei Männer für die Plattform, die es so erst seit dem vergangenen Sommer gibt. Entstanden aus einer Idee der beiden Studienfreunde Nassal und Friedrich, mit Preisen ausgezeichnet und unterstützt u.a. vom gemeinnützigen Journalismusnetzwerk "VOCER"und vom "Media Lab Bayern". Dort haben sie die ersten Monate ihr Projekt aufgebaut, bevor sie aus München nach Sachsen gegangen sind. "the Buzzard" will finanziell unabhängig werden "Wir wollten nach Leipzig gehen, weil wir die Stadt sehr sehr attraktiv finden, weil es ein schöner Ort ist um zu leben, weil es gleichzeitig viel günstiger ist als München, weil viel mehr Leute hier sind, die offen sind für neue Ideen und die diese Startup-Denke spannend finden, die Lust haben, auch bei so einem Projekt mitzuarbeiten und es ist näher an Berlin, näher an den Medienunternehmen dort", sagt Dario Nassal. Zur harten Realität eines frühen Startups gehört auch, dass es irgendwann darum gehen muss, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Die "Google Digital News Initiative" unterstützt mit 50.000 Euro beim Entwickeln einer Suchmaschine für Meinungsartikel, an der bei "the Buzzard" parallel gearbeitet wird. Vor allem aber geht es den Gründern jetzt darum, weitere Unterstützer zu finden und die Zahl der Abonnenten zu steigern. Irgendwann, so der Wunsch, sollen dann täglich Themen aufbereitet werden. Und dann auch auf Englisch, um auch Länder mit bedrohten Presselandschaften zu erreichen. (*) In der ursprünglichen Fassung des Textes stand hier, der Blog bezeichne sich als nationalkonservativ. Das trifft nicht zu. Die Website bezeichnet sich als "liberal-konservativ".
Von Bastian Brandau
Das Leipziger Medienstartup „thebuzzard.org“ will Lesern einen Service bieten, die sich umfassend informieren und auch Gegenargumente hören wollen. Auf dem Debattenportal stellen die Gründer dafür Texte zu kontroversen Themen zusammen.
"2018-01-29T15:35:00+01:00"
"2020-01-27T17:36:58.653000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/neues-onlinemagazin-the-buzzard-bereitet-aktuelle-100.html
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Die neue Spielwiese des subversiven Geistes
Dieter Hildebrandt albert herum. Er spricht Schlesisch - seinen Heimatdialekt. Das klinge etwas "wie besoffen", meint einer am Set. Zwei Kameramänner, eine Tonfrau, ein Redakteur - alle um die 30 - bereiten die nächste Szene vor. Der 85-jährige Hildebrandt will etwas zur deutschen Krisenpolitik sagen:"Deutsche sind wieder wahnsinnig beliebt. Es kommt mir jedenfalls so vor, wie nach dem Krieg. Da hab ich mir gesagt, ich fahre nicht mehr ins Ausland. Hat keinen Sinn. Aber: Wer war das?"Das Telefon klingelt. Stefan Hanitzsch drückt schnell weg. Der 35-Jährige ist Redakteur, Planer, Kopf des "Störsenders" - und er wohnt hier. Genauer gesagt dreht er die Sendung im Arbeitszimmer seines Vaters - Dieter Hanitzsch. Der ist in Bayern ein bekannter Karikaturist und seit den 60er-Jahren enger Freund von Kabarettist Hildebrandt. Beide Familien wohnen hier – in einem Münchner Vorort nicht mal eine Autominute voneinander entfernt. Sie kennen sich gut, und als Stefan mit Hildebrandt Ende 2011 über den Occupy-Protest spricht, entsteht die Idee für Störsender.tv."Ich, als der Alte sagte mit Vorbehalten: Naja, da müsst ihr mich mit durchschleppen. Und da sagte er, der Stefan, das würde er übernehmen. Wichtig wäre nur das, was man sagt, womit er recht hat. Und dann so quasi als altes Gesicht, das man kennt, vielleicht eine höhere Einklickquote hat."Dieter Hildebrandt entdeckt das Internet gerade erst. Er hat keinen Facebook- oder Twitter-Account, aber das Konzept einer selbst produzierten Heim-Satire-Sendung fürs Internet gefiel ihm."Dass es improvisiert ist, weil ich dem Improvisierten immer nahe gestanden habe. Mich haben immer diese großen Inszenierungen gestört. Wir könnten auch ganz was anderes gemacht haben, als das, was wir heute vorgehabt haben. Ich habe nämlich noch ein paar andere Texte mit gehabt. Und wenn der nicht gefallen hätte, hätte ich einen ganz anderen gemacht.""Finanz-Casino-Kapitalismus" ist das Oberthema der ersten Folge. Die Moderation übernimmt Stefan Hanitzsch selbst – aus einer Imbissbude. Dort führt er ein langes Interview mit dem Finanzwissenschaftler Helge Peukert und zwischendurch folgen kleine Einspieler. Zum Beispiel mit der Cartoonfigur Angela Merkel."Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Haben wir schon genug Steuergeld in Bad Banks verbrannt, damit die privaten Verluste möglichst gering bleiben? In jeder Krise geht es voran, durch teuren Rat vom Ackermann."Die nächste Folge kümmert sich um die Liberalisierung im europäischen Wassersektor. Produzent Stefan Hanitzsch will mit dem zweiwöchigen Magazin Kabarett, Journalismus, Wissenschaft und soziales Engagement verbinden."Diese Mischung gibt es eben nicht. Das ist überhaupt die Idee, dass sich mehr Menschen engagieren. Empört euch und nicht nur das. Engagiert euch auch."Auch die Künstler engagieren sich. Sie unterstützen Störsender.tv bisher ohne eine Gage zu erhalten. Für den bayrischen Kabarettisten Sigi Zimmerschied ist es die Freiheit eigene visuelle Ideen umzusetzen, ohne einen Fernseh-Redakteur überzeugen zu müssen. Auch Hildebrandts Freunde Roger Willemsen und Konstantin Wecker machen mit:"Das Lächeln meiner Kanzlerin, es raubt mir den Verstand. Wenn sie parliert im Parliament, regiert mit zarter Hand. Dann weiß ich, ganz egal was sie politisch fabuliert,wir werden von dem schönsten Lächeln dieser Welt regiert."Störenfried Ecco Meineke hat für das Online-Magazin extra mit seiner Big Band Brechts berühmten Titel aus der Dreigroschenoper "Mackie Messer" umgewandelt in "Harry Hedgefonds"."Harry Hedgefonds - der macht Wetten, und die klappen oder nicht. Und das Geld steht nur auf Zetteln. Und die Zettel sieht man nicht.""Liebe Kinder, es war einmal ein holder Knabe, der hieß Jörg Asmussen. Und war nicht nur jung und schön, er war auch Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Peer Steinbrück und als solcher ein wandelndes Beispiel dafür, warum in Staatssekretär das Wort Sekret drin steckt."Kabarettist HG. Butzko liest sein Märchen über Jörg Asmussen. Scharf, ironisch, analytisch, oft heiter anarchisch - so kommt die erste Folge Störsender.tv daher. Etwa 2000 zahlende Abonnenten hat das Online-Magazin zum Start. Sie erhalten die Sendung immer drei Tage, bevor sie dann frei für alle im Netz landet. Ein passender Ort für die neue Spielwiese des subversiven Geistes."Gut Danke. Ich bin fertig."
Von Andre Zantow
Inszenierungen hätten ihn schon immer gestört, er sei eher für das Improvisierte. Das sagt Dieter Hildebrandt. Mit 85 Jahren entdeckt Deutschlands scharfzüngiger Wahrheitssucher nun das Internet für sich und rüttelt mit Störsender.tv die Netzgemeinde auf.
"2013-04-02T15:05:00+02:00"
"2020-02-01T16:13:05.055000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-neue-spielwiese-des-subversiven-geistes-100.html
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"Fordern Reduktion des absoluten Ressourcenverbrauchs"
Der Erdüberlastungstag variiert von Jahr zu Jahr . An diesem Tag sind die gesamten natürlichen und erneuerbaren Ressourcen wie Wasser, Brennmaterial, Bauholz und Getreide für das jeweilige Jahr aufgebraucht. (imago/epd) Susanne Kuhlmann: Fisch, Wald, Flächen zum Beackern und zum Bebauen - bis heute, also nach achteinhalb Monaten, haben wir so viel davon beansprucht, wie die Natur in einem Jahr bereitstellen kann. Ab jetzt leben wir also auf Pump. Wie viel Fläche, Ackerland und Lebewesen benötigen wir fürs Leben und wirtschaften? Wie viel kann die Natur neu aufbauen und wie viel Abfall und Emissionen verkraftet sie? Das berechnet das Global Footprint Network jedes Jahr und errechnet daraus, auf welches Datum der Erdüberlastungstag fällt. - Am Telefon in Berlin ist Julia Otten von der Umweltorganisation Germanwatch. Guten Tag, Frau Otten. Julia Otten: Hallo! Guten Tag. Kuhlmann: Wenn wir das Bild vom ökologischen Fußabdruck aufgreifen, in welchem Bereich ist der denn bei uns am größten? Otten: Der Erdüberlastungstag ist in diesem Jahr sogar sechs Tage früher als 2014, und das liegt, wenn man sich den Fußabdruck Deutschlands anschaut, vor allem an dem vergleichsweise hohen CO2-Ausstoß in den Bereichen Energie, Verkehr, Landwirtschaft und dem hohen Verbrauch an Ressourcen für die Landwirtschaft, besonders für die Fleischproduktion. Die Weltbevölkerung wächst ja. Wir müssen daher unseren Flächenverbrauch dringend reduzieren. Vor allem aber müssen wir diese globalen Umweltgrenzen konsequent in die deutsche Wirtschafts- und Rohstoffpolitik einbeziehen. Das heißt, die Bundesregierung setzt derzeit vor allem viel auf Ressourcen-Effizienz in ihren Programmen und Maßnahmen. Das ist wichtig, reicht aber aus unserer Sicht nicht aus. Wir brauchen verbindliche Maßnahmen und Ziele zur Reduktion des absoluten Ressourcenverbrauchs. Kuhlmann: Wald, Weideland, Fischgründe und bebaute Flächen - auch hier verbrauchen wir mehr als in all diesen Bereichen in einem Jahr nachwachsen kann. Wie stehen wir denn mit unserem Lebensstil im europäischen und vor allem weltweiten Vergleich dar? Otten: Die Weltbevölkerung insgesamt verbraucht derzeit 1,5 Erden, um den Bedarf zu decken. Würden alle Länder weltweit so wirtschaften und leben, wie wir das in Deutschland machen, wären sogar mehr als zweieinhalb Planeten notwendig. Als Vergleich: China verbraucht ungefähr 1,4 Erden, Indien 0,5, also eine halbe Erde, die USA 3,9, relativ weit vorne und viel, Tansania ungefähr 0,7, und das zeigt uns einfach, dass Deutschland hier sehr weit vorne im obersten Viertel aller Länder weltweit liegt. Kuhlmann: Viele Länder sind ja noch in der Entwicklung begriffen. Die Situation dort könnte sich also ändern. Kann dieser Erdüberlastungstag denn eigentlich mehr bewirken, als uns einmal im Jahr aufzurütteln? Otten: Wir haben gerade eine Aktion in Berlin gemacht vor dem Bundeskanzleramt, die natürlich aufrütteln soll. Wir haben die Erde als Trinkpäckchen dargestellt unter dem Motto "leer - die nächste bitte". Das ist natürlich provokant gemeint. Aber es ist für uns ein ganz wichtiger Anlass, um mit der Forderung nach einer Reduktion des absoluten Ressourcen-Verbrauchs gehört zu werden. Wir machen das in einem breiten Bündnis mit der Bundjugend des Naju, vielen Verbindungen und anderen NGOs, und ich denke, die Parlamentarier(innen) und Entscheidungsträger(innen) aus dem Wirtschaftsministerium und der Bundesregierung nehmen diese Forderung wahr und ernst, je breiter wir es schaffen, sie in die Öffentlichkeit und in den Medien zu diskutieren. Kuhlmann: Können auch Einzelne etwas dazu beitragen? Otten: Ja klar. Das ist auch wichtig. Das betrifft ja unseren Lebensstil insgesamt, dass wir uns fragen, wie ernähren wir uns eigentlich, wie kann man da den Flächenverbrauch reduzieren. Das heißt, insbesondere, wie viel Fleisch essen wir in der Woche, wie bewegen wir uns eigentlich fort, wie können wir uns umweltfreundlich fortbewegen, können wir weniger fliegen und so weiter. Kuhlmann: Wir leben über unsere Verhältnisse, was den Verbrauch von Ressourcen und die Emissionen und Abfälle betrifft. Zum Erdüberlastungstag war das ein Gespräch mit Julia Otten von Germanwatch. Vielen Dank nach Berlin. Otten: Danke schön. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julia Otten im Gespräch mit Susanne Kuhlmann
Ab heute verbrauchen wir in 2015 mehr Rohstoffe, als die Natur in einem Jahr liefert. Nichtregierungsorganisationen mahnen an diesem Erdüberlastungstag unseren Ressourcenumgang an. Wir könnten beispielsweise unsere Ernährung hinterfragen oder mehr auf umweltfreundliche Fortbewegungsmittel setzen, sagte Julia Otten von Germanwatch.
"2015-08-13T11:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:53:31.188000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/erdueberlastungstag-fordern-reduktion-des-absoluten-100.html
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"FCKW ist weltweit auf fast Null reduziert"
Messung in der Antarktis: Das Ozonloch bildet sich jeden Frühling über dem antarktischen Kontinent und schrumpft wieder. (dpa / picture alliance / Stefan Christmann) Paul Vorreiter: Heute vor 29 Jahren wurde Umweltschutzgeschichte geschrieben. Im Montreal-Protokoll einigten sich rund 200 Staaten, FCKW, also Flurchlorkohlenwasserstoffe, die wir aus Kühlschränken oder Spraydosen kannten, langfristig zu verbannen, denn sie gelten als Hauptverursacher für die Entstehung des Ozonlochs. Immer wieder war in den letzten Jahren davon die Rede, dass das Ozonloch über der Antarktis sichtbar kleiner wird. Im vergangenen Jahr dagegen wurde gemeldet, dass es sich wieder vergrößert habe. Wie es nun um das Ozonloch steht, darüber habe ich vor der Sendung mit Jens-Uwe Grooß gesprochen. Er ist Ozon-Experte am Forschungszentrum Jülich. - Das Ozonloch schrumpft, es dehnt sich wieder aus, was stimmt denn nun? Jens-Uwe Grooß: Das Ozonloch bildet sich jeden Frühling über dem antarktischen Kontinent und schrumpft wieder, und die Größe des Ozonlochs ist variabel. Im letzten Winter hatten wir ja denn das Pech, dass zusätzlich noch ein Vulkanausbruch war, der da mitgewirkt hat. Das war halt ein Ausnahmejahr, wo das Ozonloch mal etwas größer war. Aber im Prinzip ist es so, dass wir erwarten, dass dadurch, dass weniger FCKW, weniger Chlor in der Atmosphäre ist, das Ozonloch (*) langsam zurückgeht. Langsam heißt natürlich, das dauert noch 50 Jahre oder so was. Vorreiter: FCKW, die gelten ja als Hauptverursacher zur Bildung des Ozonlochs. Jetzt konnten wir uns derer weitgehend entledigen. Gibt es denn aktuell neue Stoffe oder Ersatzstoffe, die sich ähnlich schädlich auf die Ozonschicht auswirken? Grooß: Ja. Zu den FCKW gibt es auch noch die Halone, die Brom-Verbindungen, die zum Beispiel in Feuerlöschern verwendet wurden. Die sind aber auch durch das Montrealer Protokoll reguliert. Aber die FCKW sind schon die Hauptverursacher des Ozonlochs. Vorreiter: Das heißt, es gibt auch keine Gefahr, die jetzt aus anderen Ersatzstoffen in dieser Form für das Ozonloch ausgeht? Grooß: Es gibt eine Gefahr, wenn Sie so wollen, von den Ersatzstoffen. Die ist aber nicht für das Ozonloch, sondern für das Klima. Die Flurkohlenstoffe ohne Chlor, die haben eine sehr hohe Klimawirksamkeit. Die ist deutlich höher als CO2. Und deswegen versucht man, die auch wieder langfristig loszuwerden. Aber für das Ozonloch sind wirklich die Hauptverursacher die FCKW. Alte Kühlgeräte müssen fachgerecht entsorgt werden Vorreiter: Gibt es denn unterschiedliche Verantwortlichkeiten unter den Ländern, die dieses Montreal-Abkommen geschlossen haben? Was muss denn da noch getan werden, damit das Ozonloch endgültig verschwindet? Grooß: Was schon weitgehend getan ist, ist, dass die Emission, die Produktion von FCKW weltweit auf null fast reduziert ist. Es gibt allerdings noch die sogenannten Banks, also irgendwelche Kühlschränke, die auf Müllhalden schlummern, wo man schauen muss, dass die FCKW nicht dort irgendwann, wenn sie durchgerostet sind, entweichen, sondern dass das alles fachgerecht entsorgt wird, so dass sie nicht in die Atmosphäre gelangen. Ansonsten muss man eigentlich nur warten, bis die FCKW wieder aus der Atmosphäre verschwunden sind. Die haben leider eine Lebensdauer von 50 bis 100 Jahren in der Atmosphäre. Vorreiter: Das Montreal-Protokoll, das gilt ja auch als großer Erfolg oder Beweis dafür, dass ein globales Umweltproblem gelöst werden kann. Können wir daraus etwas für die aktuellen Klimaverhandlungen lernen? Grooß: Ja. Zunächst mal möchte ich schon sagen, dass es ein Erfolg war. Das wird viel zu wenig betont. Leider muss man sagen, dass die aktuellen Klimaverhandlungen komplizierter sind. Im Fall des Montrealer Protokolls ging es "nur" über die FCKW, die von einer Hand voll von Firmen hergestellt wurden. Es gab relativ schnell die Möglichkeit zu Ersatzstoffen, die von den gleichen Firmen hergestellt wurden. Das heißt, da konnte man die Firmen relativ schnell ins Boot holen. Es war dann auch Sachverstand bei den Politikern da. Beispielsweise die sehr kritischen Briten, damals unter der Leitung von Maggie Thatcher, einer gelernten Chemikerin, haben auch zugestimmt. Und es ging halt nur um eine Stoffgruppe: FCKW. Im Fall von CO2 ist es leider viel komplizierter. Ein weiterer Punkt ist auch, dass man sich realistische Ziele gesetzt hat. Das heißt, man hat erst eine kleine Reduktion beschlossen und die dann stufenweise verschärft. Das, denke ich, hat man in Paris auch schon begonnen und insofern sind wir wahrscheinlich auf einem guten Weg. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. (*) Der Interviewpartner hat die Redaktion darauf hingewiesen, dass er im Interview irrtümlich "Ozon" gesagt hatte. Wir haben diesen Fehler in der Textversion korrigiert.
Jens-Uwe Grooß im Gespräch mit Paul Vorreiter
Es sei zu erwarten, dass das Ozonloch in der Atmosphäre im Laufe der Jahre weiter zurückgehe, sagte der Ozon-Experte Jens-Uwe Groß im DLF. Mithilfe von Ersatzstoffen habe man die Produktion der schädlichen FCKW auf fast Null reduzieren können. FCKW gelten als Hauptverursacher des Ozonlochs.
"2016-09-16T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:53:53.212000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/welt-ozonschicht-tag-fckw-ist-weltweit-auf-fast-null-100.html
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KMK-Präsidentin: Schüler sollen ihr Abitur in diesem Jahr ablegen können
Schülerinnen und Schüler sollen "keine Nachteile haben von dieser Situation insgesamt", so die KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (dpa/Andreas Arnold) Regulärer Unterricht findet nicht mehr statt, kaum noch Abiturprüfungen werden abgelegt - wegen der Corona-Epidemie sind flächendeckend Schulen geschlossen, meist bis zum Ende der Osterferien. Besonders betroffen von den Schulschließuungen sind derzeit die Abiturientinnen und Abiturienten. Denn viele Bundesländer haben die Abschlussprüfungen an den Schulen verschoben. Hessen etwa führt hingegen derzeit Abiturprüfungen durch. "Ich hätte mir gewünscht, dass wir etwas enger beieinander geblieben wären. Nun sind einzelne Länder vorgeprescht", sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz Stefanie Hubig (SPD) im Dlf-Interview. Die Bundesländer seien aber trotzdem in enger Abstimmung untereinander. Dossier - Was man zum Coronavirus wissen muss Wie gefährlich ist das Virus? Welche Rechte haben Verbraucher und Arbeitnehmer? Und welche Folgen hat das Virus für die Wirtschaft? Wir klären die relevanten Fragen. Hubig (SPD) spricht von einer insgesamt schwierigen Situation für alle Bundesländer. Doch Schülerinnen und Schülern solle dadurch kein Nachteil entstehen. "Die Prüfungen, insbesondere die Abiturprüfungen, werden gegenseitig anerkannt werden, egal wie sie am Ende zustande kommen." Jörg Münchenberg: Frau Hubig 43.000 Schulen sind derzeit in Deutschland geschlossen. Wie schwierig ist die Lage? Welche Rückmeldungen bekommen Sie? Stefanie Hubig: Wir sehen nach dieser ersten Woche der Schulschließungen, dass das im Großen und Ganzen gut funktioniert hat. An der einen oder anderen Stelle rumpelt es noch ein bisschen, das ist klar, aber da steuern wir nach. Aber im Großen und Ganzen ist die letzte Woche richtig gut gelaufen, und das liegt vor allen Dingen auch daran, dass vor Ort Lehrerinnen und Lehrer, auch die Schülerinnen und Schüler sehr flexibel waren und sehr gut mitgearbeitet haben. Das war ganz beeindruckend. Münchenberg: Nun klagen trotzdem viele Eltern, sie müssen sich um die Betreuung kümmern, bekommen da kaum Hilfe. Vielerorts ist auch unklar, wie der Arbeitgeber damit umgeht. Und dann müssen die Eltern plötzlich auch noch Lehrer sein, und da sind doch viele überfordert. Hubig: Das ist für alle keine einfache Situation. Das ist gar keine Frage. Und es ist eine Situation, in der sich viele umstellen müssen. Wir sind aber dabei, dass wir gucken, dass auch Eltern mit den Paketen, sage ich mal, die Schülerinnen und Schüler bekommen, auch gut umgehen können. Auch da, wie ich gerade schon gesagt habe, muss man an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch mal nachsteuern. Wir haben jetzt in Rheinland-Pfalz eine Empfehlung erarbeitet für diesen Online-gestützten Unterricht, die wir jetzt heute veröffentlichen werden. Da sind auch noch mal Tipps für Eltern drin, wie sie mit dieser Situation jetzt umgehen können. "Sind in Deutschland noch nicht so weit, wie wir seien wollen" Münchenberg: Aber digital klappt das auch nur bedingt. Entsprechende Plattformen brechen unter der Last der Anfragen zusammen. In Bayern war das System Mebis, aber auch in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es erhebliche Schwierigkeiten. Hubig: Ja. Wir haben Moodle in Rheinland-Pfalz. Das entspricht dem Mebis. Und es ist tatsächlich so, dass in den Belastungsspitzen die Systeme noch nicht komplett ausgelegt sind. Wir wissen aber, dass die Landesinstitute, die für diese Server zuständig sind, mehr Kapazitäten reingeben, und wir bitten auch die Lehrkräfte, über den Tag verteilt diese Plattformen zu nutzen. Dann funktioniert das eigentlich ganz gut. Münchenberg: Aber zeigt das nicht auch, dass gerade die Schulen in Sachen E-Learning doch ziemlich hinterherhinken? Hubig: Es ist unterschiedlich. Wir haben viele Schulen, die sind schon sehr weit und die haben sich auf den Weg gemacht und die haben jetzt auch eine etwas einfachere Situation als die Schulen, die da noch etwas hinten dran sind. Wir sind in Deutschland noch nicht so weit, wie wir sein wollen. Das ist klar. Deshalb haben wir den Digitalpakt, deshalb haben wir ja auch jetzt wirklich sehr verstärkt Anstrengungen unternommen. Wir haben in Rheinland-Pfalz seit 13 Jahren "Medienkompetenz macht Schule" und merken bei vielen Schulen, dass die schon sehr weit sind. Aber nicht alle sind so weit, wie wir uns das wünschen und wie das jetzt in dieser Situation hilfreich wäre. "Abiturprüfungen werden gegenseitig anerkannt werden" Münchenberg: Frau Hubig, warum ist es eigentlich nicht möglich, dass sich die Bundesländer auf eine gemeinsame Vorgehensweise bei den Prüfungen bei den mittleren und auch den Abiturabschlüssen einigen? Hubig: Ich hätte mir gewünscht, dass wir das von Anfang an getan hätten. Wir haben letzte Woche auf der Kultusminister-Konferenz, finde ich, sehr gute Beschlüsse gefasst. Wir haben gesagt, den Schülerinnen und Schülern soll kein Nachteil aus dieser Situation entstehen. Die Prüfungen, insbesondere die Abiturprüfungen werden gegenseitig anerkannt werden, egal wie sie am Ende zustande kommen, und da haben wir schon viel Einigkeit hergestellt. Wir sehen aber auch, dass natürlich die Situation in den Ländern jetzt unterschiedlich ist. Hessen schreibt derzeit Abitur, die sind sehr früh dran; andere Länder kommen erst später. Ich hätte mir gewünscht, dass wir etwas enger beieinander geblieben wären. Nun sind einzelne Länder vorgeprescht. Wir sind aber trotzdem in enger Abstimmung untereinander. Wir telefonieren mehrfach auf Ministerebene, auf Staatssekretärsebene, um da noch viel Gemeinsamkeiten zu entwickeln und herzustellen. "Gesundheitsseite sagt, Abiture können stattfinden" Münchenberg: Das klingt mit Verlaub ein bisschen hilflos. Sie haben zwei Länder schon angesprochen, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Die haben die Abiturprüfungen einfach nach hinten verlegt und das sorgt vielerorts eigentlich für ziemliche Verwirrung, weil sich die Abiturienten zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen fragen, was wird eigentlich jetzt aus uns. Hubig: Die Abiturienten vor Ort sind mit ihren Schulen und die Schulen wiederum mit der Schulaufsicht und wir mit den Ministerien auch in engem Kontakt. Das bedeutet, dass die Abiturientinnen und Abiturienten auch wissen, wie es weitergeht. Wir sind im Moment in Rheinland-Pfalz noch in der Abstimmung, in der endgültigen, wie wir die Prüfung festlegen. Das wollen wir vorher mit den Beteiligten noch einmal besprechen. Wir haben einen Plan uns gemacht und werden das dann auch entsprechend heute oder morgen verkünden. Zahlen zu CoronaIm Corona-Zeitalter sind wir alle zahlensüchtig: Wie viele Menschen sind in Deutschland infiziert, wie entwickeln sich die Fallzahlen, nähern wir uns italienischen Verhältnissen? Wie die Zahlen zu bewerten sind – ein Überblick. Münchenberg: Aber wissen faktisch Bayern und Mecklenburg-Vorpommern mehr, weil die gesagt haben, wir verlegen auf jeden Fall einen Monat nach hinten? Hubig: Nein, die wissen nicht mehr. Aber die haben für sich die Entscheidung getroffen, die Abiturprüfung später zu machen, und das ist letztlich natürlich auch eine Abwägungsfrage, ob Sie sagen, ich mache die Abiturprüfung im Mai. Das können die Länder tun, die etwas später Ferien haben. Wir sind sehr früh mit den Ferien dran. Und ich gehe das Risiko ein, dass die Abiturprüfungen vielleicht am Ende gar nicht stattfinden können, weil die Infektionswelle sich so verändert hat, dass immer weniger Schülerinnen und Schüler antreten können. Im Moment sagt uns die Gesundheitsseite, Abiture können stattfinden. In Rheinland-Pfalz finden in dieser Woche noch die mündlichen Prüfungen statt. Das läuft gut und es funktioniert vor Ort. Aber wir haben unterschiedliche Zeitpunkte der Abiture, weil wir auch unterschiedliche Sommerferien haben. Hubig: Fristen an Hochschulen werden angepasst Münchenberg: Aber unterm Strich bedeutet das, jedes Bundesland wird am Ende festlegen, wann denn nun die Prüfungen für die Mittelschulen, aber auch für die Gymnasien stattfinden? Hubig: Das ist so. Ja, das wird im Endeffekt so passieren. Aber das Wichtige und das Zentrale ist aus meiner Sicht, dass den Schülerinnen und Schülern, egal wo sie das Abitur oder andere Prüfungen ablegen, keine Nachteile in anderen Ländern entstehen werden und auch mit Blick auf die Zulassung zur Hochschule, zur Universität wir uns schon festgelegt haben, zusammen mit den Wissenschaftsministern, dass hier die Fristen entsprechend auch angepasst werden für alle. Münchenberg: Frau Hubig, trotzdem noch mal die Frage. In Hessen finden – Sie haben das ja vorhin noch gesagt – schon die Abiturprüfungen statt. Da ist das auch organisatorisch machbar. Warum ist das nicht in anderen Bundesländern auch möglich? Hubig: Das muss jedes Land für sich alleine entscheiden. Wir wissen, die Hessen haben es gemacht. Andere Länder sagen, sie brauchen einfach zwei Wochen länger, weil man sich umstellt. Das ist eine schwierige Situation auch für die Schülerinnen und Schüler, ob die sich jetzt unmittelbar auf Prüfungen einstellen können. Viele wollen jetzt auch ihr Abitur ablegen, weil sie einfach auf den Punkt gelernt haben, aber es gibt auch andere, die sagen, sie sehen sich in dieser Situation nicht dazu in der Lage. Schule und Coronavirus: Trotz der Coronakrise finden in Hessen die Abiturprüfungen statt. Doch die Sondermaßnahmen fordern mehr Personal als unter gewöhnlichen Umständen. Am Ende ist es eine Abwägungsentscheidung, in die vor allen Dingen die Gesundheit einfließt, die Frage, Gesundheitsschutz, funktioniert das, und natürlich auch das Recht derjenigen, ihre Prüfung jetzt abzulegen und möglichst gut abzulegen. Zulassung fürs Studium in diesem Jahr Münchenberg: Die Frage ist auch noch: Was passiert? Wir erleben ja gerade, dass die Politik von Tag zu Tag neu nachjustiert. Wenn sich die Lage nicht bis Ostern beruhigt, wenn zum Beispiel selbst die neuen Termine in Bayern, 20. Mai in Sachen Abitur, nicht zu halten sind, was dann? Hubig: Dafür bearbeiten wir gerade einen Plan B in der KMK, von dem ich mir wünsche, dass ihn dann auch alle Länder einhalten. Ich werde dafür werben, dass wir das tun. Klar ist aber wie gesagt auch: Egal wie am Ende die Abiturprüfungen zustande kommen, sie werden jeweils gegenseitig anerkannt werden. Daran werde ich auch die Kolleginnen und Kollegen immer erinnern. Münchenberg: Aber es könnte ja faktisch auch sein, dass manche Schüler dann keine Zulassung haben für das Studium. Hubig: Nein, sie werden eine Zulassung haben für das Studium, weil sie ihr Abitur in der einen oder anderen Form ablegen. Münchenberg: Aber vielleicht nicht in diesem Jahr. Hubig: Auch in diesem Jahr. Auch dafür wird es Regelungen geben. Da gibt es ein Modell, das die KMK im Moment noch unter den Ländern abstimmt, dass die Schülerinnen und Schüler – das ist unser Ziel – in diesem Jahr ihr Abitur ablegen und keine Nachteile haben von dieser Situation jetzt insgesamt, so dass sie dann auch spätestens zum Wintersemester studieren können. Das Sommersemester wird ja schwierig. Deshalb auch die Veränderung der Zulassungsfristen für die Hochschulen. "Corona wird Schulen im Bereich der Digitalisierung einen Schub geben" Münchenberg: Frau Hubig, zum Abschluss: Was muss die Lehre aus Corona für das Bildungswesen sein? Der Virologe Drosten hat zum Beispiel vorgeschlagen, dass man notfalls auch Schulen anders organisieren muss, Klassen kleiner macht, Räume für soziale Zusammenkünfte schließt, um die Betriebsfähigkeit der Schulen spätestens im Mai dann wieder herzustellen. Hubig: Alle werden aus Corona lernen und aus der Situation lernen. Ich glaube, dass Corona im Bereich der Digitalisierung den Schulen einen enormen Schub geben wird, weil jetzt viele auch gezwungen sind, sich auf den Weg zu machen und viele Dinge jetzt in sehr, sehr kurzer Zeit sehr gut auf die Schiene stellen. Ich denke, auch die Frage Hygiene in den Schulen, Umgang miteinander, enge Kontakte wird eine andere werden. Wir sehen aber auch, dass die Menschen immer wieder dazu zurückkehren, dass sie soziale Wesen sind, glücklicherweise, und dass sie auch den Kontakt brauchen. Strategien gegen Einsamkeit Das Coronavirus fordert in Deutschland auch eine Abkehr von bisher ganz selbstverständlichen Dingen des gemeinsamen Lebens – mit Folgen für die Psyche. Tipps gegen die Angst und die Einsamkeit. Münchenberg: Wird es am Ende auch einen Notfallplan geben, dass man das nächste Mal besser aufgestellt ist? Hubig: Wir haben heute schon Krisenpläne in den Schulen für Amokläufe, aber auch für Epidemien, und diese Krisenpläne werden wir uns genau angucken müssen und einfach überarbeiten und aktualisieren müssen im Lichte jetzt dieser Erfahrung, die wir jetzt gemacht haben und machen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefanie Hubig im Gespräch mit Jörg Münchenberg
Die Schulen in Deutschland sind wegen der Coronakrise geschlossen. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Stefanie Hubig (SPD) sieht die Zulassung von Abiturienten zu Hochschulen jedoch nicht in Gefahr. Ziel sei es, dass die Schüler ihr Abitur "in der einen oder anderen Form" bis Herbst ablegten.
"2020-03-23T08:15:00+01:00"
"2020-03-25T15:47:30.595000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schule-und-coronavirus-kmk-praesidentin-schueler-sollen-ihr-100.html
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Die Ukrainer kommen
Attraktives Arbeitsland: Ukrainer füllen die Lücken, die polnische Abwanderer hinterlassen haben (dpa / Sascha Steinach) Langsam rollt der Pkw durch die Nebenstraßen von Slubice, biegt hinter einer Autowerkstatt ab, parkt vor einem Bauzaun. Vier Frauen steigen aus, legen sich im Gehen Kopftücher übers Haar, eilen vorbei an einem alten Wohnwagen, einem Haus im Rohbau. Dahinter leuchtet golden die Kuppeln einer neu erbauten orthodoxen Kirche in der Wintersonne. Die Ukrainerinnen bekreuzigen sich vor dem Eingang. Gehen kurz in die Knie. Einige Schritte weiter steht das orthodoxe Kreuz, das küssen sie. Wie jedes Wochenende. Hier in Slubice, der kleinen, polnischen Nachbarstadt von Frankfurt/Oder, mit gerade mal 25.000 Einwohnern. In der Kirche warten schon 40 Gläubige. Manche beten, andere entzünden Kerzen, der Priester geht herum, grüßt viele mit Wangenküssen. In der Kerzenkasse liegen Euroscheine neben Zloty. Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Polen: Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben" in der Sendung "Gesichter Europas. Draußen parkt Mihau seinen Wagen, geht durch das Eingangstor, bekreuzigt sich. Auch er kommt jedes Wochenende hierher. Der 33-Jährige trifft Bekannte, betet. Und zündet eine Kerze für seine Familie an. Für seine Frau und seinen vierjährigen Sohn. Die leben in der Bukowina, im Westen der Ukraine, mehr als 1.000 Kilometer entfernt . "Meine Frau und das Kind sind in der Ukraine. Ich war mir nicht sicher, ob ich hierbleiben kann, oder woanders Arbeit suche. Darum sind sie nicht mitgekommen. Jetzt bin ich aber schon drei Jahre hier. Es sieht so aus, als ob ich hierbleibe." Mihau vermisst seinen vierjährigen Sohn. Vielleicht kommt meine Familie nach, sagt er. Vielleicht aber auch nicht. Er wird auf jeden Fall noch in Polen bleiben. Um weiter Geld zu verdienen. In Polen lässt sich mehr verdienen "Hier arbeite ich als Lkw-Fahrer, in der Ukraine hatte ich einen Bürojob als Buchhalter. Vor zehn Jahren konnte ich dort noch 400 Dollar im Monat verdienen. Jetzt sind es nur noch 200, weil unsere Währung so schwach ist." Hier in Slubice kommt Mihau auf bis zu 1.000 Euro im Monat. "Die Polen gehen, wir kommen," sagt er. Mittlerweile leben rund zwei Millionen Ukrainer im Land. Für die Einreise braucht es kein Visum, die polnischen Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte, sie besorgen auch die nötige Arbeitserlaubnis. Dafür fährt Mihau so lange LKW, wie sein Chef es will. Gezahlt wird pünktlich. Ganz anders, als in der Ukraine. Die ukrainische Community wächst 70 Kilometer weiter nordöstlich, in Gorzow, dreht sich Maksim zwischen Lebensmittelregalen einmal um seine eigene Achse, kontrolliert die Warenbestände. Ukrainische Produkte, zusammengestellt von seiner Frau, die vor sieben Jahren aus der Ukraine nach Polen zog. Und sich schnell nach Lebensmitteln aus der Heimat sehnte. Sonnenblumen Halva gibt es hier, eine klebrige Süßigkeit, dann Salo, den legendären fetten ukrainischen Speck, und natürlich Kwas, den Brottrunk. Für besondere Anlässe wartet in der Tiefkühlung eine Torte. Edel verpackt. Sie kommt aus einer der Fabriken des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. "Die wird oft gekauft", erzählt Maksim lächelnd. Denn die ukrainische Community wächst laufend. Vor fünf Jahren, vor den Demonstrationen auf dem Maidan, lebten in Gorzow, gerade mal zehn ukrainische Familien. Einkaufsmarkt und Kontaktbörse: Der ukrainische Lebensmittelladen in Gorzow (Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster) "Schätzungsweise 23.000 Ukrainer leben heute offiziell in und um Gorzow. Aber da die Ukrainer jetzt auch ohne Visum nach Polen einreisen dürfen, kann man davon ausgehen, dass es noch viel mehr sind. Man kann überall Ukrainisch hören, ob auf der Straße oder im Einkaufszentrum. Das ist gut, nicht nur für uns, sondern auch für die ganze polnische Wirtschaft." "Unsere Geschäfte laufen sehr gut", freut er sich. Mittlerweile gibt es eine Filiale in Stettin, gerade wurde auch noch eine in Poznan/Posen eröffnet. Und hier in Gorzow, gleich nebenan, entsteht demnächst ein ukrainisches Kulturzentrum. "Für viele Ukrainer sind wir die erste Anlaufstelle, wenn sie nach Gorzow kommen. Sie kommen gleich nach ihrer Ankunft, weil sie über Kollegen oder Freunde von uns gehört haben. Wir beantworten ihnen dann alle möglichen Fragen. Und wir bringen auch Arbeitssuchende und Arbeitgeber zusammen. Sie haben aber auch viele praktische Fragen: Wie kauft man eine SIM-Karte. Wie lädt man sie auf, wie bezahlt man sie? Wo ist das lokale Arbeitsamt? Wir geben diese Informationen und wie gesagt: Wir bringen Leute zusammen." Sehnsucht nach der Heimat In Slubice kommt Mihau aus der Kirche, zieht den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke nach oben. Es ist kalt geworden an der Oder. In ein paar Tagen wird er wieder in die Ukraine fahren, um seine Familie wieder zu sehen. Diesmal kann er zwei Monate bleiben. Auf der Baustelle ist Winterpause, hat sein Chef gesagt. "Ich vermisse mein Zuhause, unsere Wohnung in der Ukraine haben wir eine sehr enge Verbindung mit unserem Zuhause. Als ich das erste Mal nach Polen kam, war ich sehr überrascht, dass hier jeder Wohnungen kauft und verkauft. Dass man drei, viermal in seinem Leben die Wohnung wechselt, das ist hier normal. Bei uns ist das anders. In der Ukraine bleibt man normalerweise an einem Ort, das vermisse ich hier."
Von Ernst-Ludwig von Aster
Viele Ukrainer kommen wegen des Geldes nach Polen. Zudem sind die Arbeitsbedingungen hier attraktiver als daheim. Und Polen braucht die Ukrainer dringend: Denn ohne sie, so heißt es in vielen Betrieben, würde die polnische Wirtschaft wohl zusammenbrechen.
"2019-01-08T09:10:00+01:00"
"2020-01-26T22:31:38.125000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/einwanderungsland-polen-die-ukrainer-kommen-100.html
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"Regen über Santiago"
Jochanan Shelliem: Antonio Skármeta, Ihre Eltern emigrierten aus Kroatien von der kleinen Insel Brac, gegenüber Split gelegen, Anfang des 20. Jahrhunderts war das, an das andere Ende der Welt. Das war die erste Emigration, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Vielleicht auch ein Exil. Spät, um das Jahr 2000 erst, schildern Sie in Ihrem Roman "Die Hochzeit des Dichters" die Situation dieser dalmatischen Familie, die Ihre Wurzeln trägt.Sie selbst, geboren im November 1940, sind 1973 33 Jahre alt, Schriftsteller, Philosoph, ein Schüler von Julián Marías und José Ortega y Gasset, die Doktorarbeit 1964 über, ich nehme an, das damals große Vorbild, den wortkargen brillanten Julio Cortázar. Sie sind ein hoffnungsvoller junger Autor, der den chilenischen Alltag mit Sprachwitz und surrealistischen Bildern abbilden will, in diesen Jahren bereits ausgezeichnet mit dem Premio Casa de las Americas - 1968 erhalten Sie ihn für Ihre Kurzgeschichtensammlung "Nackt auf dem Ziegeldach - Desnudo en el tejado", dies einerseits. Und andererseits politisch engagiert, damals ganz selbstverständlich auf der Linken als Mitglied der "Movimiento de Acción Popular y Unitaria", kurz MAPU, im Rahmen der "Unidad Popular", der Volksfront, die den gewählten Präsidenten Salvador Allende trägt. Wo sehe ich Sie im September 1973, als mit dem Sturz und der Ermordung von Salvador Allende vor vierzig Jahren die Hoffnung eines ganzen Volkes begraben wird?Antonio Skármeta: Im Jahre 1973 befindet sich die Gesellschaft Chiles durch die politischen Spannungen im Lande hin und hergerissen zwischen den Kräften, die soziale Reformen und eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft anstrebten und der Reaktion, die die Reformen stoppen wollte. Der Alltag hatte sich in eine Wiederholung von Konflikten verwandelt. Konflikte, die immer häufiger ausbrachen, die sich zuspitzten. Man rechnete mit einem Putsch. Unter uns Demokraten kursierte sogar ein Losungswort zur Bekanntmachung eines möglichen Putsches. Im Radio würde das Schlüsselwort gesendet werden, diese Losung, die ständig wiederholt werden würde, um den befürchteten Militäranschlag zu melden, bestand aus einem einzigen Satz: "Regen über Santiago”. Am 11. September hat es nicht geregnet, aber man hörte diesen Satz "Regen über Santiago”. Ich habe ihn bei mir zu Hause gehört, Minuten später berichteten alle Sender von dem Staatsstreich der Militärs. Ich hörte auch die letzte Ansprache von Präsident Allende, bevor die Radiostation, von der diese Rede gesendet wurde, bombardiert worden ist. Ich ging dann in mein Büro in der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität von Chile, wo wir - Professoren und Studenten - uns sehr rasch darüber verständigten, dass die Lage ernster war, als wir befürchtet hatten. Der Militärputsch war brutal, nahm keine Rücksicht auf Menschenleben. Es begann die Flucht vieler ins Exil. Kollegen von mir suchten Asyl in ausländischen Botschaften. Ich blieb noch einige Zeit in Chile, um die Situation zu beobachten, bis ich beschloss, nach Europa zu gehen, um meinen Gedanken als Schriftsteller weiterhin freien Ausdruck verleihen zu können.Shelliem: Gab es den Gedanken an Widerstand, was haben Sie gesehen in diesen ersten Tagen der Diktatur des Generals Augusto Pinochet Ugarte?Skármeta: Sofort nach dem Putsch der Militärs entfaltete sich ein immense Gewalt gegen alle, die den Staatsstreich nicht unterstützten. Willkürlich wurden Menschen eingeschüchtert und geschlagen, inhaftiert, gefoltert, Leute, die mit allem nichts zu tun hatten, Menschen, die an keinerlei Aktionen teilgenommen hatten. Viele Unschuldige wurden Opfer eines Generalverdachts. Jeder wurde damals verdächtigt, ein Revolutionär zu sein, ein Feind der neuen Ordnung. Diese ersten Tage nach dem Putsch der Militärs waren dramatisch, voller Tragödien und voll von Angst. Ich war verheiratet und hatte zwei Kinder, um die ich mich auch sorgte.Auch für mich selbst stellte sich die Frage, was zu tun sei. Ich habe mich gefragt, wohin das alles führt, habe viele entsetzliche Szenen mit angesehen, manche haben sich mir eingebrannt, Szenen von denen Andere mir erzählten, Schilderungen von Festnahmen und Hinrichtungen geliebter Künstler, von Intellektuellen erfüllten mich mit Angst.Beispielsweise hatten sie den Komponisten und Sänger Victor Jara festgenommen, hatten ihn in ein Stadion gebracht, drei-, viertausend Menschen waren da gefangen. Die Militärs brachten ihn in einen der Räume dieses Stadions, folterten ihn, den Sänger und Gitarrenspieler, sie brachen ihm die Hände und erst jüngst enthüllten die Ergebnisse seiner Autopsie - dreißig Jahre danach -, dass er mit 43 Schüssen hingerichtet worden ist. Ich erzähle das nicht, um dem Ganzen einen pathetischen Unterton zu verleihen, sondern um die Gewalt, den Wahnsinn dieses faschistischen Terrors zu illustrieren, der sich damals im Land ausbreitete. Und das erklärt, warum so viele Tausende von Chilenen damals beschlossen, das Land fluchtartig zu verlassen. Alle Intellektuellen, die ihre Sicherheit und ihre Arbeitsmöglichkeiten gefährdet sahen, sie flohen. Shelliem: Welche Atmosphäre trafen Sie, welche schufen Sie in Berlin als Exilierter? Wie ging es Ihnen, wie ging es den anderen Chilenen, wie ging es den anderen chilenischen Intellektuellen und Künstlern, die sich dann in Deutschland wiederfanden? Wie sah das aus? Skármeta: Man muss sich vergegenwärtigen, dass dies eine immense Welle von chilenischen Emigranten war. Es waren Zigtausend von Chilenen, die nach Europa gekommen sind, manche kamen in die Bundesrepublik, viele davon nach Westberlin, manche gingen in die DDR. Ich kam nach Westberlin und die Atmosphäre, in der wir von den Westdeutschen begrüßt worden sind, war außerordentlich herzlich, verständnisvoll, brüderlich, voller Mitgefühl und zuweilen zärtlich. Es waren die Jahre um 1973, 74, 75 als die meisten der chilenischen Flüchtlinge in Westberlin angekommen sind. Willkommen geheißen wurden die Chilenen im Exil von Mitgliedern der deutschen Parteien, der SPD, der CDU. Die Grünen gab es damals noch nicht, doch viele, die später dazugehörten, engagierten sich. Es waren auch die Kirchen, deren Mitglieder sich um Chilenen kümmerten, aufopferungsvoll und unabhängig von ihrer Konfession, auch die Studenten und ihre Organisation haben uns umarmt, boten uns Arbeit, deutsche Intellektuelle brachten uns zum Rundfunk, gaben uns kleine Arbeiten, baten uns, Artikel zu verfassen, boten uns die Mitarbeit in ihren Zeitschriften an, besorgten uns kleine Stipendien. Der Empfang der Chilenen durch die Deutschen war sehr solidarisch, herzlich, warm. Und dafür sind wir Chilenen, die wir dies erfahren durften, dankbar. Bis heute haben sich Freundschaften erhalten, die damals entstanden sind.Natürlich gab es unter den Chilenen, die in Deutschland lebten, unterschiedliche politische Orientierungen. Die Volksfront zurzeit von Präsident Salvador Allende hatte aus Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Einstellungen bestanden, da gab es Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen von der Linken und so weiter. Jeder hatte eine eigene Ansicht von dem, was zu machen sei. Das aber führte zu internen Debatten unter uns Chilenen, Debatten, die unsere Beziehungen zu den Deutschen nicht berührten. Die Deutschen sahen uns nicht als Parteimitglieder an, sondern als Chilenen. Und manche dieser Chilenen hegten mehr Sympathie für den Sozialismus oder die Sozialdemokratie als andere. Unserem Erscheinungsbild tat das keinen Abbruch.Shelliem: Pinochet, der Militärputsch hat Ihnen zunächst die Sprache geraubt. Sie kamen in ein Land, dessen Sprache Sie gar nicht sprachen, was ist mit Ihrer Kultur geschehen, was ist mit Ihrer Sprache geschehen? Es dauert ein Jahrzehnt ... 1984 erringen Sie als Schriftsteller Ihren Durchbruch mit dem Roman Mit brennenden Geduld. Wie hat dieses Jahrzehnt Ihre Arbeit, Ihre Sprache, Ihre Fantasie verändert? Skármeta: Auf zweierlei Weise: Solange ich als chilenischer Schriftsteller in Chile schrieb, konnte ich dem komplexen Sprachverständnis meines Publikums vertrauen, ich konnte mit unterschwelligen Zwischentönen spielen, Anspielungen einsetzen, die von den Menschen verstanden worden sind, die über die Kultur verfügten, die die Meine war. In Europa fiel dieser Teil meiner Sprachspiele weg, meine Mitspieler, das Publikum und ich, verfügten nicht über gemeinsame kulturelle Wurzeln. Meine deutsche Leserschaft verstand nur noch, was ich ihnen schwarz auf weiß aufschrieb, meine Anspielungen zwischen den Zeilen verstanden sie nicht. Ich entschied mich also für eine klarere Form der Kommunikation, näherte mich einer eher klassischen Struktur von Literatur. Das war für mich nicht nur eine Notwendigkeit, um besser verstanden zu werden, es war meine Evolution, ich habe meine Sprache im Exil ganz neu erfinden müssen und auf diese Weise wurden meine Arbeiten berühmt.Shelliem: Wo findet Antonio Skármeta seine Heimat, als er in Berlin lebt, und lässt sich das verknüpfen mit der Erklärung des Erfolgs Ihres Romans "Mit brennender Geduld", der ja Ihre Arbeit, Ihre Sprache im Exil auch verändert, denn Zentrum der Geschichte ist die Begegnung zwischen dem chilenischen Nobelpreisträger Pablo Neruda und seinem Postboten Mario auf der Isla Negra, der seine Angebetete mit Neruda-Gedichten gewinnen will, also im Kern die Rolle des Künstlers bei der Überwindung der Diktatur. Skármeta: Meine Kreativität und die Inspiration hat sich in der Zeit, als ich in Deutschland lebte, aus zwei Quellen gespeist: Einerseits aus den Erfahrungen, die ich in Deutschland machen durfte, in einer Kultur, die nicht die Meinige gewesen ist, aus dem Umgang mit dieser großen Gruppe von Chilenen und Lateinamerikanern in Westberlin, die mich die ganze Zeit umgab und in deren Gesellschaft ich mich befand. Gleichzeitig erschloss ich mir die deutsche Sprache, die ich erlernte, begegnete der deutschen Kultur, begann zu lesen, teilzunehmen und entwickelte mit deutschen Kollegen gemeinsam Initiativen, die der Verbreitung der chilenischen Literatur und Demokratie in Deutschland dienten. Ich begann auch Texte deutscher Schriftsteller ins Spanische zu übersetzen. Als Fremder in der Bundesrepublik erschloss ich mir die deutsche Kultur, eine Kultur, die mich bereicherte. Ich begegnete dem deutschen Kino, der Musik und seiner Poesie, entdeckte - verblüffenderweise - die deutschen Dichter der Romantik für mich. Begeisterte mich für Kleist, der zu einem meiner Lieblingsdichter wurde. Auf der anderen Seite gewann ich die Erinnerungen an mein Chile in meinen Arbeiten zurück. In meiner Literatur - und das gab mir viel Kraft - versuchte ich meine Erinnerungen an mein Land zurückzuerobern. Dieses Chile, aus dem ich vertrieben worden war, baute ich mit meinen eigenen Worten wieder auf. Es wurde zu meinem kleinen Paradies, zu jenem Land, wo der Poet dem Volke nahe stand, das Volk seine Gedichte kannte, wo wir gemeinsam die Natur genossen und die Demokratie, die Liebe. Und ich empfand es als eine gute Idee, eine Geschichte zu entwickeln, in der ein kleiner Mann aus dem Volke, naiv und jung, wie ein Postbote in der Provinz, auf einen Universaldichter wie Pablo Neruda trifft. Und ich empfand das Spiel mit dieser Reibung, die sich aus der Begegnung dieser Persönlichkeiten entwickelt, als explosiv. Diese Kollision der Subkultur mit der Hochkultur enthüllte eine Magie, einen Zauber, der sich letztlich unabhängig von Sprache und Nation erschloss. Stellen Sie sich vor - "Mit brennender Geduld" - dieser Roman, der in Deutschland veröffentlicht worden ist, im Original vom Piper Verlag, dieser Roman wird heute in 35 Sprachen gelesen und in den meisten Ländern erscheint jährlich eine neue Auflage. In Deutschland auch. Shelliem: Wo bleiben die dunklen Seiten des Exils, Antonio Skármeta? Sie haben viele Aspekte des Exils thematisiert, oft aus Kinderaugen von der Sehnsucht nach der Heimat bis zur Ausländerfeindlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, 1986 beispielsweise im Hörspiel Hochzeit für den SWR, all das mit wachsendem Erfolg. Gab es eine Zeit, in der Sie sich geschämt hatten, in der Deutschland schwarz gewesen ist, in der die Depression gesiegt hat? Und wie haben Sie diese überwunden? Skármeta: Es ist gut, dass Sie danach fragen. Die Erfahrung des Exils ist eine dramatische, unsanfte Erfahrung, die man machen muss. Nur durch die geschwisterliche Weise, in der wir in Deutschland aufgenommen worden sind, durch die Warmherzigkeit, nur durch die freundschaftliche Weise, mit der die Leute Exilierten begegnet sind, war diese Zeit zu überstehen. Der Exilant ist eine Person, die in Wirklichkeit nirgendwo lebt. Er fühlt sich nicht in der Gesellschaft integriert, die ihn aufnimmt und er hat keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, wo er gern wäre. In die Gesellschaft, die er verlassen musste. Dazu kommt, er lebt nicht in der Gegenwart, er lebt für die Zukunft, für die Zeit, in der er zurückgekehrt sein Land wieder erleben wird. Um diese Zukunft und sein Land zurückzugewinnen, macht er viele Dinge, von denen wenige bedeutungsvoll sind. Als Exilant sucht er Wege, um den im Lande Verbliebenen zu helfen und diese Arbeit ist beschwerlich und voller Frustration. Wenn die Diktatur nicht weichen will und die Zeit vergeht, wird die Solidaritätsarbeit zum monotonen Mühlstein, immer wieder eine neue Demonstration, noch eine Versammlung, stets die gleichen Stände, wo man Empanadas zum Solidaritätspreis verkauft, Abende in der Gedächtniskirche, wo sich 85 Leute einfinden, immer wieder schlechte Nachrichten, es ist ein Prozess, in dem man ermüden kann. Ein Leben, das den Exilanten deprimiert. Eine andere Sache kommt noch dazu.Exilanten haben Kinder und die Kinder wachsen mit ihnen im Exil auf. Die Eltern pflegen ihre Verbindungen zum Heimatland, sie unterhalten intensive Beziehungen mit Chile und sie wollen, dass ihre Kinder dieselben starken Gefühle für dieses Chile, das sie verloren haben, empfinden sollen. Doch die Jungen - ja, sie haben die neue Sprache rasch gelernt, ja, sie verstehen die Musik, die sie hören, ja, sie lernen andere Exilanten kennen, deren Probleme ihren ähneln, Griechen, Syrer, Spanier, ihnen ist die Welt viel weiter und komplexer als sie ihren Eltern in ihrem beschädigten Kosmos erscheint. Insofern entwickelt sich eine Krise zwischen den Generationen im Exil, das die Eltern auf eine andere Weise erleben als ihre eigenen Kinder. Und mit den Jahren spüren die Eltern, wie sie ihre Kinder verlieren. Und die Kinder stehen vor der Alternative, sich in Deutschland zu assimilieren, deutscher zu werden als es ihre Eltern sind, um in der deutschen Gesellschaft einzutauchen, an ihr teilzuhaben. Oder in dem Getto ihrer Eltern zu verharren. Und die Mehrheit der Jungen geht hinaus in die Gesellschaft, nimmt am deutschen Leben teil. Und so ist es gekommen. Die Alten gingen nach Chile zurück, die Jungen sind in der Bundesrepublik geblieben.Shelliem: 1989, als in Deutschland die Mauer fällt, gehen Sie nach Chile mit der Öffnung, Sie nehmen Ihre Familie mit, Ihre Söhne gehen mit. Was für ein Chile finden Sie vor? Wieviel Erfolg hatte Augusto Pinochet, hatte der Militärputsch? Skármeta: Die Diktatur hatte keinen Erfolg darin, die chilenische Begeisterung für die Demokratie zu eliminieren. Während der Militärdiktatur in Chile haben viele ihr Leben riskiert und sind bei dem Versuch gestorben, Organisationen aufzubauen für den Widerstand gegen Pinochet. Die sozialen Bewegungen und die politischen Organisationen fanden über die Jahre einen Weg, den Widerstand gegen die Junta zu verbreitern und dieser gemeinsame Widerstand mündete in dem Plebiszit von 1988, das Pinochet angeregt hatte, um seine Position in der chilenischen Gesellschaft öffentlich zu bestätigen. Das Volk hatte sich sehr gut organisiert, es kam zu einer Kampagne und man einigte sich auf den Slogan NO!. Und dieses NO! zu Pinochet markiert den Anfang vom Ende seiner Diktatur und den Beginn der Veränderungen, die Chile heute prägen. Es ist ein Prozess, der durch das Bedürfnis und das Temperament der Chilenen, in einer Demokratie zu leben, befeuert wird.Shelliem: "Am Ende des Regenbogens", in Ihrem jüngsten Roman, 2011 erschienen, haben den gewaltlosen Sturz, die Abwahl des Diktators Augusto Pinochet durch die erfolgreiche Fernsehkampagne von 1990 thematisiert, als die chilenische Mehrheit in der Regenbogenkampagne mit "No!" stimmte. In diesem Roman zitiert die Tochter des mutlosen Werbetexters, der die Kampagne zu verantworten hat, eine Schlagzeile von EL PAÍS aus Spanien, 15 Minuten genügten, um 15 Jahre zu beenden. Sehen Sie diese Situation so optimistisch, dass die Folgen, die Narben, die die Militärdiktatur hinterlassen hat, so geschlossen sind heute in der chilenischen Gesellschaft? Skármeta: Man muss dazu sagen, dass diese 15 Jahre der chilenischen Diktatur grässliche Jahre gewesen sind, in denen das chilenische Volk seine sozialen Organisationen und Parteien ordnen und im Widerstand gegen Pinochet organisieren konnte, einem Widerstand, der zuweilen heroisch gewesen ist. 1988 bot sich die Möglichkeit, Pinochet durch einen Volksentscheid zu schlagen. Zum ersten Mal nach 15 Jahren hatte Pinochet der Opposition erlaubt, ein kleines Zeitfenster im Fernsehen zu gestalten, also eine Kampagne mit dem NO! gegen Pinochet für die Demokratie. Einem Werbefachmann wurde die Aufgabe übertragen, diese 15 Minuten zu gestalten und den Menschen die Tragweite des Plebiszits vor Augen zu führen. Chilenen, die verängstigt waren, die der Volksabstimmung nicht vertraut haben, die apathisch gewesen sind und deprimiert, sie sollten wählen gehen. Jawohl, es machte Sinn, mit NO! zu stimmen, wenn sie mit NO! stimmten, kehrten Demokratie und Freude in das Land zurück.Dieser Werbefachmann kreiert also 15 Minuten - die brillant gewesen sind - voller Humor, voller Poesie und Drama, ein Clip, der sich als sehr motivierend in der Volksabstimmung erwies. Die Chilenen gingen wählen, sie beteiligten sich friedlich, ohne Hass, gaben gewaltlos ihr NO! zu Pinochet an der Wahlurne ab. Dieses Plebiszit und die Kampagne entwickelten sich zu Elementen, wenn auch nicht zu den Entscheidenden, die den Wechsel einleiteten und zu dem Triumph der Demokratie in Chile geführt haben. Als die spanische Tageszeitung "La Republica" am Tag nach dem Sieg der Volksabstimmung die Schlagzeile veröffentlichte "15 Minuten haben ausgereicht, um 15 Jahre Diktatur zu beenden" war das sicherlich eine Übertreibung, gleichzeitig aber eine freundliche Geste den Künstlern gegenüber, eine Verneigung vor der Kraft der Kunst, die in dieser Kampagne eine Möglichkeit gefunden hat, etwas zur Freiheit beizutragen, für die das Volk gekämpft hat.Shelliem: Im Frühjahr 2000 nehmen Sie das Angebot des chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos an, Botschafter Ihres Landes in Berlin zu werden. Wie verstanden Sie sich bis 2003, wie sehen Sie Ihre Rolle als Diplomat? Skármeta: Während meiner Zeit im Exil habe ich mich in meiner Literatur wie im alltäglichen Leben stets als Botschafter gefühlt. Als Botschafter einer Demokratie der Herzlichkeit, des Traumes von einer gerechteren Gesellschaft, der Freundschaft und der Zärtlichkeit. Ich habe diese Rolle ebenso ausgefüllt wie meine chilenischen und meine lateinamerikanischen Kollegen. Und als ich später den Auftrag von Präsident Lagos erhielt, Chiles Botschafter in Deutschland zu werden, habe ich sehr gut verstanden, dass er das tat, weil er wusste, dass ich ein bekannter Schriftsteller war, der in Deutschland Filme gedreht hat, dass dort meine Bücher veröffentlicht worden sind, dass ich ein sehr aktives soziales Leben in der Bundesrepublik geführt habe, über Beziehungen zu Persönlichkeiten in allen Schichten der Gesellschaft verfügte, ich kannte Politiker und Intellektuelle, Journalisten, Unternehmer - sie kannten mich. Meine Ankunft als Botschafter in der Bundesrepublik machte vor allem eines klar: Chile hat sich gewandelt. Dies war nicht mehr das Chile von Augusto Pinochet, es war das demokratische, das freundliche Chile mit einem Freund, den man schon kennt. Und ich habe diese Zeit als Botschafter in Deutschland genossen, sie war sehr angenehm, sehr positiv, wieder - auch als Repräsentant der chilenischen Republik - standen mir alle Türen offen, sie blieben es und auch die Presse blieb mir wohl gesonnen.Shelliem: Wenn Sie ein Resümee ziehen, ist mit dem Militärputsch eine Generation zum Schweigen gebracht worden, die Generation des Magischen Surrealismus, hat der Militärputsch die Sprache der Literatur einer Generation verändert? Skármeta: Nein, die Sprache hat sich nicht verändert. Was sich verändert hat, das war das Leben, das Leben aller Menschen und die Schriftsteller sind Teile der Bevölkerung. Sie teilen ihr Leben. Die Menschen hatten unter der Folter gelitten, gehungert, Zeiten der Arbeitslosigkeit erlebt, viele gingen ins Exil. Oft hat der Schmerz Familien zerbrochen, ein Klima der Unsicherheit geschaffen und der Angst, der Armut. All das hatte das Leben aller geprägt, auch das der Schriftsteller, die sich dieser Themen angenommen haben. So ist die chilenische Literatur heute eine skeptischere Literatur geworden, eine analytischere Literatur, Innenansichten spielen eine große Rolle, verzweifelte Untertöne spielen manchmal mit - der epische, der euphorische Schwung von früher ist verschwunden. Der ehemalige chilenische Diktator, Augusto Pinochet (AP)
Antonio Skármeta im Gespräch mit Jochanan Shelliem
1973 putschte das chilenische Militär gegen die gewählte Regierung, es folgten 15 Jahre Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Tausende Gefangene wurden verschleppt, gefoltert und ermordet. Zu den Schriftstellern, die damals das Land verließen, gehörte auch der Drehbuchautor Antonio Skármeta.
"2013-09-29T09:30:00+02:00"
"2020-02-01T16:37:54.088000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/regen-ueber-santiago-100.html
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Welche Rolle spielen die T-Zellen?
Darstellung von Spike-Proteinen auf Sars-CoV-2 und dagegen gerichteten Antikörpern. (imago KATERYNAxKON) Wendy Burgers von University of Cape Town war besorgt, als Ende November die ersten Informationen zu der neuen Coronavirusvariante in Südafrika bekannt wurden. „Da sind mehr als 30 Mutationen im Spike-Protein, dem Eiweiß, gegen das alle Covid-Impfstoffe gerichtet sind“, erklärt die Immunologin. Doch das Spike-Protein ist nicht nur die Zielstruktur der COVID-Impfstoffe, auch Genesene bilden vor allem Antikörper gegen die prominenten „Stacheln“ auf der Virusoberfläche. „In diesem Fall war nach der Entdeckung von Omikron schnell klar, dass es so verändert im Spike-Protein ist, das Antikörper das Virus nicht mehr effektiv erkennen und eine Infektion verhindern können.“ Mehr zu Omikron: Die Virusvariante Omikron (B 1.1.529) im Überblick Corona-Expertenrat zu Omikron-Welle: Verschärfung von Maßnahmen vorbereiten Drosten: Es ist keinesfalls sicher, dass Omikron im abgemilderten Zustand bleiben wird Antikörper sind die erste Barriere des Immunsystems. Passen sie spezifisch auf das Spike-Protein des Coronavirus, machen sie es unschädlich. Das Virus kann dann nicht mehr in die Zellen eindringen und eine Infektion wird verhindert. Doch das Immunsystem hat verschiedene Werkzeuge zum Schutz vor eindringenden Erregern. Sogenannte T-Zellen sind ein weiteres. Sie stehen eher in zweiter Reihe. Das Forschungsteam um Wendy Burgers fragte sich, ob dieser Abwehrmechanismus bei Omikron noch funktioniert. „T-Zellen schützen uns nicht unbedingt vor einer Infektion. T-Zellen sind ein Teil des Immunsystems, der anspringt, wenn wir schon infiziert sind. T-Zellen können infizierte Zellen erkennen und töten. Dadurch beenden sie die Infektion oder begrenzen sie zumindest, so dass sie nicht besonders schwer wird.“ "Wir mussten erstmal genügend Blutproben bekommen" Doch die Reaktion von T-Zellen zu untersuchen, ist nicht leicht. Während die verminderten Fähigkeiten von Antikörpern bei der Omikron-Variante schnell klar waren, brauchte die Forschung zur T-Zell-Antwort ein wenig Zeit. „Wenn du Antikörper misst, dann kannst du einfach Blutplasma nehmen, den flüssigen Bestandteil des Blutes. Doch wir müssen uns Zellen ansehen, denn T-Zellen sind ein zellulärer Bestandteil des Blutes, eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen. Also mussten wir erst einmal genügend Blutproben bekommen. Nicht nur einen Fingerstich, sondern etwa 50 Milliliter Blut. Und daraus haben wir die Zellen isoliert.“ Neuinfektionen in Deutschland Mit Hilfe von T-Zellen aus dem Blut von Genesen, die sich mit einer anderen Variante des Corona-Virus infiziert hatten, oder von Menschen, die zwei Biontech/Pfizer-Impfungen oder ein bis zwei Johnson-and-Johnson-Impfungen bekommen hatten, untersuchte das Forschungsteam in Laborexperimenten, wie die T-Zellen auf die Omikron-Viren reagierten. „Was wir bei all diesen Menschen gesehen haben, war eine leichte Verminderung der Fähigkeit, Omikron zu erkennen. Aber nichts Massives. So 70 bis 80 Prozent der durch Infektion oder Impfung gebildeten T-Zellen konnten auch Omikron erkennen, kreuzweise sozusagen.“ Die Forscher:innen sahen sich auch Blutproben von Menschen an, die sich mit der neuen Variante infiziert hatten. Sie bilden ähnliche T-Zellen wie Infizierte mit anderen Varianten. Die Art der T-Zellen und die Stellen auf der Virusoberfläche, die sie erkennen, sind zwischen Infizierten mit unterschiedlichen Varianten also nicht groß verschieden. T-Zellen binden an mehr Virusregionen als neutralisierende Antikörper Im Blut von Genesen sind auch T-Zellen, die Regionen auf der Virusoberfläche abseits des Spike-Proteins erkennen, beschreibt Wendy Burger. Doch im Blut von Geimpften können nur T-Zellen gegen das Spike-Protein sein. Denn die derzeit verfügbaren Impfstoffe enthalten nur die Information für diesen Teil des Virus. Das Immunsystem von Geimpften lernt ausschließlich die „Stacheln“ des Coronavirus kennen. Warum reagieren die T-Zellen von Geimpften dann trotzdem auf das stark veränderte Spike-Protein bei Omikron?  „Trotz dieser vielen Mutationen im Spike-Protein erkennen die T-Zellen noch Teile, die nicht verändert sind. Denn das Spike-Protein ist ein großes Eiweißmolekül. Es besteht aus 1200 Aminosäuren und nur 30 davon sind wirklich verändert. Das ist schlecht für die neutralisierenden Antikörper, denn sie binden nur an bestimmte Hotspots auf dem Protein. Aber T-Zellen, die binden eigentlich über die ganze Länge des Eiweißmoleküls.“  Inzwischen deuten neben der Studie von Wendy Burgers und ihrem Team auch mehrere andere Studien - schon begutachtet oder noch im Begutachtungsprozess - darauf hin, dass das Immungedächtnis von Geimpften und Genesenen durch die T-Zellen auch bei der Omikron-Variante noch robust ist. Das könnte ein Grund dafür sein, dass bislang bei Geimpften und Genesen meist nur milde Verläufe bei einer Infektion mit der Omikron-Variante beobachtet werden.
Von Lukas Kohlenbach
Das Spike-Protein der Omikron-Variante unterscheidet sich so stark von anderen Coronavirus-Varianten, dass Antikörper von Genesenen oder Geimpften die Viren nur noch schwer neutralisieren können. Dennoch verlaufen Infektionen meist mild. Studien zeigen: Eine Rolle dabei könnten T-Zellen spielen.
"2022-01-25T16:35:00+01:00"
"2022-01-25T17:58:42.971000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/t-zellen-antwort-bei-omikron-infektion-100.html
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Nahost-Konflikt ist "nicht hinnehmbar"
Der israelische Premierminister Netanjahu und US-Präsident Obama vor ihrem Gespräch im Weißen Haus. (Olivier Douliery / Pool, dpa) Obama meinte, die Israelis müssten in Sicherheit leben können. Es dürfe sich aber auch nicht die Tragödie getöteter palästinensischer Kinder wiederholen. Das Treffen im Weißen Haus war die erste persönliche Begegnung von Barack Obama und Benjamin Netanjahu seit dem Scheitern der von US-Außenminister John Kerry initiierten Friedensgespräche. Im Sommer eskalierte der Konflikt nach anhaltendem Raketenbeschuss durch radikale Palästinenser aus dem Gazastreifen auf Ziele in Israel. Die israelischen Streitkräfte starteten daraufhin eine Offensive mit Luftangriffen und zeitweise auch Bodentruppen. Mehr als 2.150 Palästinenser und 73 Israelis wurden getötet. Nach siebenwöchigen Kämpfen trat am 26. August eine Feuerpause in Kraft. Obama hat die Verbindung zwischen Israel und den USA als unzerbrechlich bezeichnet. "Israel befindet sich eindeutig in einer turbulenten Nachbarschaft", sagte Obama. Das Land könne deshalb auf die "felsenfeste Unterstützung" der USA in Sicherheitsfragen zählen. Zugleich äußerte sich die US-Regierung allerdings verärgert über ein neues Siedlungsprojekt in Ost-Jerusalem. Sollte dieses umgesetzt werden, werde es Israel selbst von den engsten Verbündeten entfernen, erklärte das Weiße Haus. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hat die Bereitschaft zu einem Frieden mit den Palästinensern betont. Netanjahu sagte, er sehe sich einer Zwei-Staaten-Lösung mit gegenseitiger Anerkennung des Existenzrechts verpflichtet. Besorgt über iranisches Atomprogramm Netanjahu drückte während des Treffens mit Obama seine Sorge über das iranische Atomprogramm aus und warnte Obama davor, sich bei den Verhandlungen mit Teheran über den Tisch ziehen zu lassen. Der Iran strebe nach einem Deal, um die harten Sanktionen gegen die iranische Wirtschaft zu lockern und sich als "nukleare Schwellenmacht" zu etablieren, sagte Netanjahu. Er hoffe "inbrünstig", dass der US-Präsident dies nicht zulassen werde. Teheran verhandelt mit den fünf UN-Vetomächten USA, China, Russland, Frankreich und Großbritannien sowie Deutschland über ein langfristiges Abkommen zu seinem Atomprogramm. Ziel der sogenannten 5+1-Gruppe ist eine Einigung bis zum 24. November. Iran will Uran anreichern Strittig ist vor allem, bis zu welchem Grad Teheran künftig Uran anreichern darf. Die Verhandlungen hatten zuletzt kaum Fortschritte gemacht. Iran weist den Vorwurf zurück, an Atomwaffen zu arbeiten, und beharrt auf einem zivilen Nuklearprogramm. (tzi/ach)
null
US-Präsident Barack Obama hat den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu zu einer Friedenslösung mit den Palästinensern ermahnt. Die Situation im Nahost-Konflikt sei nicht hinnehmbar, sagte Obama – und spricht gleichzeitig von einem "unzerbrechlichen Bund" zwischen den USA und Israel.
"2014-10-01T19:10:00+02:00"
"2020-01-31T14:06:27.442000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/netanjahu-bei-obama-nahost-konflikt-ist-nicht-hinnehmbar-100.html
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Die Schnittmengen von Kunst und Musik
Ralf Beil, Kurator von A house full of music" über Musik als Möbelstück und die Grenzgänger der Musik und Kunst im 20. Jahhundert.<im_82464>ACHTUNG: NUR IN ZUSAMMENHANG MIT DER AUSSTELLUNG Bälle</im_82464>Info:Eine Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Musikinstitut Darmstadt (IMD)Homepage: A HOUSE FULL OF MUSIC Strategien in Musik und Kunst13. Mai bis 9. September 2012 Ausstellungsgebäude | Wasserreservoir Mathildenhöhe | Bildhauerateliers Museum KünstlerkolonieMathildenhöhe DarmstadtDienstag bis Sonntag 10 – 18 UhrDonnerstag 10 – 21 Uhr
Ralf Beil im Gespräch mit Susanne Luerweg
Kaum ein Musiktitel kommt heute ohne Video aus. Heute gehört das bewegte Bild zur Musik. Seit wann gehören die beiden eigentlich zusammen und wo beginnen Überschneidungen? Danach fragt die Kunstausstellung "A house full of music ".
"2012-07-11T15:05:00+02:00"
"2020-02-02T14:16:56.082000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/die-schnittmengen-von-kunst-und-musik-100.html
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Perspektive für stabile Friedensordnung nach Kriegsende gefordert
Es sei naiv anzunehmen, die Ukraine führe eine autonome Außenpolitik, sagte Philosoph Julian Nida-Rümelin im Dlf. Im Bild: Sicherheitskräfte in Kiew nach einem Drohnenangriff der russischen Armee am 17.10.2022 (IMAGO / NurPhoto / Maxym Marusenko)
Schulz, Josephine
Der Ukrainekrieg sei im Kern ein geopolitischer Konflikt, sagte Philosoph Julian Nida-Rümelin im Dlf. Er forderte eine Perspektive für eine stabile Friedensordnung für die Zeit nach Kriegsende. De-Globalisierung sei dafür aber nicht der richtige Weg.
"2022-11-05T07:15:00+01:00"
"2022-11-05T07:38:37.542000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/aussicht-auf-friedensordnung-nach-ukraine-krieg-interv-m-julian-nida-ruemelin-dlf-f07d858e-100.html
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"Wir brauchen Unterhaltungskünstler"
Ed Warner, Präsident des britischen Leichtathletikerbandes (British Athletics) Matthias Friebe: In den letzten zwei Jahren gab es in den Zeitungen viele Schlagzeilen über Terroranschläge in London. Welchen Einfluss hatten diese auf die Organisation der Weltmeisterschaft? Ed Warner: Wir haben in den letzten zwei Jahren sehr intensiv mit der Londoner Polizei, den Behörden und auch der Regierung zusammengearbeitet, um gewährleisten zu können, dass die WM bestmöglich gesichert ist. Die Polizei stellte extra Mitarbeiter ab, die sich mit unserem Organisationskomitee austauschen konnten. So haben wir viele mögliche Szenarien durchgespielt, die passieren könnten. Unser Appell an die Fans ist: Seid euch über potenzielle Probleme im Klaren – aber seid nicht verängstigt. Kommt vorbei und habt Spaß! Ich möchte betonen, dass die britische Polizei sehr erfahren im Umgang mit allen möglichen Szenarien und Veranstaltungen ist, nicht nur im Sport sondern auch in der Unterhaltungsindustrie oder bei öffentlichen Versammlungen auf der Straße. Wir sind also bestmöglich vorbereitet, weswegen ich sage, was ich den Leuten schon die ganze Zeit rate: Besucht die Wettkämpfe und habt eine gute Zeit, denn unser Team hat gute Arbeit geleistet, viel davon hinter den Kulissen. So sollte es sein: Vieles sollte im Hintergrund passieren, damit wir nicht all unsere Geheimnisse offenlegen. Warner zur Terrorgefahr: "Wir müssen einfach wachsam bleiben" Friebe: Wie oft haben Sie gedacht: Oh Gott, wir könnten ein Problem bekommen? Warner: Nun, jedes Mal, wenn ein solcher Anschlag passierte – und es gab ja zwei oder drei davon. Nach jedem Vorfall haben wir uns als Team zusammengesetzt und überlegt, welche Schlüsse wir daraus für uns ziehen können. Die Experten für solche Situationen sitzen ja nicht beim britischen Leichtathletikverband oder im Organisationskomitee – sie sind in den Reihen der Sicherheitsfirmen und der Polizei, die uns beraten und in die wir Vertrauen haben. Ich würde nicht mal daran denken, den Plan dieser Experten anzuzweifeln. Sie haben die Erfahrung und darauf haben wir uns zu verlassen. Aber, wie Sie wissen handelt es sich beim Terror ja um ein globales Problem. London ist nicht die einzige Stadt, die bedroht ist. Vor ein paar Tagen gab es glaube ich in Australien ein paar Verhaftungen; es zieht sich also über den gesamten Erdball. Wir müssen einfach wachsam bleiben und aufpassen, dass uns der Terror nicht besiegt. Friebe: Dürfen wir uns also auf Bilder einstellen von einer Vielzahl an Polizisten und Soldaten, die für die Sicherheit der Zuschauer und Athleten sorgen? Warner: Ja, aber vieles wird auch nicht sichtbar sein. Ich glaube nicht, dass man Sicherheit nur dadurch gewährleisten kann, indem an jeder Ecke bewaffnete Polizisten stehen. Sie haben vielleicht eine gewisse beruhigende Wirkung, aber die meisten Sicherheitsvorkehrungen und Maßnahmen sind hinter den Kulissen getroffen worden. Und ich denke, so sollte es auch sein: Es gibt vieles, was man als Zuschauer nicht wahrnimmt, auf was man sich aber verlassen kann. "330.000 Besucher bei der Para-WM – deutlich mehr als je zuvor" Friebe: Vor ein paar Wochen fand die Para-WM in London statt, im selben Stadion, in dem nun auch die Leichtathletik-WM ausgetragen wird – mit mehr Zuschauern als je zuvor. Hat Sie das in Ihrer Arbeit weiter angespornt? Warner: Ja, sehr. Es war ein großartiger Start in den Leichtathletik-Sommer. Am Ende hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, 330.000 Besucher bei der Para-WM – deutlich mehr als je zuvor. Nun gehen wir davon aus, dass wir an den zehn Wettkampftagen bei der WM über 700.000 Zuschauer haben werden. Die bisherige Bestmarke lag 2009 in Berlin bei etwa 470.000, soweit ich weiß. Ich denke gerne an die Berlin-WM zurück, es war eine fantastische Veranstaltung. Usain Bolt hatte grandiose Auftritte, brach den 100-Meter-Weltrekord. In den ersten Tagen waren die Zuschauerzahlen noch mäßig, aber zum Ende hin war das Stadion dann voll. Das Schöne bei uns ist, dass wir von Anfang ein gefülltes Stadion haben werden, da die Londoner diese Weltmeisterschaft sehr gut annehmen. Wir bieten großartigen Sport in einem großartigen Stadion in einer großen Metropole. Die Briten lieben hochklassigen Sport, sie lieben hochklassige Leichtathletik und das zeigt sich in den Ticketverkäufen. "Die Para WM war ein großartiger Start in den Leichtathletik-Sommer. Am Ende hatten wir, wenn ich mich recht erinnere, 330.000 Besucher bei der Para-WM – deutlich mehr als je zuvor", so Ed Warner (imago sportfotodienst) Friebe: Was haben Sie von der Para-Leichtathletik-WM gelernt? Warner: Vor allem die logistischen Abläufe. Es handelt sich hierbei um ein sehr komplexes Unterfangen. Bei der Para-WM gab es etwa 1000 Teilnehmer, nun nehmen knapp 2000 Athleten an unserer WM teil. Das sind eine Menge Hotelbetten, Shuttle-Busse und Flughafen-Transfers, die wir zu organisieren haben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Sportler in ihrer bestmöglichen Verfassung an den Start gehen. Wenn die Athleten nach der WM sagen, dass es ihnen im Stadion gefallen hat und auch abseits davon alles glatt gelaufen ist, dann wissen wir, dass wir unseren Job gut gemacht haben. Ich denke, das ist das Wichtigste: Wir bereiten den Athleten die bestmöglichen Rahmenbedingungen, damit sie ihre Topleistung abrufen können. Das haben wir bei der Para-WM gelernt, die Dinge hinter den Kulissen, die logistischen Herausforderungen. Das Resultat ist, dass wir uns für die jetzige WM weiterentwickeln konnten, da wir einige Dinge optimiert haben. Am Ende geht es für uns darum, dem Athleten den besten Service zu bieten – wenn Du das schaffst, bekommst Du großen Sport geboten. Friebe: Also war die Para-WM nur ein Warm-Up für Sie? Warner: Ein Warm-Up? Nein. Die Para-WM war für sich genommen eine sensationelle Veranstaltung und wir wollen das nun wiederholen. Während ich mit Ihnen rede, kann ich gegenüber auf die Anlage schauen, in der sich die Athleten warm machen können. Die Möglichkeiten, die wir den Sportlern zur Vorbereitung bieten, bevor sie für den Wettkampf in dieses tolle Stadion kommen, ist einzigartig. Es ist ein Vermächtnis der Olympischen Spiele 2012 und wir sind froh darum, denn wie Sie vielleicht wissen, schließen weltweit immer mehr Leichtathletikstadien, da sie dem Fußball weichen müssen. Hier hat man eine Lösung geschaffen mit einem Stadion, in dem beides stattfinden kann, Leichtathletik und Fußball. Es wird einen schönen Rahmen bieten für diese WM. "Es gibt nur wenige Städte, die so etwas stemmen können" Friebe: Liegt das auch an dem speziellen Verhältnis zwischen Großbritannien und dem Para-Sport? Warner: Zweifellos, ja. Das Stoke-Mandeville-Stadion in Aylesbury war der Geburtsort des Para-Sports in Großbritannien. Seitdem lag er der britischen Gesellschaft stets am Herzen. Die Spiele 2012 haben den Sport dann auf ein nie da gewesenes Level gehoben. Die Fans, die im Juli zur Para-WM kamen, haben aus meiner Sicht gezeigt, dass es darum ging, Vielfalt anzunehmen. Wir können behinderte Menschen feiern, genau so, wie wir hart dafür arbeiten müssen, dass die Betroffenen besser mit ihren Behinderungen leben können. Nicht jeder Mensch mit Behinderung ist ein Spitzensportler, wie auch? Es gibt ja auch unter Nichtbehinderten nur wenige Topathleten. Also sollten wir nicht auf Para-Athleten schauen und denken, wir hätten als Gesellschaft Behinderungen überwunden. Das haben wir nicht. Aber sie sind eine große Inspiration und bieten uns als Nation eine Möglichkeit, die Probleme zu verstehen, denen einige Menschen ausgesetzt sind und die Anstrengungen, die sie durchstehen mussten, um diese Hürden zu überwinden. Ich denke, es ist wichtig, eine Para-Sport-Veranstaltung zu haben, die es allen Menschen mit Behinderung erlaubt, sich Vorbilder zu suchen. Und die übrige Gesellschaft erinnert es daran, dass man immer etwas tun kann, um das Leben von Menschen mit Behinderung zu bereichern und sie weiter in die Gemeinschaft zu integrieren. Friebe: Sie sind Co-Vorsitzender von London 2017. Der BBC sagten Sie vor ein paar Tagen, dass Sie hier die letzte große WM nach traditionellem Muster erwarten. Warum? Warner: Weil es weltweit nur wenige Städte gibt, die all das bieten können, was für so einen Wettbewerb verlangt wird: große Zuschauermassen und ein tolles Stadion. Der Umfang ist ja sehr anspruchsvoll. 2.200 Athleten an zehn Wettkampftagen in einer großen Arena. Wir erwarten 700.000 Zuschauer. Das sind wirklich hohe Anforderungen und es gibt nur wenige Städte, die so etwas stemmen können. Alle traditionellen Sportarten sehen sich zudem mit E-Sports einer neuen Herausforderung gegenüber. Junge Leute konsumieren Sport heute anders als früher, sie wollen angesprochen werden auf ihren Tablets, ihren Smartphones, ihren Computern. Es könnte sein, dass ein zehntägiges Spitzenleichtathletik-Event einfach zu groß ist für viele Städte. Vielleicht würde es sich für einige Städte lohnen, wenn wir den Wettbewerb beschneiden, etwa nur Halbfinale und Finale austragen über insgesamt vier, fünf Tage. Wir würden uns reduzieren auf einen einzigen Adrenalinschub: Kurze, knackige, offensive Wettkämpfe; die Qualifikationsrunden würden außerhalb des Stadions stattfinden, in den Wochen zuvor. London hat das Zuschauerpotential, es ist eine große Stadt mit einer gut angebundenen Arena in einem sportverrückten Land. Wieviele andere Städte haben solche Möglichkeiten? Klar, man kann erneut nach Berlin gehen, vielleicht nach Paris oder Rom. Aber abseits davon sehe ich kaum Möglichkeiten für die Leichtathletik, einen Wettbewerb dieser Größenordnung in einem solchen Stadion auszutragen. Die IAAF muss aus meiner Sicht die Struktur von Weltmeisterschaften anpassen, so dass man sie besser vermarkten und für junge Leute wieder attraktiv machen kann. Ich erfreue mich so an der WM in London, weil es der letzte Wettkampf dieser Größenordnung sein könnte – und es macht mich stolz, daran mitarbeiten zu dürfen. "Vielleicht werden die Olympischen Spiele 2028 den amerikanischen Markt für die Leichtathletik mehr öffnen" Friebe: Sagen Sie das auch in dem Wissen, dass die kommenden zwei Weltmeisterschaften in Doha und Eugene stattfinden werden? Warner: Zum Teil ja, absolut. Ich war 2015 in Doha bei der Para-Leichtathletik-WM. Dort gibt es kein großes Stadion und die Ränge werden auch nicht bei jedem Wettbewerb gut gefüllt sein, sowohl auf Grund der Hitze als auch der Tatsache, dass es dort keine große Fangemeinde gibt. Auch in Eugene gibt es kein Stadion, das annähernd so groß ist wie hier in London. Dafür lieben sie dort Leichtathletik, es ist ja die Heimat von Nike. Von daher werden die Zuschauer in Eugene sicher lieben, was sie geboten bekommen werden, aber es ist nun mal ein ganz andere Größenordnung als in London. Dann kommt die WM 2023. Ich denke, die IAAF wird es schwer haben, dafür einen vergleichbaren Veranstaltungsort zu finden wie hier in London. Vielleicht haben sie da also die Möglichkeit, es mal anders zu machen als bislang. Friebe: Hat die IAAF mit den WM-Vergaben an Doha und Eugene also Fehler gemacht? Warner: Aus meiner Sicht nicht mit Eugene, denn es ist wichtig, dass sie in den USA Fuß fassen… Friebe:...aber es ist nicht Los Angeles, New York oder Washington… Warner: Ganz genau. Vielleicht werden die Olympischen Spiele 2028 den amerikanischen Markt für die Leichtathletik mehr öffnen. Man muss in die USA, von daher kann ich die Wahl von Eugene verstehen. Doha ist für allerdings eine interessante, vielleicht auch eine etwas komische Entscheidung. Es könnte einen Dämpfer geben, wenn man nach London dort die WM austragen lässt. Ich hoffe es nicht, denn ich liebe diesen Sport. Aber ich glaube, dass es noch einer Menge Arbeit bedarf, um zu gewährleisten, dass die WM 2019 den gleichen Stellenwert erfährt wie wir es hier in London nun gerade erleben. Friebe: Wenn Sie von vollen Stadien reden und von den Wettkampfstätten in London, sprechen Sie auch immer wieder davon, Sportler zu motivieren und zu unterstützen. Warum ist das so wichtig? Warner: Weil das für mich großen Sport ausmacht. Es ist die Kombination aus Spitzensportlern, die vor einem pulsierenden, enthusiastischen, engagierten Publikum antreten. Man kann natürlich auch ohne Zuschauer brillante Leistungen abliefern, aber das fühlt sich doch irgendwie für den Athleten komisch an. Wenn wiederum ein schlechter Sportler vor einem großen Publikum auftritt, gehen die Menschen mit einem merkwürdigen Gefühl nach Hause. Aber wenn man beides zusammenbringt – großen Sport und viele Zuschauer – dann hat man eine begeisternde Veranstaltung. Das ist dann etwas, was in den Köpfen der Menschen bleibt. Und: Sportler geben ihr Bestes, wenn das Stadion voll ist, das haben wir bei der Para-WM gesehen – der Unterschied von London zu den Weltmeisterschaften zuvor war gewaltig. Und das hat weniger damit zu tun, was auf der Laufbahn vor sich geht, sondern auf den Rängen. Meine Einstellung ist: die besten Sportler haben sich die besten Stadien und besten Zuschauer verdient. Nicht nur in der Leichtathletik, auch beim Schwimmen, Radfahren, Fußball, Rugby, ganz egal. Man braucht diese Kombination aus Menschen, die zugucken und Menschen, die Leistungen erbringen. Wenn großer Sport in einem halbvollen Stadion dargeboten wird, hat man aus meiner Sicht die Athleten im Stich gelassen. Das wäre eine herbe Enttäuschung. "Wir als Leichtathletik müssen die neuen Technologien verstehen" Friebe: Ich war überrascht, dass Sie gerade E-Sports als möglichen Konkurrenten für die klassischen Sportarten genannt haben. Ist E-Sports in Großbritannien so populär? Warner: Absolut, es ist enorm populär, global, speziell aber in Asien und auch in Nordamerika. Das höchste Preisgeld für ein E-Sports-Turnier gibt es weltweit bei einer Veranstaltung mit Namen "The International". Wenn ich mich nicht irre, ist dieser Wettbewerb mit etwa 25 oder 27 Millionen Dollar dotiert. Sie füllen Hallen mit zehntausenden Fans, die dabei zuschauen, wie Menschen Computerspiele spielen. Die Einbindung der Fans ist unglaublich. Ich alter Mann von 53 Jahren tue ich mich etwas schwer damit, dies zu verstehen, aber ich verfolge diesen Wachstum mit großem Respekt und Interesse. E-Sports hat sich etabliert und stellt eine große Herausforderung für traditionelle Sportarten da, weil sie es schaffen, junge Leute anzusprechen. Davon müssen wir lernen. Wir als Leichtathletik müssen die neuen Technologien verstehen, um die Leute, die E-Sports begeistern kann, auch für uns zu gewinnen. Gleiches gilt für alle anderen traditionellen Sportarten. Friebe: In den klassischen Sportarten denkt man nun also über Änderungen nach, neue Formate, neue Wettbewerbe. Ist die traditionelle Leichtathletik zu langweilig? Warner: Für mich nicht und auch nicht für die 700.000 Zuschauer diese Woche im Stadion oder die hunderten Millionen vor den Fernsehgeräten. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht besser werden kann. Wir müssen uns weiterentwickeln, das ist der Schlüssel. Es gibt sicher Sportarten, bei denen es einer Revolution bedarf. Das ist in der Leichtathletik nicht der Fall, aber es braucht eine Weiterentwicklung – und diese darf nicht nur langsam passieren. Wir müssen uns in einem Tempo weiterentwickeln, das es uns ermöglicht, weiter relevant zu bleiben für junge Leute. Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir diese Zielgruppe und das können wir uns nicht leisten. Ich hoffe daher, dass unsere Traditionssportart dieses Problem nicht auf traditionellem Wege in Angriff nimmt, weil wir dann viele Möglichkeiten ungenutzt ließen. Friebe: Wie sollte das angegangen werden? Warner: Ich glaube, es braucht klare Köpfe, die mit frischen Ideen auf das aktuelle Wettbewerbsformat schauen, auf den Zeitplan… "Wir müssen neue Wege finden, mit Hilfe von Technik den Sport näher an die Menschen zu bringen" Friebe: Sollte es mehr Wettbewerbe geben? Warner: Vielleicht verschiedene Wettbewerbe wie Mixed-Staffelläufe oder Staffeln mit verschiedenen Distanzen. Aus meiner Sicht kommt es aber vor allem darauf an, die Wettkämpfe zu kürzen. Und wir müssen neue Wege finden, mit Hilfe von Technik den Sport näher an die Menschen zu bringen. Ein Beispiel: Man könnte Läufer mit einer Knopflochkamera am Leibchen ausstatten, so dass der Zuschauer das Gefühl bekommt, er befände sich als Beobachter mitten unter den Läufern. Oder denken sie an Virtual-Reality-Brillen, die es ja schon in einigen amerikanischen Sportarenen gibt und bald sicherlich auch weltweit verbreitet sein werden. Wie kann man in der Leichtathletik Virtual Reality nutzen, so dass die Nutzer am Tablet oder Smartphone das Gefühl haben, sie seien Teil des Wettkampfs? So ist es bereits in vielen Sportarten und so sollte es auch in der Leichtathletik sein. Also: Neue Technologien spielen eine wichtige Rolle, genauso wie die übertragenden Medien. Und das Wettbewerbsformat muss kürzer und zugespitzter sein. Das alles wird passieren; ich hoffe nur, dass wir dabei so schnell sind, dass wir weiter relevant bleiben. Friebe: Der Spaß der Zuschauer steht also im Vordergrund? Warner: Voll und ganz, ja. Niemand will gelangweilt werden, niemand will außen vor bleiben. Die Menschen müssen das Gefühl haben, Teil des Ganzen zu sein. Und schauen Sie, der große Vorteil von Leichtathletik ist: Es ist Laufen, Springen, Werfen – jeder von uns kann das. Jeder hat eine Vorstellung davon, wie es sein muss, die 100 Meter in zehn Sekunden zu laufen. Ich kann auch laufen, zwar nicht so schnell, aber wenn ich einen Spitzenläufer in Aktion sehe, habe ich ein Verständnis für die Bewegungsabläufe, die es dafür braucht. Ich kann also nachvollziehen, was auf der Bahn passiert. Ich kann nachvollziehen, was beim Werfen passiert und auch beim Springen, auch wenn ich nicht mal ansatzweise so weit springen kann wie die Topathleten. Das ist es, was Leichtathletik so reizvoll macht. Man kann die Leistungen leichter nachvollziehen als in anderen Sportarten, etwa beim American Football oder beim Cricket – ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, ein Quaterback zu sein. Aber ich kann mir wiederum vorstellen, wie es ist, eine Kugel zu stoßen. Das müssen wir uns zu Nutze machen und dem Fan das Gefühl geben, dass er unmittelbar dabei ist. Vielleicht wären mehr Wettbewerbe in der Halle auch eine Lösung, weil eine solche Indoor-Arena direkt ein ganz anderen Zugang bietet. Man kann die Wettkampfstätte leichter ausleuchten, es ist leichter zu übertragen für Fernsehanstalten, es ist leichter für Fans zu interagieren. Und vielleicht müssen wir uns auch über die Größe von Stadien Gedanken machen. Vielleicht ist eine 400 Meter lange Laufbahn zu groß und es bräuchte eine 250- oder 300-Meter-Strecke, um die Zuschauer richtig mitzunehmen. Wir müssen einfach alles auf den Prüfstand stellen. Können wir vielleicht bei Wettbewerben Zuschauer im Innenraum platzieren, also innerhalb der Laufstrecke? All das müssen wir abwägen. Friebe: Heißt, wir müssen uns verabschieden von den traditionellen Leichtathletik-Wettkämpfen? Warner: Möglich, ja. Ich hoffe das aber nicht. Aber wie Sie wissen, ist zum Beispiel Hammerwerfen nur noch bei großen Meisterschaften im Programm. Selbst bei der Diamond League findet diese Disziplin nicht statt, weil sie zeitraubend ist und sehr viel Platz benötigt. Vielleicht sollten wir den Sport mehr aufbrechen und etwa die Wurfdisziplinen in aufregende Spielstätten auslagern und uns stattdessen mehr auf die Laufwettkämpfe konzentrieren, in kleineren Arenen. Das meine ich damit: Wir müssen mal einen Schritt zurückgehen und mit klarem Verstand an intelligenten Lösungen arbeiten, losgelöst von alten Denkmustern. Ansonsten werden wir nie in der Lage sein, den nötigen Sprung zu schaffen, um auch für nachfolgende Generationen relevant zu bleiben. Friebe: Ein Beispiel dafür ist ja der Zehnkampf. Glauben Sie auch, dass wir in London zum letzten Mal diese Disziplin bei einer WM sehen werden? Warner: Das glaube ich nicht. Ich denke, Sie werden auch noch in Doha und Eugene einen Zehnkampf sehen. Wie es dann 2023 weitergeht, weiß ich aber nicht. Für mich ist es eine großartige, ja märchenhafte Disziplin, die allerdings auch viel Zeit beansprucht. Das Sieben- und Zehnkampfmeeting in Götzis etwa ist jedes Jahr ein Riesenerfolg. Vielleicht sollte der Sport mehr in diese Richtung denken und die Disziplin bei den traditionellen Wettkämpfen streichen. Ich bin mir dessen nicht sicher, aber man sollte es auf jeden Fall überlegen. Oder, wie wir in England sagen: Es darf keine heiligen Kühe geben. Nichts darf ausgeschlossen werden, bevor man nicht alle Möglichkeiten durchdacht hat. Auf diesem Weg muss sich der Sport selbst überprüfen. "Niemand bezahlt für eine Sportveranstaltung, die ihn langweilt" Friebe: Der deutsche Speerwerf-Olympiasieger Thomas Röhler sieht sich in einer Doppelrolle: Olympiasieger auf der einen, Unterhaltungsobjekt auf der anderen Seite. Ist das der Schlüssel für die Zukunft? Sportler als Unterhaltungsobjekte? Warner: Hundertprozentig. Thomas Röhler unterhält mich. Es ist sensationell, wenn er den Speer über 90 Meter wirft – ich liebe es, ihm dabei zuzuschauen. Also, ja, absolut. Schauen Sie, Deutschland hat in den vergangenen Jahren in den Wurfdisziplinen große Unterhaltungsstars hervorgebracht, die das Land bei den großen Meisterschaften vertreten. Ich freue mich immer darauf, die deutschen Werfer zu sehen, weil sie wissen, worauf es ankommt. So, wie Usain Bolt diese Facette in den Sprint eingeführt hat oder andere Sportler in ihren Disziplinen. Ich denke da etwa an Valerie Adams im Kugelstoßen. Da sie schwanger ist, kann sie in London zwar nicht antreten, aber wenn sie in den Ring steigt, ist sie faszinierend: Ihr Umfang, ihre weiten Stöße oder die Art, wie sie das Publikum in ihren Jubel mit einbezieht. Wenn sie gewinnt, wirkt sie wie eine zierliche, emotionale Frau – und dennoch ist sie in ihrer Disziplin ein absoluter Koloss, eine unglaublich imposante physische Präsenz. Das ist eine wundervolle Kombination. So unterhält sie. Thomas Röhler hat also Recht: Wenn Du nicht unterhalten kannst, brauchst Du eigentlich gar nicht erst mitmachen. Niemand bezahlt für eine Sportveranstaltung, die ihn langweilt. Niemand will sich ein Ticket für ein langweiliges Fußballspiel kaufen – er will eine Partie sehen, die ihn unterhält. Sein Team wird vielleicht Tore schießen oder auch kassieren, aber in den Gesichtern der elf Spieler wird er Emotionen erkennen können. Das sollten die Zuschauer auch in den Gesichtern von Leichtathleten sehen, man muss erkennen können, dass es um etwas geht. Manche Athleten können das besser als andere und Röhler gehört sicherlich zu denen, die das sehr gut beherrschen. "Thomas Röhler hat also Recht: Wenn Du nicht unterhalten kannst, brauchst Du eigentlich gar nicht erst mitmachen", sagt Ed Warner. (dpa/picture alliance/ Martti Kainulainen) Friebe: Ich habe gelesen, dass Sie Probleme bei der Sponsorensuche hatten. Hat das mit der fehlenden Unterhaltung zu tun, worüber wir sprachen? Warner: Nein, es hat mit Doping zu tun. Viele Unternehmen hatten auf Grund der Dopingskandale in letzter Zeit Schwierigkeiten damit, sich in der Leichtathletik zu engagieren. Und das betrifft nicht nur die WM 2017. Schauen Sie sich die Liste an offiziellen IAAF-Sponsoren an, die ist nicht unbedingt lang. Und sie hat sich in jüngster Vergangenheit auch nicht groß geändert, außer der Ausrüsterwechsel von Adidas zu Asics. Die Vermarktungsabteilung der IAAF hat sich großen Herausforderungen gegenüber gesehen, so wie wir auch von London 2017. Wir werden zwar einen Gewinn mit der WM einfahren, aber vor allem deswegen, weil wir so viele Tickets verkauft haben. Unser finanzieller Erfolg gründet darauf, dass die Leute ins Stadion kommen – viele Werbepartner haben wir nicht. Wir konnten einige mit ins Boot holen, aber dafür war auch sehr viel Arbeit nötig. Wir mussten die Leute überzeugen, dass wir eine Sportart sind, bei der es sich lohnt, seine Marke zu platzieren – trotz allem, was mit Russland passiert ist. "Ich hoffe, Russland kommt zurück. Aber es muss sauber zurückkommen" Friebe: Der russische Dopingskandal ist eines der großen Themen der letzten Jahre. Die Welt-Leichtathletik hat sich davon immer noch nicht erholt? Warner: Nein, hat sie nicht. Aber die Russen sind zurück. 19 von ihnen werden diese Woche hier an den Start gehen, unter neutraler Flagge... Friebe:...eine richtige Entscheidung? Warner: Ja. Ich bin davon überzeugt, dass die Leute, die diese 19 Athleten getestet haben, gute Arbeit gemacht haben. Es ist also richtig. Denn sehen Sie, wenn ein Russe hier Gold gewinnt und dann bei der Siegerehrung auf dem Podium steht, wird nicht die russische Nationalhymne, sondern die IAAF-Hymne gespielt. Das ist doch fast die größte Strafe, die Russland zugefügt werden kann. Es ist also in gewisser Weise richtig, was hier passiert, weil es Russland dazu zwingt, sich den eigenen Problemen zu stellen, indem sie sehen, dass einige Athleten hier antreten können, es ihnen aber verboten ist, ihre Nationalität zu feiern. Ich hoffe, Russland kommt zurück. Aber es muss sauber zurückkommen. Dieser Prozess scheint langsam zu verlaufen, da weiter Tatsachen geleugnet werden. Friebe: Wird weltweit genügend dafür getan, um Doping zu bekämpfen? Warner: Es gibt zu wenig Geld. Das ist offensichtlich, wenn man sich die Budgets der WADA oder der nationalen Anti-Doping-Agenturen anschaut. Je mehr Geld man zur Verfügung hat, desto mehr Tester kann man einstellen und mehr Ermittler, die Doping- und Korruptionsvorwürfen nachgehen können. Wir brauchen mehr Mittel. Das IOC muss der WADA mehr Geld geben, ebenso nationale Regierungen, internationale Verbände wie die FIFA oder die IAAF, sie alle müssen mehr geben. Die WADA müsste eine viel größere Einrichtung sein. Ihr Bestreben ist großartig, aber sie muss wachsen. Friebe: Wenn wir über Doping sprechen, müssen wir auch über die Siegerlisten reden, die sich auf Grund von nachträglichen Disqualifikationen teilweise noch Jahre später ändern. In London gehen Sie deshalb neue Wege und veranstalten eine spezielle Siegerehrung nur für Sportler, die nun die ihnen einst verwehrten Medaillen erhalten. Ist das der richtige Schritt? Warner: Ja, absolut. Wenn ein Athlet eine Medaille nicht gewinnt, weil jemand anderes dopt und das aber erst ein, zwei oder fünf Jahre später rauskommt, werden sie auch des Triumphmoments vor großem Publikum beraubt. Das ist für mich der traurigste Aspekt an der ganzen Geschichte. Unsere Idee war es, den betrogenen Sportlern diesen Moment zurückzugeben. Bislang wurden die neuen Medaillen per Post verschickt, nach dem Motto: Hier hast Du sie, herzlichen Glückwunsch. So können nun die Fans den Sportler beglückwünschen und es erinnert alle erneut an das Dopingproblem. Das ist nicht schön, aber wir können uns ja nicht davor verstecken. Also sehe ich es lieber, dass ein Athlet auf das Podium tritt, wenn er die Goldmedaille wirklich gewonnen hat, und seine Nationalhymne hören kann. Für mich ist das der einzig richtige Weg. Erfolg oder Misserfolg von Trainern und Sportlern nicht an Medaillen festmachen Friebe: Kann man diesen Augenblick zurückbringen? Warner: Nein, natürlich nicht. Man kann nie genau diesen Moment zurückbringen, aber man kann einen neuen Augenblick erschaffen. Es ist ein schönerer Moment, als wenn man die Post öffnet und eine Goldmedaille findet. Hier haben sie die Chance, vor 60.000 Zuschauern aufs Treppchen zu steigen und sich beklatschen zu lassen. Es wird nicht so sein, wie es damals gewesen wäre, aber es ist besser als gar nichts. Friebe: Zu Beginn unseres Gesprächs erzählten Sie von dem Vermächtnis, dass die Olympischen Spielen 2012 hinterlassen haben. Nun hat die Mail on Sunday letzte Woche einen Bericht veröffentlicht, demnach die Spiele von London die wohl schmutzigsten aller Zeiten waren. Wird das Vermächtnis von 2012 dadurch erheblich beschädigt? Warner: Nein, also… ja, die Erinnerung an 2012 wäre natürlicher glanzvoller, hätte es diese Dopingenthüllungen nicht gegeben. Aber das ist die Herausforderung, der sich die Leichtathletik stellen muss – und andere Sportarten genauso. Wir waren an dem Punkt, an dem die Doper den Testern überlegen waren. Wir mussten an den Punkt kommen, an dem die Tester diesen Umstand beenden konnten. Es ist ein Wettrüsten zwischen den beiden Seiten. Friebe: Zum Abschluss des Gesprächs will ich noch einmal auf Medaillen zu sprechen kommen. Wenn Die WM vorbei ist, werden wir den Medaillenspiegel anschauen und daran ablesen können, welches Land am erfolgreichsten war. Ist das in Anbetracht der Dopingproblematik nicht etwas, von dem wir uns verabschieden sollten? Warner: Nein, ich finde, der Medaillenspiegel macht Spaß, die Leute lieben ihn, sie reden darüber. Trainer werden verflucht, wenn Medaillen verpasst werden. Wenn Medaillen gewonnen werden, fühlen sie Nationalstolz. Ich denke, in der Leichtathletik ist dieser Ländervergleich bei einer WM sehr wichtig, viel wichtiger als etwa bei einem Diamond-League-Meeting, wo die Athleten in ihren eigenen Leibchen an den Start gehen... Friebe:...aber Sie sind kein großer Anhänger vom Medaillenzählen? Warner: Nein, bin ich nicht. Man sollte es unterlassen, den Erfolg oder Misserfolg von einzelnen Trainern oder Sportlern einzig an Medaillengewinnen festzumachen, aber dennoch sollte man sich die Medaillenanzahl anschauen. Die Beurteilung sollte ganzheitlich erfolgen: Kommt der Sport voran? Gibt das Team sein bestes? Macht es alles aus seinen Möglichkeiten? Gibt es allen Teammitgliedern eine Chance, seinen Beitrag zu leisten? All diese Dinge muss eine Mannschaft beachten – und es muss Medaillen gewinnen. Man sollte sie also zählen, aber man sollte nicht alle Entscheidungen nur im Hinblick auf den Medaillenspiegel fällen. Das wäre ein Fehler. Einige Leute bewerten nur diesen einen Parameter, aber ich denke, man sollte noch mehr in die Beurteilung einfließen lassen. Aber die Fans kann man nicht davon abhalten, die Medaillen zu zählen. Würde man die Zahlen nicht selbst veröffentlichen, würden die Leute von sich aus anfangen zu zählen. Es gehört dazu, denn es ist ein Sport, in dem man für sein Land antritt. Und das ist doch eine der größte Freuden: Man wird auserwählt, um für sein Land anzutreten, für Deutschland, Großbritannien, die USA. Das sollte man nicht abschaffen. "Wir dürfen Athleten nicht wie eine Ware behandeln" Friebe: Sie sagen das ja vermutlich auch vor dem Hintergrund der großen Debatten, die es in Großbritannien derzeit gibt bezüglich der Wohlfahrt von Athleten, speziell jungen Sportlern. Passt das zusammen, das Wohlergehen von Athleten und Medaillen - der Druck, leisten zu müssen? Warner: Es ist ein Problem hierzulande, so wie vermutlich auch in anderen Ländern. Und ich sorge mich, ob in allen Sportarten wirklich immer ethisch korrekt nach Medaillen gestrebt wird. Wir müssen sicherstellen, dass man sich jederzeit um die Athleten kümmert, auch nach ihrer Karriere. Wir dürfen sie nicht wie eine Ware behandeln. Sie sind keine Ware, sondern Menschen, die dieselbe Aufmerksamkeit, Betreuung und korrekte Behandlung verdient haben, die wir uns in jeder Lebensphase wünschen. Sie unterscheiden sich durch ihr Athletendasein, weil ihre Leistung öffentlich und messbar ist, aber ansonsten sind sie wie wir. Wir sollten das jederzeit anerkennen. Friebe: Um das abzuschließen: Braucht es ein spezielles Wohlfahrtprogramm, um gegen Missbrauch vorgehen zu können? Und sollte das bei jedem Sportfördersystem eine Rolle spielen? Warner: Ja, so sollte es sein. Das ist in meinen Augen absolut richtig. Und der Fördergeber UK Sport hat dies auch erkannt und die Beträge erhöht. Aber das sollte auch Bestandteil davon sein, was der britische Leichtathletikverband tut, was der deutsche Verband tut oder auch die internationalen Verbände. Definitiv. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ed Warner im Gespräch mit Matthias Friebe
In London steigt dieser Tage die größte Leichtathletik-WM aller Zeiten. Und vielleicht die letzte ihrer Art, glaubt man Organisationschef Ed Warner. Der Sport müsse sich verändern, wolle er weiter relevant bleiben, sagt er im Dlf. Ein Gespräch über die Angst vor dem Terror, den "Entertainer" Thomas Röhler und die Folgen des russischen Dopingskandals.
"2017-08-06T23:30:00+02:00"
"2020-01-28T10:40:35.710000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dlf-sportgespraech-mit-ed-warner-wir-brauchen-100.html
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Berlin sieht Russland in der Pflicht
Die Bundesregierung nehme diese und ähnliche Berichte sehr ernst, so Regierungssprecher Steffen Seibert. Jedem einzelnen der dokumentierten Schicksale müsse nachgegangen, die Schuldigen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. "Die Konfliktparteien sind aufgerufen, die Verrohung, die sich in genau diesen Berichten ausdrückt, im Konfliktgebiet Einhalt zu gebieten. Und ganz besonders Russland ist aufgerufen, seinen Einfluss auf die separatistischen Gruppierungen in der Ostukraine zur Geltung zu bringen in Richtung Mäßigung." Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, zeigte sich überrascht nicht von der Dimension der Menschenrechtsverletzungen, aber von den Gesamtzahlen, die die Dokumentation nennt. Dagegen kritisierte die Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine, Marieluise Beck, Beobachtern seien die Verbrechen der sogenannten Separatisten bereits länger bekannt. In der Politik fehle es aber bislang an der Bereitschaft, den Charakter des brutalen Willkürregimes zur Kenntnis zu nehmen und zu verurteilen. Im Deutschlandradio Kultur sagte die Grünen-Politikerin: "Der Westen, das Normandie-Format, drängen die Regierung in Kiew massiv, ein Wahlgesetz zu machen, damit dort Wahlen stattfinden können. Wahlen, faire und gleiche Wahlen, können nicht stattfinden in einer Region, in der es in diesem Ausmaß Folter, Einschüchterung, Bedrohung, Folter-Keller gibt." Im Normandie-Format verhandeln Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine. "Die Bedenken von Frau Beck, die teilen wir", antwortete Außenamtssprecher Schäfer. Gerade deshalb arbeite die OSZE an Konzepten zu einem Gesetz für die Lokalwahlen, die in einem Umfeld von Sicherheit und Frieden stattfinden müssten: "Dass wir da noch nicht sind, ist richtig. Dass wir darum ringen seit Monaten, dahin zu kommen, ist auch richtig." Beck kritisierte außerdem, die Vereinbarungen von Minsk enthielten eine unscharfe Formulierung über eine Amnestie. Die Täter erwarteten, dass sie nicht bestraft würden. "Straflosigkeit setzt diese wahnsinnige Brutalität bei manchen Menschen frei, die sie ungehemmt ausleben können, weil sie nicht erwarten, dass sie jemals zur Rechenschaft gezogen werden." "Andere Qualität von gerichtlichem Vorgehen möglich" Gerade hier sieht Gernot Erler in der Dokumentation der Menschenrechtsorganisationen neue Chancen. Das Problem sei es, Belege und Beweise zu finden, so der Russlandbeauftragte der Bundesregierung im Deutschlandfunk: "Wir sind seit langem unterrichtet über extralegale und standrechtliche Tötungen. Über Folterungen und Erniedrigungen von Gefangenen über Scheinerschießungen, schwere körperliche Misshandlungen, Vergewaltigungsdrohungen, Zwangsarbeit und so weiter. Das sind leider Dinge, die immer wieder bekannt werden. Aber jetzt liegt offenbar erstmals eine Dokumentation vor, die möglicherweise dann auch eine andere Qualität von gerichtlichem Vorgehen möglich macht." Rebecca Harms, Chefin der Grünen-Fraktion im Europaparlament, will Erler auffordern, den Bericht im Kreml anzusprechen. Sie betonte im Deutschlandfunk: "Die russische Seite hat in der Erfüllung des Minsker Abkommens noch nie das geliefert, was sie unterschrieben hatte, wozu sie sich in Minsk bekannt hatte. Und mit dieser russischen Seite muss auf der Grundlage dieses Berichts neu geredet werden." Via Twitter kündigte sie an, sich auch an die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zu wenden. Linken-Fraktionsvize Wolfgang Gehrcke fordert die Staaten des Normandie-Formates auf, sofort eine internationale Expertenkommission einzurichten. Die solle die Vorwürfe - mit Hilfe der OSZE - untersuchen.
Von Gudula Geuther
Menschenrechtsorganisationen haben in der umkämpften Ostukraine 4.000 Fälle von Verschleppungen und Folter dokumentiert, vor allem von Seiten prorussischer Separatisten. Die Bundesregierung fordert Aufklärung, die Opposition kritisiert das Minsker Friedensabkommen.
"2016-05-18T18:10:00+02:00"
"2020-01-29T18:29:59.389000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/folter-in-ostukraine-berlin-sieht-russland-in-der-pflicht-100.html
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Das Ende der Planwirtschaft
So schön kann Landwirtschaft sein. Glückliche Kühe grasen auf saftigen Wiesen vor einem alten Bauernhof, gleich dahinter die Berge. Diese ländliche Kulturlandschaft zu erhalten, das ist eines der Argumente für die gut 50 Milliarden Euro, mit denen die Europäische Union jedes Jahr die Landwirtschaft unterstützt. Fehlt nur noch der freundliche Bauer, der die Kühe zum Melken nach Hause holt. Aber der Bauer ist heute nicht da, er ist nach Brüssel gefahren. Und freundlich ist er heute auch nicht. Die Bauern fordern einen höheren Milchpreis, und sie finden, dass die Europäische Kommission in Brüssel dafür zuständig sei. Schließlich wird der Preis für die Milch wie für viele andere landwirtschaftliche Produkte seit gut 50 Jahren von Brüssel aus gesteuert. Doch die EU möchte die Planwirtschaft beenden. Seit 2004 wird der Milchpreis schrittweise dem Markt ausgesetzt, im Gegenzug bekommen die Bauern jedes Jahr einen festen Betrag aus Brüssel, sogenannte Direktbeihilfen, die sich an der Größe des Hofes orientieren. Doch jetzt ist der Preis so niedrig wie noch nie. Gerade einmal 20 bis 25 Cent erhalten die Milchbauern noch für jeden Liter. Davon könne man nicht leben, sagt Josef Pfeffer aus Cham im bayerischen Wald. 40 Milchkühe hat er zuhause im Stall. Bis vor zwei Jahren sei alles gut gegangen, sagt er, aber jetzt ginge gar nichts mehr:"Beschissen. Einfach beschissen. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Auf einer Seite reicht das Geld nicht, auf der anderen Seite werden wir im Internet an den Pranger gestellt, weil wir ja Subventionsempfänger sind. Mein Betrieb kriegt ungefähr 10.000 Euro vom Staat. Und nur durch den Milchpreisverlust vom letzten Jahr und heuer gehen ungefähr 30.000 kaputt." Die Milchbauern sind verunsichert - verunsichert und frustriert. Dass die Höhe der EU-Subventionen seit ein paar Monaten für jeden Hof bis auf den letzten Cent im Internet nachzulesen ist, das hat die Stimmung endgültig verhagelt. In den Dörfern weiß inzwischen jeder, wie viel 1000 Euro der Bauer von nebenan von der EU bekommt. Die Bauern fühlen sich von den Nachbarn beobachtet und kontrolliert, und nicht wenige sehen inzwischen überall eine große Verschwörung – an der auch die Medien mitwirken würden."Das ist doch letztendlich gesteuert, was ihr dann sendet, oder?" Irgendetwas muss gründlich schief gelaufen sein mit der europäischen Agrarpolitik. Seit 50 Jahren wendet die EU immer mehr Geld für die Landwirtschaft auf – 55 Milliarden Euro sind es in diesem Jahr - doch das Ergebnis sind zornige und verzweifelte Bauern, von denen viele das Handtuch werfen. Zum Ende dieses Jahres werden wieder rund 12.000 Höfe aufgegeben haben, so wie jedes Jahr. Noch vor 70 Jahren versorgte ein Bauer rund 10 Menschen mit Nahrungsmitteln. Heute produziert er im Schnitt Lebensmittel für 140 Menschen. Da ist es kein Wunder, dass die Preise für Agrarprodukte über die Jahre gesunken sind. Kein Wunder, dass jedes Jahr Bauern ihren Hof aufgeben. Der Agrarforscher Jo Swinnen von der Universität Löwen hat beobachtet, dass dieser Strukturwandel stattfinde, gleichgültig, welche Politik in Brüssel gerade betrieben werde. "Der Einfluss der Agrarpolitik auf die Beschäftigung in der Landwirtschaft ist sehr niedrig. Wir hatten in den letzten 40 Jahren einen nahezu konstanten Abgang aus der Landwirtschaft von drei Prozent. (…) Natürlich kommt es auch vor, dass junge Bauern aufgeben. Aber die Regel ist, dass ein Bauer in Rente geht und keinen Hofnachfolger hat. Die EU-Politik hat darauf so gut wie keinen Einfluss. Die Zahl der stillgelegten Höfe liegt seit Jahrzehnten unverändert bei drei Prozent." Wenn Höfe stillgelegt werden, dann bedeutet dies allerdings nicht, dass auch die Produktion aufhört. Andere Bauern übernehmen die Felder, selbst die Milchquote der Höfe wird weiterverkauft. Die Warnung der deutschen Agrarministerin Ilse Aigner, das Bauernsterben gefährde die Nahrungsmittelsicherheit, ist Unsinn. Richtig ist: Es gibt immer weniger Bauern, aber die stellen immer mehr her. Der Produktivitätszuwachs macht auch vor Tieren nicht halt. 1960 gab eine Kuh im Durchschnitt 3200 Liter Milch pro Jahr. Heute liegt der Schnitt bei 9000 Litern. Spitzenkühe bringen es sogar auf 15.000 Liter. Zuchterfolge und Kraftfutter machen es möglich. Ein Kilo Kraftfutter gibt knapp zwei Liter Milch, so die Faustformel. Ein Ende ist nicht in Sicht. Bislang melken die Bauern meist früh am Morgen, wenn die Tiere nicht ganz wach sind. Neuartige Melkroboter erlauben den Kühen, ihre Melkzeiten selbst zu bestimmen. Die Kühe trotten in den Melkroboter, wann und wie oft sie Lust haben. Damit ließen sich problemlos noch einmal 20 Prozent mehr Milch aus der Kuh heraus holen, versprechen Melkmaschinenhersteller. Doch wer soll all die Milch trinken? Anfang der 80er-Jahre, als die Europäische Union in Milchseen versank, zogen die Agrarminister schon einmal die Notbremse. Damals garantierte die Europäische Union den Bauern noch einen festen Milchpreis. Mit dem Ergebnis, dass die Landwirte immer mehr lieferten und die EU Milliarden ausgab, um die Überschüsse aufzukaufen, einzulagern und irgendwann zu vernichten. In ihrer Verzweiflung führten die Agrarminister 1984 die Milchquoten ein. Seitdem darf jeder Bauer nur noch eine bestimmte Menge Milch abliefern, und seitdem wird in der Europäischen Union praktisch jedes Jahr dieselbe Menge Milch gemolken. Der Produktivitätsfortschritt habe trotzdem angehalten, bestätigt der Bauer Albert Dess: "Ich habe mal 49 Milchkühe auf meinem Betrieb gehabt, und dann hab’ ich später mit 33 Kühen die gleiche Menge erzeugt. Ich hab’ weniger Arbeit gehabt." Dess sitzt seit fünf Jahren als Europaabgeordneter der CSU in Brüssel. Seinen Bauernhof unterhält er immer noch, aber die Milchkühe hat er abgeschafft. 13.000 Euro bekomme er an Agrarsubventionen von der Europäischen Union, das sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs, so wie die meisten Bauern inzwischen - seit man die Beträge im Internet nachschlagen kann. Dess war früher ein energischer Verfechter der Milchquote. Die strikte Mengenbeschränkung sollte die Milchpreise hochhalten und vor allem die kleinbäuerlichen Betriebe schützen. Doch die Quote hat weder das eine noch das andere Ziel erreicht. Seit Einführung der Quotenregelung am 1. April 1984 haben sich 80 Prozent der Milchbauern aus der Milchwirtschaft verabschiedet. Und jetzt sind auch noch die Preise abgestürzt. Deshalb ist der Europaabgeordnete Albert Dess heute zwar kein vehementer Gegner der Quote. Das wäre problematisch, wo doch sein Parteivorsitzender, der CSU-Chef Horst Seehofer, so lautstark für die Milchquote eintritt. Aber der CSU-Agrarexperte Dess hält es für unvermeidlich, dass die Quotenregelung bis 2015 ausläuft. Die europäischen Agrarminister hätten dies so beschlossen, und es werde sich keine Mehrheit mehr finden, glaubt der CSU-Mann Dess, um die Quotenregelung noch einmal mal zu verlängern. Denn in Wirklichkeit wolle nur ein Teil der Bauern die Milchquote erhalten, auch wenn es anders aussähe: "Es gibt zwei Gruppen, die massiv für die Quote eintreten. Die eine Gruppe sind diejenigen Landwirte, die in den letzten Jahren Quote gekauft haben. Aber sie haben sie in dem Wissen gekauft, dass das Quotensystem nicht unendlich weiterläuft. Und eine zweite Gruppe sind die Landwirte, die in den nächsten fünf oder zehn Jahre aufhören wollen. Weil, wenn es weiter ein Quotensystem gibt, kann man die Quote verkaufen." Die Milchquote ist längst Teil des Problems und ganz sicher nicht die Lösung. Vor zwei Jahren, als der Milchpreis noch hoch war, haben sich vor allem junge Bauern entschlossen, den Stall zu erweitern. Wer damals 20 Kühe dazustellte, der musste allein bis zu 200 000 Euro hinlegen, um anderen Bauern die nötige Quote abzukaufen. Diese Investitionen drücken umso schwerer, seit der Milchpreis so niedrig ist. Noch deutlicher wird das Problem bei den vielen Bauern, die eine Quote gepachtet haben. 10, 12 Cent Pacht pro Liter sind keine Seltenheit. Für jene Landwirte, die aufgehört und ihre Quote verpachtet haben, ist das ein schönes Zubrot zur Altersversorgung. Da kommen leicht ein paar 1000 Euro im Jahr zusammen. "Sofamelker" heißen die Verpachter in der Branche. Doch für die Pächter der Quote wird es eng. In Großbritannien, in den Niederlanden, in Dänemark und Schweden fordert die Mehrheit der Landwirte längst das Ende der Quote, und auch in Deutschland gibt es viele Milchbauern, die dem lautstarken Verband der Milchbauern leise widersprechen. Zum Beispiel Britta Reimers: "Weil ich selber als praktizierende Landwirtin gesehen habe, wie die Quote uns als Unternehmer einengt und in einen Plan reinzwängt, den wir nicht selber bestimmen können. Wir brauchen ein bisschen Freiheit, um unsere Betriebe selber entwickeln zu können und uns eigenverantwortlich aufstellen zu können." Britta Reimers wurde im Juni für die FDP ins Europaparlament gewählt. 100 Milchkühe hat sie zuhause in Schleswig-Holstein im Stall stehen, der Hof gehört damit zu den größeren. Doch die Liberale wehrt sich gegen den Vorwurf, dass sie nur die großen Bauernhöfe im Blick habe. Die Abschaffung der Quote nütze auch kleineren Betrieben. Seit Einführung der Milchquote 1984 ist der Anteil der Europäischen Milcherzeugnisse am Weltmarkt kontinuierlich geschrumpft. "Zu teuer", hat der Europäische Rechnungshof gerade erst in einem Sonderbericht vorgerechnet, die meisten europäischen Milchprodukte könnten nur mit enormen Ausfuhrzuschüssen abgesetzt werden. Exporterstattungen heißen diese Zuschüsse im EU-Jargon, und sie haben die Europäische Union weltweit in Verruf gebracht. Denn selbst in Afrika wird EU-Milch zu Dumpingpreisen auf den Markt gedrückt und treibt die lokalen Bauern in den Ruin. Die EU-Kommission will die Exporterstattungen reduzieren, vor allem beim Handel mit Entwicklungsländern. Bei einigen Agrarprodukten sind sie inzwischen ganz abgeschafft. Doch für die Milch hat die EU-Kommission die Dumpingzuschüsse gerade wieder eingeführt. Vorübergehend, wie es heißt, um den aus den Fugen geratenen Milchmarkt wieder zu stabilisieren. Doch langfristig sei das keine Lösung, ist EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer-Boel überzeugt. Die Bauern sollten weder auf Exporterstattung noch auf Mengenbeschränkung setzen. "Ich möchte eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die auf die Wünsche der Verbraucher reagieren kann und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ich denke, wir haben qualitativ hochwertige Produkte, für die wir Käufer auch in den aufstrebenden Regionen in Asien finden können, vor allem in China und Indien. Deshalb will ich nicht, dass unsere Bauern durch Quoten in ihrer Produktion eingeschränkt werden." Bislang haben vor allem die neuseeländischen Bauern vom Wachstum der asiatischen Märkte profitiert. Die Europäische Union spielt dort praktisch keine Rolle. Denn Milchpulver und Butter, die die EU im Überschuss produziert, werden fast überall in der Welt billiger hergestellt. Chancen auf dem Weltmarkt hätten die Europäer höchstens mit hochwertigen weiterverarbeiteten Produkten, wie speziellen Yoghurts und besonderen Käsesorten. Doch dafür dürften die Europäischen Milchpreise nicht mehr viel weiter steigen, und der Milchsektor müsste lernen, stärker auf die Nachfrage einzugehen. Seit Jahrzehnten haben viele europäische Bauern ihre Produktion vor allem daran orientiert, wofür es Zuschüsse gibt. Entscheidend war nicht die Nachfrage, sondern die Frage, was gerade am höchsten subventioniert wurde. Doch das Umdenken habe begonnen, glaubt Agrarforscher Jo Swinnen: "Schauen sie nach Flandern, dem nördlichen Teil Belgiens. Der bei weitem dynamischere Teil der Landwirtschaft erzeugt Produkte, die keine oder nur sehr wenig Subventionen bekommen: Obst, Gemüse, auch Schweinezucht. Das bedeutet, dass vor allem die Bereiche, die bislang hoch subventioniert wurden, Probleme mit dem anstehenden Strukturwandel haben." Als die Agrarsubventionen vor 50 Jahren eingeführt wurden, ging es darum, die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln. Damals mussten massiv Lebensmittel importiert werden. Die EWG, wie sie damals hieß, garantierte den Bauern deshalb einen sicheren Preis. Mit Erfolg. Bereits 1973 stellten die EWG-Länder genügend eigene Lebensmittel her, um die Bevölkerung zu versorgen. Doch die hohen Garantiepreise blieben, und die Bauern ernteten und molken immer mehr. Weit mehr, als die Bevölkerung konsumieren konnte. Seither kämpft die EU darum, mit den wachsenden Überschüssen fertig zu werden. Einschneidende Reformen scheiterten lange Zeit an den Regierungen, die sich nicht mit ihren Bauern anlegen wollten. Erst als die Lagerung und Beseitigung der Überschüsse den EU-Haushalt zu sprengen drohte, wurden die Subventionen schrittweise umgeschichtet. Bei Getreide und Fleisch zum Beispiel erhalten die Bauern keine garantierten Preise mehr. Die EU kauft auch nichts mehr auf, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Dafür bekommen die Landwirte einen jährlichen Scheck aus Brüssel, je nachdem, wie viel Hektar sie bewirtschaften. Seitdem müssen sich die Bauern danach richten, was sie gut verkaufen können. Nur bei der Milch haben sich die Regierungschefs lange Zeit nicht getraut, den Bauern mehr Markt zuzumuten. Milch gilt als besonders wichtig für kleine Höfe, weil das Milchgeld jeden Monat kommt und nicht erst bei der Ernte, und weil Milchkühe auch in Gegenden gehalten werden, wo sonst nicht viel zu erwirtschaften ist. Deshalb hat die Mengenbeschränkung durch die Quote auch die EU-Agrarreformen von 1993 und 2000 überlebt - immer in der Hoffnung, so den Preis hochzuhalten. Vor sechs Jahren haben die EU-Regierungen die Milchquoten sogar noch einmal verlängert, allerdings mit der Maßgabe, die erlaubten Produktionsmengen schrittweise auszuweiten und die Quote 2015 ganz abzuschaffen. Seitdem protestieren die Milchbauern. Nicht immer zu ihrem Vorteil, fürchtet der CSU-Europaabgeordnete Albert Dess. "Bei den momentanen Milchpreisen, 22 Cent, 25 Cent, kann kein Bauer seine Kosten erwirtschaften. (…) Aber was für mich unverständlich ist, dass man voriges Jahr im Juni einen Streik vom Zaun gebrochen hat, als der Milchpreis bei 40 Cent war. Das Buchführungsjahr 2007/2008 war mit Sicherheit ein gutes Jahr für die Milchbauern. Und dieser Streik hat mit Sicherheit den Milchbauern mehr geschadet als genützt. In Deutschland ist die Industrie sehr stark aus der Verarbeitung von Butterfett ausgestiegen. Die Mengen haben wir verloren, und die werden wir nicht mehr zurückbekommen." So ist auch die Speiseeisindustrie wegen der unsicheren Liefersituation durch die Bauernstreiks auf Pflanzenfette umgestiegen. Heute kauft sie rund 100 000 Tonnen weniger Butter. Die EU-Kommission hat ihrerseits beobachtet, dass in der aktuellen Wirtschaftskrise viele Verbraucher noch mehr aufs Geld schauen und bei der kleinsten Erhöhung der Milchpreise weniger Butter, Käse oder Joghurt kaufen. In der ganzen Diskussion schwingt viel Ratlosigkeit mit. Manche Politiker fordern, man sollte Bauern in den Vorruhestand schicken, um den Markt zu entlasten. Andere reden von riesigen Exportchancen, die sich irgendwie eröffnen könnten. Die EU-Kommission wiederholt derweil alte Fehler: Sie kauft wieder Milchpulver und Butter auf, legt Lager an, zahlt Exporterstattungen. Nicht so viel wie früher, nur ein bisschen, um die Milchbauernverbände zu beruhigen. 600 Millionen Euro hat sie seit Jahrsanfang zusätzlich in den Milchmarkt gepumpt. Ein Konzept ist dahinter nicht zu erkennen. Zugleich will EU-Kommissarin Fischer-Boel jetzt den Markt unter die Lupe nehmen. Sie hat den Verdacht, dass sich die großen Lebensmittelhändler absprechen, um den Milchpreis zu drücken. "Es sind nicht so viele Leute, die darüber entscheiden, was in den Regalen ist, und zwar in ganz Europa. Denn wir haben die sehr starken Supermarktketten und da wollen wir genauer hinsehen. Ich würde nicht sagen, dass es aktuelle Kartellabsprachen gibt. Aber ich wüsste gerne, wie das System funktioniert und wenn es nicht richtig funktioniert, dann werden wir Maßnahmen ergreifen müssen." Viel wird dabei wohl nicht herauskommen. Vielleicht lassen sich die Lebensmittelketten allein durch die Drohung beeindrucken und heben den Milchpreis etwas an. Doch dann wächst die Gefahr, dass die Verbraucher weniger Milchprodukte kaufen - und damit ist den Bauern auch nicht gedient. Weite Teile der Bevölkerung bringen zwar immer noch viel Verständnis für die Nöte der Milchbauern auf. Doch die Zweifel, ob die Gesellschaft dafür soviel Geld aufwenden muss, wachsen. Der britische Europa-Abgeordnete Syed Kamall vertritt einen Wahlkreis in London, in dem viele Arbeiter und wirtschaftlich Benachteiligte leben. Er könne seinen Wählern nicht erklären, warum die EU ihre Lebensmittel künstlich verteuere, kritisiert Kamall. "Was machen wir da eigentlich? Erst nehmen wir das Geld der Steuerzahler, um es den Bauern zu geben. Und dann sollen die Leute auch noch mehr für ihre Milch zahlen. Das ist sicher nicht die effizienteste Art mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen."
Von Alois Berger
Die Bauern fordern von der Europäischen Kommission in Brüssel, für einen höheren Milchpreis zu sorgen. Doch die EU möchte die Planwirtschaft beenden. Seit 2004 wird der Milchpreis schrittweise dem Markt ausgesetzt.
"2009-10-18T18:40:00+02:00"
"2020-02-03T10:09:14.837000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/das-ende-der-planwirtschaft-102.html
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"Keine Krise, nur ein vorübergehender Rücksetzer"
Auch der gedämpfte Export hat die Wirtschaft schrumpfen lassen (Axel Heimken/dpa) Zu allzu großer Sorge für die weitere Wirtschaftsentwicklung besteht noch kein Anlass, das sehen viele Ökonomen so, auch Holger Bahr, Leiter Volkswirtschaft der Dekabank: "Der Konjunktur und der Wirtschaft geht es insgesamt noch gut. Aber für das dritte Quartal 2018 ist so ziemlich alles zusammengekommen, was man sich an unangenehmen Dingen vorstellen kann, oder was vielleicht noch eher zufällig mit hinzugekommen ist, ob dass das Wetter ist, ob das Testverfahren in der Automobilindustrie sind. Und dann kann es sogar passieren, dass die deutsche Volkswirtschaft in einem Quartal einmal schrumpft und damit das Bruttoinlandsprodukt leicht gesunken ist." Dicke Pullis in den Läden bremsen den Konsum Die Lieferschwierigkeiten in der Autoindustrie hätten das Bruttoinlandsprodukt zwischen Juli und September allein um 0,4 Prozent gedämpft, rechnete das Bundeswirtschaftsministerium vor. Das führte dann insgesamt zu dem Rückgang um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Im zweiten Vierteljahr war die deutsche Wirtschaft noch um 0,5 Prozent gewachsen. Doch auch der Export schwächelte wieder, hieß es vom Statistischen Bundesamt. Die Handelskonflikte zwischen den USA und China, aber auch zwischen den USA und Europa belasteten weiter, sagt Michael Holstein, Leiter Volkswirtschaft der DZ-Bank: "Da erwarten wir jetzt keine kurzfristige Entspannung zumindest, aber trotzdem läuft die Weltwirtschaft ja insgesamt mit relativ guten Raten nach wie vor. Und auch da erwarten wir also bei den Exporten keinen weiteren Rückgang, sondern eher wieder einen positiven Trend." Zwar wurde mehr in Ausrüstungen investiert wie in Maschinen oder Anlagen, auch die Baubranche floriert weiter. Der private Konsum ließ jedoch etwas nach – ein vorübergehendes Phänomen, glaubt Volkswirt Bahr: "Grundsätzlich sollte der Konsum laufen, wird er auch in den kommenden Quartalen wieder, die Arbeitsmarktlage in Deutschland ist einfach fantastisch, Lohnsteigerungen im nächsten Jahr, Rentenerhöhungen. Aber: der Sommer war unfassbar heiß und speziell für den September, wo die Winterware schon wieder in der Läden lag und verkauft werden sollte, blieb die natürlich liegen wie Blei, so dass tatsächlich Einzelhandelsumsätze entgegen der saisonüblichen Entwicklung dann auch schwach waren und so dass sogar der Konsum ausgefallen ist." "Schlimm würde ich es nicht nennen" Doch klar ist auch: So dynamisch wie noch im vergangenen Jahr wird die Wirtschaft nicht mehr wachsen, meint Michael Holstein von der DZ-Bank: "Wir haben es natürlich mit einem schwächeren Wachstum in Deutschland zu tun, eigentlich ist das ja schon ein Trend seit Anfang des Jahres, aber schlimm würde ich es nicht nennen. Es ist eher eine Entwicklung momentan in Richtung Normalisierung, zu einer Wachstumsrate, wie wir sie erwarten zumindest, in den nächsten Jahr von rund eineinhalb Prozent. Das wäre immer noch eine gute Wachstumsrate. Insofern ist das jetzt keine Krise, sondern eher ein vorübergehender Rücksetzer." Das gilt, solange die EZB nicht abrupt die Zinsen erhöht oder eines der schwelenden politischen Risiken für eine Verunsicherung sorgt.
Von Brigitte Scholtes
Dämpfer für die deutsche Wirtschaft: Erstmals seit 2015 ist sie im dritten Quartal wieder geschrumpft, um 0,2 Prozent. Gründe gibt es dafür einige, wie etwas gesunkene Exporte und das neue Autozulassungsverfahren. Ökonomen sehen das Ganze deshalb relativ gelassen.
"2018-11-14T13:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:20:30.237000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-wirtschaft-schrumpft-keine-krise-nur-ein-100.html
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Alt gegen Neu: VW startet Umtauschprämienaktion
In Stuttgart stehen bald Fahrverbote für gar nicht so alte Dieselautos an (dpa-Bildfunk / Bernd Weißbrod) Alte Diesel verschrotten – das ist das Ziel der neuen Umtauschprämienaktion, die Volkswagen heute startet. Bis zu 10.000 Euro will der Autobauer zahlen – je nach Modell der Konzernmarken Audi, Seat, Skoda und VW, das der Kunde wählt. Dabei will VW Diesel mit den Abgasnormen Euro 1 bis 4 beliebiger Hersteller zurücknehmen und verschrotten, während der Kauf eines neuen Autos oder eines Jahreswagens unterstützt werde, erläutert VW-Sprecher Marc Langendorf: "Mit den attraktiven Angeboten können unsere Kunden ein neues Auto zum Teil günstiger finanzieren als ihr altes. Diese Maßnahmen zur Flottenerneuerung sind die beste Lösung, um schnell Erfolge bei der Verbesserung der Luftqualität in unseren Städten zu erziehen. Wir verfolgen hier das gleiche Ziel wie die Bundesregierung, Fahrverbote für Dieselfahrer möglichst zu vermeiden." Kritik kommt von Baden-Württembergs Verkehrsminister Ein Konjunkturprogramm für die Autobauer sei das, meinen jedoch Experten. Die Hersteller jedenfalls weigern sich bisher ja, technische Nachrüstungen älterer Diesel zu bezahlen bzw. die Garantie dafür zu übernehmen. Die Verabredungen der Autohersteller mit der Bundesregierung seien da viel zu vage, moniert Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann: "Wie laufen die Verfahren, wie ist das Kraftfahrtbundesamt aufgestellt, wie etwa wird der Grenzwert von 270 Milligramm pro Kilometer ermittelt, nach welchem Verfahren, wie lange braucht man? Es sind sehr viele Fragen noch ungeklärt und vor allen Dingen bin ich beunruhigt, dass alles so lange dauert und dass man mit großem Tamtam einen Beschluss verkündet, der aber offenbar noch gar nicht ausgearbeitet war." Denn Eile sei geboten, mahnt Hermann. Schließlich kommen in Stuttgart erste Fahrverbote für Euro-4-Diesel zum Jahresbeginn, die Landesregierung bearbeite deshalb einen Luftreinhalteplan, der Ende November fertiggestellt sein müsse: "Wenn der Bund nicht klärt, wie er das Thema, Fahrzeuge die besser als Milligramm pro Kilometer sind, sollen auch ausgenommen werden, wenn er da keine Klarstellung hat, wie das berechnet wird, wer das zertifiziert, wie das nachgewiesen wird, dann können wir das nicht berücksichtigen." Fahrverbote für Euro-4- und 5-Diesel in Sicht Zum 1. Januar müssten dann Fahrverbote für Euro-5-Diesel umgesetzt werden, wenn die Luftqualität sich nicht verbessert. Auch da sei Eile geboten, sagt Hermann. Und schließlich stelle sich auch die Frage der Kontrolle der Fahrzeuge: "Da der Bund sich weigert, eine blaue Plakette einzuführen, obwohl das Bundesemissionsrecht genau dafür vorgesehen ist und wir ja in Ballungsräumen die grüne Plakette haben, also wir haben praktisch eine rechtskonforme Konstruktion, die man nur jetzt erweitern müsste. Und aus welchen irrationalen, quasi religiösen Gründen der Bund kategorisch eine blaue Plakette ablehnt, was sehr einfach zu überprüfen wäre, das kann ich bis heute nicht verstehen, aber sie müssen dann eine Alternative bieten." Und die Automanager? Die fordern mehr Sachlichkeit in der Diskussion. Sie trafen sich heute beim Branchengipfel der Hochschule für Automobilwirtschaft in Nürtingen. So sagte Skoda-Chef Bernhard Maier, er wünsche sich mehr Transparenz, um die Verbraucher wirklich aufzuklären. Ähnlich auch Bernhard Mattes, Präsident des Branchenverbands VDA: Er meinte, die öffentliche Debatte erzeuge zuweilen den Eindruck, das Auto sei eine aussterbende Spezies.
Von Brigitte Scholtes
Die Autohersteller weigern sich, Fahrzeuge mit mangelhafter Abgasreinigung auf eigene Kosten mit gesetzeskonformer Technik nachzurüsten. VW setzt auf Prämien und eine Umtauschaktion, die der Konzern heute startet. Nicht allen gefällt das, zumal auch neuere Autos auf dem Schrottplatz landen werden.
"2018-10-18T13:35:00+02:00"
"2020-01-27T18:16:08.019000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dieselgate-alt-gegen-neu-vw-startet-umtauschpraemienaktion-100.html
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Gesucht: Strategien im Umgang mit Russland
Das Nato-Hauptquartier in Brüssel (Julien Warnand, dpa picture alliance) Es ist auch eine Abschiedsvorstellung heute in Evere. Fast ein Jahr nach der offiziellen Übergabe des neuen Nato-Gebäudes findet das letzte Ministertreffen im alten Hauptquartier statt. Ein großes Aufwiedersehen, so die US-Botschafterin bei der Nato Kay Bailey Hutchison. Mit fast doppelt so vielen Staaten wie bei der Gründung ist das Bündnis buchstäblich herausgewachsen aus dem alten Häuserkomplex der 60er-Jahre. Und doch fühlt sich der eine oder andere heutzutage an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert. "Jahrelang hat Moskau ein gefährliches Verhalten an den Tag gelegt. Das schließt die illegitime und illegale Annexion der Krim ein, die Destabilisierung der Ostukraine, die Einmischung in demokratische Prozesse, Cyberangriffe und Desinformation." Scharf waren die Worte von Generalsekretär Stoltenberg auch nach dem Anschlag in Großbritannien und wegen der Unterstützung des syrischen Regimes trotz des dortigen Einsatzes von Chemiewaffen. Das Verhältnis zu Russland ist eines der zentralen Themen beim Treffen heute und gleich am Morgen bei einem Arbeitsfrühstück auf der Agenda der Außenminister. "Die Nato hat mit Entschlossenheit und Einigkeit reagiert und die größte Verstärkung der kollektiven Verteidigung seit dem Ende des Kalten Krieges vorgenommen." Das Dilemma der Nato Dennoch wissen alle: Ohne russische Mithilfe ist etwa der Krieg in Syrien nicht zu beenden. Die Nato steckt dabei in einem ähnlichen Dilemma wie andere westliche Institutionen, die das Verhalten Russlands einerseits kritisieren oder verurteilen und gleichzeitig sagen – wir brauchen den Dialog. Es gilt noch mehr für die Nato, denn die militärischen Kontakte müssen schon deswegen gepflegt werden, um nicht unbeabsichtigt durch Missverständnisse eine Katastrophe herbeizuführen. Wenn es stimmt, was Diplomaten sagen und ohne eine Achse Moskau Washington gar nichts funktionieren wird: Wäre die Nato am Ende dafür ein geeignetes Vehikel? Das Bündnis kann jedenfalls zur Vertrauensbildung beitragen, sagt Johannes Varwick Professor für internationale Beziehungen an der Uni Halle Wittenberg. "Die Nato war vergleichsweise gut darin, seit der Annexion der Krim eine neue politische und militärische Linie gegen Russland zu fahren, die auf Abschreckung beruht, also auf militärischer Handlungsfähigkeit. Das war notwendig, aber die Dimension der Dialogbereitschaft ist möglicherweise etwas zu kurz gekommen. Und ich denke, hier kann man nachjustieren, indem man einfach neue politische und militärische Gesprächskanäle öffnet, um aus diesem Schlamassel wieder raus zu kommen." Die Notwendigkeit des Dialogs Deutet man die allerjüngsten Zeichen, dann stehen die Signale wohl tatsächlich in diese Richtung: "Gerade wenn die Zeiten schwierig und die Spannungen hoch sind, spricht das nicht gegen, sondern für den Dialog." So Generalsekretär Stoltenberg. Und Botschafterin Hutchison unterstreicht: "Gerade zwischen den Militärs muss es diese Kontakte geben, die Möglichkeit gerade in einer Konfliktreichen Beziehung einfach zum Telefon greifen zu können, um Fehler und Missverständnisse zu vermeiden." Neuer Nato-Russland-Rat in Planung Ein jüngstes Treffen in Baku zwischen Generälen auf höchster Ebene galt etwa als sehr produktiv. Und als ein gutes Zeichen, dass Russland das Treffen trotz wachsender Spannungen nicht abgesagt hat, wie in früheren Fällen. An der Vorbereitung eines neuen Nato-Russland-Rates wird gearbeitet, ein Datum steht noch nicht fest möglicherweise noch vor dem Nato Gipfel Mitte Juli.
Von Bettina Klein
Letztmalig treffen sich heute die Nato-Außenminister im alten Hauptquartier in Brüssel. Dabei gibt es auch eine Premiere: Bundesaußenminister Heiko Maas trifft erstmals auf den gestern erst vereidigten US-Außenminster Mike Pompeo. Wichtigstes Thema auf der Agenda: der Umgang der Nato mit Russland.
"2018-04-27T07:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:49:51.916000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nato-aussenminister-treffen-gesucht-strategien-im-umgang-100.html
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Tauziehen um die Macht
Der Gründer und Präsident der Freien Patriotischen Union in Tunesien, Slim Riahi, auf einer Wahlkampfveranstaltung. (afp / Fethi Belaid) Wahlkampfabschluss auf der Avenue Bourguiba in Tunis. Die Flaniermeile im Herzen der Hauptstadt ist voller Menschen und hat sich in einen langgestreckten Basar der tausend Wahlversprechen verwandelt: überall lautstarke Kundgebungen, fahnenschwenkende Anhänger großer und kleiner Parteien verteilen Flugblätter. Die islamistische Ennahda lockt mit großer Bühne, lauter Musik, Friedenstauben und einem Feuerwerk. In der verfassungsgebenden Versammlung hatte Ennahda die letzten drei Jahre die Mehrheit, rechnet sich nun wieder Chancen auf einen Sieg aus. Partei-Chef Rached Ghannouchi betont, die Islamisten wollten einen "demokratischen Staat" errichten, eine Regierung der Nationalen Einheit bilden. Verteufelt werden sie vom großen politischen Gegner Nidaa Tounes, der bürgerlich-säkularen Partei von Ex-Premier Beji Caid Essebsi. Der fordert die Tunesier zum "vote utile" auf, zum nützlichen Wählen: Was er damit eigentlich sagen will: Wer nicht für Nidaa Tounes stimmt, verschenkt seine Stimme an Ennahda. Die junge Amal will am Sonntag wählen - aber keine dieser beiden Parteien. Von dem oberflächlichen Gezerre um die Macht ist sie enttäuscht. "Wir brauchen keine Ideologen, wir brauchen Leute, die Ahnung von Wirtschaft haben, von sozialer Gerechtigkeit. Wir brauchen kein Blabla, wir brauchen Leute, die für uns arbeiten können. Die verstanden haben: Diese Wahl wird über den Tag hinaus wirken!" Soziale Konflikte, politische Krisen, Ermordung von Oppositionellen, der Aufstieg militanter Islamisten: Tunesien hat einiges durchgemacht, seit das Land sich vor fast vier Jahren vom Ben Ali-Regime befreit hat. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, besonders hoch unter den jungen Hochschulabsolventen - manche verkaufen schon ihr Diplom, weil sie es für wertlos halten. Viele Wähler sind frustriert Schon jetzt wird eine niedrige Wahlbeteiligung vorausgesagt. Der junge politische Analyst Selim Kharrat kann den Frust vieler Wähler verstehen. Aber er macht auch klar: Es geht um viel, um sehr viel, bei dieser Wahl. Tunesien müsse sich jetzt stabile, demokratische Institutionen schaffen, die dann die Verfassung schützen - und Reformen durchsetzen. Der Weg der Revolution sei noch nicht zu Ende: "Was wir haben, ist eine hübsche Verfassung, auf dem Papier sieht das alles gut aus. Aber jetzt geht es darum, diese Verfassung anzuwenden. Es geht darum, Recht und Gesetz umzusetzen, im Sinne der Werte, die diese Verfassung Tunesiens festschreibt. Das ist die eigentliche Herausforderung!" Für keines der großen Probleme, sagt die junge Amal mitten in der Menschenmenge auf der Avenue, für keines hätten die Parteien ein Programm, geschweige denn eine Lösung. Stattdessen scheine es nur um die Verteilung der Fleischtöpfe zu gehen. Das habe mit dem Erbe der Revolution nichts mehr zu tun: "Ich wäre froh, wenn es nicht bloß diese beiden Pole gäbe, Tunesien ist mehr als 'nur' Ennahdha oder 'nur' Nidaa Tounes. Aber diese Parteien treiben einen Keil in die Gesellschaft - weil sie es können, weil wir verunsichert sind. Es geht um etwas anderes als die Frage der Religion: Es geht nicht um Rechts oder Links, und nicht um Äußerlichkeiten, es geht um die besten Ideen. Dass ich ein Kopftuch trage, heißt nicht, dass ich politisch konservativ bin. Ich bin ein freier Mensch. Das ist ein Traum für mich. Die Freiheit haben wir uns erkämpft – und das ist wunderbar! Und dann betont Amal noch, dass ihr Name übersetzt nichts Geringeres bedeutet als "Hoffnung". Hoffnung im Plural. Und gerade in diesen Zeiten in Tunesien gefällt ihr das ganz besonders.
Von Alexander Göbel
Der Wahlkampf ist vorbei – der Ausgang noch offen: Wer macht das Rennen im neuen tunesischen Parlament? Der Kampf dürfte sich zwischen dem religiösen und dem weltlichen Lager entscheiden. Bis zum Schluss haben beide Seiten ihre Unterstützer mobilisiert. Die Hälfte der Wähler ist allerdings noch unentschieden – Überraschungen sind möglich.
"2014-10-25T06:15:00+02:00"
"2020-01-31T14:10:14.065000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/parlamentswahl-in-tunesien-tauziehen-um-die-macht-100.html
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Mission Berichterstattung
MINUSMA in Mali gilt als derzeit gefährlichste Mission der Vereinten Nationen (picture alliance/dpa | Michael Kappeler) Seit 2013 ist die Bundeswehr in Mali. Das öffentliche Interesse an der Mission – zu Beginn groß, genau wie jetzt, acht Jahre später, nachdem zwölf deutsche Soldaten bei einem Anschlag verletzt wurden, drei von ihnen schwer. Doch dazwischen? "Deutsche Medien haben sich überwiegend, mit wenigen Ausnahmen, null dafür interessiert", so die Einschätzung des Journalisten Thomas Wiegold. Um diese Lücke zu schließen, berichtet der Experte für Sicherheits- und Verteidigungsthemen in seinem eigenen, mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Blog "Augen geradeaus!" regelmäßig über die Bundeswehr. Gegenüber dem Deutschlandfunk wundert sich Wiegold dann auch über die aktuelle Aufmerksamkeit; eine Debatte, in der auch der gesamte Einsatz wieder in Frage gestellt wird. Bei der UN-Mission seien seit 2013 fast 250 Blauhelm-Soldaten ums Leben gekommen, betont Wiegold. "Und in Deutschland ist das sehr selten zur Kenntnis genommen worden." Journalist: Angst vor Themen der Bundeswehr Auch Daniel Moj hat erlebt, wie gering hierzulande das Interesse an Themen rund um die Bundeswehr ist. Gemeinsam mit Jörg Stolpe drehte der Fernsehjournalist eine Dokumentation für das ZDF über die Mali-Mission. In dem halbstündigen Format "37 Grad" porträtierten die beiden Autoren einen Soldaten zwischen Mali-Einsatz und seinem Leben als werdender Vater daheim. Doch eine Redaktion für diese Idee zu finden, sei nicht leicht gewesen, erinnert sich Moj gegenüber dem Deutschlandfunk. Und das Ergebnis von dem Film "Einsatz im Wüstensand", in das er und sein Partner mehr als ein Jahr Arbeit investierten, die Quoten, die im Fernsehen über Erfolg und Nichterfolg entscheiden – die seien "nicht so gut" gewesen, weiß Moj noch genau. "Man spürte, dass das Publikum auf dem Sendeplatz andere Themen erwartete." Serie "Mali": Abenteuer Krieg?Mit ihrer YouTube-Dokusoap über Grundausbildung – "Die Rekruten" – konnte die Bundeswehr ihre Bewerbungsrate steigern. 2017 ging ihre Werbekampagne in die zweite Runde: Thema war die Mali-Mission der UN. Ein Ergebnis, das sich der Journalist auch so erklärt: Spätestens seit dem Wegfall der Wehrpflicht gebe es in der Gesellschaft kaum mehr Anknüpfungspunkte an das Militär. "Dadurch fehlt ein Bezug." Und sein Berufsstand täte sich entsprechend schwer, "diese Themen anzupacken, weil wir Angst haben, dass sie nicht gut ankommen". "Abhängig vom Ministerium" Moj, der selbst früher Soldat war, würde sich wünschen, dass sich das wieder ändert. Er sei im regelmäßigen Kontakt mit dem Verteidigungsministerium und "würde sofort wieder einsteigen bei einem Thema, das es wert ist zu erzählen". Und davon gebe es viele, darunter auch "Megatrends der Zeit" wie etwa Genderthemen. Aber genau hier zeige sich auch ein weiteres Problem, so Moj. Zum einen tue sich die Bundeswehr schwer, "ihre eigenen Geschichten zu erzählen". Und wenn ihr das doch gelänge, sei man als Journalist "abhängig vom Ministerium", einen Zugang zu diesen Geschichten gewährt zu bekommen. "Bundeswehr ist eher auf Kontrolle bedacht" Um in Mali drehen zu können, musste Moj einen Vorbereitungskurs der UN besuchen. Vor Ort sei er dann immer nah an der Realität gewesen und habe nichts inszenieren müssen. Doch so frei sind die Arbeitsbedingungen nicht immer. Er habe als Korrespondent vor Ort auch Presseoffiziere bei der Bundeswehr erlebt, "die sagen, das ist viel zu gefährlich, mach doch lieber was über den Truppenpsychologen", anstatt beispielsweise Streitkräfte zum Einsatz zu begleiten, erinnert sich Thomas Wiegold. "Es geht, wenn die Leute wollen, erstaunlich viel, und wenn die Leute nicht wollen, geht erschreckend wenig." Und die Bundeswehr sei "eher auf Kontrolle bedacht", sagt der Journalist und Sicherheitsexperte. Gefährliche Arbeitsbedingungen Berichterstattung aus Mali könne "lebensgefährlich" sein, sagt auch Dunja Sadaqi, ARD-Korrespondentin im Studio Rabat. Und das Gebiet, in dem nun der Anschlag passiert sei , sei besonders unsicher. "Das gilt auch für berichtende Journalistinnen und Journalisten", sagte Sadaqi im Deutschlandfunk. Mehr als Burka und BewaffneteDer freie Journalist Martin Gerner wünschte sich 2019 einen intensiveren Blick auf Krisenländer wie Afghanistan – und beklagt, dass heimische Redaktionen zu wenige Beiträge über Kultur und Alltag bestellen. Vor allem Nachrichtenhäppchen würden nachgefragt. Zur Zeit ist der Journalistin eine Einreise nach Mali nicht möglich. Deshalb helfen ihr die Einschätzungen von Expertinnen vor Ort sowie die Arbeit von Stringern, also Journalisten, mit denen sie zusammenarbeitet. Aber auch diese Mitarbeiter würden aktuell nicht nach Gao reisen, also die Stadt im Nordosten Malis, in deren Nähe nun die deutschen Soldaten verletzt wurden.
Von Michael Borgers
MINUSMA in Mali gilt als derzeit gefährlichste Mission der Vereinten Nationen. Nach dem Anschlag auf Soldaten wird in Deutschland viel über den Einsatz der Bundeswehr berichtet. Das war nicht immer so – und liegt daran, dass viele Medien das Thema in der Regel inzwischen scheuen.
"2021-06-28T15:35:00+02:00"
"2021-06-29T16:14:18.466000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bundeswehr-in-mali-mission-berichterstattung-100.html
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Erfinder der Stolpersteine wird 75
Der Erfinder der Stolpersteine, Gunter Demnig, ist unermüdlich unterwegs, um diese Form der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes in immer mehr Straßen sichtbar zu machen. (imago images / Future Image / Jean MW)
van Laak, Claudia
Wie sich die Idee einer einzelnen Person im Laufe der Jahre in ganz Europa verbreiten kann, das zeigt der Aktionskünstler Gunter Demnig. Er ist der Erfinder der sogenannten Stolpersteine. Am 27. Oktober 2022 wird er 75 Jahre alt.
"2022-10-27T08:38:00+02:00"
"2022-10-27T08:49:23.747000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/kultur-und-wissenschaft-erfinder-der-stolpersteine-wird-dlf-d02e72ed-100.html
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FIFA widerspricht Niersbach
Das Sommermärchen war nicht gekauft, sagt der DFB. (dpa / Arne Dedert) Der Deutsche Fußball-Bund hatte im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland 6,7 Millionen Euro an die FIFA gezahlt. Das Geld sei als Bedingung dafür geflossen, dass man von der FIFA "eine Organisationsunterstützung in Höhe von 250 Millionen Schweizer Franken gewährt bekam", sagte Niersbach bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz. "Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen". Es habe keine schwarzen Kassen und keinen Stimmenkauf gegeben. "Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen": DFB-Präsident Wolfgang Niersbach (picture alliance / dpa / Arne Dedert) Niersbach räumte allerdings auch ein, dass die 6,7 Millionen Euro zunächst direkt vom damaligen Adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus an die Finanzkommission der FIFA überwiesen wurden. Später habe das deutsche Organisationskomitee der WM dieses Geld über den Umweg eines FIFA-Kontos an den Franzosen zurückgezahlt. "Mir war nicht bewusst, dass hinter dem Etat-Posten Kulturprogramm die Rückzahlung dieses Geldes steckt", erklärte Niersbach. Die FIFA wies die Version des DFB zurück. Es entspreche "in keinster Weise" den FIFA-Standardprozessen und Richtlinien, finanzielle Unterstützung an Vorauszahlungen zu knüpfen. "Im Übrigen ist ganz generell die Finanzkommission weder berechtigt, Zahlungen irgendwelcher Art in Empfang zu nehmen, noch verfügt sie über ein eigenes Bankkonto", teilte die FIFA mit. Noch keine restlose Aufklärung Der DFB-Präsident räumte eigene Fehler ein. "Es war zweifelsfrei ein Versäumnis von mir, dass ich meine Kollegen im Präsidium nicht frühzeitig informiert habe", sagte er. "Das muss ich auf meine Kappe nehmen." Niersbach sagte außerdem, es seien noch Fragen offen. Er könne an diesem Donnerstag keine restlose Aufklärung liefern. Der DFB reagierte damit auf einen "Spiegel"-Bericht, wonach die WM gekauft gewesen sei. Dem Bewerberkomitee habe eine schwarze Kasse mit 10,3 Millionen Schweizer Franken (damals 13 Millionen Mark) zur Verfügung gestanden. (pg/stfr)
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Zum ersten Mal, seitdem "Der Spiegel" über Korruptionsvorwürfe bei der Vergabe der WM 2006 berichtete, hat der Deutsche Fußball-Bund die ominöse Zahlung von 6,7 Millionen Euro an den Weltverband FIFA begründet. Das Problem: Die FIFA weist die Darstellung von DFB-Präsident Wolfgang Niersbach zurück. Wer hat Recht?
"2015-10-22T13:46:00+02:00"
"2020-01-30T13:05:33.366000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/korruptionsvorwuerfe-gegen-dfb-fifa-widerspricht-niersbach-100.html
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Wie Union und SPD das Gesundheitssystem reformieren wollen
Kassenpatienten müssen oft länger auf einen Arzttermin warten als Privatpatienten (imago / Jochen Tack) "Guten Morgen Herr Sakkarent, wie geht’s Ihnen denn heute?" - "Hallo, ja, eigentlich ganz gut, bis auf meine Gelenkbeschwerden." - "Dann nehmen Sie mal Platz, ich rufe mal auf, was da in der Vergangenheit gewesen ist." "Ja. Und im Moment ist es wieder ganz schlimm, ja?" Es ist Donnerstagvormittag vor den Osterfeiertagen. In der westfälischen Kleinstadt Hörstel begrüßt Dr. Norbert Hartmann einen seiner letzten Patienten in diesem Quartal. Ruhig ist es heute in der allgemeinmedizinischen Praxis. Im Wartezimmer sitzen nur noch ein junger Mann und eine Frau mit ihrem kleinen Sohn. Nimmt der Arzt womöglich gar keine Kassenpatienten mehr an, wenn das Budget, das die Krankenkassen für ihre Versicherten im Quartal zahlen, erschöpft ist? fragt die Reporterin und trifft damit direkt einen Nerv bei dem langjährigen Hausarzt. "Kein Mensch macht Budgeturlaub. Das hat sich irgendwann mal in den Köpfen festgesetzt. Das kann sich kein Mensch erlauben! Wir müssen die Menschen versorgen und leiden dann darunter, dass wir trotz unserer geleisteten Arbeit auf ein Drittel unseres Honorars verzichten müssen!" Besonders in diesem ersten Quartal sei viel zu tun gewesen, erzählt der 67-Jährige mit den buschigen Augenbrauen. Die Grippeepidemie habe das Wartezimmer gefüllt, er und sein Team hätten gearbeitet, bis der letzte Patient abends gegangen sei. Dazu fielen noch Hausbesuche an. Für Norbert Hartmann ist es selbstverständlich, keinen Unterschied zwischen Kassen- und Privatpatienten zu machen. "Ich fühle mich hier eigentlich ganz gut aufgehoben", Erklärt denn auch der junge Mann mit den Gelenkbeschwerden, ein Kassenpatient. "Hier bekomme ich schnell einen Termin und werde auch relativ schnell aufgerufen, wenn ich erst einmal da bin. Also, es ist nicht überall so wie hier, das steht auch fest." Im Wartezimmer des Hausarztes hängt hinter Glas der alte Hippokratische Eid: "Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht". Krankenkassen in der Kritik Aber Norbert Hartmanns Praxis ist auch ein Betrieb, der Gewinn abwerfen soll. Deswegen ärgert sich der ehemalige Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe darüber, dass er die Mehrarbeit während der Grippeepidemie, wenn überhaupt, dann erst im nächsten Jahr und womöglich nur zu einem Teil von den Kassen erstattet bekommen wird. Nicht einverstanden ist er auch damit, wie die Kassenärztliche Vereinigung die Mittel der Krankenkassen unter ihren Mitgliedern aufteilt. Experten befürchten, dass Kassenpatienten gegenüber Privatpatienten unterversorgt werden könnten (dpa/Jens Kalaene) "Wenn wir davon sprechen, dass ein Großteil unserer Arbeit nicht bezahlt wird, weil eben nur 70% zur Verfügung stehen wegen des Budgets, dann geht es nicht darum, dass das Budget insgesamt zu knapp ist, es geht darum, dass das Geld nicht vernünftig verteilt wird. Wenn technische Leistungen sehr hoch bewertet werden, wobei ich mir nicht erlauben werde zu beurteilen, ob die jetzt kalkulatorisch falsch hoch bewertet sind, aber man kann durchaus den Eindruck haben, dann kann ich aber eines sicher sagen: Dass die sprechende Medizin, das, was wir jeden Tag machen, viel zu niedrig bezahlt wird." Während Norbert Hartmann seine Patienten nicht mit solchen Überlegungen behelligt, lassen andere Ärzte die Patienten unverhohlen spüren, ob sie finanziell attraktive Kunden sind oder nicht. Anruf bei einem Lungenfacharzt. "Bitte treffen Sie ihre Wahl über die Tasten Ihres Telefons. Möchten Sie einen Termin für die Privatsprechstunde oder eine Tauchuntersuchung vereinbaren, drücken Sie bitte die Eins. Wenn Sie einen Termin bestätigen oder absagen möchten, drücken Sie bitte die Zwei. Wenn Sie einen Termin für die Kassensprechstunde vereinbaren möchten oder wenn Sie ein anderes Anliegen haben, bleiben Sie bitte einfach in der Leitung. Sie werden mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Zurzeit sind leider alle unsere Mitarbeiterinnen beschäftigt. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal." Forderung nach einer Bürgerversicherung Sind bei einer gesetzlichen Krankenkasse Versicherte in Deutschland Patienten zweiter Klasse? Karl Lauterbach meint: ja. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD setzt sich schon seit Jahren für eine Bürgerversicherung ein. Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte, ist davon überzeugt: Kassenpatienten sind Patienten zweiter Klasse. (picture-alliance/ dpa / Maja Hitij) "Die Versorgung soll sich allein danach richten, wie krank ist jemand, welche Hilfe braucht er, nicht: Wie ist er versichert? Also, die gleiche Art der Behandlung bei jedem Patienten, das bedeutet: Alle sind in einer Versicherung, in einer Bürgerversicherung. So wie man das in allen anderen europäischen Ländern übrigens hat. Es ist nur in Deutschland so, dass es zwei Versicherungssysteme in einem Land gibt mit zwei unterschiedlichen Honorarordnungen, also, gesetzlich und privat, das gibt es nur bei uns." Die Bürgerversicherung ist im Grunde eine gesetzliche Krankenversicherung für alle. Bei den Koalitionsverhandlungen konnte sich die SPD damit nicht durchsetzen. Nachgedacht werden soll nun lediglich darüber, wie die ambulanten Honorarordnungen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung eventuell in einem Vergütungssystem zusammengeführt werden können. Im Koalitionsvertrag heißt es unverbindlich: "Die Bundesregierung wird dazu auf Vorschlag des Bundesgesundheitsministeriums eine wissenschaftliche Kommission einsetzen, die bis Ende 2019 unter Berücksichtigung aller hiermit zusammenhängenden medizinischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen Vorschläge vorlegt. Ob diese Vorschläge umgesetzt werden, wird danach entschieden." Debatte über Ungleichbehandlung von Patienten hält an Die Debatte über eine Ungleichbehandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten hält indessen an. Aber man muss schon sagen: Beim Zugang zu Leistungen, also bspw. zu Fachärzten oder zu ausgewiesenen Experten, also zum Professor an der Uniklinik ist es natürlich schon so, dass Privatversicherte schneller rankommen als ein gesetzlich Versicherter." Kai Helge Vogel leitet beim Bundesverband der Verbraucherzentralen den Bereich Gesundheit und Pflege. Er kennt die Probleme von gesetzlich Versicherten mit Wartezeiten oder nicht genehmigten Leistungen. Es ärgert den Verbraucherschützer, wenn er hört, dass Ärzte die Notlage von Patienten ausnutzen und anbieten, sie gegen die Gebühr für eine Privatsprechstunde schneller dranzunehmen. "Wenn man irgendetwas abklären will oder Rückenschmerzen hat, dann ist jeder Tag, den man länger wartet, natürlich ein Problem und belastet auch." Eine Erhebung der "Grünen/Bündnis 90" brachte neulich beträchtliche Unterschiede bei den Wartezeiten zutage. In 405 Facharztpraxen hatten Freiwillige angerufen und – einmal als gesetzlich Versicherte, das andere Mal als Privatversicherte – um einen Termin gebeten. Rund 30 Prozent der Praxen machten keinen oder kaum einen Unterschied. In vielen Fällen unterschieden sich die Wartezeiten aber um mehr als 100 Tage. Spitzenreiter sei ein Augenarzt aus Bonn gewesen, berichtet die Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink. Der bot dem Kassenpatienten einen Termin in einem Jahr an, dem Privatversicherten in einer Woche. Ein Radiologe aus Paderborn stellte dem Kassenpatienten einen Termin in neun Monaten in Aussicht, der Privatversicherte wurde eingeladen, gleich am nächsten Tag zu kommen."Wir wissen, und das ist relativ gut belegt, dass gesetzlich Versicherte länger warten müssen auf einen Termin, insbesondere bei Fachärzten." Bestätigt Dr. Stefan Greß die Erhebung der "Grünen". Greß, Leiter des Studiengangs Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik an der Hochschule Fulda benennt aber noch ein weiteres Problem im Gefolge der unterschiedlichen Honorarkonzepte der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung."Was klar ist: Es gibt Anreize zur Unterversorgung für gesetzlich Versicherte, es gibt Anreize zur Überversorgung für Privatversicherte, aber beides ist nicht gut. Beides ist nicht hilfreich für eine bedarfsgerechte Versorgung beider Versichertengruppen." Die gesetzlichen Krankenkassen unterliegen nach dem Sozialgesetzbuch einem Wirtschaftlichkeitsgebot. Die Leistungen, die sie gewähren, müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Ihr Nutzen wird wissenschaftlich überprüft, ihr Preis zwischen dem Spitzenverband der GKV und dem Kassenärztlichen Bundesverband im sogenannten einheitlichen Bewertungsmaßstab, EBM, hart ausgehandelt, und die abrechenbare Menge wird pro Quartal begrenzt. Unnötige Untersuchung: Bei Privatpatienten keine Seltenheit Bei der Behandlung von Privatpatienten hingegen kann ein Arzt alles, was er tut, einzeln in Rechnung stellen, ohne Mengenbeschränkung und allein anhand der ärztlichen Gebührenordnung. Diese erlaubt oftmals höhere Preise als das Vertragswerk mit den Kassen. Dass rund elf Prozent aller Patienten für gut ein Viertel der ärztlichen Umsätze sorgen, legt aber auch nahe, dass sie mehr untersucht und behandelt werden. "Ja, das würde aber bedeuten, dass Sie unterstellen, dass Ärzte Leistungen anbringen, die a) nicht nötig sind und die Patienten dann auch stumpf annehmen." Doktor Andreas Gassen wehrt sich gegen die Vermutung, Ärzte könnten Privatpatienten ausgiebiger untersuchen und behandeln als nötig. Der niedergelassene Orthopäde ist Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Diese vertritt die Rechte der niedergelassenen Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen. Zugleich ist sie aber auch gesetzlich verpflichtet, eine qualifizierte ambulante medizinische Versorgung für die gesetzlich versicherten Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Dem Ärztevertreter zufolge leidet diese Versorgung weniger unter einer Bevorzugung von Privatpatienten als darunter, dass Krankenkassen einen Großteil der ärztlichen Leistungen in Form von Pauschalen vergüten. Das bedeutet, dass Hausärzte und Fachärzte der Grundversorgung pro Patient bezahlt bekommen, egal wie oft der in die Praxis kommt. Mit der Pauschale werden Erstgespräch und kleine Behandlungen entgolten. Für Hausärzte beträgt sie – je nach Alter des Patienten zwischen 31 und 41 Euro. "Das heißt, salopp formuliert, so ein bisschen All-you-can-eat. Wenn Sie beim Chinesen das große Buffet für 19,95 Euro buchen, und dann können Sie den ganzen Abend essen, und wenn Sie für 40 Euro gegessen haben, ist das für den chinesischen Restaurantbesitzer ein schlechtes Geschäft, und Sie haben vielleicht zu viel gegessen. Aber damit ist die Sache auch abgefrühstückt. In der ärztlichen Versorgung sieht es so aus, dass wir einen Großteil oder einen gewissen Teil von Leistung eben umsonst erbringen." Zahlen die gesetzlichen Krankenkassen also unangemessen wenig und verschulden so womöglich, dass ihre Versicherten gar nicht erst einen Arzttermin bekommen oder kurz abgespeist werden? Ärztefunktionär Gassen bestreitet das zumindest für seine orthopädische Praxis. Dort behandle er von insgesamt rund 3.600 Patienten im Quartal 450 gewissermaßen unentgeltlich. Es bestehe die Gefahr, dass Privatpatienten teilweise Untersuchungen vom Arzt vorgeschlagen bekämen, die gar nicht nötig seien, befürchten Experten (picture alliance / dpa / Daniel Karmann) Das All-you-can-eat-System der Krankenkassen Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitze beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen, zeigt sich wenig beeindruckt von dieser Argumentation: "Wir haben ja bestimmte Begrenzungsregeln, weil wir befürchten und auch in der Vergangenheit erfahren haben, dass nicht immer das verordnet oder die Behandlung vorgenommen wird, die medizinisch notwendig sind, sondern dass es auch ökonomische Interessen dahinter gibt." Eine Begrenzung liegt in den Budgets, die je nach Facharztgruppe verschieden sind und die von den kassenärztlichen Vereinigungen auf die einzelnen Arztpraxen heruntergebrochen werden. Sie orientieren sich unter anderem an den Leistungsmengen des Vorjahres, und wenn ein Arzt aktuell mehr Patienten behandelt, bekommt er für diese im Budget nicht vorgesehene Mehrarbeit nur noch ein abgestaffeltes Honorar. Die zweite Begrenzung liegt in den Pauschalen pro Patient, die der Ärztevertreter als All-you-can-eat-System bezeichnet. Die Ärzte könnten in der Regel gut von den Kassenbezügen leben, betont Doris Pfeiffer. Immerhin sei das durchschnittliche Ärzteeinkommen vor Steuern viermal so hoch wie das, was die Beitragszahler im Mittel verdienten. Andreas Gassens Rede vom All-you-can-eat kontert Doris Pfeiffer mit dem Bild der monatlichen Abschlagszahlung auf die Stromrechnung: "Die ist ja auch so berechnet, dass es übers Jahr hinweg hinkommt. Und hier die Pauschalen sind natürlich auch so berechnet, dass es eben bei dem Einen mehr ist als die Leistung, die erbracht wird und bei dem Anderen weniger. Aber im Schnitt kommt es hin, so ist zumindest die Berechnung." Etwa 30 Prozent ihrer jährlichen Mittel für die Arztpraxen zahlen die Kassen zudem für Leistungen außerhalb des Budgets: für Früherkennungsuntersuchungen zum Beispiel ambulante Operationen oder Psychotherapie. "Die Ärzteschaft muss sich auch bewusst machen, dass 90% der Versicherten gesetzlich versichert sind und in der gesetzlichen Krankenversicherung ja doch nicht nur die Basis, sondern breite Teile der Versorgung finanzieren und sicherstellen." Die Vorstandsvorsitzende des GKV Spitzenverbandes zeigt sich selbstbewusst und setzt nun auf die Maßnahmen, die CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben, um den Zugang der Kassenpatienten zu den Arztpraxen zu verbessern. Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn hat bereits angekündigt: "Das wollen wir erreichen, unter anderem indem wir die die Zeit der Sprechstunden erweitern von 20 auf 25 Stunden mindestens in der gesetzlichen Versorgung. Ich fänd es übrigens auch wichtig, wenn wir dabei auch offene Sprechstunden regelhaft vorsehen, weil das eben auch ein wichtiges Instrument ist, die Terminservicestellen ausbauen, idealerweise zu einem 24-Stunden-Betrieb, damit es möglich ist, auch für jeden, der es braucht, einen entsprechenden Termin zeitnah zu bekommen." Skepsis gegenüber geplanten Maßnahmen zur Verbesserung für Patienten Die Terminservicestellen der kassenärztlichen Vereinigungen können Patienten nur in Anspruch nehmen, wenn ihnen der Hausarzt auf der Überweisung zum Facharzt eine Dringlichkeit bescheinigt hat. Rund 190.000 Facharzt- und Psychotherapietermine innerhalb von vier Wochen haben die Terminservicestellen im vergangenen Jahr vermittelt. Nach dem Willen der Koalitionspartner sollen sie künftig unter einer bundeseinheitlichen Nummer und länger erreichbar sein. Für das Vorhaben, die Sprechstunden für Kassenpatienten zu verlängern, haben die Ärzte bereits mehr Geld verlangt. Im Moment könnten die Kassen es sich leisten. 28 Milliarden haben sie insgesamt auf der hohen Kante. Aber auch geplante Verbesserungen bei der Krankenpflege werden viel Geld kosten, der Minister will den Mindestbeitrag für Selbstständige in der gesetzlichen Krankenkasse senken und insgesamt die Beitragszahler entlasten. "Ich wäre da eher skeptisch, ob die Maßnahmen, die da geplant sind, irgendwas bringen, um die unterschiedlichen Wartezeiten zu verringern", dämpft Gesundheitsökonom Dr. Stefan Greß von der Hochschule Fulda etwaige Hoffnungen. "Diese Terminservicestellen gibt es ja schon länger. Waren die Ärzte nie besonders begeistert von. Die Kassen auch nicht. Bisher haben sie nicht viel gebracht. Die Mindestarbeitszeit für Kassenärzte soll ja erhöht werden. Auch da wäre ich eher skeptisch, dass da große Effekte entstehen. Das ist wahrscheinlich eher - ein Kollege von mir sagt immer: Weiße Salbe. Schadet nicht, hilft aber auch nichts. Solange an den Ursachen in den Vergütungssystematiken nichts geändert wird, ändert sich auch grundsätzlich an den Anreizen für die Ärzte nichts." Bürgerversicherung würde Bedarfsplanung für ärztliche Versorgung erleichtern Der Versorgungsforscher hält es für einen Fehler, dass die Bürgerversicherung erst einmal wieder ad acta gelegt wurde. Ganz grundlegend deswegen, weil die gesundheitliche Versorgung der Bürger finanziell nachhaltiger gesichert wäre, wenn auch die im Mittel gesünderen und bessergestellten Privatversicherten zur Einkommenssolidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen würden. Aber auch weil mit einer Bürgerversicherung viel leichter eine bedarfsgerechte ärztliche Versorgung gewährleistet werden könnte, meint Stefan Greß. "Die Bedarfsplanung, so wie sie momentan läuft, kann man sie nur als gescheitert ansehen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen kriegen es nicht hin, die Ärzte dahin zu bekommen, wo sie am meisten gebraucht werden. Das hat viel mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun, hat aber eben auch wieder mit Vergütungsstrukturen zu tun, dass eben Regionen mit vielen Privatversicherten attraktiver sind als mit vielen gesetzlich Versicherten, und da kommt die Bedarfsplanung nicht gegen an." Die Koalitionspartner wollen die Bedarfsplanung auf jeden Fall effektiver machen. Die Länder sollen in den Zulassungsausschüssen der Kassenärztlichen Vereinigungen mitreden können. Und auch der Strukturfonds soll optimiert werden. Damit können die Kassenärztlichen Vereinigungen Jungärzten Zuschüsse zu einer Praxis auf dem Land zahlen oder Medizinstudierende finanziell fördern können, damit die sich etwa verpflichten, für einige Jahre in einer unterversorgten Region zu praktizieren. Auch medizinische Versorgungszentren mit angestellten Ärzten sollen dort eine Option sein. Ärztemangel könnte Terminknappheit für Kassenpatienten noch erhöhen Das Thema ist wichtig, denn was nützt die beste Terminservicestelle, wenn es in der Region keinen Rheumatologen, keine Neurologin, keinen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gibt? Und was die Sache noch dringlicher macht: Während die Bevölkerung älter und kränker wird, gehen viele Ärzte in den Ruhestand. Mehr als ein Drittel der Hausärzte in Deutschland ist bereits älter als 60 Jahre. Wenn dann der Ärztemangel, der jetzt schon mancherorts spürbar ist, noch krasser wird, könnten Kassenpatienten erst recht ins Hintertreffen gegenüber Privatversicherten kommen. Was die Bedarfsplanung nicht einfacher macht: "Die, die sich jetzt niederlassen, die wollen nicht mehr alles nur für ihren Job tun, die wollen auch was mit ihrer Familie machen, Kultur, Freizeit, und nicht mehr so viel arbeiten wie die Ärztinnen und Ärzte, die heute teilweise noch praktizieren. Das heißt, wir brauchen schon jetzt mehr Ärztinnen und Ärzte, um die ausscheidenden zu ersetzen, weil die tatsächlich weniger Stunden arbeiten werden." Norbert Hartmann probiert schon einmal aus, wie er am besten um einen Nachfolger für seine Hausarztpraxis in Hörstel werben könnte: "Die Lebensqualität, gerade hier im Kreis Steinfurt, ist sehr gut, hervorragend, auch wenn ich jetzt speziell für die Stadt Hörstel sprechen darf, ist sie wirklich gut." Noch reicht die Kraft des 67-Jährigen für die Versorgung seiner Patienten. Aber in Westfalen-Lippe sind ungefähr 60% aller Hausärzte über 65, da kann man sich schon jetzt ausrechnen, dass es demnächst eng wird. Wird man dann auch beim Hausarzt um Termine ringen müssen? In den kommenden Jahren gehen viele Ärzte in den Ruhestand - das verschärft den Ärztemangel noch mehr (imago stock&people)
Von Cornelia Schäfer
Eine Krankenkasse für alle: Die SPD ist mit ihrer Idee einer sogenannten Bürgerversicherung in den Koalitionsverhandlungen gescheitert. Die Unterscheidung zwischen Kassen- und Privatpatienten besteht damit weiter. Nun sollen Reformen für mehr Gerechtigkeit im Wartezimmer sorgen.
"2018-05-11T18:40:00+02:00"
"2020-01-27T17:51:57.939000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/zweiklassengesellschaft-beim-arzt-wie-union-und-spd-das-100.html
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Neue Phase der Verdächtigungen
Schachweltmeister Magnus Carlsen ist im Clinch mit dem jungen US-Großmeister Hans Niemann (Jon Gambrell/AP/dpa) Die Schachwelt ist in Aufruhr, seit Weltmeister Magnus Carlsen zunächst nach einer Niederlage gegen den US-Amerikaner Hans Niemann ein Turnier in Saint Louis verließ und später eine Online-Partie gegen Niemann nach nur einem Zug beendete. Da kämen Erinnerungen an die Weltmeisterschaft Fischer gegen Spasski vor 50 Jahren in Reykjavik hoch, sagt der Zeit-Schachexperte Ulrich Stock: an die damalige Paranoia, einer könne unsauber spielen. Eigentlich sei das überwunden gewesen, jetzt gebe es aber wieder eine Phase der Verdächtigungen. Russischer FIDE-PräsidentSchach-Verband entscheidet sich für bewährten Präsidenten 05:45 Minuten13.08.2022 Niemannn ist 19 Jahre alt. Er hat zugegeben, als Jugendlicher zwei Mal bei Online-Partien betrogen zu haben. Laut einer Online-Schach-Seite soll das noch öfter der Fall gewesen sein. Niemanns Trainer oder Mentor ist der russische Großmeister Maxim Dlugy, der in New York lebt. Dlugy hat selbst schon einen Betrugsfall aufgedeckt, soll aber ebenfalls online betrogen haben, sagt Stock. "Übermittlung des expliziten Zugs nicht nötig" Carlsen sei zwar ein spezieller Mensch, eigentlich aber fair, meint Stock. Das abrupte Verlassen des Turniers und der Online-Partie sei deshalb schon einzigartig. Beweise gegen Niemann gibt es aber bisher nicht: "Das ist eben auch kennzeichnend für diese ganze Geschichte, dass vieles sehr vage ist. Also man weiß nichts Genaues." Damenflügel Werden Frauen das Schachspiel erobern? Damenflügel Werden Frauen das Schachspiel erobern? Schach ist das Spiel der Männer. Oder doch bald nicht mehr? Zumindest das Schachspiel selbst erlebt einen unglaublichen Boom: Serien wie "Das Damengambit" faszinieren das Publikum ebenso wie die Neuverfilmung der "Schachnovelle". Stock erklärt auch, dass es einen massiven Unterschied zwischen Online-Partien und Präsenzturnieren gäbe. Online sei ein Betrug eher möglich, am Brett sei das schwer. Allerdings gibt es Möglichkeiten: Hinweise über versteckte Kopfhörer oder versteckte Impulsgeber an anderen Körperstellen. Einem guten Spieler wie Niemann reiche der Impuls als Hinweis: Hier geht was. Dann finde er den Zug wahrscheinlich selber, der müsse nicht explizit übermittelt werden. Auch deshalb sei Betrug schwer feststellbar. "Könnte Spitze des Eisbergs sein" Laut einer Untersuchung spielt Niemann besser, wenn es eine Online-Live-Übertragung der Partie gibt. Das wäre zwar ein starker Hinweis für Betrug, diese Untersuchung werde aber wiederum in Zweifel gezogen, erklärt Stock. Es sei nicht klar, wie korrekt sie ausgeführt worden sei. Thomas Glavinic über SchachWahnsinn mit Methode - Versuch über einen unfassbaren Sport 29:42 Minuten18.04.2022 Carlsen will sich noch einmal äußern. Ob er dann Beweise gegen Niemann anführen kann, ist ungewiß. Und auch der Schach-Weltverband FIDE beziehe in einer Mitteilung keine klare Stellung, sagt Stock: „Carlsen wurde kritisiert für dieses Insinuieren eines Betruges. Andererseits wurde gesagt: das ist sicher ein großes Problem mit dem Betrug. Und da müssen wir was tun. Also auch das hat eine gewisse Unentschiedenheit.“ Generell könnte es im Schach häufiger zu Betrug kommen, glaubt Stock: „Es könnte sein, dass dies die Spitze eines Eisbergs ist. Es wird gemunkelt, dass die Online-Plattformen eine ganze Liste haben, von Großmeistern, die bei Turnieren im Internet betrogen haben.“
Ulrich Stock im Gespräch mit Astrid Rawohl
Magnus Carlsen ist für große Schach-Schlagzeilen zuständig: Er will seinen Titel nicht verteidigen und nun gibt es einen großen Zwist mit einem US-amerikanischen Kontrahenten. Hans Niemann hat Betrug bei Online-Spielen in der Vergangenheit zugegeben. Carlsen suggeriert, er habe wieder betrogen.
"2022-09-25T19:30:00+02:00"
"2022-09-25T21:31:22.858000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/schach-carlsen-niemann-100.html
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Nepals schwieriger Weg in eine föderale Republik
Als Anfang Mai dieses Jahres nicht nur Unberührbare, sondern auch hochkastige Hindus in Nepal zum "Bandh", einem völligen Stillstand des öffentlichen Lebens, aufriefen, konnte man sich nur verwundert die Augen reiben: Die Elite des ehemaligen Hindukönigreiches forderte mit diesem Streik ihre Kategorisierung als "ethnische Gruppe". "Früher, unter der Herrschaft des Hindukönigs gehörten Brahmanen und andere hohe Kasten zur Führungsschicht in Nepal. Nun haben sie erkennen müssen, dass sie als Bevölkerungsgruppe nach Zahlen tatsächlich nur eine Minderheit im säkularen Nepal darstellen. Sie wollen nicht ins Abseits gedrängt werden. Aber ich glaube nicht, dass es nach nationalem und internationalem Recht überhaupt möglich ist, sie als Ethnie einzustufen."Tilak Adhikari ist selbst Brahmane. Die schwelende Unzufriedenheit der unterprivilegierten ethnischen Bevölkerung, der Unberührbaren und der Frauen war mit Ursache für den Bürgerkrieg. Mit dem Sieg der Aufständischen, heute ist ein Maoist Übergangspremier, er ist aber auch Brahmane, fürchten die Eliten des Landes, ins Hintertreffen zu geraten. Wie viele Gebildete der Führungsschicht in Nepal arbeitet Tilak Adhikari für eine Entwicklungsorganisation. Sein Arbeitsbereich liegt im äußersten Westen des Himalajalandes, dort, wo unverändert die wahren Verhältnisse sichtbar sind. Da geht es um Probleme wie Überschwemmungen, Erdrutsche und Staudammbauten, die fruchtbares Land zunichtemachen, um Korruption, um das Fehlen gewählter örtlicher Administrationen, und darum, die Bevölkerung überhaupt ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Unterstützt wird Adhikari bei diesen Bemühungen von Dabal Bahadur Bam, der als Chhetri, das ist der nepalische Name für die Kriegerkaste, auch zum früheren Establisment gehört. "Die Bevölkerung dort, besonders die ethnischen Gruppen, die Armen, die Unberührbaren fordern nun Mitsprache in der Gesellschaft. In der verfassungsgebenden Versammlung sind sie die Wortführer, nicht die politischen Parteien. Sie fordern, dass sie mit der neuen Verfassung in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Aber dies ist nun gescheitert. Es wird gesagt, dass es einen Konflikt zwischen den Hindukasten und indigenen Bevölkerung gibt. Ich sage aber, es ist ein Konflikt zwischen den reichen Landbesitzern und den sozial und ökonomisch Benachteiligten, die nun ihre Stimme erheben und gleiche Rechte fordern."Im zentral regierten Hindukönigreich der Shahdynastie, die das Land 240 Jahre lang beherrschte, wurde die indigene Bevölkerung, die Magar, Gurung, Limbu, Rai und Sherpa, um nur einige wenige zu nennen, weitgehend ihrer Identität beraubt. In der Pyramide des Hindustaates standen sie mit den Unberührbaren an unterster Stelle. Alles Land wurde Königsland, das der Monarch an seine Gefolgsleute verteilte. Das traditionelle Landnutzungssystem der indigenen Bevölkerung wurde abgeschafft. Mit dem Sieg der Maoisten als stärkste Partei in der verfassungsgebenden Versammlung wuchs die Hoffnung auf "Inklusion", wie das Aufholprogramm der Unterprivilegierten in Nepal genannt wird. "Da gibt es die früheren Schuldknechte und die Unberührbaren, die kein Land besitzen oder nur sehr wenig. Diese Menschen haben einst die Besitztümer der hochkastigen Hindus beackert. Aber nun sind sie frei und fordern mehr eigenes Land. Die nötige Landreform ist ein großes Problem in Nepal. Darum geht es eigentlich bei der Debatte um die neue Verfassung. Die Maiosten und die Linke bei den Marxisten-Leninisten wollen diese Landreform."Der Nepali Congress und das rechte Lager der Kommunisten sträuben sich gegen eine Landreform. Was von den Parteien nach außen propagiert und was tatsächlich politisch gewollt wird, klafft jedoch weit auseinander. Diesen Widerspruch spürt auch der Brahmane Adhikari."Wir sprechen in Nepal immer noch über Kastenzugehörigkeit, über Brahmanen, Chhetris einerseits, und über Janajati, die ethnische Bevölkerung, andererseits. Die waren früher ohne Macht. Nun werden sie als relevante gesellschaftliche Kraft anerkannt, auch von uns einst Privilegierten. Jeder, der denken kann in Nepal, gesteht ihnen zu, dass sie für ihre Rechte kämpfen. Gleichzeitig versuchen viele, sie nach wie vor klein zu halten. Obwohl wir uns nun Republik nennen, herrscht in der Frage der Landverteilung in unseren Köpfen nach wie vor das Feudalsystem. Wir Privilegierten wollen doch gar nicht, dass andere den gleichen Status wie wir erreichen. Nach außen behaupte ich das zwar, aber innerlich bin ich dagegen."Dass Nepal vom zentralen Hindustaat in eine föderale Republik umgestaltet werden soll, ist bereits in der Übergangsverfassung festgeschrieben. Streit gibt es über die Art und Weise der Aufteilung des Landes."Persönlich bin ich gegen eine Aufteilung nach Kasten oder nach Ethnien, denn das könnte einen neuen Bürgerkrieg auslösen. Besser ist es, wenn in den Teilstaaten eine gemischte Bevölkerung lebt und der Name der Provinz erkennbar wird."Seit der Demokratiebewegung von 1990 sind die Nepalis schon viele Irrwege gegangen, aber dadurch ist im Himalajaland auch einiges in Bewegung geraten. Die Trennlinien entlang religiöser und ethnischer Kriterien, die über Jahrhunderte Reichtum und Macht bestimmten, lassen sich nicht so einfach auflösen.
Von Ingrid Norbu
Nach dem Bürgerkrieg in Nepal wurde das Hindu-Königtum abgeschafft und das Land soll nun eine föderale Republik werden. Doch bisher haben die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sich noch nicht auf eine Verfassung einigen können. Während die Maoisten die Unberührbaren politisch gleichstellen wollen, befürchten die Brahmanen, die Mitglieder der obersten Kaste in der ehemaligen Hindu-Monarchie, ihre Privilegien zu verlieren.
"2012-08-22T09:35:00+02:00"
"2020-02-02T14:22:40.597000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nepals-schwieriger-weg-in-eine-foederale-republik-100.html
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Noch nicht die ganz große Raumfahrt
SpaceShip Two des privaten Raumfahrtunternehmens Virgin Galactic überflog die 80 Kilometer Höhenmarke (Virgin Galactic/Oliver Ouyang) Uli Blumenthal: Welche Bedeutung kommt diesem Flug tatsächlich zu? Dirk Lorenzen: Es ist der erste private Flug zumindest an den Rand des Weltraums seit 2004, und das erste Mal seit dem Ende der Shuttle-Flüge 2011, dass ein Fahrzeug von den USA aus so weit vorgedrungen ist. Respekt vor der Leistung, aber die ganz große Raumfahrt ist das nicht. Blumenthal: Warum ist SpaceShipTwo nicht so hoch geflogen wie der Vorgänger, warum ist dies nicht gelungen? Lorenzen: Gestern ist SpaceShipTwo bis in 82,7 Kilometer Höhe vorgedrungen, das ist deutlich tiefer als SpaceShipOne vor 14 Jahren, das zweimal mehr als 100 Kilometer hoch war. Man ist dem Weltraum zumindest nahe gekommen Weil es offenbar nicht höher kommt; das Raketenflugzeug ist deutlich größer als der Vorgänger vor 14 Jahren, jetzt gut 18 Meter lang, soll bis zu sechs Passagieren Platz bieten, auch wenn bisher nur zwei in der Kabine gewesen sind. Der Raketenmotor reicht offenbar nicht aus, um das Gefährt über die magische 100-Kilometer-Linie zu bugsieren "Der Weltraum ist schwierig" Blumenthal: Sie haben schon einige technische Details kurz angesprochen: Wie läuft der Flug eines SpaceShip ab ? Lorenzen: Zum Start hängt das Raumschiff unter einem Trägerflugzeug, das bis in 15 Kilometer Höhe aufsteigt, dann klinkt SpaceShipTwo aus und zündet den Raketenmotor. 60 Sekunden viel Schub, mit dreifacher Schallgeschwindigkeit senkrecht nach oben, dann etwa vier Minuten Schwerelosigkeit, danach stürzt das Gefährt fast wie ein Stein nach unten und landet schließlich wie ein Flugzeug auf einer Piste. Blumenthal: Mehr als 14 Jahre sind seit den Flügen von SpaceShipOne vergangen. Warum hat das so lange gedauert, bis der zweite Versuch geklappt hat ? Lorenzen: "Der Weltraum ist schwierig", hat Richard Branson mehrfach gesagt. Die technischen Hürden sind enorm, sobald zahlende Passagiere mitfliegen sollen, kommen zahlreiche Sicherheitsauflagen für die Zulassung hinzu; aus guten Gründen: Vor vier Jahren ist ein SpaceShipTwo bei einem Testflug abgestürzt und einer der Piloten kam ums Leben. Man kann mit Preisen wie dem Ansari X-Prize schöne Anreize setzen, aber solche Aktionen beschleunigen das Vordringen in den Weltraum offenbar nicht wesentlich. Alternative Geschäftsmodelle Blumenthal: Welche Potential haben diese Shuttle von Virgin Galactic – und wo ordnen sie sich ein in Hinblick auf das zweite private US-amerikanische Unternehmen SpaceX? Lorenzen: Man bietet das Fahrzeug auch für minutenlange Experimente in der Schwerelosigkeit an; das ist für einige Wissenschaftler interessant, die dafür bisher spezielle kleine Raketen nutzen. Ein großes Geschäft kann das aber nicht sein, dazu ist die Nachfrage zu gering. Wirklich interessant wäre, wenn ein Raketenflugzeug während des Fluges Tausende von Kilometer voran käme, dann wäre vielleicht ein schneller Passagierdienst über Kontinente hinweg lukrativ für militärische Anwendungen, aber SpaceShipTwo kommt maximal einige hundert Kilometer weit. Letztlich bleibt wohl nur der Weltraumtourismus, auf den man es von Anfang an abgesehen hat, das Ticket soll rund 200.000 Dollar kosten. Ob das Geschäftsmodell trägt, wird sich wohl erst noch zeigen müssen.
Dirk Lorenzen im Kollegengespräch mit Uli Blumenthal
Es schien der Startschuss für den Weltraumtourismus: Das private Raumschiff SpaceShip One erreichte das All. Das ist 14 Jahre her. Nun wurde nachgelegt - mit SpaceShip Two gelangte das erste Mal eine bemannte, private Raumfähre immerhin an den Rand des Weltraums.
"2018-12-14T16:35:00+01:00"
"2020-01-27T18:25:44.515000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/weltraumtourismus-noch-nicht-die-ganz-grosse-raumfahrt-100.html
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Flexibilität bei der Kinderbetreuung gefragt
Wenn Kitas bestreikt werden, haben berufstätige Eltern häufig ein Problem. (dpa / Ralf Hirschberger) Moderator: Erzieherinnen und Erzieher werden in Deutschland eher schlecht bezahlt. Die Dienstleistungsgewerkschaft verdi will das ändern und fordert eine deutlich bessere Bezahlung und will dafür jetzt auch streiken, notfalls auch wochenlang, so die Ankündigung. Erste Warnstreiks haben heute früh begonnen. Was das für die betroffenen Eltern bedeutet und welche Rechte sie bei einem Streik in der Kita haben, darüber spreche ich jetzt mit Cornelia Spachtholz vom Verband berufstätiger Mütter. Frau Spachtholz, wie ist Ihnen denn so zumute, wenn Sie von den Streikankündigungen hören? Cornelia Spachtholz: Ja, auf der einen Seite ist es natürlich wichtig, dass sich dafür eingesetzt wird, dass die Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen und Erzieher erheblich verbessert werden, auf der anderen Seite haben wir natürlich die Eltern, die vor einem Betreuungsproblem stehen – und dafür gibt es aber durchaus auch Lösungen. Also entscheidend ist auf jeden Fall, dass, sobald vom Streik Kenntnis erlangt ist, dass umgehend der Arbeitgeber informiert wird, damit keiner auf jeden Fall unentschuldigt von der Arbeit fehlt. "Schnell nach Lösungen suchen" Erzieher wollen um eine bessere Entlohnung kämpfen. (dpa / Julian Stratenschulte) Moderator: Kann ich denn, wenn ich jetzt höre, dass bei mir gestreikt wird, kann ich denn dann tatsächlich einfach von der Arbeit zu Hause bleiben und ich muss dann nur anrufen, oder wie sind die Rechte gegenüber dem Arbeitgeber? Spachtholz: Nein. Sie sollten auf jeden Fall ihn davon informieren umgehend, dass Sie vom Streik betroffen sind, und sollten natürlich sehr schnell nach Lösungen suchen. Die Lösung kann einerseits mit dem Arbeitgeber gemeinsam gestaltet werden, wenn es zum Beispiel ein familienfreundlicher Arbeitgeber ist, der sowieso bestimmte familienfreundliche Rahmenbedingungen in seinem Unternehmen anbietet, dass man zum Beispiel ein Eltern-Kind-Zimmer am Arbeitsplatz hat, was man in Anspruch nehmen kann, dass der Arbeitgeber flexible Arbeitszeitmodelle anbietet, dass man umsteigt auf Flexibilität in dem Moment. Oder wenn kein Eltern-Kind-Zimmer am Arbeitsplatz vorhanden ist, kann man trotzdem unter Umständen das Kind mit zur Arbeit nehmen. Natürlich hängt es davon ab, welche Berufstätigkeit ich ausübe und ob ich das Kind irgendwelchen Gefahren aussetze, ob Kollegen gestört werden und so weiter. Moderator: Ja, im Hochofen bei Krupp, da geht das wahrscheinlich eher nicht so gut. Spachtholz: Da geht das sicher nicht. Da ist die Frage, ob man kurzfristig einen Schichtwechsel mit Kolleginnen und Kollegen anstreben kann. Dann hat man die Möglichkeit natürlich auch, wenn ein Partner vorhanden ist, sich mit dem Partner abzustimmen, ob man sich das teilen kann, kurzfristig da Lösungen zu finden. Und darüber hinaus sind ja nicht ein Elternteil davon betroffen, von dem Betreuungsproblem, sondern viele Eltern, also auch die anderen Kita-Eltern. "Gemeinsam mit anderen Eltern handeln" Moderator: Also sollte man da dann, ich sage mal, Selbsthilfegruppen oder so etwas in der Art gründen oder was ist Ihr Tipp da? Spachtholz: Dass man dann kurzfristig das Gespräch sucht und guckt, wer kann es wie seitens Arbeitgeber flexibel einrichten, dass ein Elternpaar oder ein Elternteil für drei, vier Kinder den Vormittag übernehmen kann, der andere dafür nachmittags. Also wenn nicht von vornherein ein Backup-System, sage ich mal, etabliert ist, also weil das ist, was wir raten Eltern, dass sie sich frühzeitig ein Netzwerk aufbauen. Aber das nützt in dem Moment, wo der Streik akut ist und das Netzwerk noch nicht vorhanden ist, nützt dieser Tipp natürlich wenig, sondern da ist es wirklich geboten, zu gucken: Was sind die anderen Betroffenen, kann man sich vernetzen, wenn man im privaten Umfeld keine Möglichkeiten hat, oder wenn es mit dem Arbeitsplatz und dem Arbeitgeber auch nicht vereinbar ist? Moderator: Cornelia Spachtholz vom Verband berufstätiger Mütter. Vielen Dank für diese Informationen! Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Cornelia Spachtholz im Gespräch mit Stefan Römermann
Die Tarifauseinandersetzung um die Bezahlung von Erzieherinnen und Erzieher könnten Wochen andauern. Was also tun, wenn eine Kita bestreikt wird? Umgehend den Arbeitgeber informieren und keinesfalls unentschuldigt fehlen, rät Cornelia Spachtholz vom Verband berufstätiger Mütter im DLF. Wichtig sei in solchen Fällen ein funktionierendes Back-up-System.
"2015-04-07T11:35:00+02:00"
"2020-01-30T12:30:21.966000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/streiks-in-kitas-flexibilitaet-bei-der-kinderbetreuung-100.html
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Bodenschätze und bittere Armut
Der Kupferabbau in Sambia verseucht Luft und Gewässer - und vom Profit kommt bei der bettelarmen Bevölkerung nichts an (imago / Photoshot / Balance) Auch in der sonntäglichen Predigt sind die Folgen des Kupferabbaus in Sambia das beherrschende Thema: "Alles ist zerstört wegen der Leute, die auf der anderen Seite der Welt leben. Selbst die Luft, die wir atmen macht uns kaputt. Und wem verdanken wir das Ganze? Leuten, die Profit machen wollen, der Geldgier dieser Leute. Die müssen nicht leiden! Sie nehmen das Geld und gehen, der Rest ist ihnen egal." Lukrative Verarbeitung findet woanders statt Sambia hat riesige Kobalt- und Kupferlagerstätten. Doch obwohl das Land reich an Ressourcen ist, ist ein Großteil der Bevölkerung bettelarm. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf den Kupferabbau, sondern gilt für die Förderung vieler Primärrohstoffe in Entwicklungs- und Schwellenländern. Henning Wilts, Volkswirt beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie: "Das Problem des Ressourcenfluchs ist, dass der Abbau der Rohstoffe nicht das ist, womit man Geld verdient. Das Geld wird verdient mit der Verarbeitung der Rohstoffe und der Produktionsschritt findet nicht in den armen Ländern statt. Das heißt: Sie haben die ökologischen Folgen am Hals und ihre Umwelt wird durch den Tagebau zerstört, aber sie profitieren nicht von der Wertschöpfung, die damit verbunden wäre." Verseuchte Luft, verschmutze Gewässer, gerodete Wälder Die ökologischen Folgen beim Abbau von Kupfer sind unter anderem: verseuchte Luft und Gewässer durch Schwefeldioxid bzw. Schwefelsäure, die bei der Verhüttung des Metalls entstehen. Gold wird mit toxischem Cyanid aus dem Gestein gelöst, was vor allem die Böden nachhaltig vergiftet. Die Förderung von Rohöl verschmutzt dagegen regelmäßig die umliegenden Flüsse oder das Meer, oft für mehrere Jahrzehnte, wie auch die Explosion der Plattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko zeigt. Für den Kohleabbau werden immer größere Flächen benötigt, Wälder und Äcker werden zu Brachen, Anwohner vertrieben. In Kanada wurde eine Fläche so groß wie Großbritannien zur Mondlandschaft, weil dort Öl aus Teersanden gewonnen wird. Doch die ökologischen Folgen des hohen Ressourcenverbrauchs werden auch in vielen Regionen Europas sichtbar. Radionachrichten: "In Portugal sind gestern Nacht 60 Menschen in den Flammen ums Leben gekommen (...). Die Feuerwehr konnte die brennenden Wälder nicht löschen." Was nach den schrecklichen Folgen einer Naturkatastrophe klingt, ist tatsächlich das Ergebnis einer verfehlten Politik, denn Portugals Papier- und -Zelluloseindustrie ist inzwischen eine der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes. Und so wurden artenreiche Mischwälder gerodet, um schnell wachsende Eukalyptusplantagen anzulegen. Doch diese Baumart braucht extrem viel Wasser, was Portugal nicht hat, und laugt wegen seines schnellen Wachstums zudem die Böden aus. Die Monokulturen brennen extrem schnell, auch weil das Öl des Eukalyptus das Feuer noch zusätzlich anheizt. Phosphorabbau ist extrem gesundheitsschädlich Die sozialen und ökologischen Verwerfungen sind ein Problem des Ressourcenverbrauchs, aber gibt es auch Primärrohstoffe, die bald erschöpft sind? Henning Wilts vom Wuppertal Institut: "Es gibt ein paar, wo wir sehen, dass der Bedarf so steigen wird, dass wir den nicht für alle decken können. Und Phosphor gehört dazu, wo wir wirklich ein Problem bekommen. Weil wir Phosphor unbedingt für die Ernährung brauchen und wenn wir den Phosphorbedarf nicht decken können, haben wir ein Riesenproblem!" Schon jetzt leiden aber die Arbeiter beim Abbau des Rohstoffes - der später zu Dünger verarbeitet wird - an den Folgen der Phosphor- und Ammoniakbelastung. Die Lebenserwartung der Minenarbeiter ist sehr niedrig, die Krebsrate extrem hoch. Auch das eine Folge der Ressourcenungerechtigkeit: Die Rohstoffe für unseren Konsum werden in Ländern abgebaut, die weder europäische Sozial- noch Umweltstandards erfüllen. "Wir exportieren unsere Umweltprobleme" Phosphor ist eines der wenigen Elemente, dass tatsächlich knapp wird, bei anderen Rohstoffen wie Steinkohle, Erdöl oder Kupfer herrscht noch keine bedrohliche Knappheit. Allerdings wird es immer schwieriger an die Lagerstätten zu kommen, weil die leicht zugänglichen schon lange ausgebeutet wurden. Und so wird die Förderung von Primärrohstoffen auch teurer. In Deutschland wird deshalb im nächsten Jahr der letzte Schacht im Pott geschlossen. Doch wir verlegen das Problem nur, sagt Henning Wilts: "Hier in Deutschland erfreuen wir uns einer steigenden Umweltqualität, aber das nur, weil wir die Dinge, die wir hier konsumieren, zunehmend importieren. Und die Länder, in denen das angebaut wird, die haben die Umweltprobleme. Wir exportieren damit quasi unsere Umweltprobleme." Das gilt für den Abbau von mineralischen Energieträgern wie Öl und Kohle, aber auch für den Anbau von Soja für unseren stetig steigenden Fleischkonsum. Denn in der industriellen Massentierhaltung benötigen Rinder und Schweine eiweißreiche Nahrung, um schnell Fett anzusetzten. Soja heißt die Lösung! Angebaut wird die Bohne aber in Übersee: "Soja ist einer der Klassiker, das ist sehr wasserintensiv, das ist flächenintensiv, und die Länder, wo Soja angebaut wird, sehen zunehmend, was für langfristige Umweltschäden sie sich da eigentlich einhandeln. Was überhaupt nicht bezahlt wird durch den Preis, den wir für exportiertes Soja bezahlen." "Recyclingquote lässt zu wünschen übrig" Ein angepasstes Konsumverhalten wäre die Antwort auf den Sojaanbau, der auf Kosten des Regenwaldes geht. Doch der Hunger auf billiges Fleisch steigt in Europa weiter. Auch sonst schränken sich die Industrienationen in ihrem Rohstoffverbrauch trotz der bekannten Umweltprobleme nicht ein. Elektrogeräte, Handys oder Kleidung werden kaum länger als eine Saison genutzt. Auch die Recyclingquote lässt zu wünschen übrig. Henning Wilts: "In Deutschland ist es so, dass nur 14 Prozent, der Stoffe, die wir hier einsetzten, tatsächlich aus Recyclingprozessen bekommen. Also 86 Prozent sind immer noch Primärrohstoffe, die irgendwo abgebaut werden!" Dabei wäre Recycling eines der wichtigsten Instrumente um Ressourcen zu schonen und Stoffkreisläufe zu schließen.
Von Britta Fecke
Wenn ein Land über Kupfer, Gold oder Kohle verfügt, heißt das noch nicht, dass es diesem Land auch wirtschaftlich gut geht. Im Gegenteil: Häufig leiden Umwelt und Bevölkerung unter der Ausbeutung der Stoffe. Den Profit machen andere - hunderte Kilometer entfernt.
"2017-08-25T17:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:47:40.559000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sommerserie-gerechtigkeit-bodenschaetze-und-bittere-armut-100.html
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"Der Spiegel" wird 70
Das Cover der ersten Ausgabe des "SPIEGEL" am 4.1.1947 (Spiegel Gruppe) Gerade mal 23 Jahre ist Rudolf Augstein alt, als am 4. Januar 1947 zum ersten Mal "Der Spiegel" - damals noch in Hannover - erscheint. Der junge Herausgeber und Chefredakteur hat die Lizenz von der britischen Militärregierung erhalten - und ist mit seinem Nachrichtenmagazin selbstbewusst, investigativ, manchmal auch zynisch: "Zynismus heißt für mich: Die Welt so sehen wie sie ist und nicht wie sie sein will." Spätestens 1962 wird "Der Spiegel" für alle ein Begriff. Mit dem bundeswehrkritischen Artikel "Bedingt Abwehrbereit" bringt das Nachrichtenmagazin Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß und Bundeskanzler Konrad Adenauer in Rage: "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande." Die Redaktionsräume werden durchsucht, Augstein sitzt 103 Tage in Untersuchungshaft. Und draußen vor dem Gefängnis demonstrieren Menschen für die Pressefreiheit: "Es war eine der wenigen Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte. Die Demonstrationen schallten so laut durch diese dicken Gefängnismauern, dass es mir unmöglich war, einzuschlafen." Später tritt Verteidigungsminister Strauß zurück. Ein Wendepunkt sei die Spiegel-Affäre gewesen, sagt der heutige Chefredakteur Klaus Brinkbäumer: "Weil der Spiegel damit wirklich groß wurde, richtig populär wurde. Die Auflage schoss in die Höhe, die Leute sprachen über den Spiegel und das war eine Art zweite Geburtsstunde." "Der Spiegel" deckt zahlreiche Skandale auf Der Spiegel deckt zahlreiche Skandale auf – etwa um das Wohnungsunternehmen Neue Heimat, die Barschel-Affäre, den Parteispendenskandal. Politiker sind auf Augsteins Sturmgeschütz der Demokratie nicht besonders gut zu sprechen. Ein Scheißblatt, sagt Willy Brandt und Helmut Kohl meint: "Wer also dieses Magazin liest, ist selbst schuld, schad fürs Geld." Das Geld geben manche ab 1993 für den "Focus" aus. Mit seinem Erscheinen - ebenfalls am Montag - ändert sich einiges: "Ich würde sagen, dass Focus beim Spiegel im ersten Jahr zu einer Verunsicherung geführt hat. Plötzlich kamen ganz viele kleine Infografiken ins Heft, die Texte wurden bisschen kürzer. So für eine kurze Phase hat der Spiegel nach seiner Richtung gesucht. Und letztlich war das aber ein Anstoß auch zur Erneuerung. Der Spiegel wurde farbig, er wurde moderner und auch modernisierungswilliger." Heute deckt "Der Spiegel" immer noch Geschichten auf, seine Strahlkraft aber ist umstritten. Es zittert wohl kein Politiker mehr, wenn mittlerweile samstags der Spiegel erscheint. Chefredakteur Brinkbäumer sieht das Magazin weiterhin als Leitmedium - und: "Sturmgeschütz der Demokratie: Ich mags nicht so gerne militärisch, Sturmgeschütz ist nicht mein Begriff, Verteidiger der Demokratie allemal." Sinkende Auflage und Umsätze Allerdings sorgt "Der Spiegel" selbst immer wieder mal für Schlagzeilen – durch Chefredakteurs-Wechsel oder mit einem Sparprogramm und betriebsbedingten Kündigungen. Denn auch er hat mit sinkender Auflage und Umsätzen zu kämpfen. Längst gibt es ihn auch digital, dazu kommt Spiegel-Online: "Auf welchem Weg wir die Leser erreichen, ist mir tatsächlich heute nicht mehr wichtig. Mit ist es wichtig, dass es die besten Geschichten sind, dass es die besten, die großen Enthüllungen sind." Und es ist wohl die größte Herausforderung im nächsten Jahrzehnt des Spiegel, damit künftig genug Geld zu verdienen.
Von Astrid Corall
Am 4. Januar 1947 erschien in Hannover die erste Ausgabe des von Rudolf Augstein gegründeten Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Das Blatt prägte die frühen Jahre der Bundesrepublik, deckte zahlreiche Skandale auf und sorgt bis heute auch selbst immer wieder für Schlagzeilen.
"2017-01-04T05:05:00+01:00"
"2020-01-28T09:25:42.839000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/verteidiger-der-demokratie-der-spiegel-wird-100.html
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Entscheidung über Erdogans Präsidialsystem
Anhänger der "Evet"-Bewegung für ein "Ja" beim Referendum in Istanbul. (dpa/picture alliance/ Michael Kappeler) Dieser Mann hat abgestimmt, mit Nein, wie es vermutlich eine Mehrheit in großen Städten wie Ankara tun wird, aber vielleicht nicht im ganzen Land. Er gönnt sich einen Kaffee. "Wir haben bereits die Ein-Personen-Herrschaft, wie ich es immer bezeichne. Wenn sich Montagmorgen herausstellt, dass die Nein-Stimmen gesiegt haben, wird sich nichts ändern. Aber es würde zeigen, dass selbst er verlieren kann. Wenn er seine Rolle fortführen will, muss er zeigen, dass er unverletzlich ist." Bis ganz zum Schluss zog der Präsident die nationalistische Karte. Auf fünf Wahlkampfveranstaltungen in Istanbul, wo allein schon 20 Prozent der Wähler leben, bezeichnete Recep Tayyip Erdogan das Referendum als entscheidendsten Tag in der türkischen Geschichte, denn es würde die größte Reform der Geschichte verwirklichen. Einzig Länder wie Deutschland, die Niederlande, Österreich, Belgien, Schweden und die Schweiz würden die Türkei daran hindern wollen. Seit 2014 beansprucht Erdogan mehr Macht für sich Erdogan und türkische Mitglieder der Regierung hatten in Europa Wahlkampf machen wollen, was laut türkischem Gesetz verboten ist und in einigen Städten nicht erlaubt worden war, nicht zuletzt wegen der harschen Rhetorik gegen die Gastländer. Erdogan zum Ende des Wahlkampfes: "Die Attacken auf unser Land in den vergangenen zwei Monaten zeigen, wie wichtig ein präsidiales System für die Türkei ist. Ihr habt gesehen, was die europäischen Länder getan haben, was die Europäischen Parlamente getan haben, für ein Nein. Sie werden die Antwort meiner Nation bekommen, niemand kann Fesseln an unseren Willen anlegen." Seitdem Erdogan 2014 in einer Direktwahl zum Präsidenten gewählt wurde, beansprucht er mehr Macht für sich. Nach dem versuchten Putsch am 15. Juli 2016 steuerte er direkt darauf zu, die rechtsnationalistische Partei MHP unterstützte ihn, was nun ausreichen könnte, um den Wechsel herbeizuführen. Der Kampf für die Verfassung sei einer gegen den Terrorismus, wurde Erdogan nicht müde zu wiederholen, was allen Kritikern unlautere Absichten unterstellte. Versöhnung ist in weite Ferne gerückt Hikmet Cetin, ehemaliger Außenminister und Parlamentssprecher von der sozialdemokratisch säkular ausgerichteten CHP stammt aus Diabakyr im Südosten der Türkei. Dort werden die überwiegend kurdischen Wähler zu 65 bis 70 Prozent mit Nein stimmen, vermutet er. Unter den konservativen religiösen Kurden hatten zwar bei den vergangenen Wahlen viele für die AKP von Präsident Erdogan votiert, auch wegen des einst von Erdogan angestoßenen Aussöhnungsprozess mit der kurdischen Terrororganisation PKK. Doch seitdem Abbruch der Gespräche 2015 ist Versöhnung in weite Ferne gerückt. Ex-Außenminister Hikmet Cetin von der CHP hegt eine leise Hoffnung, das die Aussöhnung mit den Kurden noch kommt. "Vielleicht. Wenn er denkt, dass jetzt alles unter seiner Kontrolle ist. Aber er macht aus allem eine Privatangelegenheit. Der Friedensprozess war eine exzellente Idee von ihm. Aber er hat ihn nicht mit den anderen Parteien abgestimmt. Die Nationalisten von der MHP hätten vermutlich abgelehnt, aber unsere CHP hatte mitgemacht. Dann hätte das ganze ins Parlament eingebracht werden müssen, um den Prozess gesetzlich und verfassungsmäßig zu untermauern." Vergleich mit den USA Hikmet Cetin hat zusammen mit Vertretern anderer Parteien in einem offenen Brief die Abgeordneten aufgefordert, nicht ihrer eigenen Entmachtung zuzustimmen. Auch wenn die Zahl der Parlamentarier mit der neuen Verfassung von 550 auf 600 steigt, wird das Parlament bedeutungslos sein, sagt Professor Huseyin Bagci von der METU-Universität in Ankara, für den der dann neue entmachtete Parlamentarismus nichts weiter wäre als eine: "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, 50 Leute weniger arbeitslos und gut bezahlt." Faruk Logolu vergleicht als ehemaliger Botschafter unter anderem in den USA die geplante türkische Verfassung mit anderen präsidialen Systemen und kann nur warnen. "Er wird die Macht haben, Vizepräsidenten und Minister zu ernennen, Richter, hohe Beamte, er hat die Macht, per Dekret zu regieren. Und er wird den Haushalt vorbereiten, ohne jede Rechenschaftspflicht. Der US-Präsident ist ein starker Mann, aber über das Geld wacht der Kongress."
Von Sabine Adler
In der Türkei läuft das historische Referendum über ein mögliches Präsidialsystem. Votiert die Mehrheit mit "Ja" soll die Verfassung geändert und Präsident Recep Tayyip Erdogan mit deutlich mehr Macht ausgestattet werden. Umfragen zufolge wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben.
"2017-04-16T13:05:00+02:00"
"2020-01-28T10:23:39.915000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/referendum-in-der-tuerkei-entscheidung-ueber-erdogans-100.html
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Gespräche mit Verzögerung gestartet
Plakataktion von Greenpeace am Gebäude des Bundesverkehrsministeriums (picture alliance / Axel Schmidt/POOL/dpa) Beim sogenannten Dieselgipfel, zu dem das Bundesverkehrs- und das Bundesumweltministerium eingeladen haben, sollen Nachbesserungen bei der Abgasreinigung von Millionen Dieselautos in Deutschland beschlossen werden. Die Konzerne sollen darlegen, wie sie die Schadstoffbelastung durch Dieselautos reduzieren wollen, um künftig die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten. Laut dem Entwurf für eine Abschlusserklärung sollen die Autohersteller ein Software-Update finanzieren. Umbauten, zum Beispiel mit zusätzlicher Abgasreinigung, seien nicht vorgesehen. Softwareupdates oder bauliche Nachrüstungen? Bundesverkehrsminister Dobrindt ließ im Gespräch mit der "Passauer Neuen Presse" offen, ob Software-Updates ausreichten oder auch Umbauten nötig seien. "Fest steht: Euro-5- und Euro-6-Dieselmotoren können mit neuer Steuerungssoftware deutlich verbessert werden", sagte Dobrindt. Man dringe auf ein akzeptables Angebot zur Senkung der Schadstoffbelastung. "Völlig klar" sei dabei, dass die Industrie die Kosten tragen müsse. Bundesumweltministerin Hendricks verteidigte den sich abzeichnenden Kompromiss mit Software-Updates statt aufwendiger Nachrüstungen. Bei Möglichkeiten der Hardware seien noch technische Fragen offen, sagte die SPD-Politikerin dem Südwestrundfunk. Die Verpflichtung der Hersteller zu Updates der Motorsoftware gilt als sicher. Diskutiert wurde zuletzt, ob auch Umbauten beispielsweise mit speziellen Katalysatoren nötig sind. Kritik und Proteste Grünen-Parteichef Özdemir mahnte einen verbindlichen Rückruf der betroffenen Fahrzeuge an. "Freiwillige Zusagen reichen nach diesen Skandalen, nach diesem immensen Glaubwürdigkeitsverlust der Automobilindustrie, nicht mehr aus", sagte Özdemir in Berlin. Sollten die Umrüstungen die Funktion der Autos irgendwie einschränken, müssten die Besitzer angemessen entschädigt werden. Um eine Chance für bundesweit einheitliche Regelungen für Fahrbeschränkungen zu haben, müsse auch die "Blaue Plakette" für saubere Diesel ein Ergebnis des Spitzentreffens sein. Auch Aktivisten von Organisationen wie der Deutschen Umwelthilfe und Greenpeace lehnen die Software-Updates als Billiglösung ab. Sie fordern Nachbesserungen auch an Mechanik und Elektronik. Vor dem Dienstsitz von Vekehrsminister Dobrindt hatten sich Umweltschützer zu einer Demonstration versammelt. Greenpeace untermauerte die Kritik mit einem Plakat am Ministerium. Darauf wurde der Dieselgipfel als Schutzveranstaltung für die Dieseltechnologie - ein "Fort NOx" - bezeichnet. Nox ist die Kurzform für Stickoxide. Der Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband, Müller, sagte im Deutschlandfunk (Audio-Link), die Vermischung von Staat und Autoherstellern habe zu der Malaise geführt. Lediglich ein Software-Update bei den betroffenen Fahrzeugen reiche seiner Meinung nach jetzt nicht aus. Darüber hinaus müsse es ein unabhängiges Kraftfahrtbundesamt mit einer neuen gesetzlichen Grundlage und neuem Personal geben. Müller kritisierte zudem, dass Verbraucherverbände zu dem heutigen Treffen nicht eingeladen worden seien. Politischer Druck enorm Länder und Kommunen wollen Zugeständnisse der Autokonzerne. Der politische Druck sei so enorm, dass die deutsche Autoindustrie mehr zu verlieren habe als "ein paar Diesel-Autos", sagte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Landsberg, der Deutschen Presse-Agentur. Der Deutsche Städtetag hält an Fahrverboten für Diesel-Fahrzeuge grundsätzlich fest. Die Städte und Gemeinden wollten die Gesundheit der Menschen schützen, sagte die Präsidentin des Verbands, Lohns. Wenn sich die Stickoxid-Grenzwerte trotz zusätzlicher Maßnahmen nicht einhalten ließen und Gerichte Fahrverbote anordneten, dann brauchten die Städte die blaue Plakette. Dies sei nötig, um saubere Autos von anderen zu unterscheiden, betonte Lohns. Verbraucher sollen laut Dreyer nicht auf Schäden sitzen bleiben Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Dreyer sagte in Berlin, man werde die Branche in die Pflicht nehmen, denn die Verbraucher dürften nicht auf den Schäden sitzenbleiben. Viele Menschen hätten sich einen Diesel gekauft - in der sicheren Annahme, ein umweltfreundliches und sparsames Auto zu fahren. Nun aber dürften die Fahrer nicht die Zeche für die Tricksereien der Autobauer zahlen. Auch Niedersachsens Ministerpräsident Weil wirft der Autoindustrie vor, über viele Jahre hinweg massive Fehler begangen zu haben. Weil warnte im ZDF allerdings vor zu hohen Erwartungen an den heutigen Diesel-Gipfel in Berlin. Er hoffe aber, dass es vielleicht eine Einigung auf Sofortmaßnahmen geben werde. Weil ist selbst Mitglied im VW-Aufsichtsrat. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet, CDU, sagte ebenfalls im ZDF, die Hersteller müssten selbstverständlich dafür aufkommen, dass ihre Fahrzeuge die zugesagten Grenzwerte einhielten. Von dem Gipfel müsse auch das Signal ausgehen, dass man den Diesel als Technik retten müsse - auf neuestem Stand seien solche Fahrzeuge die CO2-freundlichsten unter den Autos mit Verbrennungsmotor. Warnung vor gesundheitlichen Belastungen Die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Krautzberger, warnte vor Gesundheitsgefahren. Es müsse dringend etwas passieren, betonte sie in der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Die Belastung könne zur Beeinträchtigung der Lungenfunktion oder zu chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. 2013 seien laut Europäischer Umweltagentur 68.000 Menschen an den Folgen der Belastung gestorben. Hauptursache für Stickoxide in der Atemluft seien eindeutig Diesel-Pkw, vor allem in den Städten, fügte Krautzberger hinzu. Juncker: Imageschaden für Deutschland droht EU-Kommissionspräsident Juncker betonte, Deutschland drohe ein Imageschaden. Dem ARD-Fernsehen sagte Juncker, die Bundesregierung müsse das Thema offensiv angehen. Es handele sich zudem nicht nur um ein deutsches Problem, sondern um ein europäisches. Zum heutigen Gipfel eingeladen sind die Chefs von Volkswagen, Porsche, Audi, Daimler, BMW sowie von Opel und Ford in Deutschland. Erwartet werden zudem die Ministerpräsidenten von Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland sowie die Stadtstaaten Hamburg und Berlin. Diese sind stark von hohem Ausstoß an Stickoxid (NOx) betroffen. Hören Sie zum Thema auch heute Abend unsere Sendung "Zur Diskussion" ab 19.15 Uhr. (vic/jcs/tep)
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In Berlin beraten Vertreter von Politik und Autoindustrie über Nachbesserungen bei der Abgasreinigung von Dieselautos in Deutschland. Das Treffen begann verspätet, weil es kurzfristig vom Verkehrs- ins Innenministerium verlegt wurde. Aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Umweltschützer hatten am ursprünglich geplanten Ort demonstriert.
"2017-08-02T06:31:00+02:00"
"2020-01-28T10:39:52.686000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/dieselgipfel-in-berlin-gespraeche-mit-verzoegerung-gestartet-100.html
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Kulturkampf im Kurpark
"Wir wollen hier keine fremden Kulturen. Keine Burkas und Menschen, die unsere Regeln nicht respektieren", beklagen sich Menschen aus Teplice. (picture alliance / dpa) Freitagsgebet in der Hinterhofmoschee. Rund 70 Gläubige verneigen sich in Richtung Mekka. Die staubige Zufahrtstrasse ist vollständig zugeparkt. Immer mehr Gäste kommen aus den Golfstaaten. Die Moschee ist deshalb inzwischen zu klein. Ein neuer Anbau soll die Platzprobleme lösen. Doch noch stehen die Männer dicht gedrängt Schulter an Schulter: Atif ist in Palästina geboren. Früher hat er in Deutschland gelebt, jetzt arbeitet er als Dolmetscher für die arabischen Kurgäste in Teplice. Lange Jahre hat er dort mit seiner Familie ohne Probleme gelebt, doch die Stimmung in Nordböhmen hat sich verändert: "Man sitzt im Garten ab und zu und hat Kinder. Und wenn man Kinder hat, schmeißt man ein Papier oder eine Zigarette auf den Boden. Ich denke die Tschechen machen das auch. Aber das ist nicht das Problem. Das große Problem ist die Angst. Das sind Fremde das sind Muslime." Viele bleiben mehrere Monate Rund ein Viertel der jährlich rund 13.000 Kurgäste in Teplice kommt mittlerweile aus Kuwait, Bahrein oder Saudi-Arabien. Viele der Patienten und ihre Angehörigen bleiben über lange Monate - meist finanziert aus den Kassen der Herrscherfamilien. Sie prägen vor allem im Sommer das Bild der Stadt. Viele Bewohner der 50.000 Einwohner von Teplice sind damit überfordert, meint der Arzt Abbas Jahaf. Im Kurpark herrsche mittlerweile ein Kulturkampf: "Arabische Familien haben einen anderen Lebensstil. Sie sind laut und temperamentvoll. Das ist die Gesellschaft hier nicht gewöhnt – sie kennen einfach keine anderen Kulturen, weil sie so lange hinter dem Eisernen Vorhang gelebt haben." Debatte über Kopftuchverbot im Kurpark Die Angst vor der schleichenden Islamisierung ihrer Heimatstadt treibt viele Bewohner auf die Straße. Im Herbst vergangenen Jahres organisiert eine rechtsradikale Partei einen Protestmarsch durch die Innenstadt. Im Stadtrat wird über ein Kopftuchverbot im Kurpark debattiert. Einige arabische Geschäfte werden mit Schweineblut beschmiert. In der Kneipe "Pod Lampou" sind Gäste aus arabischen Ländern nicht willkommen. Über dem Tresen hängt zur Abschreckung eine israelische Flagge mit dem Davidstern. Den Eingang bewacht ein lebensgroßes Plastikschwein. Kein Rassismus, meint der Gastwirt, sondern der einzige Weg sich zu wehren: "Im Sommer sind hier im Park 1000 Frauen mit Burka und Männer mit langen Bärten. Die Kinder schreien bis in den frühen Morgen. Niemand kann schlafen und der Rasen ist völlig zugemüllt. Das ist die Hölle. Wir sind doch nicht in der Wüste. Jeder hasst hier die Araber." Leider keine Einzelmeinung, so Bürgermeister Jaroslav Kubera. Seit über 20 Jahren steht er an der Spitze der Stadt. Nach dem Ende des Sozialismus habe sich Teplice verändert. Früher eine dreckige Industriestadt lebe Teplice heute gut von den Kurgästen aus aller Welt. Doch der Erfolg habe auch seine Schattenseiten. Ein Verbotsschild im Kurpark von Teplice (deutschlandradio.de / Stefan Heinlein) "Viele Menschen haben einfach Angst" "Unsere Einheimischen haben nicht nur ein Problem mit der Unordnung im Park und dem Lärm. Seit den Anschlägen in Paris und Kopenhagen haben viele Menschen einfach Angst. Sie sehen das im Fernsehen und denken - der Terror kommt jetzt auch zu uns nach Teplice. Das ist sehr irrational." Nur wenige Autominuten vom historischen Stadtkern entfernt liegt auf einem Hügel der Ortsteil Modlany. Hier hat sich Karel Secky seinen Traum vom ruhigen Landleben verwirklicht. Sein neu gebautes Haus steht auf einem riesigen Grundstück mit Apfelbäumen. Doch die Idylle ist in Gefahr, fürchtet der 41-jährige Ingenieur. Kuwaitische Investoren haben in Modlany mehr als 120 Parzellen Land gekauft. Dort sollen luxuriöse Ferienhäuser für reiche arabische Kurgäste entstehen: "Ich sehe das als Bedrohung. Wir Tschechen wollen doch nur ein ruhiges Leben. Wir wollen hier keine fremden Kulturen. Keine Burkas und Menschen, die unsere Regeln nicht respektieren. Die Araber können sich nicht anpassen – das sehen wir jeden Tag in Teplice." Bürger wehren sich gegen den Verkauf an arabische Investoren Seine Bürgerinitiative will deshalb den Verkauf weiterer Grundstücke an arabische Investoren verhindern. Eine Petition fordert von den zuständigen Behörden den Stopp der Bauvorhaben. Eine Entwicklung die in den Kurhäusern mit Sorge beobachtet wird. Die wachsende anti-arabische Stimmung in Teplice bleibt nicht ohne Folgen, fürchtet Kurdirektorin Yveta Sliskova: "Einige Gäste sind davon so betroffen, das sie vielleicht im nächsten Jahr nicht mehr wiederkommen. Wir hoffen aber, das dieser Streit uns nicht dauerhaft schadet. Natürlich gibt es aber ein gewisses Risiko." Auch in der islamischen Gemeinde von Teplice wächst die Unruhe. Viele der kleinen Geschäftsleute und Ladeninhaber fürchten um ihre Existenz und die Sicherheit ihrer Familien. Mit Einladungen zum Dialog in der Mosche versuchen sie ihren tschechischen Mitbürger die Furcht vor der fremden Kultur und Religion zu nehmen. "Wir reden mit den Menschen über die Dinge die sie stören und die sie verunsichern. Die Reaktionen sind dann meist sehr positiv. Wenn man sich persönlich kennenlernt regeln sich viele Dinge oft von selbst. Sie denken dann anders über uns und unsere Religion als wenn sie nur in den Medien davon erfahren."
Von Stefan Heinlein, Prag
Die kleine tschechische Kurstadt Teplice lebt gut von ihren meist wohlhabenden Gästen aus den reichen Golfstaaten. Doch die Popularität ihrer Heilquellen in der arabischen Welt sorgt für Unruhe in der nordböhmischen Provinz. Der Kauf vieler Grundstücke und Immobilien durch kuwaitische Investoren treibt die Menschen auf die Barrikaden.
"2015-03-19T05:05:00+01:00"
"2020-01-30T12:27:16.743000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/tschechien-kulturkampf-im-kurpark-100.html
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Rückt Deutschland 2016 nach rechts?
Wie wird sich die Flüchtlingsfrage auf die kommenden Wahlen auswirken? (dpa / picture-alliance) Oder wächst der Druck aus der CSU – und auf die CSU? Wird 2016 DAS Jahr für die AfD? Es diskutieren: Bettina Gaus, politische Korrespondentin Tageszeitung taz Werner J. Patzelt, Politikwissenschaftler, Technische Universität Dresden Michael Rutz, Ehemaliger Chefredakteur Rheinischer Merkur Sie sind herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Wir freuen uns auf Ihren Anruf oder Ihre Mail: Tel. 00800 – 4464 4464 (europaweit kostenfrei) und [email protected]
Moderation: Sandra Schulz
Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz im Frühjahr – und Mecklenburg-Vorpommern und Berlin im Herbst. Fünf Bundesländer stehen 2016 vor Landtagswahlen. Ein Thema wird dieses wichtige Wahljahr prägen wie kein anderes: die Flüchtlingsfrage. Kann Bundeskanzlerin Merkel Kurs halten?
"2016-01-04T10:10:00+01:00"
"2020-01-29T18:06:39.828000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/terrorangst-fluechtlingsfrage-und-die-landtagswahlen-rueckt-100.html
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Chinas Kampf gegen Plastiktüten
Nicht nur wir Deutschen müssen uns wohl über kurz oder lang damit abfinden, dass Plastik out ist. Zumindest an der Kasse mal eben eine Plastiktüte schnappen will Brüssel verbieten. Angeblich verwendet jeder Europäer durchschnittlich 500 solcher Tüten im Jahr. In Frankreich und Italien ist man sogar schon einen Schritt weiter auf dem Weg zum Ende Plastiktüte.Was aber eher verwundert ist, dass die Chinesen hier ebenfalls ambitioniert vorgehen. Im Kampf gegen das Umweltproblem wollen sie auch schon sehr erfolgreich vorgegangen sein. Zumindest offiziell. Den kompletten Beitrag können Sie sich als Audio hier anhören.
Von Astrid Freyeisen
Plastik ist out, das haben ganz offiziell auch die Chinesen erkannt. Sie wollen den Kampf gegen das Umweltproblem Plastiktüte bereits aufgenommen haben.
"2011-07-15T11:35:00+02:00"
"2020-02-04T02:22:43.619000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/chinas-kampf-gegen-plastiktueten-100.html
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Nüßlein: Transaktionssteuer ist im Bundeshaushalt bereits eingeplant
Martin Zagatta: Bis März will Angela Merkel Nägel mit Köpfen machen und - so hat sie gestern nach Absprache mit Frankreichs Präsident Sarkozy angekündigt - die Finanztransaktionssteuer auf den Weg bringen, notfalls im Alleingang der Eurozone. Dumm nur, dass der Koalitionspartner, die FDP, dagegen ist. Verbunden sind wir jetzt mit Georg Nüßlein, wirtschaftspolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Guten Tag, Herr Nüßlein.Georg Nüßlein: Ich grüße Sie.Zagatta: Herr Nüßlein, die FDP - das haben wir gehört - lehnt diese Finanztransaktionssteuer ab, die jetzt geplant wird von Frau Merkel. Sie hält diese Steuer, diese Börsensteuer für höchst schädlich für den Finanzplatz Frankfurt. Sie, die CSU, haben solche Bedenken nicht?Nüßlein: Zunächst einmal verstehe ich komplett die Position der FDP-Kollegen, schlicht und schlank deshalb, weil natürlich, wenn nicht alle mitmachen und insbesondere sich Großbritannien herausnimmt und London außen vor lassen will, das natürlich schon etwas ist, was man diskutieren muss, auch mit den europäischen Nachbarländern, und da muss man auch von den Briten noch mal ein bisschen mehr Solidarität einfordern. Nichtsdestotrotz stelle ich fest, dass wir mit dieser politischen Forderung auf der Stelle treten, wenn wir das nicht schrittweise machen. Deshalb ist die CSU mehrheitlich geneigt, hier an der Stelle schon auch Sarkozy und Merkel zu folgen.Zagatta: Und die Briten haben ja schon klipp und klar gesagt, sie werden das auf keinen Fall machen, ihnen geht es um ihren Finanzplatz. Schweden hat sich ähnlich geäußert. Also wenn die beiden Länder bei ihrem Nein bleiben, dann macht man das trotzdem, obwohl das dann, wie die FDP wahrscheinlich zurecht einwendet, zu einer Wettbewerbsverzerrung führt?Nüßlein: Das mag sein. Man muss dann eben mal sich ansehen, wie groß die Wettbewerbsverzerrung am Schluss sein wird. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Schäuble auch in künftigen Bundeshaushalten diese Finanztransaktionssteuer bereits eingeplant hat. Das ist auch der FDP bekannt.Zagatta: Das heißt ja, Sie sind auch überzeugt, dass das viel bringt, denn Experten sagen jetzt, diese Finanztransaktionssteuer, die würde ja an Kunden weitergegeben, das würde die Finanzinstitute, die man eigentlich in der Eurokrise beteiligen will, gar nicht so sehr treffen. Das ist aber aus Ihrer Sicht dennoch ein gutes Instrument?Nüßlein: Das ist die Frage, wie die marktliche Situation ist, wer am Schluss was bezahlt. Ob das zulasten der Gewinnsituation der Institute geht, oder ob man dort die Preise erhöht, kann ich Ihnen so nicht sagen. Aber es ist ein Instrument letztendlich, um auf der einen Seite diese Transaktionen etwas zu belasten, auf der anderen Seite die Banken mit in die Sanierung einzubeziehen, und andererseits natürlich in dem Zusammenhang die Lasten, die der Vater Staat da übernommen hat, wieder zurückzuführen. Größenordnung 2013, wenn der Plan vom Kollegen Schäuble stimmt, zwei Milliarden Euro.Zagatta: Die Banken sagen allerdings, die Zahlen seien infrage zu stellen, weil wenn sich die Geschäfte nach London verlagern, der Effekt gar nicht so groß sei und das dem Finanzstandort Frankfurt auf der anderen Seite sehr schadet. Das leuchtet nicht ein?Nüßlein: Das muss man aber erst mal absehen. Dass die Banken so argumentieren, ist für mich klar.Zagatta: Diese Steuer, Herr Nüßlein, die ist ja seit Jahren im Gespräch. Dafür hat sich dann aus dem Koalitionslager der eine oder andere immer wieder auch ausgesprochen. Glauben Sie denn, dass die jetzt ernsthaft umgesetzt wird, oder gibt die Kanzlerin das nur vor und scheitert dann - das ist ja abzusehen - am Nein der FDP?Nüßlein: Also ich glaube, wenn die Verhandlungen so laufen, wie es sich jetzt nach den Gesprächen von gestern abzeichnet, und sich da auch ein weiter Teil der europäischen Länder beteiligen wird, dass dann die FDP unter Druck kommen wird, hier mitzuziehen.Zagatta: Die kann aber sagen, es gibt eine klipp und klare Koalitionsvereinbarung und von der soll die Union nicht abweichen.Nüßlein: Da muss man miteinander reden, das kann man jetzt nicht vorher abschätzen, wie das läuft. Aber wir werden miteinander reden und werden da, glaube ich, sehr einvernehmlich am Schluss zu einer Lösung kommen.Zagatta: Sie haben aber einen Koalitionspartner, der es gerade noch mal laut Umfragen auf zwei Prozent bringt. Warum sollte der jetzt nachgeben und schon wieder als Umfallpartei dastehen? Da würden ja noch die letzten Wähler davonlaufen. Ist das realistisch, dass die FDP da nachgibt?Nüßlein: Ich bin mir nicht sicher, dass das dazu führen wird, dass es noch weniger wird. Die FDP muss sich die Frage stellen, warum sie denn momentan bei zwei Prozent ist. Das heißt, die müssen sich überlegen, woran lag es denn. Und dass die FDP in manchen Teilen den einen oder anderen Kompromiss vermissen lässt, die eine oder andere Kompromissbereitschaft, das ist etwas, was mich schon belastet an der Stelle.Zagatta: Aber es ist doch kaum anzunehmen, dass dann mehr Leute die FDP wählen, wenn sie zu den Positionen der Union überwechselt?Nüßlein: Das kann ich so nicht abschätzen. Ich glaube, dass es durchaus notwendig ist, dass die FDP anfängt, jetzt auch ernsthaft mitzuregieren. Und wenn Regieren sich darauf beschränkt, den Leuten mitzuteilen, wo man überall nicht mitspielen will, dann kommt man am Schluss zu Umfrageergebnissen, wie wir sie jetzt sehen. Ich glaube, dass das sich bei der FDP mittlerweile herumspricht, dass es schon Sinn macht, jetzt auch mal Politik zu machen in der zweiten Phase der Legislatur.Zagatta: Herr Nüßlein, aber Regieren könnte ja auch heißen, dass man sagt, man hält sich an das, was die Regierung beschlossen hat?Nüßlein: Ja, jetzt schauen wir mal, wie man letztendlich miteinander zurande kommt. Ich sehe es noch gar nicht so problematisch. Ich sehe eher den Punkt, dass man sich überlegen muss, ob es nicht Sinn macht, das, was da international gemeinschaftlich beschlossen wird, am Ende dann auch national hier umzusetzen. Denn die Rettung der Eurothematik und vor allem das Lösen der Schuldenproblematik europäisch ist doch ganz vorne auf der Tagesordnung und da muss man auch formulieren, wie man das tun will, und das heißt, wie man auf der einen Seite einsparen möchte, beispielsweise im Sozialbereich - da werden wir nicht umhin kommen -, auf der anderen Seite aber, wie man dafür Sorge tragen kann, dass auch die notwendigen Einnahmen da sind, und darüber werden wir uns natürlich auch unterhalten müssen, wer das am Ende wie bezahlt.Zagatta: Zu diesem Bezahlen gehört ja auch die Schuldenbremse letztendlich, die die Regierung auf den Weg gebracht hat, die beschlossen ist. Da wird jetzt laut "Bild"-Zeitung unter Umständen davon abgerückt. Es gibt zumindest, so Medienberichte, Pläne von Finanzminister Schäuble, wonach der Bundestag in Zukunft zustimmen soll, wenn die nach der Schuldenregel, so heißt es, zuständige Kreditaufnahme überschritten wird. Haben Sie davon als wirtschaftspolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe etwas gehört?Nüßlein: Also allmählich macht sich die "Bild"-Zeitung lächerlich. Die wollen nicht nur Bundespräsidenten berufen und abberufen selber, sondern sind ständig dabei, irgendwie fadenscheinig Politik zu machen. Für ein solches Spielchen, wenn es das denn gäbe - es gibt es nicht -, wird es keine Mehrheit geben, auch schon gar nicht von der CSU unterstützt, sondern wir sind ganz klar stolz darauf, dass wir diese Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben haben, und wir halten es für richtig und wegweisend gesamteuropäisch, und deshalb werden wir auch nichts machen, was diese Schuldenbremse letztendlich infrage stellt. Ich kann insbesondere im Lager der SPD erkennen, wie die mit der Schuldenbremse ständig hadern, weil nicht mal dann der Staat mehr in der Lage ist, konjunkturell umfassend einzugreifen, so wie sich die linke Seite des Hauses das vorstellt. Aber ich kann überhaupt nicht erkennen, die Pläne gibt es nicht.Zagatta: Die gibt es nicht?Nüßlein: Nein, nein, die gibt es nicht. Diese Pläne, so wie sie die "Bild"-Zeitung schreibt, gibt es nicht. Es geht dabei vielmehr um die Frage, wie man den Haushalt der SoFFin [Anm. d. Redaktion: Sonderfonds für Finanzmarktstabilisierung] ordentlich in den Bundeshaushalt integriert. Das muss unser Anliegen sein. Das halte ich für notwendig und richtig, auch das entsprechend mit der zeitlichen Verzögerung dann auch im Bundeshaushalt einzubauen. Aber ich kann nichts erkennen und niemanden erkennen, der die Schuldenbremse bei uns infrage stellen will und der infrage stellen möchte, dass wir spätestens 2016 zu einem ordentlichen Bundeshaushalt kommen, der dann auch quasi ausgeglichen dafür Sorge trägt, dass wir die nächsten Generationen nicht mit zusätzlichen Schulden und damit Steuern belasten.Zagatta: Also ein klares Dementi. - Sie haben den Bundespräsidenten schon angesprochen. Jetzt in der Eurokrise wäre es ja vielleicht auch mal die Zeit, dass unser Bundespräsident sich da in einer Rede äußern würde. Kann er das jetzt überhaupt noch, ohne dass so etwas peinlich wirken würde?Nüßlein: Also erstens meine ich, dass er das sehr wohl kann, und zweitens halte ich das mittlerweile für sehr fragwürdig, was da medial letztendlich veranstaltet wird. Das ist eine Hetzjagd. Die eigentliche Frage, ob nämlich irgendjemand amtsmissbräuchlich von Wulff begünstigt worden ist, die wird gar nicht gestellt, sondern ... Zagatta: Doch, doch! Die stellen wir nachher auch wieder in dieser Sendung!Nüßlein: Das ist auch wichtig, die zu stellen. Da kann ich nämlich nichts erkennen. Ich kann nur erkennen, dass er ein günstiges Darlehen bekommen hat von Privaten und dass er ab und zu bei Freunden übernachtet, so wie das viele von uns auch tun. Ich habe keinen Freund, dem ich für eine Übernachtung Geld aufdrängen könnte, eine Bezahlung aufdrängen könnte, ohne dass der mich aus seinem Haus schmeißt, und jeder sollte für sich mal überlegen, ob er solche Freunde hat, und dann über die Freunde nachdenken und nicht über den Bundespräsidenten an erster Stelle.Zagatta: Da gehen wir nachher sicher noch in die Einzelheiten, das soll jetzt auch gar nicht unser Thema sein. Aber wenn eine Mehrheit - das ist ja nach Umfragen so - findet, dass Bundespräsident Wulff inzwischen nicht nur unglaubwürdig, sondern sogar peinlich ist, kann sich denn ein Land wie Deutschland auf Dauer einen solchen Präsidenten leisten?Nüßlein: Na da müssen sich aber - - Ich bin da immer sehr skeptisch bei diesen Umfragen. Die sind ja auch gesteuert, so wie die "Bild"-Zeitung momentan scheibchenweise das steuert in einer Kampagne, die unsäglich ist, und ich will da den Bundespräsidenten nicht unnötig in Schutz nehmen. Ich meine, er hat auch Fehler gemacht, insbesondere in der Kommunikation und im Krisenmanagement. Das sehe ich schon. Aber was da veranstaltet wird, das leuchtet einer Mehrheit der Bevölkerung mittlerweile ein, dass das nicht so sein kann, und wir sind auf dem Weg, medial die Politik, die Demokratie so zu beschädigen, wie es unverantwortlich ist und dafür Sorge zu tragen, dass in Zukunft sich zunehmend weniger honorige Leute in den Dienst des Staates stellen werden und in den Dienst der Politik, und das halte ich für problematisch.Zagatta: Also da könnten wir sicher noch lange diskutieren. - Danke schön! - Das war Georg Nüßlein, der wirtschaftspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag. Herr Nüßlein, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.Nüßlein: Ich bedanke mich. Auf Wiederhören!Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georg Nüßlein im Gespräch mit Martin Zagatta
Der Bundestagsabgeordnete Georg Nüßlein (CSU) hat eingeräumt, dass eine nicht flächendeckende Finanztransaktionssteuer zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann. Dennoch sei die CSU mehrheitlich für die neue Steuer, noch zumal sie im Bundeshaushalt bereits eingeplant sei.
"2012-01-10T12:10:00+01:00"
"2020-02-02T14:43:13.688000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/nuesslein-transaktionssteuer-ist-im-bundeshaushalt-bereits-100.html
91,413
Blauäugige Jäger und Sammler
Die Jäger und Sammler aus dem heutigen Spanien hatten zwar recht dunkle Haut, aber gleichzeitig blaue Augen. (dpa/picture alliance - John Stillwell) 2006 wurde eine Höhle im Kantabrischen Gebirge in Nordspanien entdeckt. Dort in La Braña-Arintero stießen Forscher auf zwei Skelette, die aufgrund einer konstant kühlen Umgebung gut erhalten geblieben waren. Radiokarbondatierungen ergaben, dass die beiden Steinzeitmenschen vor rund 7000 Jahren gelebt haben. Anhand archäologischer Fundstücke wie Schmuck war schnell klar, dass sie zu Lebzeiten Jäger und Sammler gewesen waren. Von einem Skelett entnahm Carles Lalueza-Fox einen Zahn, aus dem er das komplette Erbgut extrahieren und entziffern konnte. "Mit dem Genom eines Jäger und Sammlers aus Europa können wir erstmals genau sehen, welche genetischen Veränderungen es später in der Jungsteinzeit gegeben hat. Das betrifft den Stoffwechsel, aber auch das Immunsystem der Steinzeitmenschen, weil es durch die dann aufkommende Viehhaltung viele neue Infektionskrankheiten gab, die von den domestizierten Tieren der ersten Bauern ausgingen." Der Paläogenetiker vom Institut für evolutionäre Biologie in Barcelona erstellte eine Liste mit den Genen, die bei heutigen Europäern für diese Bereiche wichtig sind. Die Frage war: Trägt dieser nordspanische Jäger und Sammler bereits das jungsteinzeitliche Europäer-Genom in sich? Oder waren seine Gene noch stark von seinen afrikanischen Vorfahren geprägt? "Zu unserer Überraschung sahen wir, dass dieser junge Mann noch das afrikanische Pigmentierungsgen in sich trug. Er hatte sicher noch eine dunkle Haut. Als wir uns das Gen für die Augenfarbe anschauten, gab es die nächste Überraschung, denn er hatte schon blaue Augen, aber eben noch keine helle Haut." Demnach hat sich die Haut erst viel später als bislang angenommen aufgehellt. Weniger überraschend war, dass der junge Mann wohl Stärke nur schlecht und Milchzucker noch gar nicht verdauen konnte. Die genetischen Veränderungen, die das erlauben, sollten erst später auftreten. Aber der dunkelhäutige Mann mit den blauen Augen besaß bereits bestimmte Immungene, die seine Nachfahren weniger empfindlich gegenüber Krankheitserregern machen sollten, die von Tieren übertragen werden. Das Genom verrät aber noch mehr, so Carles Lalueza-Fox. "Dieser Mann weist auch viele genetische Ähnlichkeiten zu einigen Nordeuropäern auf, vor allem zu Schweden und Finnen. Die Jäger und Sammler dort wurden zwar auch, wie überall in Europa, von den Bauern verdrängt, aber erst sehr spät. Deshalb haben sich dort viele genetische Eigenheiten bis heute erhalten." Das neue Skelett weist nicht nur Ähnlichkeiten zu Menschen aus Nordeuropa auf, sondern auch zu alten Funden in Sibirien. So gleicht die DNA aus Spanien dem Genom eines jungen Mannes, der im Gebiet des heutigen Irkutsk vor rund 24.000 Jahren starb. "Wenn wir diese beiden Männer mit dem restlichen Europa oder Asien vergleichen, dann sehen wir mehr Ähnlichkeiten der beiden untereinander als zu den neu eingewanderten Populationen, die sich später in Asien oder Europa erfolgreich etablieren sollten." Zwar könne man bei den beiden zeitlich und räumlich weit entfernten Funden nicht von einer Population sprechen, jedoch gebe es Hinweise darauf, dass die Jäger und Sammler in der Mittelsteinzeit in ganz Eurasien eine Art gemeinsamen Genpool teilten. Beide stammen demnach aus einer alten Bevölkerungsgruppe, die sich deutlich von den späteren Bauern Europas und Asiens unterscheidet.
Von Michael Stang
Vor 7000 Jahren lebten im heutigen Spanien nomadisierende Jäger und Sammler. Aber wie sahen diese europäischen Steinzeit-Menschen aus? Diese Frage haben nun spanische Wissenschaftler im Magazin "Nature" beantwortet.
"2014-01-27T16:35:00+01:00"
"2020-01-31T13:23:28.189000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/palaeogenetik-blauaeugige-jaeger-und-sammler-100.html
91,414
"Staat hat sich ein Stück weit Maulkorb von der Lufthansa auferlegen lassen"
Die Grünen-Politikerin Katharina Dröge kritisierte aber auch, dass der Bund mit sehr viel Geld in die Lufthansa-Rettung eingestiegen sei ohne im Gegenzug ausreichend Mitspracherechte zu bekommen. (imago stock&people) Fast 23 Jahre nach der Privatisierung der Deutschen Lufthansa kann sie wieder teilverstaatlicht werden. Dadurch können die schlimmsten Folgen der Corona-Pandemie abgefangen und eine Insolvenz verhindert werden. 138.000 Beschäftigte können in den kommenden vier Jahren nicht gekündigt werden. An diesem Donnerstag wird auf der außerordentlichen Hauptversammlung über ein staatliches Hilfspaket von bis zu rund neun Milliarden Euro abgestimmt, das neben Kredit und einer stillen Beteiligung auch einen direkten Einstieg des Bundes mit rund 20 Prozent des Kapitals vorsieht. Die Vorlage dürfte eine breite Zustimmung finden. Denn nun ist klar, dass der entscheidende Großaktionär Heinz Hermann Thiele mit seinen Stimmen die nötige Zweidrittelmehrheit nicht verhindern wird, berichtet die "FAZ". Thiele kritisierte im Vorfeld, dass der Staat Anteilseigner werden soll. Nach Ansicht des Großaktionärs sei der Staat nicht der bessere Unternehmer. Er befürchtet, dass gegen den Bund eine Neuaufstellung der Lufthansa schwierig wird. Warum Thiele nun doch einlenkt, darüber kann nur spekuliert werden. Thiele ist im Besitz von 15,5 Prozent der Anteile. Der Staat kann mit 20 Prozent der Lufthansa künftig in bestimmten Bereichen mitreden. Rettungspaket für die Lufthansa - Wie viel Staat muss sein?Mit neun Milliarden Euro will die Bundesregierung die Lufthansa retten. Linken-Politiker Thomas Lutze begrüßte im Dlf das Hilfspaket. Der Bund müsse aber mehr Einfluss bekommen. Dem widerspricht Michael Theurer (FDP). Er befürchtet den Einstieg in eine Verstaatlichungsserie privater Unternehmen. "Gutes Signal, dass Thiele keinen Erfolg hatte" Die Grünen-Wirtschaftspolitikerin Katharina Dröge kritisierte im Dlf das Vorgehen von Aktionär Heinz Herrmann Thiele. "Ich fand es absolut unverständlich und auch unverantwortlich, was Herr Thiele gemacht. Für mich wirkte das, wie ein Erpressungsversuch, dass er quasi die Insolvenz des Konzerns in den Raum gestellt hat, um noch mal Druck zu machen und Nachverhandlungen durchzusetzen", sagte sie. Es sei aber ein gutes Signal, dass er damit erst mal keinen Erfolg hatte. Der Staat sei ein besserer Unternehmer als Herr Thiele. Der Hauptaktionär habe ohne Rücksicht auf die 138.000 Beschäftigten spekuliert. "Das würde der Staat anders machen." Sie befürwortet den Deal, kritisierte aber auch, dass der Bund mit sehr viel Geld in die Lufthansa-Rettung eingestiegen sei ohne im Gegenzug ausreichend Mitspracherechte zu bekommen. "Er hat sich quasi einen Maulkorb von der Lufthansa ein Stück weit auferlegen lassen", sagte sie. Mit den 20 Prozent Anteilen habe man das Mitspracherecht deutlich reduziert. Der Bund hätte klare Klimaschutzvorgaben machen können, wie der Konzern mit Blick in die Zukunft transformiert werden könne. "Das wäre im Sinne einer Zukunftsstrategie und mit Blick auf die künftigen Generationen wichtig gewesen", sagte sie im Dlf. Das vollständige Interview können Sie in Kürze hier nachlesen Heinemann: Frau Dröge, verstehen Sie Herrn Thieles Bedenken? Dröge: Ich fand das absolut unverständlich und auch unverantwortlich, was Herr Thiele gemacht hat. Für mich wirkte das wie ein Erpressungsversuch, dass er quasi die Insolvenz des Konzerns in den Raum gestellt hat, um noch mal Druck zu machen, um noch mal Nachverhandlungen durchzusetzen. Und es ist erst mal ein gutes Signal, dass er damit offensichtlich keinen Erfolg hatte. Heinemann: Er sagt, der Staat ist nicht der bessere Unternehmer. Hat er recht? Dröge: Ein besserer Unternehmer als Herr Thiele in jedem Fall, müsste ich jetzt mal so feststellen, weil Herr Thiele völlig ohne Rücksicht auf die 138.000 Beschäftigten und ihre Zukunftsperspektive hier spekuliert hat, und das würde der Staat mit Sicherheit anders machen. Heinemann: Wobei er ein sehr erfolgreicher Unternehmer ist. Das sollten wir auch festhalten. Dröge: Ja, vor allen Dingen mit Blick auf seinen eigenen Profit. Heinemann: Und auf sein Unternehmen. – Sie haben den geplanten Einstieg als schlechten Deal für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bezeichnet. Was fehlt Ihnen? "Mitspracherechte deutlich reduziert" Dröge: Der Bund ist mit unheimlich viel Geld jetzt in die Lufthansa-Rettung eingestiegen und wir als Grüne haben immer gesagt, es ist in dieser Krise richtig, die Lufthansa zu retten. Aber es ist unverständlich, dass sich der Bund jetzt auf so ein Konstrukt eingelassen hat, wo er viel Geld in die Rettung steckt, damit auch ins Risiko geht, aber dafür so wenig Mitspracherechte bekommt. Er hat sich quasi einen Maulkorb von der Lufthansa ein Stück weit auferlegen lassen. Zwischenzeitlich hatte man in den Verhandlungen das Gefühl, dass es irgendwie nett wäre von der Lufthansa, dass der Bund sie retten darf. Das habe ich nicht verstanden. Mit den 20 Prozent, die der Bund jetzt an direkten Anteilen hält, haben sie die Mitspracherechte deutlich reduziert und haben sich auch in der Hauptaktionärsversammlung in den Mitspracherechten beschränken lassen und selbst bei der Auswahl der Aufsichtsratsmitglieder hat jetzt die Lufthansa das Vorschlagsrecht. Heinemann: Frau Dröge, wo sollte der Bund denn mitreden im Unternehmen? Dröge: Aus meiner Sicht hätte der Bund klare Vereinbarungen treffen können, im Zusammenhang mit der Rettung – einmal mit Blick auf die Beschäftigungssicherung. Es ist gut, dass die Tarifpartner jetzt einen zeitweiligen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen vereinbart haben. So etwas hätte der Bund auch fordern können. Und auf der anderen Seite klare Klimaschutzvorgaben machen, wie der Konzern in die Zukunft transformiert werden muss. Das ist alles unverbindlich, was die Bundesregierung dort verhandelt hat, und das wäre im Sinne einer Zukunftsstrategie und mit Blick auf künftige Generationen wichtig gewesen. "Man kann den Wandel hin zu klimaneutralen Technologien nicht aufhalten" Heinemann: Frau Dröge, Kritikerinnen und Kritiker könnten nun sagen, erst wenn die letzte Kundin und der letzte Kunde auf eine andere Fluggesellschaft umgestiegen sind, werden Sie, Frau Dröge, erkennen, dass man mit Grünen-Ideologie nicht wirtschaftlich fliegen kann. Wie erklären Sie das dann den Beschäftigten? Dröge: Dann macht man, wenn man so argumentiert, genau denselben Fehler, den die deutsche Automobilindustrie über viele Jahre gemacht hat, zu glauben, dass man den Wandel hin zu klimaneutralen Technologien aufhalten kann, und nicht zu sehen, dass darin auch große Chancen liegen, halte ich für einen Fehler. Die Märkte werden sich in diese Richtung entwickeln. Sie werden sich in diese Richtung entwickeln müssen, wenn wir diese Klimakrise noch aufhalten wollen. Und dann ist es gut, wenn man das Unternehmen ist, das das als erster kann. Dann kann man dort auch wieder Marktführer werden und dann hat man damit auch eine gute wirtschaftliche Zukunft. Wenn man versucht zu bremsen, machen das andere, und das erleben die deutschen Automobilkonzerne gerade. "Thiele sollte froh sein, dass der Staat ins Risiko geht" Heinemann: Können Sie Beispiele für international operierende grüne Fluggesellschaften nennen? Dröge: Frankreich hat gerade mit der Air France deutlich ambitioniertere Ziele vereinbart, sowohl was den Verzicht auf Inlandsflüge als auch die Reduzierung von CO2-Emissionen pro geflogenen Personenkilometern angeht. Das sind Beispiele, an denen man sich orientieren kann. Auch Österreich hat härtere Vorgaben gemacht. Wir leben nicht auf einer Insel. Wir müssen nur ins europäische Umland schauen und sehen, dass dort andere sich auf den Weg machen. Heinemann: Geben Sie mit Ihren Antworten nicht genau den Bedenken des Herrn Thiele recht? Dröge: Aus meiner Sicht nicht, weil wir sind daran interessiert, dass die Lufthansa dauerhaft eine Zukunft hat, dass Beschäftigung gesichert wird, aber dass gleichzeitig auch die gesellschaftliche Herausforderung Klimaschutz gewahrt wird. Aus meiner Sicht geht alles drei. Der Staat ist bereit, neun Milliarden dafür zu investieren, die Lufthansa zu unterstützen. Das haben wir nicht kritisiert. Deswegen sollte Herr Thiele eigentlich froh sein, dass der Staat bereit ist, so ins Risiko zu gehen. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katharina Dröge im Gespräch mit Christoph Heinemann
Die Grünen-Wirtschaftspolitikerin Katharina Dröge kritisierte im Dlf das Vorgehen von Lufthansa-Großaktionär Heinz Herrmann Thiele. Es habe wie ein Erpressungsversuch gewirkt, die Insolvenz des Konzerns in den Raum zu stellen, sagte sie. Der Staat hätte sich zudem mehr Mitspracherecht sichern sollen.
"2020-06-25T07:15:00+02:00"
"2020-06-26T09:31:06.444000+02:00"
https://www.deutschlandfunk.de/droege-gruene-zur-lufthansa-rettung-staat-hat-sich-ein-100.html
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Die Taktik Eskalation
Soldaten in der Nähe von Sewastopol auf der Krim-Halbinsel (picture alliance / dpa / Andrey Stenin) Die angeblichen Sabotageakte auf der von Russland besetzten Krim haben weitere Folgen gezeigt. Das russische Fernsehen sendete gestern Abend ein angebliches Verhörvideo mit einem Mann, der - so der russische Geheimdienst - mehrere Terroranschläge auf der Halbinsel geplant haben soll. Der Mann soll dem ukrainischen Verteidigungsministerium angehören. Ausschnitt aus dem Video: "Welche Beziehung haben Sie zur Aufklärungsabteilung des ukrainischen Verteidigungsministeriums?" "Ich wurde nach Kiew eingeladen. Mir wurde erklärt, es werde eine Gruppe gegründet zur Durchführung von Sabotageakten auf dem Gebiet der Krim." Ein Gericht in Simferopol ordnete Haft für den Mann an. Russlands Präsident Wladimir Putin hat zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen auf der Krim angeordnet, "zu Lande, im Wasser und in der Luft". Der Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, hat Truppen an der Grenze zur Krim sowie nahe der Waffenstillstandslinie im Donbass zusammenziehen lassen – aus Furcht vor einem russischen Angriff. Kämpfe im Donbass nehmen zu Im Internet kursieren schon seit Tagen Bilder von angeblichen russischen Truppentransporten auf der Krim. Möglicherweise handelte es sich dabei aber lediglich um eine routinemäßige Rotation. Im Donbass nehmen die Kämpfe schon seit Wochen wieder zu. Die OSZE bestätigte am Donnerstag den Tod von zwei Zivilisten im Gebiet Donezk. Die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman schließt eine erneute militärische Eskalation des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine nicht aus: "Die Erfahrung der letzten zwei Jahre in der Ukraine und in Syrien zeigt, dass Russlands Taktik in der Verhandlungsführung darin besteht, im Voraus zu eskalieren. Es geht darum, Panik zu schüren, zu drohen, real oder virtuell, um dann etwas verlangen zu können und im Gegenzug die Bedrohung wieder abzumildern. Das ist gefährlich und kostet Menschenleben." Die nächsten Verhandlungen im Normandie-Format sind für Anfang September angedacht. Putin hat sie allerdings diese Woche für überflüssig erklärt, die Regierung der Ukraine sei an Verhandlungen nicht interessiert, sondern wolle Terror. Was geschah wirklich auf der Krim am Wochenende? Russlands Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung, in der es "Kiew und seine ausländischen Kuratoren" warnte: Der Tod der russischen Soldaten auf der Krim werde "nicht ohne Folgen bleiben". Unterdessen bleibt weiter unklar, was am Wochenende wirklich auf der Krim geschehen ist. Der russische Geheimdienst spricht von Angriffen ukrainischer Soldaten unter anderem mit Panzern. Es kursiert auch eine ganz andere Version. Der zufolge sollen am Wochenende mehrere russische Soldaten mit Waffen aus einer Kaserne auf der Krim desertiert und lange nicht gefasst worden sein. Die Politologin Jekaterina Schulman: "Wenn das wirklich so ist, wenn sie lange gesucht wurden, am Schluss geschossen wurde und dabei auch noch zwei Männer starben, dann ist es natürlich viel lohnender, das so darzustellen, als hätte man eine Gruppe von Saboteuren gestellt. Ich würde nicht ausschließen, dass sich da einfach eine Behörde in besseres Licht rücken möchte."
Von Gesine Dornblüth
Russland beschuldigt die Ukraine, Angriffe auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim geplant zu haben, und droht mit Gegenmaßnahmen. Die Moskauer Politologin Jekaterina Schulmann erkennt darin eine Taktik: Russland eskaliere im Voraus, um dann etwas verlangen zu können und im Gegenzug die Bedrohung wieder abzumildern.
"2016-08-12T05:22:00+02:00"
"2020-01-29T18:46:57.005000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/russland-ukraine-konflikt-die-taktik-eskalation-100.html
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Kreativwirtschaft, Kunstbetrieb, Knast
Dietmar Dath (r) und Johannes Frisch (am Bass) (imago stock & people) Der Journalist Dietmar Dath hat sicher viele Gaben. Mit seiner Schwäche für Pop, Physik und Science Fiction ist er im Feuilleton ein origineller Außenseiter und beweist zudem, dass man auch als Marxist bei der FAZ arbeiten kann - wo das theoretisierend-verwurstelte, hypotaktisch-hyperaktive Schreiben noch immer gern gesehen ist. Von Theater allerdings versteht Dath offenkundig überhaupt gar nichts; Dramaturgie, Personen, Geschichten sind ihm Jacke wie Hose. Macht aber nix: In der Postmoderne kippen wir ja aufs Papier, was uns durchs akademisch vorgebildete Hirn rauscht, verteilen das auf vier Figuren, und fertig ist ein Theaterstück. "Farbenblinde Arbeit" heißt es, und es wird notdürftig zusammengehalten durch ein wenig Szene-Jargon und die abstruse Geschichte von Sofie, die wegen politischer Inkorrektheiten nicht nur aus dem Filmclub fliegt, sondern auch aus einer WG ausziehen muss. Fortan macht sie Kunst im Knast, sehr emanzipatorisch, während ihre ehemalige feministische Freundin Michelle an einer Brille für Schizophrene arbeitet - durch "affektives Programmieren" soll deren Weltsicht wieder ins Lot gebracht werden. Irgendwann erklärt Dath uns seine eigene Ratlosigkeit Später stellt sich heraus, dass Sofies Schwester Dunja im Knast "sexualisierte Gewalt angetan" wurde, so verschwurbelt nennt man das hier, woraufhin sie sich umbrachte. Das muss nun gerächt werden, ein Knastaufstand muss her, weil ja auch das Leben draußen nur ein Dasein im Freiluftgefängnis ist. Der Gefängnisdirektor aber will was von der kunsttherapeutisch tätigen Sofie, außerdem agiert er im Nebenberuf als Göttervater Zeus, keiner weiß warum. Und die aufmüpfige Sofie erklärt uns ihre ganz eigene Grammatikreform. "Was? - Ich sammle für gegen Rassismus! - Nein, das geht nicht. Für gegen, das ist keine Grammatik. - O doch, das ist schlechte Grammatik! Und schlechte Grammatik ist besser als gar keine Grammatik! - Sind Sie von irgendeiner Organisation? - Ich bin Nelson Mandela…!" Und so weiter. Von Nelson Mandela geht es zu der linken Tageszeitung "Junge Welt" und dem Ende des Printjournalismus, zu den unsicheren Beschäftigungsverhältnissen der Computergeneration, den Hofer Filmtagen. Selbst zärtliche Rendezvous dienen keinesfalls der Erotik, sondern lediglich der Alibi-Beschaffung. Irgendwann tritt Dietmar Dath selber auf, die Schauspielerin Dascha Trautwein malt sich einen zarten Schnurrbart an, und erklärt uns die Welt bzw. seine eigene Ratlosigkeit. Die Wirkung ist sedierend Die Wirkung dieses redundanten Szene-Geschwafels ist derart sedierend, dass man gelegentlich wohlig wegdämmert, bald aber durch das Geschrei auf der Bühne wieder in die trübe Gegenwart geholt wird. Denn Regisseur Robert Teufel vertraut angesichts der amorphen Textmasse auf Lautstärke und Körperlichkeit. Am Anfang schieben die vier Darsteller pantomimisch vier Koffer eine schräge leere Ebene hinan und lassen sie hinter der Bühne ins Nichts fallen. Das wäre im Grunde auch der adäquate Umgang mit der Stückvorlage gewesen. Da man die aber zur Uraufführung angenommen hat, setzt man im weiteren Verlauf auf Kunst. "Ich bin Künstler. Ich kann nur Kunst. - Meine Mitbewohnerin macht Kunst im Knast. Da könnte er hinpassen. Aber sie wohnt nicht mehr bei mir. Und sie will meine Vorschläge nicht." Je belangloser der Text, desto artifizieller die Spielweise. Beständiges Over-Acting statt Putzen der Datenbrille. Die vier bedauernswerten Darsteller Isabelle Barth, Dascha Trautwein, Sascha Tuxhorn und Matthias Thömmes agieren irgendwo zwischen Groteske und Kindertheater, es ist ein Graus. Der zahlreich erschienene Dietmar-Dath-Fanclub jedoch machte die Premiere zu einem umjubelten Heimspiel. Dafür, dass das Leben ein Knast ist, war es also richtig gemütlich in Mannheim. Entscheidend aber ist dann die dritte oder vierte Vorstellung: ob da noch jemand kommt?
Von Christian Gampert
Gentechnik und die Hofer Filmtage, Missstände im Strafvollzug, Rot-Grün-Blindheit und der Feminismus - all diese Themen bringt der Autor Dietmar Dath in seinem neuen Stück "Farbenblinde Arbeit" zusammen, das in Mannheim uraufgeführt wurde.
"2014-12-19T17:35:00+01:00"
"2020-01-31T14:19:55.910000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/theaterstueck-farbenblinde-arbeit-kreativwirtschaft-100.html
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"Signal für die Freiheit der Wissenschaft"
DIE TU München möchte der CEU zur Seite springen (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene) Stephanie Gebert: Für liberale Bildungseinrichtungen steht es in Ungarn gerade schlecht: Wer mit seinen Ansichten als Feind ausgemacht ist, wird mundtot gemacht. So ist es auch der Zentraleuropäischen Universität, kurz CEU, ergangen. Sie hat wegen eines neuen Hochschulgesetzes schon mal die Koffer gepackt. Ein Teil der Studienprogramme an der Uni sollen ab Wintersemester nach Wien ziehen. CSU-Vize und Spitzenkandidat der Europäischen Volksparteien Manfred Weber hat gestern erst mit Orban genau darüber gesprochen und er hat versprochen, der CEU zu helfen, damit sie doch bleiben kann. Zwei Lehrstühle im Bereich Governance sollen finanziert werden aus Bayern, außerdem gibt es einen Stiftungslehrstuhl, koordiniert von der TU München. Wolfgang Herrmann ist Präsident der Technischen Universität in München. Ich grüße Sie! Wolfgang Herrmann: Ich grüße Sie! Gebert: Wie wird diese Kooperation zwischen Ihnen und der Zentraleuropäischen Universität aussehen? Herrmann: Nun, die Einzelheiten sind mit dem Rektor, meinem Kollegen Ignatieff, in nächster Zeit auszuhandeln. Die TU München möchte hier ein Signal für die Freiheit der Wissenschaft setzen. Wir wollen, dass die osteuropäische Metropole Budapest ihre Strahlwirkung nach Osteuropa weiter entfaltet und dazu braucht es die freie Wissenschaft. Und nachdem die Zentraleuropäische Universität an diesem Standort Probleme bekommen hat, wollen wir ein Zeichen setzen. Die drei Professuren werden im Bereich der Politikwissenschaften angesiedelt sein und unter dem Aspekt der Weiterentwicklung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten im digitalen Zeitalter stehen. Gebert: Ist Geld denn tatsächlich das, was die CEU braucht, um weiter auch in Budapest bleiben zu können? Vielmehr ist ja oft die Rede auch von den rechtlichen Bedingungen, von Rechtssicherheit, die in Ungarn nicht mehr gegeben sind. Herrmann: Ja, darauf haben wir natürlich als Universität keinen Einfluss. Wir wollen aber mit dieser Initiative ein Signal setzen auch für andere europäische Spitzenuniversitäten, sich mit Budapest und der CEU unterzuhaken und auf diese Weise den Standort dort zu sichern, denn die Wissenschaft muss interessiert daran sein, dass im entstehenden, zusammenwachsenden, großen Europa, auch eben in Osteuropa, die Freiheit der Wissenschaft ihren Platz findet. "Ein Signal, das von der Politik ernst genommen wird" Gebert: Das heißt, Sie glauben schon, dass Sie die Orban-Regierung mit diesem Vorstoß dazu bewegen können, die Wissenschaftsfreiheit wieder zu achten? Herrmann: Wir können zumindest ein Signal setzen, so meine ich, als eine der führenden Universitäten, ein Signal, das von der Politik ernst genommen wird, über die Unterzeichnung von irgendwelchen Memoranden hinaus eben auch zur Tat übergehen. Das wollen wir damit demonstrieren. Ob es am Ende gelingt, wird natürlich Sache der Politik sein. Aber ich bin sehr zuversichtlich. Manfred Weber macht hier ein hervorragendes Bild, die Initiative unterstützen wir deshalb. Gebert: Die Idee ist angestoßen, Sie sagen es gerade, von Manfred Weber, der ist Spitzenkandidat der EVP, steckt mitten im Europawahlkampf. Diese Idee ist natürlich schmückend, da zu helfen und die Wissenschaftsfreiheit nach vorne zu bringen. Lässt sich die TU München da vor einen politischen Karren spannen? Herrmann: Nein, überhaupt niemals. Wir nutzen diese günstige Gelegenheit, dieses politische Umfeld, wo sich jetzt hier unterschiedliche Ereignisse verdichten, denken Sie mal an das unglücksselige Diktum des Brexit. In solchen Zeiten müssen auch wir einen Beitrag leisten, dass in Europa Brücken gebaut werden und Europa nicht gespalten wird. Darauf kommt es uns an, und da schieben wir an, wo es geht. Wir hoffen, dass andere mit ins Boot kommen. "Wir hoffen, dass andere mit ins Boot kommen" Gebert: Orban selbst behauptet immer wieder, es mischen sich zu viele in die Politik seines Landes ein, etwa die EU zum Beispiel. Wenn Sie jetzt die CEU auf diese Weise unterstützen, wird Orbans Narrativ dann nicht sogar noch bestätigt, dass Sie sich einmischen? Herrmann: Ja, Herr Orban soll am Ende einverstanden sein und sollte glücklich sein, wenn Budapest in seiner Internationalität gestärkt wird, und den größten Beitrag dazu kann bekanntermaßen die Wissenschaft leisten, weil sie unterschiedliche Kulturen miteinander vernetzt. Es ist ja diese Universität schon seit 1991 im Entstehen und hat eine hervorragende Performance, und darauf sollte man in Budapest stolz sein. Und vielleicht kommt diese Überzeugung noch. Gebert: Wird es denn auch gemacht, wenn die EVP-Fraktion – noch ist das ja auch nicht ausgemachte Sache – weiter mit Orbans Partei, mit der Fidesz, zusammenarbeitet oder nicht? Oder ist das dann vom Tisch? Herrmann: Es hängt davon ab, ob die CEU in Budapest uneingeschränkt als unabhängige, freie Universität arbeiten kann. Da engagieren wir uns. Das hat unmittelbar nur mit dem Standort Budapest zu tun. Gebert: Das heißt, wenn dort Orban nicht einlenkt, werden Sie Ihre Kooperation auch zurückziehen oder Ihr Angebot der Kooperation? Herrmann: Dann ist die Zielsetzung nicht erreichbar und unsere Initiative läuft ins Leere. Das ist richtig. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Herrmann im Gespräch mit Stephanie Gebert
Die Zentraleuropäische Universität (CEU) in Budapest ist durch Repressionen der ungarischen Regierung von der Schließung bedroht. Um den Standort zu sichern, will die TU München zwei Lehrstühle finanzieren. Die Uni hofft auf Unterstützung von weiteren Hochschulen, sagte TU-Präsident Wolfgang Herrmann im Dlf.
"2019-03-13T14:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:42:05.180000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/unterstuetzung-fuer-orban-kritische-uni-in-ungarn-signal-100.html
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Die junge CDU scharrt mit den Hufen
Paul Ziemiak, Vorsitzender der Jungen Union (l.), spricht mit CDU Präsidiumsmitglied Jens Spahn, nach der Sitzung des CDU-Bundesvorstands; Aufnahme vom 16. Oktober 2017 (picture alliance / Michael Kappeler/dpa) Sächsischer Landtag, 19. Oktober. In Sachsen hat gerade die Erde ein wenig gebebt – politisch. Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat tags zuvor seinen Rückzug verkündet und erklärt, er wünsche sich seinen langjährigen Generalsekretär Michael Kretschmer als Nachfolger. Nun tritt Kretschmer vor die Presse: "Ich habe mir die Entscheidung, dafür ja zu sagen, nicht leicht gemacht. Die Umstände sind nicht einfach, die Herausforderungen sind groß. Es ist auch, wenn man die Geschichte dieses Landes der letzten 27 Jahre anschaut, und sich überlegt, was ist hier alles geworden, wo standen wir, und welche Herausforderungen kommen jetzt. Und kann man diese Sachen noch mal toppen, kann man noch einmal darüber hinausgehen, dann muss man auch mit sehr viel Demut an diese Aufgabe gehen." Das Erbe, das Kretschmer übernimmt, hat mehrere Seiten. Einerseits ist die wirtschaftliche Entwicklung Sachsens beträchtlich. Ausgebaute Straßen, schick restaurierte Städte, die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief. Leipzig und Dresden ziehen gerade junge Menschen an. Auf der anderen Seite stehen niedrige Löhne. Besonders auf dem Land herrscht das Gefühl, abgehängt zu sein. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit spalten die sächsische Gesellschaft. Umfragen ergeben ein negatives Zukunftsbild in den Köpfen der Menschen, das sich durch wirtschaftliche Daten nicht decken lässt. Kritiker machen dafür auch die CDU verantwortlich, sie habe falsche Erwartungen geweckt und dem Land durch einen rigiden Sparkurs geschadet. Rassismus habe sie jahrelang kleingeredet. Die Wahlniederlage und das Abrutschen hinter die AfD haben Ministerpräsident Tillich und seine CDU offenbar völlig überrascht. Kündigte Tillich zunächst in Interviews an, seine Partei weiter nach rechts zu rücken, zieht er am 18. Oktober die Konsequenzen und kündigt seinen Rückzug an. "Viele Ereignisse der vergangenen Jahre, kritische Beiträge und intensive Diskussionen um den inneren Zustand im Freistaat Sachsen beschäftigen uns. Beschäftigen mich ganz persönlich sehr. Das hat mich nachdenklich gemacht. Was heißt das für mich? Was wird von mir erwartet? Ich bin davon überzeugt: Für eine gute Zukunft Sachsens sind auch neue Antworten wichtig. Es braucht den Mut, gewohnte Bahnen zu verlassen. Wir dürfen nicht im Gestern und Heute gefangen sein. Nach 27 Jahren in aktiver Verantwortung fällt mir das schwer. Ich weiß, dass es dafür frische Kraft braucht und neue Kraft braucht." Tonlage, die über Merkel hinausweist Bei der Bundestagswahl am 24. September hatte die sächsische CDU, die hier seit 1990 durchgehend den Ministerpräsidenten stellt, eine krachende Niederlage erlitten. Im Vergleich zur Wahl vor vier Jahren ist sie von 42,6 auf 26,9 Prozent abgestürzt. Überholt und knapp geschlagen von der Afd, die auch drei Direktmandate gewonnen hat. An der Rettung der so lange so stolzen Sachsen-CDU will Tillich jedoch nicht mehr mitwirken: "Ich habe meine engsten politischen Wegbegleiter darüber informiert, dass ich auf dem Landesparteitag der Sächsischen Union am 9. Dezember nicht mehr für das Amt des Landesvorsitzenden kandidieren werde." Kretschmer mit seinen 42 Jahren ist auch von der Opposition als Strippenzieher respektiert. Als Generalsekretär hatte er sich regelmäßig Rechtsaußen positioniert. Zum Beispiel in Papieren zur Leitkultur oder als er Viktor Orban für den Grenzzaum in Ungarn lobte. Sein Bundestagsmandat hat er jedoch an am 24. September an den AfD-Kandidaten Tino Chrupalla im Wahlkreis Görlitz verloren. Kretschmer ist einer der Köpfe der jüngeren CDU in den Bundesländern, die eine Post-Merkel-Ära in der Union gestalten sollen – und wollen. Denn auch in den Bundesländern beginnt eine Generation sich zu regen, die Merkel einerseits nicht mehr direkt gefährlich wird – andererseits aber schon die Tonlage sucht und vielleicht auch trifft, die über Angela Merkel hinausweist. Wenige Tage nach der Entscheidung stellt sich das Duo Tillich/ Kretschmer der Parteibasis. Amts- und Mandatsträger sind zusammengekommen, um über die Konsequenzen aus der Bundestagswahl zu beraten. Diese Bundestagswahl sei eine Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der vergangenen zwei Jahre gewesen, mit der viele Menschen nicht einverstanden seien, analysiert Kretschmer. "Ich glaube es wäre richtig gewesen, hier auch von Seiten der Bundespartei, zu erkennen und auch deutlich zu machen: Naja, 2015 haben wir Fehler gemacht, die hätten wir so nicht machen sollen, alleine diese Aussage hätte schon viel geholfen dabei, dass der Druck rausgegangen wäre." Dennoch, so Kretschmer, habe diese Wahlniederlage auch eine sächsische Komponente. Die CDU habe Fehler gemacht, zu allererst in der Bildungspolitik. Neben Zustimmung für die Parteiführung in Sachsen und im Bund entlädt sich auch Unmut. Vereinzelt wird ein Rücktritt Angela Merkels gefordert. Auch die geplante Amtsübergabe von Stanislaw Tillich zu Michael Kretschmer stößt auf Kritik, etwa beim CDU-Mitglied Stephan Degen aus Nossen. Michael Kretschmer sei ein guter Kandidat, aber es müsse einen Wettbewerb geben um den Posten an der Spitze der sächsischen CDU: "Genau dieses Signal, was eben heute, wo ich eigentlich versuche, ein wenig anzukämpfen, dass wir eben doch nochmal demokratisch doch noch mal untereinander suchen, und nicht jemanden schicken, der schon die ganze Zeit eigentlich in meinen Augen als Generalsekretär verantwortlich war, auch für dieses Wahlergebnis. Das hat keiner in die Hand genommen und gesagt: Lieber Michael, bei aller Liebe, Du bist die ganze Zeit auch in diesem Verein mit dabei. Mit entsprechender Verantwortung. Du bist Bundestagsmitglied gewesen. Du hast die Möglichkeiten gehabt." Michael Kretschmer vom CDU-Landesverband Sachsen: "Es gibt ein breites Netzwerk hier in Dresden und in Berlin." (imago stock&people) Niederwartha an der Elbe, gelegen zwischen Dresden und Meißen. Etwa 60 Menschen, CDU-Mitglieder oder Interessierte, sind gekommen, um Michael Kretschmer zu hören und mit ihm zu sprechen. Im Spiegelsaal der örtlichen Gaststätte bleiben an diesem Abend viele Stühle frei. Mehr Lehrer, mehr innere Sicherheit, dazu Kritik an der Energiewende. Routiniert spult Kretschmer, der seit Wochen durch die Ortsvereine tourt, sein Programm ab. Ein mitreißender Redner ist er nicht, seine Gesten wirken bisweilen künstlich, wenn er etwa mit der Faust auf den Tisch schlägt. Die erste Frage aus der Basis betrifft seinen Körperbau: Ob er sich angesichts seiner mageren Statur dieses Amt überhaupt zumuten wolle, fragt ein sichtlich wohlgenährter Mann. "Ich bin immer der Jüngste gewesen, bei den meisten Dingen. Und das habe ich immer dafür genutzt, mir anzuschauen, was die Älteren machen. Bei Georg Milbradt, Stanislaw Tillich, in der Bundestagsfaktion. Und ich glaube, dass ich da sehr, sehr viel gelernt habe. Das andere ist, es gibt ein breites Netzwerk hier in Dresden und in Berlin, auf das ich aufbauen kann. Und deswegen glaube ich: Wir haben viele Möglichkeiten, wenn wir sie nutzen wollen und wenn wir wirklich auch voran wollen. Und ich will das." "Die Bundeskanzlerin ist der Stabilitätsanker" Lehrermangel, Kita-Plätze, Umstrukturierungen in der Lausitz, aber auch Infrastrukturprojekte wie ein Ausbaggern der Elbe – die Themen ziehen weite Kreise an diesem Abend. Kritik an der sächsischen CDU und an Kretschmer selbst bleibt weitgehend aus. Mehrfach wird Kretschmer schon als Ministerpräsident angesprochen. Er selbst spricht darüber, wie 2020 neu über Polizeistellen zu entscheiden sein werde – als sei es sicher, dass die CDU auch dann in Sachsen an der Regierung sein wird. Das Scheitern der Jamaika-Sondierung und die Sorge, wie es weitergeht in Berlin, hätten die Diskussion an diesem Abend geprägt, sagt Kretschmer nach der Veranstaltung: "Die Bundeskanzlerin ist in dieser schwierigen Situation der Stabilitätsanker. Und ich finde es schon beeindruckend, wie sie auch nach diesen vier Wochen intensiven Verhandelns, Sich-Bemühens um eine Lösung, und dann diese riesige Enttäuschung durch die FDP, jetzt trotzdem den Willen hat, für unser Land etwas zu erreichen." Sich hinter die Parteichefin zu stellen, wie es Kretschmer tut, ist im Moment die Regel in der CDU. Die Partei braucht für mögliche Koalitionsverhandlungen eine starke Verhandlungsführerin. Unter der Oberfläche der Partei allerdings scheint es zu gären – das zeigt sich bei Veranstaltungen, wie sie Kretschmer in Sachsen besucht hat. Keine unwichtige Rolle spielen dabei einige junge Christdemokraten - auch Kretschmer wird zu dieser Gruppe gezählt. Auf seine Arbeit als Ministerpräsident werden deshalb viele von Berlin aus schauen. Es ist eine Generation, die zum Teil nur wenige Jahre jünger ist, als Angela Merkel es war, als sie im Februar 2000 den Parteivorsitz der CDU übernommen hat – sie war damals 45 Jahre alt. Der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union, Carsten Linnemann: "Eine Volkspartei muss sich immer von Mitte nach rechts aufstellen." (picture alliance/dpa - Karlheinz Schindler) Dabei fallen vor allem diejenigen auf, die sich als Gegenangebot zur oft als alternativlos beschriebenen CDU-Chefin, Merkel, positionieren, ohne sie direkt anzugreifen. Das tun sie, indem sie den Finger in eine vermeintliche Wunde der Christdemokraten legen: "Die CDU ist eine Volkspartei – und eine Volkspartei muss sich immer von Mitte nach rechts aufstellen. Rechts im Sinne von Franz Josef Strauß. Nicht, dass man mich da falsch versteht, aber ich glaube schon, dass wir ein bisschen Federn gelassen haben, gerade im Bereich innere Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit. Und da müssen wir auffüllen, da müssen wir wieder PS auf die Straße bringen." Sagt Carsten Linnemann. Der 40-jährige ist Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, kurz MIT, dem einflussreichen Wirtschaftsflügel der Union. Er stellt sich damit auf die Seite derjenigen, die vom Schließen der rechten Flanke sprechen. Aus Sicht mancher in der Union hat sich genau dort die AfD breit gemacht. "Angela Merkel hat diesen Pragmatismus perfektioniert" Aber dass die CDU gerade wegen der Kanzlerin und ihrer Politik seit Jahren die stärkste Kraft ist, erschwert die Debatte über eine Neuausrichtung. "Angela Merkel ist so machtbewusst und aktuell so fest im Sattel, weil sie diesen Pragmatismus so perfektioniert hat. Und dieser Pragmatismus muss natürlich dann andere Positionen programmatisch, inhaltlich gewissermaßen opfern, damit sie den Machterhalt sichern kann." Meint Florian Finkbeiner Politikwissenschaftler am Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. Potenzielle Nachfolger können sich also nur profilieren, wenn sie sich inhaltlich auf diese geopferten Positionen konzentrieren. So lobt Wirtschaftspolitiker Linnemann zwar die Person Merkel: "Meine Partei hat doch jahrelang Erfolg gehabt und heute noch. Angela Merkel hat dieses Land durch diese Finanzkrise geführt, wir stehen heute besser da als viele, viele andere Länder. Das heißt, die Spitzenkandidatin ist ein gutes Argument, sie darf aber nicht das alleinige Argument sein, sondern wir müssen uns auch in der Sache unterscheiden." Auch der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak sagt, wie MIT-Chef Linnemann, die Union müsse der Aufgabe nachkommen, Menschen von der Mitte bis Rechts zu integrieren. Auf die Frage ob Merkel dabei in den vergangenen Jahren etwas versäumt habe, antwortet er aber weder mit ja noch mit nein: "Wir hatten eine große Koalition, die sehr, sehr schwierig war, weil die Menschen das Gefühl hatten, dass es weniger Unterschiede zwischen SPD und Union gibt, als sie sich wünschen würden, und da müssen wir wieder hin. Wir brauchen eine Polarisierung in der Mitte." Linnemann, Ziemiak – in der Aufzählung von Nachwuchspersonal, dass als Merkel-kritisch wahrgenommen wird, fehlt noch einer: Jens Spahn. Auch er greift die CDU-Vorsitzende nur indirekt an: "Und deswegen ist es gut, dass sie Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland bleibt. - Andererseits haben wir fast drei Millionen Wähler verloren. In manchen Wahlkreisen sind wir nahezu implodiert. und ein solches Ergebnis, da kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, da wird man weiter drüber diskutieren müssen, was da passiert ist." Sagt Jens Spahn im Oktober beim Deutschlandtag der Jungen Union. Darin verbirgt sich wohl auch ein Seitenhieb auf die Kanzlerin, von der sich nach der Bundestagswahl so mancher eine deutlichere Analyse des Wahlergebnisses erhofft hat. Euphorischer Applaus für Jens Spahn bei der Jungen Union Hier, bei der Jugendorganisation der Unionsparteien, ist es ein Heimspiel für Spahn. Der Applaus für ihn fällt deutlich euphorischer und länger aus als für die Kanzlerin. "Liebe Freundinnen, liebe Freunde, lieber Paul, es tut gut bei der jungen Union zu sein. Jetzt lasst mich erst mal anfangen." Der 37-jährige Staatssekretär im Finanzministerium ist im Moment einer der bekanntesten Christdemokraten, der keinen Hehl aus seinen Machtambitionen macht. Spahn ist seit 2002 im Bundestag, auch Kretschmer zog in dem Jahr ins Parlament ein. 2014 setzte er sich gegen parteiinternen Widerstand durch – und wurde mit 34 Jahren ins Präsidium gewählt. Aus diesem Gremium ist immer wieder zu hören, dass er auch kritische Worte findet. "Jens Spahn ist ja quasi der große Hoffnungsträger für Konservative in der CDU geworden, als auch für die JU für sich." Sagt der Göttinger Politikwissenschaftler Finkbeiner. "Die Konservativen" – das ist allerdings keine homogene Masse. Denn was sich dahinter verbirgt, ist nicht eindeutig definiert. "Der Begriff ist sowohl historisch als auch theoretisch ein schillernder Begriff, jeder kann da für sich so selbst hineindefinieren, was ihm daran vermeintlich konservativ gefallen würde." Paradoxerweise würde sich auch keiner der jungen CDU-Politiker als konservativ bezeichnen. So sagt Linnemann auf die Frage, wo er sich einordnen würde: "Es ist schwierig sich festzulegen. Aber ich glaube: Was viele eint, ist … - gerade auch die jüngeren Politiker, die sind in die Politik gegangen, um Reformen auf den Weg zu bringen." Dennoch werden vor allem die, die als Gegenpol zu Merkel gelten, als konservativ bezeichnet. Der Begriff ist zur Projektionsfläche geworden – und eignet sich deshalb zur Profilierung. Vor allem ein Themenbereich wird immer wieder als vernachlässigter Markenkern genannt, den auch Wirtschaftspolitiker Linnemann schon hervorgehoben hat: die Innen- und Sicherheitspolitik. Hier ist tatsächlich auch personell Platz geworden. Allein die innenpolitische Gruppe der CDU/CSU-Fraktion braucht neun neue Mitglieder – mehr als die Hälfte. Zu denjenigen, die nicht mehr dabei sind, zählen auch prominente Konservative wie Wolfgang Bosbach. Wie sehr die Jungen versuchen sich zu profilieren, bekommt die CDU-Vorsitzende immer wieder zur spüren: Schon 2015 forderte die Junge Union eine Obergrenze – stellte sich damit gegen die Position von Merkel. Selbstbewusst sagt deren Vorsitzender Ziemiak über den Einfluss der Jungen Union: "Also ich finde, die Junge Union braucht sich nicht zu verstecken." Auf dem CDU-Parteitag 2016 in Essen testen die jungen CDU-Politiker in der direkten Konfrontation mit ihrer Vorsitzenden ihre Grenzen. Allen voran: Spahn, Linnemann, Ziemiak. Gegen den Willen Merkels bringen sie einen Antrag gegen den Doppelpass ein – sie wollen zurück zur alten Regelung, vor der großen Koalition. Und kommen damit durch. "Unsere Aufgabe in der Partei und in der Politik ist es Probleme zu lösen" Die CDU-Chefin und ihr Innenminister: brüskiert. Zunächst versucht Merkel die Niederlage noch abzufangen. Sie glaube nicht, dass die CDU einen Wahlkampf über den Doppelpass führen sollte, sagt sie zum Ärger der Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft direkt nach dem Parteitag. Auf Druck von Teilen der Partei, unter anderem ihrer eigenen Stellvertreter, landet das Thema dann doch im Wahlprogramm, wenn auch mit einem von Innenminister Thomas de Maiziere vorgeschlagenen Kompromiss. Spahn, Linnemann und Ziemiak haben der Partei gezeigt, dass sie sich durchsetzen können. "Wir haben auf diesem Parteitag in Essen bewiesen, dass wir das auch ansprechen, was viele Menschen in diesem Land bewegt." Sagt Ziemiak. Es gibt allerdings nicht nur Begeisterungsrufe, für den Kurs von Linnemann, Spahn und Ziemiak: "Ja, ich glaube nicht, dass es unsere Aufgabe ist, Flanken zu schließen, egal auf welcher Seite, sondern unsere Aufgabe in der Partei und in der Politik ist es Probleme zu lösen." Sagt Kai Whittaker. Für den 32-Jährigen beginnt gerade die zweite Legislaturperiode. Beim Parteitag 2016 hat er sich in der Doppelpass-Abstimmung gegen seine jungen Kollegen gestellt. Aus seiner Sicht gibt es hinsichtlich der Ausrichtung der Partei eine falsche Wahrnehmung. Denn die Bevölkerung würde die CDU immer noch als eine Partei rechts der Mitte sehen – im Gegensatz zu den eigenen Mitgliedern: "Das liegt daran, dass unsere Mitglieder sich bürgerlicher einschätzen. Wir haben eine Mitgliederstruktur, die männlicher ist, die älter ist und weniger Migrationshintergrund hat als die Durchschnittsbevölkerung. Und das erklärt, warum wir eine Diskrepanz haben zwischen der eigenen Wahrnehmung und der, wie die Menschen uns wahrnehmen." Was sie allerdings alle eint, ist der Wunsch, nach einer tieferen inhaltlichen Auseinandersetzung in der CDU. Und sie machen deutlich: An ihrer Generation kommt Angela Merkel nicht mehr vorbei. "Ich finde nicht nur die Regierung, sondern auch innerhalb der Fraktion, innerhalb der Partei brauchen wir immer eine Erneuerung. Das muss auch eine Volkspartei wie die Union verstehen und sie versteht es auch." Dass es diese Erkenntnis – wie Linnemann sie beschreibt – gibt, sieht auch Whittaker. "Jetzt sind wir halt noch nicht in der Situation, dass über Personalfragen entschieden wird. Das wird wenige Wochen nach der Regierungsbildung sein und da wird sich dann zeigen, was von dieser Erkenntnis dann wirklich übrig geblieben ist." Die junge Generation steht also in den Startlöchern. Noch ist Angela Merkel stark genug, so dass Angriffe und Debatten, wie die um den Doppelpass, sich nicht als Debatten um ihre Person verselbstständigen. Und noch liegt es vor allem an der CDU-Chefin, wie sie einen Übergang einleitet und wen sie an welcher Stelle installiert, so dass sie noch selbst die Zügel in der Hand behält – wie es Stansilaw Tillich in Sachsen gelungen ist. Dafür wird unter anderem ausschlaggebend sein, ob sie es schafft, den Parteinachwuchs auch in einem zukünftigen Kabinett einzubinden.
Von Katharina Hamberger und Bastian Brandau
Männlich, machtbewusst, wirtschaftsliberal: An einer jungen Generation von CDU-Politikern kommt Parteichefin Angela Merkel nicht mehr vorbei. Jens Spahn (37), Carsten Linnemann (40), Paul Ziemiak (32) und andere laufen sich warm für die Post-Merkel-Ära. Doch wie wollen sie die Politik gestalten?
"2017-12-07T18:40:00+01:00"
"2020-01-28T11:04:03.647000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/konservativer-nachwuchs-die-junge-cdu-scharrt-mit-den-hufen-100.html
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"Nicht rund um die Uhr den Gehsteig freiräumen“
In einigen Städten übernimmt auch die Kommune den Räumdienst (picture alliance / dpa - Friso Gentsch) Georg Ehring: Selbst im Rheinland hat es gestern stellenweise geschneit. Doch was der Süden, vor allem Bayern, und Teile Österreichs erleben, das wird den Menschen dort wohl lange im Gedächtnis bleiben. Schneefall ohne Unterbrechung, die weißen Massen wachsen immer weiter. Nach einem Schneefall ist Räumen Pflicht. Das weiß jeder Hausbesitzer und das wissen auch viele Mieter. Doch wie sieht es aus, wenn der Schnee dermaßen überhandnimmt? Darüber spreche ich jetzt mit Gerold Happ vom Eigentümerverein "Haus und Grund". Guten Tag, Herr Happ! Gerold Happ: Guten Tag! Ehring: Herr Happ, wenn es rund um die Uhr schneit, muss ich dann auch rund um die Uhr den Bürgersteig von Schnee freiräumen? Happ: Nein, Sie müssen nicht rund um die Uhr den Gehsteig freiräumen. Sie müssen es nur freiräumen, wenn es dann auch wirklich sinnvoll ist. Das heißt, wenn Ihre Maßnahme, die Sie ergreifen, sofort durch neuen Schnee wieder konterkariert wird, dann müssen Sie natürlich auch nichts machen. Ehring: Wie sieht es denn im Normalfall aus? Wie sind die Regeln, die man in dieser Situation sinngemäß anwenden muss? Happ: Normalerweise müssen Sie gucken, wenn gerade Schneepausen sind, dann müssen Sie Maßnahmen ergreifen und dann müssen Sie entsprechend den Gehweg räumen und auch streuen. Zuständigkeit für Schneeräumung ist regional unterschiedlich geregelt Ehring: Wer ist es denn, der dazu verpflichtet ist? Happ: Das ist regional unterschiedlich geregelt. In manchen Regionen macht das die Stadt selber und stellt das dann den Eigentümern in Rechnung. In anderen Regionen ist der Eigentümer verpflichtet und muss das selber organisieren. Und in wiederum anderen Kommunen machen Teile der Wege die Städte und die anderen Teile müssen die Eigentümer selber machen. Ehring: Aber der Eigentümer kann auch den Mieter in die Pflicht nehmen. Unter welchen Bedingungen? Happ: Genau! Der Eigentümer muss organisieren, dass seine Pflicht erfüllt wird. Das kann er entweder machen, indem er das auf die Mieter überträgt. Das kann er zum Beispiel im Mietvertrag machen. Oder er kann eine separate Vereinbarung mit dem Mieter treffen. Er kann aber genauso gut auch ein Streu- und Räumunternehmen beauftragen, und das könnte er dann gegebenenfalls über die Betriebskosten mit den Mietern abrechnen. Wohin mit dem Schnee? "Zur Not muss der Vorgarten herhalten" Ehring: Wenn es jetzt so viel geschneit hat wie in Bayern und Österreich, wohin mit dem Schnee? Man kann ihn ja schlecht auf die Straße kippen; dann ist die ja voll. Happ: Genau. Auf die Straße dürfen Sie ihn nicht kippen. Sie dürfen den auch nicht auf einen anderen Wegabschnitt kippen, dass dann der Nachbar den wegräumen muss. Sie müssen schon schauen, wenn Sie noch Platz auf dem Gehweg oder da irgendwo haben, dann müssen Sie ihn dahin räumen, und zur Not muss vielleicht auch der Vorgarten herhalten. Ehring: Kann man Vorsorge treffen gegen Dachlawinen und ist der Eigentümer dafür auch verantwortlich? Happ: Genau. Der Eigentümer muss auch dafür sorgen, dass keine Dachlawinen auf Passanten herabfallen. In manchen Regionen sind sogenannte Schneefanggitter baurechtlich vorgeschrieben. Die müssen dann auch installiert sein. Ansonsten muss ich ein wachsames Auge aufs Dach haben, schauen, ob da was droht, herunterzufallen. Das muss ich dann, wenn möglich, selber beseitigen, oder, wenn das nicht gefahrlos möglich ist, das selber zu beseitigen, dann muss ich einen Fachmann beauftragen. Die kommen natürlich nicht immer so schnell; dann müsste ich gegebenenfalls kurzfristig auch den Weg mal absperren oder zumindest Warnhinweise aufstellen. Ehring: Um den Weg gangbar zu halten, gibt es ja auch Streusalz oder Splitt. Was ist da zu bevorzugen? Happ: In der Regel ist es so, dass Salz in den meisten Städten für die Gehwege schon verboten ist – aus Umweltaspekten. Das heißt, Sie sollten in der Regel auf diesen Rollsplitt zurückgreifen, oder Sand. Das reicht dann aus, damit keine Rutschgefahr mehr besteht. Eigentümer muss unter Umständen für Unfälle haften Ehring: Wenn jetzt trotzdem was passiert, welche Ansprüche hat jemand, der ausgerutscht ist und sich dabei unter Umständen verletzt hat? Happ: Das hängt immer davon ab, ob der Eigentümer seiner Verpflichtung nachgekommen ist. Wenn der Eigentümer seiner Verpflichtung zum Streuen nachgekommen ist und es rutscht trotzdem jemand aus, dann haftet der Eigentümer nicht. Wenn der Eigentümer aber einfach gar nichts gemacht hat und auch schon länger die Rutschgefahr bestand, dann kann es durchaus sein, dass der Eigentümer haftet, und dann muss man auch mal schauen, ob seine Haftpflichtversicherung einspringt. Ehring: Die Haftpflichtversicherung springt ein, wenn man fahrlässig gehandelt hat. Das heißt, normalerweise müsste der Eigentümer, der die Haftpflichtversicherung hat, aus dem Schneider sein. Happ: Genau. Aber der Eigentümer muss natürlich nachweisen, dass er grundsätzlich was gemacht hat. Wenn der Eigentümer einfach sagt, ich mache gar nichts, es ist mir egal, ob es schneit, dann springt eventuell auch die Haftpflichtversicherung nicht ein, weil ich muss schon tätig werden. Ehring: Gerold Happ war das von "Haus und Grund" zum Thema Schneeräumen auch bei großen Schneemengen. Herzlichen Dank für das Gespräch. Happ: Sehr gerne. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gerold Happ im Gespräch mit Georg Ehring
Eigentümer müssen bei Schnee und Eis für die Räumung der Gehwege sorgen. Allerdings nur, wenn es sinnvoll ist, sagt Gerold Happ vom Eigentümerverband „Haus und Grund“ im Dlf. Und nicht, wenn das Räumen, „sofort durch neuen Schnee wieder konterkariert wird.“
"2019-01-10T11:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:32:48.789000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/raeumpflicht-bei-schneemassen-nicht-rund-um-die-uhr-den-100.html
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"Es ist schon eine Erfolgsgeschichte"
Der ehemalige deutsche Sportfunktionär Walther Tröger und IOC-Ehrenmitglied (Dlf/Matthias Friebe) Natürlich hätte es eine Zeit gedauert, bis der Erfolg sichtbar geworden sei, sagte Tröger. Denn die Gräben, die es vor allem im Sport gegeben habe, seien tief gewesen, sagte der deutsche Sportfunktionär. Das Aufgeben der gesamtdeutschen Mannschaft, im Jahr 1965, habe dazu beigetragen, genau wie die Debatten in der DDR, "wie wir unseren Sport betreiben, und über die Dopingfrage, die Angriffe von unserer Seite - alles das hat eine Rolle gespielt", sagte Tröger im Dlf. Es habe aber auch Verbrüderungen gegeben, die verboten waren, die aber trotz allem stattgefunden hätten. So hätte der DDR-Schwimmer Roland Matthes und der westdeutsche Schwimmer Hans-Joachim Klein Freundschaften gepflegt und somit Brücken hergestellt, über die auch andere gegangen seien.Aus Anlass von 30 Jahren Mauerfall bietet der Deutschlandfunk das Sportgespräch mit Walter Tröger vom 09. November 2014 noch einmal zum Anhören an.
Walther Tröger im Gespräch mit Herbert Fischer-Solms und Astrid Rawohl
Der frühere Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Walther Tröger, hat die deutsch-deutsche Wiedervereinigung im Sport als gelungen bezeichnet. Das sagte Tröger im Deutschlandfunk-Sportgespräch im November 2014.
"2019-10-31T13:27:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:11.249000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/walther-troeger-sportbilanz-nach-dem-mauerfall-es-ist-schon-100.html
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Zwei Schichten arbeiten, nur eine bezahlt bekommen
Der Vorwurf der Beratungsstellen lautet, durch viele Tricks der Fleischfirmen könne der offizielle Mindestlohn gedrückt werden. (imago / Westend) Freitagabend 18 Uhr – am Rande der Fußgängerzone in Cloppenburg. Es ist dunkel und das ist gut – denn die Menschen, die vor dem katholischen Forum warten, möchten nicht unbedingt erkannt werden. Sie haben Probleme, sie stehen unter Druck, sie brauchen Hilfe. Der Andrang ist groß bei der Beratungsstelle für Vertragsarbeiter in der Fleischindustrie, die Probleme, mit denen Audra und Johannes Brinkhus konfrontiert werden, sind vielfältig. "Vor drei Jahren gab es keine Lohnabrechnung - die kamen an und sagten, nee, das gibt es gar nicht, wir kriegen unser Geld auf die Hand und das war es. Und weil wir so oft vor Gericht waren, haben die Rechtsanwälte ihren Subunternehmern den Rat gegeben, das sagten sie meinem Mann vor Gericht - heimlich - doch mal Lohnabrechnungen zu machen. Denn im Nachhinein, wenn sie vor Gericht stehen, ist es schwierig, eine Lohnabrechnung wieder zu konstruieren." Manipulation elektonischer Stundenzählung Arbeiter kämen immer wieder mit Berichten zur Beratung, dass Bänder schneller laufen würden oder aber sie müssten zwei Schichten hintereinander arbeiten, bekämen aber nur eine bezahlt, da die elektronische Stundenzählung manipuliert werde. "Zum Beispiel die Arbeitszeit - es steht so gut wie nie die Arbeitszeit drauf. Da steht der Mindestlohn drauf - 8,50 - toll. 8,50 ist gesetzlich vorgesehen, das wird kontrolliert vom Zoll: Die Frage ist nur, wie viel Stunden arbeiten sie dafür. Es können acht Stunden sein, aber es können auch 12, 14 oder 16 Stunden sein." Der Vorwurf der Beratungsstellen lautet also, durch viele Tricks der Fleischfirmen könne der offizielle Mindestlohn gedrückt werden. In den Beratungen geht es oft um Restlohnforderungen oder unzulässige Lohnabzüge. Das ist auch der Alltag von Matthias Brümmer von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss Gaststätten, NGG. "Wir erleben es immer wieder, dass trotz klarer Rechtsprechung die Leute ihre Arbeitskleidung selber bezahlen müssen, dass sie die Reinigung selber bezahlen müssen, dass sie das Werkzeug sogar selber bezahlen müssen." Die neueste Methode, so Brümmer, mit der der Lohn gedrückt werde, sei die Kantinennutzungsgebühr. Arbeitnehmer müssen Nutzungsgebühr für Kantine zahlen "Das heißt also, wenn es von einem Werkvertragsgeber, dem Schlachthofbetreiber, eine Kantine gibt, müssen mittlerweile Werkvertragsarbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Nutzung dieser Kantine bezahlen. Bevor man also etwas zu essen bekommt, muss man bezahlen? "Bevor sie was zu essen bekommen haben sie gar kein Geld mehr." Außerdem würden immer mehr Strafen verhängt. Wenn zum Beispiel beim Zerlegen ein Stück Fleisch auf den Boden falle, gäbe es eine Strafe in Höhe von bis zu 30 Euro. "Wir klagen dagegen, das ist alles Zivilgerichtsbarkeit, das heißt, sie können nur vorm Arbeitsgericht von unserer Seite aus dagegen klagen. In der Regel gibt es dann auch kein Urteil, sondern es gibt immer an irgendeiner Stelle einen Vergleich gibt. Und dann wird gezahlt, dann ist für einen Fall dieses Thema erledigt aber nicht für den Rest." Viele Arbeitnehmer verklagen Arbeitgeber aus Angst nicht *Auch Rechtsanwalt Johannes Brinkhus berichtet von Arbeitsverträgen, in denen pauschale Klauseln enthalten seien, die Geldbußen für nicht näher benannte Verfehlungen enthalten. Im schlimmsten Fall, so sagt er, würden bis zu 1000 Euro einbehalten, ein ganzer Monatslohn. Doch die Leute hätten so viel Angst, dass sie nicht bereit seien, ihre Arbeitgeber zu verklagen.* * Aufgrund rechtlicher Beanstandungen wurde der Beitrag an dieser Stelle geändert.
Von Almuth Knigge
Die Großunternehmen der Fleischindustrie hatten im letzten Jahr zugesichert, künftig Mindeststandards bei der Arbeit und Unterbringung der Beschäftigten einzuhalten. Auch Subunternehmen sollten Werkverträglern den Mindestlohn zahlen. Bis auf wenige Ausnahmen halten sich die meisten Unternehmen aber nicht daran.
"2016-04-13T13:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:24:03.778000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/fleischindustrie-zwei-schichten-arbeiten-nur-eine-bezahlt-100.html
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Alles unter einem Dach
"Was brauche ich denn?" Heinrich Degelos Wohnatelierhaus für Künstler in Basel (Barbara Bühler) Bezahlbarer Wohnraum in Ballungszentren ist eine der dringlichsten Forderungen an die Politik – nicht nur hierzulande. Monatsmieten von 10 Franken pro Quadratmeter, also 8,78 Euro, circa die Hälfte der statistischen Durchschnittsmiete - davon träumen auch Schweizer. Der Basler Architekt Heinrich Degelo hat bewiesen, dass Bauen nicht zwangsläufig teuer sein muss und zusammen mit einer Genossenschaft den Prototyp seines Wohnbaukonzepts in Basel errichtet. Ein Wohnatelierhaus im Modulbausystem, gebaut für eine Künstlerkooperative, die sich gewünscht hat, unter einem - und zwar günstigen - Dach zu wohnen und zu arbeiten. Gestern konnte man den Bau besichtigen. Künstler arbeiten nicht "nine to five" Ausgangspunkt für den Prototypen seines Wohnbaukonzeptes war die Tatsache, dass die meisten Künstler nicht von ihrer Kunst leben könnten; sie seien vielfach noch in anderen Jobs erwerbstätig, sagte der Schweizer Architekt Heinrich Degelo im Dlf. Sie hätten das Problem, dass sie ein Atelier, eine Wohnung und den Brotjob hätten, ein sehr zeitaufwändiges Dreieck. Und der kreative Job sei auch nicht von 9 bis 17 Uhr machbar, sondern sie wollten gerne in ihrer Kunst aufwachen und auch abends noch im Atelier sein können. Wohnatelier Innenraum (BARBARA_BUEHLER) Aber auch in anderen Berufen werde inzwischen vieles zu Hause erledigt. Arbeiten und Wohnen stärker zusammen zu bringen sei die Grundidee des Konzepts, so Degelo. Wohnen, duschen, kochen - fertig Die einzelnen Module mit Loftcharakter kämen ohne Heizung aus, die Bewohner könnten sie selbst gestalten. Wenn Architekten einen Beitrag zu kostengünstigem Wohnen leisten wollten, sei die Ausgangsfrage: "Was brauche ich denn?" Die Billigfluglinie Easyjet sei ein Vorbild gewesen: Man brauche ein Flugzeug und Tickets, mehr nicht. Übertragen auf die Wohnsituation heiße das: Man brauche einen gesicherten Ort, der klimatisiert ist, wo man drin wohnen, duschen, kochen könne. Alles andere sei individuell: Parkett, Seidentapeten, Zwischenwände. Wir haben noch länger mit Heinrich Degelo gesprochen - hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs Die Wohungen, die heute gebaut würden, seien meist Dreizimmerwohnungen für die klassische Familie, so Degelo. Die klassische Familie existiere aber nur noch in seltenen Fällen. Sein Wohnbaukonzept sei aber nur eine von mehreren Möglichkeiten, die Mietpreisexplosion zu bezwingen. Die Rendite entstehe im Grundstück, und wenn man Grundstücke an Meistbietende verkaufe, könne es nie kostengünstige Wohnungen geben. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heinrich Degelo im Corsogespräch mit Sigrid Fischer
Wohnen und arbeiten unter einem Dach, das können Künstler im neuen Wohnatelierhaus in Basel. "Kreative Jobs sind nicht zwischen neun und fünf machbar", sagte Architekt Heinrich Degelo im Dlf. Er hat die Lofts in flexibler Modulbauweise entworfen - und schafft damit günstigen Wohn- und Arbeitsraum.
"2019-02-27T15:13:00+01:00"
"2020-01-26T22:39:45.401000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/wohnatelierhaus-in-basel-alles-unter-einem-dach-100.html
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Big Data mit Datenschutz-Risiken
Ist das sogenannte Predictive Policing datenschutzrechtlich unbedenklich? (AFP / JONATHAN NACKSTRAND) Manfred Kloiber: Die Polizisten sollen bei ihrer Arbeit durch Predictive Policing unterstützt werden. Aber wie sehen die Ergebnisse aus, Keywan Tonekaboni, gibt es handfeste Zahlen? Keywan Tonekaboni: Es werden zumindest von den Beteiligten Zahlen genannt. Die Stadtpolizei Zürich sagt, in den mit Precobs überwachten Bezirken, seien 30 Prozent weniger Einbrüche gemeldet worden als im Vorjahr. In der gesamten Stadt sank die Rate um knapp 15 Prozent. Auch in Los Angeles, dort wo die Konkurrenzsoftware Predpol zum Einsatz kommt, seien die Verbrechen im zweistelligen Bereich zurückgegangen, sagt dessen Betreiber. Aber, den Rückgang nur auf die Software zurückzuführen, ist dadurch nicht leicht nachzuweisen. So fehlt beispielsweise dem Innenministerium von Nordrhein-Westfalen eine wissenschaftlich Evaluierung. NRW will daher vor dem Einsatz von Predictive Policing erst einmal Anforderungen an solche Systeme skizzieren. Die Frage ist auch, an welchen Kriterien man den Erfolg misst, ob jetzt Einbruchszahlen, oder Verhaftungen oder ganz anders. Kloiber: Auch wenn die Anzahl der Einbrüche in den überwachten Gebieten sinkt: Werden diese verhindert oder werden die nicht einfach in andere Bezirke verdrängt? Tonekaboni: Die bloße Verdrängung ist natürlich eine Gefahr. Aber es gibt auch das Sprichwort "Gelegenheit macht Diebe". Ziel ist es, diese Gelegenheiten zu minimieren. Die Annahme der Betreiber und auch der Polizei ist, dass Kriminelle ihre Taten nicht 1:1 in andere Bereiche verlagern können. Der Einbrecher, der in der Nordstadt ein Objekt ausgekundschaftet hat, wird dann nicht einfach in der Südstadt einbrechen. Und da die Polizei mit der Software ihre Arbeit täglich oder in Echtzeit an die Lage anpassen kann, sind auch deren Einsatzmuster für die Kriminellen weniger kalkulierbar, so die Hoffnung. Kloiber: Ein Computer-System das Verhalten vorhersagt ruft aber auch viele Ängste hervor. Die Daten, die für diese Prognosen genutzt werden, sind ja sehr wenige: Tatort, Tatzeit und der Modus Operandi. Ist Predictive Policing daher datenschutzrechtlich unbedenklich? Tonekaboni: Von der Datenbasis erst einmal schon. Aber es kommt nicht nur auf die Daten an, die ins System einfließen, sondern auch welche Schlüsse daraus gezogen werden. Wenn das personenbezogene sind, dann ist es auch kritisch. Also, wenn zum Beispiel alle Personen die sich an einem genannten Hotspot nur aufhalten, auch als kriminell angesehen werden: sie polizeilich untersucht oder gar mit auf Wache genommen werden - das wäre problematisch. Der Datenschützer Thilo Weichert erklärte mir, solange Predictive Policing allein als Management-Instrument genutzt wird, um die verfügbaren Polizisten besser einzusetzen und deren Streifen zu planen, sei das kein Problem. Kloiber: Es gibt aber auch weitergehende Überlegungen, etwa die Daten von Mobilfunknetzen, Mautbrücken oder auch aus sozialen Netzwerken einzubinden. Tonekaboni: Da gibt zwei Probleme. Einmal lassen sich Datensätze in Big-Data ja nur schlecht wirklich anonymisieren oder sie sind nur Personenbezogen sinnvoll nutzbar. Aber es gibt auch ein profanes, technisches Problem: Daten aus verschiedenen Quellen müssen aufbereitet werden, sie haben eine unterschiedliche Qualität. Dass der Aufwand sich lohnt um bessere Prognosen zu liefern, sehen die kommerziellen Anbieter nicht. Daher übernehmen sie eher stupide Analyse-Arbeit, die Polizisten bisher auch gemacht haben, nur dass das dank Technik jetzt in Echtzeit geht und mit großen mehrjährigen Datenbeständen. Kloiber: Statt "Minority Report" also nur Big Data für die Polizei, vielen Dank Keywan Tonekaboni. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Keywan Tonekaboni im Gespräch mit Manfred Kloiber
Mit Computerprogrammen Verbrechen vorherzusagen, bleibt vorerst Zukunftsmusik. Aber durch die Auswertung vorhandener Daten wird schon versucht, Gebiete zu ermitteln, in denen etwa Einbrüche besonders wahrscheinlich sind. Datenschutzrechtliche Probleme könnten erst durch Vernetzung entstehen, erklärte Keywan Tonekaboni im Gespräch mit Manfred Kloiber.
"2014-11-01T16:30:00+01:00"
"2020-01-31T14:11:26.938000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/polizei-software-big-data-mit-datenschutz-risiken-100.html
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Positionen der Wirtschaft fallen auf fruchtbaren Boden
Abgase kommen aus einem Auspuff (Marcus Führer/dpa) Am 21. September 2015 waren die Vorwürfe aus den USA um Betrugssoftware in Diesel-Autos von Volkswagen seit drei Tagen in der Welt, da schreibt der Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Jochen Flasbarth, seinem Kollegen im Verkehrsressort. In dem Brief wirft er die Frage auf, ob es Ähnliches auch in Deutschland geben könne und er schlägt vor: "Darüber hinaus, halte ich eine umfassende Aufklärung und Bewertung, der für die Umweltpolitik ebenso wie für das Ansehen der deutschen Automobilhersteller alarmierenden Vorgänge, in einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe für geboten." Das heißt, der Umweltstaatssekretär möchte, dass sein Ministerium mit am Tisch sitzt, wenn die VW-Affäre aufgeklärt wird. Das Schreiben liegt NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung neben zahlreichen weiteren Dokumenten zum Verhältnis der Bundesregierung zur Automobilwirtschaft vor. Doch das SPD-geführte Umweltressort blitzt mit dem Vorschlag ab. Verkehrsminister Alexander Dobrinth von der CSU verkündet noch in derselben Woche im Bundestag sein Vorgehen: "Am Dienstag habe ich eine Untersuchungskommission eingesetzt, aus Fachleuten des Bundesverkehrsministeriums und des Kraftfahrtbundesamts." Konsequenzen bislang nicht erkennbar Die Kommission arbeitet – ohne Vertreter aus dem Umweltressort - bis Ende April, dann veröffentlicht sie Ergebnisse, die deutlich machen: Auch andere Hersteller haben mit ihren Diesel-Motoren getrickst oder zumindest die gesetzlichen Regelungen sehr großzügig ausgenutzt. Welche Konsequenzen das für sie hat, ist bislang nicht erkennbar. Sollten also Kritiker, die wie des Umweltbundesamts, das Dieselmotoren seit Jahren für Drecksschleudern hält, bei diesen Untersuchungen außen vor gehalten werden? Dieser Eindruck entsteht auch an anderen Stellen in den Regierungsunterlagen. Vor allem wenn es um die Frage der CO2-Grenzwerte in der EU geht. Da sollen Verbraucherschützer laut eines Vermerks auf einen Brief mit kritischen Anmerkungen zu dem Thema lediglich eine "Höflichkeitsantwort" erhalten. Und in einem Dossier zu einem Treffen im Wirtschaftsministerium mit dem Chef der Deutschen Umwelthilfe, Jürgen Resch, wird dieser als "Hardliner in Sachen Co2 Ausstoß" charakterisiert. Und seine Positionen "sind unrealistisch und werden von uns abgelehnt". VDA-Positionen fallen auf fruchtbaren Boden Die Positionen des Verbandes der Automobilindustrie VDA fallen den Unterlagen zufolge in Bundesregierung auf wesentlich fruchtbareren Boden. So gibt es regelmäßig ausführliche Gespräche, in denen gegenseitig Positionen ausgetauscht werden. Vor allem in der seit Jahren laufenden Diskussion über CO2-Grenzwerte in der EU. Immer wieder weisen die Bundesregierungen in Brüssel auf die Interessen der deutschen Premium-Hersteller hin. Zuletzt im vergangenen Jahr, als der Präsident des VDA, Matthias Wissmann, sich dafür einsetzt, dass neue Grenzwerte später greifen sollen. Nach einem internen Abstimmungsprozess in der Bundesregierung entsteht im Wirtschaftsministerium ein Vermerk. Dort wird als Ergebnis festgehalten: "Zentrale Forderungen des VDA decken sich im Grundsatz mit den nunmehr zwischen Bundesumwelt- und Bundeswirtschaftsministerium vereinbarten Eckpunkten". Und diese Eckpunkte sind industriefreundlich.
Von Kersten Mügge
Seit Bekanntwerden der Abgas-Affäre bei VW im vergangenen Jahr wird immer häufiger die Frage gestellt, inwieweit die Politik mitverantwortlich dafür ist. Zahlreiche interne Dokumente der Bundesregierung, die jetzt bekannt wurden, belegen zumindest den Einfluss der Auto-Lobby und wie wenig Rücksicht auf Umweltaspekte genommen wird.
"2016-06-16T11:35:00+02:00"
"2020-01-29T18:35:35.381000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/autoindustrie-und-politik-positionen-der-wirtschaft-fallen-100.html
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"Der Wähler braucht Lösungen für sein Leben"
Natascha Kohnen ist SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Oktober (imago stock&people) Silvia Engels: Wir führen im Deutschlandfunk vor Landtagswahlen an diesem Platz Interviews mit Ministerpräsidenten und deren direkten Herausfordern. Als Grundlage für die Auswahl, wer Herausforderer ist, nehmen wir immer das letzte Wahlergebnis. In Bayern hatte die CSU 2013 bei der Landtagswahl 47,7 Prozent Stimmanteil, die SPD kam damals klar auf Platz 2 mit 20,6 Prozent der Stimmen. Folglich sprechen wir mit Natascha Kohnen, SPD-Chefin in Bayern, stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten für die Landtagswahl. Guten Morgen, Frau Kohnen. Natascha Kohnen: Ja, guten Morgen, Frau Engels. Engels: Ich habe die Zahlen deshalb vorgetragen, weil sich in den letzten fünf Jahren gerade in Bayern rasant viel in der Wählergunst verändert hat. Derzeit liegt die CSU in Umfragen unter 40 Prozent, Platz 2 geht aber seit Wochen nicht an die SPD, sondern an die Grünen mit 15 bis 17 Prozent. Die AfD wird meist bei 14 bis 15 Prozent gemessen und die SPD dahinter bei 12 oder 13 Prozent, also nur auf Platz vier. Frau Kohnen, warum können Sie die Schwäche der CSU für sich nicht nutzen? Kohnen: Wir haben natürlich als Sozialdemokratie eine durchaus schwierige Phase. Das hat ja auch das Bundestagswahlergebnis im letzten Jahr gezeigt - und das geht ja durchaus auf Jahre zurück. Wir haben Vertrauen verloren und Vertrauen wiederaufzubauen, und das gehört zu aller Ehrlichkeit, das braucht tatsächlich Zeit, aber ich bin hier wild entschlossen in Bayern, dass wir wirklich mit den Themen, die die Menschen im tagtäglichen Leben berühren, dass wir da in den nächsten Wochen definitiv uns auch noch auf Platz zwei hochreißen können, denn hier in Bayern sind ja auch gerade erst die Ferien zu Ende gegangen oder sie gehen jetzt im Prinzip am Montag zu Ende und viele, viele Menschen, auch in den Umfragen, sagen, über 60 Prozent, sie wissen eigentlich noch überhaupt nicht, was sie machen wollen und sie wissen aber definitiv, dass ganz, ganz großer Zweifel an der CSU eben besteht. Engels: Sie deuten es an, der unionsinterne Streit um die Flüchtlingspolitik im Sommer hat offenbar der CSU geschadet, aber eben bislang der SPD nichts genutzt. Zuwächse haben seitdem die Grünen oder die AfD. Warum kann die SPD mit dieser Thematik, Asyl- und Flüchtlingspolitik, nicht punkten? Kohnen: Wir sind da natürlich in einer ganz anderen Situation als SPD als beispielsweise die Grünen. Die Grünen sind sowohl in Berlin als auch in Bayern in der Opposition. Die sind sehr, sehr frei und ich merke doch oft, dass dann gesagt wird, wenn ich beispielsweise in die Kritik gehe, insbesondere in der Phase des Frühsommers, als ja das Trio Seehofer, Söder, Dobrindt völlig außer Rand und Band waren und unser Land ja wirklich an den Rand einer Staatskrise gebracht hat. Da wurde ich doch dann auch angesprochen, Mensch, Sie sind aber doch mit denen in der Regierung und ja, Sie müssen da. Also, wir sind da nicht so frei beispielsweise wie die Grünen, aber ich sage auch in aller Deutlichkeit, wenn Seehofer jetzt wieder beginnt, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chemnitz, wieder die Gesellschaft zu spalten und Menschen gegeneinander aufzuhetzen, das mache ich kein zweites Mal mit. Engels: Da kommen wir gleich darauf zu sprechen, aber verstehe ich Sie recht, die bundespolitische Ebene, die ‚Große Koalition‘ in Berlin, ist ein schwerer Nachteil im Wahlkampf bei Ihnen? Kohnen: Nein, da sage ich mal, es ist wichtig, dieses Land voranzubringen und das haben ja auch alle Menschen in Deutschland mitbekommen, wie schwierig diese Entscheidung für uns war mit der Großen Koalition. Ich selber war ja auch ein großer Zweifler und bin aber dann in den Koalitionsverhandlungen, wo ich ja das Thema Bauen und Wohnen verhandelt habe, da haben wir so viel rausgeholt und das wird jetzt auch bemerkbar in den ganzen Gesetzgebungen, dass ich mich dann auch entschieden haben, okay, wir nehmen diese durchaus nicht besonders traumhafte Konstellation jetzt in Kauf, um dem Land etwas Gutes zu tun, auch Stabilität zu bringen, aber natürlich ist es, sage ich mal, insbesondere mit den bayerischen Kollegen der CSU extrem schwierig, weil die alles im Prinzip reduzieren auf den bayerischen Landtagswahlkampf und völlig hemmungslos handeln, was Deutschland einfach auch nicht guttut. Maaßen-Aussagen "nicht akzeptabel" Engels: Das Thema Migration und Asylpolitik kommt auch deshalb nicht aus den Schlagzeilen, weil es mit den Vorgängen aus Chemnitz mittlerweile wieder verwoben ist. Nach dem Tod eines 35-jährigen Chemnitzers und dem Tatverdacht gegen Asylbewerber dort fanden vor zwei Wochen Ausschreitungen statt. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, hat sich zu den Demonstrationen Ende August in Chemnitz geäußert. Das waren die Demonstrationen, bei denen eine große Gruppe Rechtsextremisten angereist waren. Der Hitler-Gruß wurde gezeigt, ausländerfeindliche Parolen gebrüllt, Menschen attackiert. Maaßen sagt nun, es lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass Hetzjagden stattgefunden hätten und er zieht in Zweifel, ob ein oft herangezogenes Video für die Verfolgung eines Migranten echt sei. Wie ordnen Sie seine Bewertung ein? Kohnen: Erst einmal erwarte ich Belege von ihm. Er muss zeigen, ob das tatsächlich belegbar ist, was er behauptet. Was ich daran aber tatsächlich schockierend finde auch, dass er die Presseberichterstattung in Zweifel zieht. Heute in unserer Demokratie werden Journalistinnen und Journalisten angegriffen von Rechtsradikalen und das rüttelt an unserer demokratischen Grundordnung. Das geht ja von Chemnitz aus, dass dort Menschen sich versammelt haben, die unsere Demokratie, so wie sie ist, nicht akzeptieren und diese attackieren und aus diesem Grund ist sowohl das, was Herr Maaßen behauptet…, da muss er noch deutlich belegen, wie er zu solchen Behauptungen kommt und das Misstrauen, das er eben der Presse da auch entgegenbringt, das halte ich für ganz, ganz, ganz schwerwiegend und eigentlich nicht akzeptabel. Engels: Ihr Parteifreund Ralf Stegner hält Maaßen schon jetzt für nicht mehr tragbar. Verlangen Sie Maaßens Rücktritt? Kohnen: Also, da muss man jetzt einfach abwarten, wie er selbst reagieren wird auf diese Behauptungen. Wir sagen klipp und klar, jetzt sozusagen Belege, Beweise und der Mann muss schon jetzt wirklich liefern. Das ist der Punkt und das wird sich jetzt in diesen Tagen zeigen. Hingegen Herr Seehofer hat als Bundesinnenminister ja bereits schon seit Monaten gezeigt, wie er als Innenminister mit diesem Land umgeht und er führt eben die Menschen nicht zusammen, sondern er spaltet diese und das ist ja mit den Chemnitzer Ereignissen ja auch noch einmal deutlich geworden, wo er sagt, wenn ich ein normaler Bürger wäre, wäre ich da rausgegangen und das als Bundesinnenminister. Da hat er seine Aufgabe definitiv nicht verstanden und für mich ist da jetzt das Maß voll. Dessen Rücktritt verlange ich schon. Engels: Da komme ich gleich auch drauf zu sprechen. Bleiben wir kurz noch beim Verfassungsschutz, denn auch das ist ja eine Lehre der Vorgänge von Chemnitz. Ein Thema war auch dort die dortige gemeinsame Demonstration von hohen AfD-Vertretern und einigen Rechtsextremisten Anfang September. Deshalb sieht Thüringens Landesverfassungsamt die AfD nun als Prüffall für eine Beobachtung. Wie stehen Sie dazu, beispielsweise die AfD in Bayern auch durch das Landesamt für Verfassungsschutz beobachten zu lassen? Kohnen: Ich sehe die AfD als eine Partei, die in Chemnitz ihre Maske hat fallen lassen. Dort hat sich Höcke in die Reihe der Rechtsextremen eingereiht und das absolut koordiniert. Die hatten das vor. Das zeigt sich ja auch und damit ist eines deutlich geworden, dort sind Hakenkreuze gezeigt worden. Da sind Hitler-Grüße gezeigt worden. Das sind schlichtweg Straftaten und verfassungsfeindliche Zeichen und damit ist für mich klar, dass die AfD dem Verfassungsschutz der Beobachtung jetzt zugestellt werden muss. Engels: Auch in Bayern? Kohnen: Ja, selbstverständlich als Partei, denn Höcke taucht hier jetzt ja auch im bayerischen Wahlkampf auf. Übrigens ist die Strategie immer so, möglichst kurzfristig aufzutauchen, weil er natürlich bei uns hier in Bayern auch mit massivem Widerstand rechnen kann von den Demokratinnen und Demokraten, den Anständigen, die sich dagegenstellen. Das wird hier maßgeblich auch natürlich von der SPD organisiert. Wir werden jetzt einen ganz klaren Kampf gegen rechts hier fahren. Engels: Kritiker einer solchen Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz sehen ja die Gefahr, damit die Opferrolle der AfD weiter zu stärken. Und wenn man diese Partei beobachte, dann habe das vor Gerichten wahrscheinlich eher Bestand, wenn man das bundeseinheitlich tue. Muss man also doch erst alle Länder zusammenbringen, bevor man hier tätig wird? Kohnen: Ich denke, wir müssen jetzt insgesamt tätig werden, weil es wird doch deutlich, auch nach Chemnitz, dass unsere Gesellschaft im Moment ins Rutschen kommt und da ist die AfD und das hat sie eben dort in Chemnitz gezeigt, ganz, ganz maßgeblich beteiligt und sie greift unsere demokratische Grundordnung an. Also, insofern ist das jetzt für mich eine klare Aussage: Die AfD muss in die Verfassungsschutzüberwachung hinein. Engels: Dann wären wir wieder beim Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Präsidenten. Trauen Sie Herrn Maaßen diese Aufgabe zu? Kohnen: Ich bin da im Moment tatsächlich im Zweifel, wohin Herr Maaßen geht. Das muss er jetzt klar belegen, aber der Mann, sage ich mal, lässt wirklich Zweifel offen. Engels: Sie haben es mehrfach angedeutet. Bei der Bewertung der Vorgänge von Chemnitz bricht nun auch wieder der Streit um die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel seit 2015 grundsätzlich aus. Horst Seehofer bezeichnet die Migrationsfrage als ‚Mutter aller politischen Probleme‘ in diesem Land. Sie nannten das falsch. Sie haben seinen Rücktritt gefordert, aber hat Seehofer nicht einen Punkt getroffen, wenn er sagt, Migration in Deutschland bereitet Menschen weiterhin Sorge? Kohnen: In diese Formulierung geht er ja nicht hinein. Würde er irgendetwas sachlich formulieren…- aber ich nenne Ihnen jetzt einmal ein Beispiel. Meine Mutter kommt aus Irland. Ich bin Migrantin erster Generation. Meint er mich? Und damit spüren Sie ja schon, meine Mutter - eben keltischen Ursprungs- , das ist mit Sicherheit nicht das, was der Herr Seehofer hier anheizen will. Also, für mich ist das, was er tut, spalterisch und er hetzt Menschen gegeneinander auf und das kann er nicht trennen von der Aufgabe, die er hat, und das ist der Bundesinnenminister und dessen Aufgabe ist, für Stabilität im Land zu sorgen und die Menschen zusammenzuführen und für Zusammenhalt zu sorgen und er tut genau das Gegenteil. Wenn er unterwegs ist, dann fängt er ja plötzlich an und sagt, ach, gewisse Dinge habe ich eigentlich als bayerischer CSU-Vorsitzender gesagt, das andere sage ich als Innenminister. So kann man ein Land nicht führen und ein Ministerium des Inneren sowieso nicht und seine Eignung, sage ich mal, stelle ich absolut infrage und für mich ist jetzt einfach das Maß voll. Es reicht. Engels: Weil ja Ihre Forderung nach Rücktritt ein großes Kaliber ist, habe ich mir das Interview mit der ‚Rheinischen Post‘ noch einmal genau angeschaut. Da sagt Herr Seehofer, wenn er nicht Minister wäre, wäre er als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen, natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen. Zitatende. Sie haben wiederum daraus geschlossen, Seehofer unterstütze damit, dass eine einzelne Gewalttat, nämlich die Tötung des 35-jhäirgen Chemnitzers, zur Hetze gegen Migranten instrumentalisiert werde. Wo sehen Sie da genau den Zusammenhang? Kohnen: Ich sage es Ihnen auch ganz deutlich. Er behauptet, er würde nach diesem Mord auf die Straße gehen. Jeder Mord ist schrecklich und da hat übrigens auch der Rechtsstaat ja zugegriffen. Die beiden potenziellen Mörder sind in Haft und meine Kritik ganz klar geht darauf, beispielsweise in Grafing vor einigen Jahren sind fünf Menschen zu Tode gekommen durch einen Deutschen. Würde Herr Seehofer dann auch selbiges sagen? Ich gehe dann auf die Straße? Darauf wird ja auch wieder ganz, ganz deutlich, dass es hier um nichts anderes geht, als um eine Stimmung anzuheizen gegen Minderheiten, nur um die bayerische Landtagswahl zu beeinflussen und der Gedanke, der dahintersteckt, der ist doch offensichtlich. Die CSU hat die Angst, dass rechts von ihnen die Stimmen verloren gehen an eine ganz rechte Partei und da wird à la Franz Josef Strauß in der Vergangenheit gesagt, rechts neben uns darf es nichts geben. Zack, gehen wir nach drüben und setzen immer noch einen drauf, aber die einzige Partei, und das zeigen eben die Umfragen auch, die davon profitiert, ist die AfD und das hat übrigens auch die Bundestagswahl gezeigt. Deswegen will ich in diesem bayerischen Landtagswahlkampf ganz klar die sozialen Themen in den Vordergrund stellen, weil wir müssen die soziale Sicherheit herstellen, damit sich die Menschen auch in unserer Gesellschaft klar sind, dass ihnen ihr Platz sicher ist, dass ihnen den niemand nehmen kann und deswegen sind für mich eben die Themen, bezahlbares Wohnen oder Vereinbarkeit Familie und Beruf, Zukunft der Arbeitswelt, das sind doch die Dinge, auf die werde ich tagtäglich, wenn ich in Bayern bin und unterwegs bin, werde ich darauf angesprochen. Darüber müssen wir reden statt wie Herr Seehofer und Konsorten, sprich Söder, Dobrindt, permanent dieses Land außer Rand und Bank zu bringen wie im Frühsommer, ganz Deutschland an eine Staatskrise heranzuführen. Das kann doch wohl nicht unser Ernst sein, wie wir unsere Demokratie fortführen wollen. Engels: Wichtig in diesem Zusammenhang ist ja auch die präzise Wortwahl. Sie sprachen jetzt auch von einem Mord in Chemnitz. Ermittelt wird wegen Totschlags. Muss man sich auch als Politiker noch genauer präzise ausdrücken, um dieser möglichen Spaltung und dieser Radikalisierung in der Gesellschaft nicht noch Futter zu geben? Kohnen: Ja, ich habe es jetzt ausgedrückt natürlich auch in Bezug auf die anderen. Ja, wenn Sie juristisch herangehen, exakt, da haben Sie dann wohl Recht, ja, das stimmt. "Was wir in unserem Land brauchen, sind Fachkräfte" Engels: Schauen wir noch einmal auf den Kurs, den ja die SPD gerade in der Asyl- und Flüchtlingspolitik fahren möchte. Da fehlt es ja auch etwas an Einheitlichkeit. Der niedersächsische Ministerpräsident Weil von der SPD ist zum Beispiel dafür, Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Müller, auch SPD, ist dagegen. Ist das auch ein Problem für die SPD, dass dem Wähler die Position nicht klar wird? Kohnen: In diesem Punkt lässt sich tatsächlich streiten, weil wir als bayerische SPD sagen auch sehr klar, Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Die SPD-geführten Bundesländer schieben auch nicht nach Afghanistan ab, sondern nur Gefährder und Straftäter, aber eben nicht beispielsweise junge Lehrlinge aus Bäckereien, wie es hier in Bayern ja zum Beispiel stattfindet. Da werden ja auch junge Menschen abgeschoben, die wir eigentlich hier dringend bräuchten. Die Debatte über die sicheren Herkunftsländer, die kann auch durchaus kontrovers sein. Was aber beispielsweise ist, bei uns gibt es sehr klare Formulierungen darüber, wie wir Integration auch gestalten müssen und da hat übrigens Herr Ministerpräsident Weil auch gesagt, der sogenannte Spurwechsel, das heißt, wenn Menschen hier schon tätig sind, in Pflegeheimen, in Kitas, in Industriebetrieben, sei es an der Werkbank oder wo auch immer oder eben im Handwerk, dass diese Menschen, die die Sprache schon gut gelernt haben, die hier voll dabei sind, die sich selbst finanzieren auch, dass die natürlich dann in einem Einwanderungsgesetz, was ja unbedingt kommen muss bis Ende des Jahres, dass die den Wechsel von Asyl hin zur Einwanderung machen können und das ist auch Pragmatismus. Also wir müssen auch in dieser ganzen Frage Flucht und Asyl auch Pragmatismus endlich geltend machen. Was wir in unserem Land brauchen, sind Fachkräfte und wir brauchen auch einfach, das zeigt die Demografie, wir werden immer älter, wir brauchen auch junge Menschen, die in unserer Gesellschaft etwas mit leisten. Insofern ist für dieses Einwanderungsgesetz, und das ist ja für uns so, als SPD haben wir das ja schon seit Jahren in der Schublade und da hat sich die Union ja immer unglaublich geweigert, das zu akzeptieren und anzunehmen. Jetzt haben sie es begriffen und übrigens hätte der Bundesinnenminister, der jetzt, sage ich einmal, durch alles andere auffällig wird als durch klare Arbeitsvorlagen, der hat nämlich auch die Aufgabe, dieses Einwanderungsgesetz nach vorne zu bringen, aber er hat übrigens auch noch eine andere Aufgabe, und da würde ich auch unglaublich gerne drüber reden. Er hat die Aufgabe des Wohnungsbaus. Er ist Bauminister. Kohnen kritisiert Verfassungsschutz-Präsident Maaßen und Bundesinnenminister Seehofer (PA/dpa/Michael Kappeler) Engels: Genau da kommen wir jetzt hin. Sie selbst hatten in Bayern ja Ihren SPD-Wahlkampf ganz anders gestalten wollen: Wohnungsbau, Familien, Arbeitsbedingungen besser gestalten, das war Ihre Idee, wegkommen von der Monothematik Asyl und Flüchtlingspolitik. Kohnen: So ist es. Engels: Jetzt ist es ja so, dass auch Umfragen immer wieder herausbringen, dass eben solche Themen durchaus den Bürgern wichtig sind und dass die Bürger auch das CSU-Agieren in den letzten Monaten nicht hilfreich fanden. In Bayern profitieren davon die Grünen, nicht die SPD. Müssen Sie das auch als Spitzenkandidatin persönlich nehmen? Kohnen: Wir als SPD, und das hatte ich ja schon zu Beginn der Sendung erläutert, für uns, wir sind in einer deutlichen anderen Situation als die Grünen. Aber, und das ist tatsächlich wahrnehmbar und wird auch sehr, sehr deutlich, die SPD ist die Wohnungspartei in Bayern, nicht nur deswegen, weil wir ja auch auf der kommunalen Ebene die Oberbürgermeister und Bürgermeister stellen. Da sind wir ja die kommunale Macht hier in Bayern und unsere Oberbürgermeister bauen und bauen und versuchen, eben bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, was extrem schwierig ist, weil bei uns in Bayern, wir sind ja ein Riesenflächenland, wurde in den letzten Jahrzehnten keine Landespolitik gemacht. Das heißt beispielsweise, in den ländlichen Regionen fährt zum Teil nur ein Bus morgens und abends. Das geht nicht. Wir brauchen stündlich einen Bus. Wir brauchen auch den Einstieg in den kostenfreien ÖPNV für junge Menschen. Wir wollen eben, ähnlich wie es beispielsweise in Niedersachsen ist, ein Landesticket für junge Leute, die zur Ausbildung an die Universität fahren. "Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr zu akzeptieren" Engels: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Natascha Kohnen, SPD-Chefin in Bayern und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl. Genau zum Thema bezahlbares Wohnen sind SPD-Chefin Andrea Nahles und Parteivize Schäfer-Gümbel gestern mit einem Vorschlag für eine radikale Mietpolitik an die Öffentlichkeit gegangen. In der ‚Süddeutschen Zeitung‘ fordern sie einen Mietpreisstopp, das heißt, Bestandsmieten und Neuvermietungen sollen in angespannten Wohnungsmärkten für fünf Jahre nur in Höhe der Inflation steigen. Ein realistischer Vorschlag? Kohnen: Absolut, absolut realistisch aus folgendem Grund, wenn Sie sich angucken, ich nehme jetzt das Beispiel hier in Bayern, die Landeshauptstadt München. Dort ist es inzwischen so, wenn Wohnungen modernisiert werden, dann werden die anschließend, die Kosten der Modernisierung, zu hohen Prozentzahlen ja auf die Mieter übertragen und da ist es inzwischen so weit, dass alte Leute, die schon Jahrzehnte in dieser Stadt wohnen, aus ihrer Heimat vertrieben werden, weil sie finden in dieser Stadt nichts Bezahlbares mehr. Die wohnen 40, 50 Kilometer weg und werden völlig entrissen. Da macht ja Katarina Barley im Moment auch das, was ich selbst in den Koalitionsverhandlungen behandelt habe, Bauen und Wohnen und Mieten. Wir haben durchgesetzt, dass diese sogenannte Modernisierungsumlage, die im Moment bei elf Prozent liegt, auf acht Prozent gesenkt wird. Das, was aber Andrea Nahles, die Parteivorsitzende, jetzt fordert, gemeinsam mit Thorsten Schäfer-Gümbel, dem Spitzenkandidaten aus Hessen, ist absolut richtig, denn was wir in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben, ist ein kleiner Baustein. Die Union hat sich da aber unglaublich gesträubt, mehr zu machen. Das heißt, wir müssen jetzt ganz deutlich machen, die Mietexplosionen, das geht nicht mit kleinen Bausteinen. Hier muss jetzt richtig hingefasst werden, weil ansonsten kriegen wir auch in den Städten eine Spaltung der Gesellschaft. Die oberen 10.000 können bleiben, die anderen werden aus ihrer Heimat entrissen und vertrieben. Das geht nicht und deswegen ist dieser Mietstopp ein wirklich griffiger Schritt. Er klingt hart, aber er ist richtig, weil die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt sind nicht mehr zu akzeptieren und das ist die Lebenswirklichkeit und das muss jetzt schlicht auch die Union endlich anerkennen und mit uns diese harten Schritte durch den Staat gehen, weil sonst kriegen wir diese ganze Problematik nicht mehr in den Griff. Engels: Aber geht das rechtlich überhaupt? Was sagen Sie denn zu Immobilienbesitzern, die das Recht an ihrem Eigentum angegriffen sehen, wenn sie nicht mehr normale Mietsteigerungen erheben können oder einfach nicht mehr frei sind in der Gestaltung? Auch Vermieter haben ja Kosten. Kohnen: Ja, das wird ja festgelegt auf angespannte Wohnungsmärkte und die Preissteigerungen sollen sich an der Inflation orientieren. Das muss man natürlich gesetzlich sicher machen sozusagen, damit da auch nichts schiefgeht, aber das ist machbar. Der Staat muss handlungsfähig werden und es geht ja beim Wohnung nicht um etwas…. Sie können ja zum Beispiel jetzt nicht sagen, ach nein, ich habe jetzt mal keine Lust zu wohnen. Ich lasse das jetzt mal für drei, vier Monate. Das ist ein Grundrecht, das steht in unsrer Verfassung auch drin, in der Bayerischen insbesondere. Bei diesem Grundrecht verlangen ja auch unglaublich viele Menschen, die sagen, helft uns, weil so geht es nicht weiter. Engels: Geplant ist auch in diesem Konzept, nicht genutzte Baugrundstücke in Innenstädten mit mehr staatlichen Abgaben zu belegen, damit eben der Besitzer dazu gebracht wird, das Grundstück auch zu bebauen. Union und FDP halten solchen SPD-Vorschlägen ja vor, dass man damit Immobilienbesitzer und Bauherren so reglementiere und abschrecke, dass diese am Ende gar nicht mehr bauen würden. Die Spitzenkandidaten für die bayerische Landtagswahl, Ministerpräsident Söder und Bayerns SPD-Chefin Kohnen (dpa) Kohnen: Das halte ich für falsch. Wir haben ja jetzt beispielsweise, in den Koalitionsverhandlungen, habe ich ja auch durchgesetzt, dass wir eine sogenannte Grundsteuer C bekommen. Im Moment werden ja die Grundsteuer A und B reformiert und wir wollen die Initiative zur Grundsteuer C ergreifen. Das heißt, Sie sehen oft, wenn Sie durch Städte oder auch Dörfer fahren, Grundstücke, die einfach nur herumliegen, brachliegen. Sie wissen aber, dass die Baurecht haben. Da warten Menschen, Spekulanten, benennen wir sie auch so, die warten einfach, weil sie sagen, das ist doch viel besser, ich lasse das liegen, Preissteigerung und danach kann ich dann super die Gewinne abschöpfen. Hier sagen wir klipp und klar, da muss eine Bodenspekulationssteuer greifen, dass es eben nicht mehr attraktiv ist, solche Grundstücke einfach liegenzulassen, weil einfach die Frage nach bezahlbarem Wohnraum ist ein Grundrecht der Menschen und Eigentum verpflichtet auch. Die CSU als "Vorreiter, der immer peitscht und peitscht und peitscht" Engels: In dem Papier von Andrea Nahles und Thorsten Schäfer-Gümbel wird auch gefordert, sozialen Wohnungsbau stärker staatlich mit Steuervergünstigungen zu fördern. Sie selbst wollen ja in Bayern den sozialen Wohnungsbau auch voranbringen. 100.000 Wohnungen peilen Sie in den kommenden fünf Jahren an, 25.000 davon mit Hilfe einer staatlichen Wohnungsbaugesellschaft, aber mit welchem Geld und vor allen Dingen mit welchem Baugrund in den teuren Innenstadtlagen? Kohnen: Es ist ja, wie ich Ihnen auch vorhin beschrieben habe, das muss ja über ganz Bayern sozusagen gelegt werden. Das Groteske, und das glaubt mir fast niemand in Bayern, das ist aber Fakt, in Bayern, der Staat hat nicht einmal einen Überblick im Moment, welche staatlichen Flächen er hat, um diese bebauen zu können. Die wissen nicht einmal, die Regierung, die im Moment dran ist, welche Flächen sie haben. Wir fordern seit Jahren, Leute, macht endlich ein Flächenkataster, damit wir wissen, welche staatlichen Flächen gibt es und es gibt wirklich auch in München staatliche Flächen, die bebaubar sind, nur den Staat hat es nicht gekümmert und dann kann man auch die Partei benennen. Die CSU hatte keinerlei Interesse, als Land in den Wohnungsbau mit hineinzugehen, obwohl unsere bayerische Verfassung klipp und klar schreibt, Artikel 106, die Kommunen und das Land sind zuständig. Das heißt, bei uns muss als Allererstes ein Flächenkataster erstellt werden, und dann kriegen wir natürlich transparent gezeigt, wo sind diese Flächen und die muss der Staat selbst bebauen. Engels: Frau Kohnen, Sie haben gerade wieder Herrn Söder scharf kritisiert. Es reden ja viele über eine mögliche schwarz-grüne Koalition nach der bayerischen Landtagswahl, aber können Sie sich als SPD am Ende, wenn es nicht anders geht, auch eine Koalition mit der CSU vorstellen? Kohnen: Ich habe klar und mit meiner Partei beschlossen, und das hat man jetzt auch ein bisschen bei unserem Gespräch ja auch bemerkt, immer wird hauptsächlich über Flucht, Angst, Unsicherheit, auch durchaus über Hetze, gesprochen. Da ist ja auch die CSU der Vorreiter, der immer peitscht und peitscht und peitscht und über diese Tatsache hinaus, und das war ja auch schon bei der Bundestagswahl so, wenn man sich an das TV-Duell von Martin Schulz und der Frau Merkel erinnert. Da wurde ja 40 Minuten über Flucht und Migration geredet und diese sozialen Themen gehen total unter und ich habe gesagt, so geht das nicht. Wir versuchen hier mit aller Kraft, endlich die Themen in den Vordergrund zu stellen, die wirklich, wenn Sie Menschen direkt begegnen, darauf sprechen die einen an und das ist eben bezahlbarer Wohnraum, Familie und auch Arbeit. Das will ich in den Vordergrund stellen. Wenn ich jetzt beginnen würde, mit Ihnen über irgendwelche Koalitionsfarben-Spielchen zu reden, dann kann ich Ihnen sagen, womit ich dann die nächsten fünf Wochen beschäftigt bin, garantiert nicht mit den sozialen Themen, sondern nur noch mit Personality-Karussell und Farbenspielen. Da habe ich gesagt, wir machen gar keine Aussage. Der Wähler braucht Lösungen für sein Leben, für die Herausforderungen, die tagtäglichen, und am 15. Oktober dann mit meiner Partei, wir werden das alles gemeinsam besprechen, wie es weitergeht, aber Koalitionsaussagen treffe ich nicht. Engels: Natascha Kohnen, SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Bayern und die Vorsitzende ihrer Partei dort, vielen Dank für das Gespräch. Kohnen: Herzlichen Dank. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Natascha Kohnen im Gespräch mit Silvia Engels
In Umfragen liegt Bayerns SPD auf dem vierten Rang. Bis zur Landtagswahl wolle sie ihre Partei auf Platz 2 "hochreißen", sagte die Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten, Natascha Kohnen, im Dlf. Das wolle sie mit Konzepten gegen tagtägliche Probleme - beispielsweise steigende Mieten - erreichen.
"2018-09-09T11:05:00+02:00"
"2020-01-27T18:10:00.685000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/bayerns-spd-landesvorsitzende-natascha-kohnen-der-waehler-100.html
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Deutsche sind weniger empfänglich für Populismus
Mehrere tausend Pegida-Anhänger demonstrieren auf dem Theaterplatz in Dresden. (pa/dpa/Killig) In keinem der großen EU-Staaten sind die Menschen weniger empfänglich für populistische Politik als in Deutschland: Zu diesem Ergebnis kommt eine Zwölf-Länder-Erhebung des britischen Instituts YouGov, aus der die "Welt" zitiert. Während in Deutschland 18 Prozent der Wähler politische Überzeugungen, die von Parteien wie der AfD bedient werden, teilen, sind es in Polen hingegen 78 Prozent. In Frankreich liegen die Werte bei 63 Prozent und in den Niederlanden bei 55 Prozent. "Deutschland am widerstandsfähigsten" "Während wir in anderen EU-Ländern, vor allem in Frankreich, starke Tendenzen hin zu einem autoritären Populismus sehen, stellt sich Deutschland als das widerstandsfähigste Land heraus", sagte YouGov-Forschungsdirektor Joe Twyman. Grundsätzlich spiele das Alter eine wichtige Rolle: Je älter die deutschen Wähler sind, umso größer sei ihre potenzielle Sympathie für Parteien wie die AfD. Populistische Ideen seien in Deutschland eher für Menschen mit einem mittleren Bildungsniveau attraktiv als für weniger gebildete. Auch neigten weitaus mehr Männer Populismus zu als Frauen - 65 Prozent verglichen mit 35 Prozent. Als empfänglich für populistische Positionen definiert die Studie jene Menschen, die bestimmte Grundüberzeugungen teilen: eine ablehnende Haltung zur EU, generelle Vorbehalte gegen Einwanderung in ihr Land, eine kritische Haltung gegenüber der gängigen Formulierung der Menschenrechte sowie eine Präferenz für eine robuste, auf nationale Interessen fokussierte Außenpolitik. Populismus am rechten Rand Mit diesen Kriterien können sowohl rechts- als auch linkspopulistische Tendenzen erfasst werden. Anders als in anderen Ländern, in denen Linkspopulismus verbreitet ist, gehören die deutschen Wähler, die populistischen Parteien ihre Stimme geben könnten, der Studie zufolge fast ausschließlich dem rechten Rand an. Für etliche EU-Länder sehen die Demoskopen ein wachsendes Wählerpotenzial, aus dem Parteien wie die Anti-EU-Partei Ukip in Großbritannien oder der Front National in Frankreich schöpfen könnten. (fwa/bö)
null
Die Deutschen sind einer Studie zufolge europaweit am wenigsten anfällig für populistische Politik. Demnach teilen hierzulande 18 Prozent der Wähler Einstellungen, die von der AfD bedient werden wie etwa eine ablehnende Haltung gegenüber der EU oder Vorbehalte gegenüber Ausländern. Sowohl in den westlichen als auch in den östlichen Nachbarländern ist der Anteil deutlich höher.
"2016-11-21T05:48:00+01:00"
"2020-01-29T19:05:06.550000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/europaweite-studie-deutsche-sind-weniger-empfaenglich-fuer-100.html
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Lehrer und blind
Martin Park navigiert mit seinem Blindenhund Finja durch den Schulalltag. Dabei orientiert er sich neben Finja vor allem an seinem Gehör. (Deutschlandradio / Jan Lehmann) "Mein Name ist Martin Park, ich bin 36 Jahre alt und komme aus Kirchheim/Teck." Finja, die Blindenhündin, bahnt Martin Park den Weg durch den Schulflur. Mitten durch das Gewusel aus Schülern und Lehrerkollegen."Ich hab sie heute Morgen extra frisiert und die Dauerwelle wieder frisch gemacht." Kapuzenpulli, Jeans, Turnschuhe – Martin Park ist ein lockerer Typ. Man könnte ihn glatt für einen Sportlehrer halten. Zielstrebig und flott navigiert er mit seinem Hund durchs Schulgebäude. Dabei orientiert er sich neben Finja,vor allem an seinem Gehör. "Die Säule hört man ganz gut. Runde Sachen werfen normalerweise den Schall nicht so gut zurück, aber die ist ganz gut zu hören, weil sie vor einem kontrastreichen Hintergrund steht. Ansonsten hört man noch die Feuertür jetzt, die Einengung" Martin Park erkennt seine Schüler an der Stimme Angekommen im Klassenzimmer. Fünfte Stunde, die 9A hat Französisch. Finja rollt sich in ihr Körbchen hinter dem Lehrerpult. Martin Park klappt seinen Laptop auf und schaltet den Beamer über der weißen Tafel ein. Eine Schülerin kommt zu spät. Doch reinschleichen hat keinen Zweck. "Bonjour. Quest’qui c’est passé? (Lachen) Pourquoi est-ce-que tu es en rétard?" Martin Park entgeht kaum etwas. Er erkennt seine Schüler an der Stimme. "J’ai été au toilette. Très bien. Vous prenez s’il vous plait " "Ich bin ursprünglich zur Schule erst in eine besondere Blindenschule gegangen, hab das dann irgendwann gelassen, weil mir das nicht mehr gefallen hat und lag meiner Mutter in den Ohren, dass ich doch mit normal sehenden Kindern beschult werden möchte. Und hab dann mein Abitur am Ludwig-Uhland-Gymnasium gemacht hier in Kirchheim. Damals war das absolut exotisch." Laptop statt Kreidetafel Trotzdem, er biss sich durch, wollte behandelt werden wie alle anderen, soweit wie eben möglich. Genau das hatte auch seine Mutter früher von ihm gefordert: "Sie hat dann gesagt beispielsweise: Du kannst zwar nicht sehen, aber ich erwarte von dir, dass du dein Bett machst und dass du es auch selbst beziehst. Also die hat da keinen Unterschied gemacht - und das war das Beste, was mir hat passieren können." Statt einer Kreidetafel benutzt Martin Park einen speziellen Laptop. Der wandelt ihm die Texte auf dem Bildschirm in Braille-Schrift und in gesprochene Sprache um. Ein Beamer projiziert Texte und Bilder auf die weiße Tafel im Klassenzimmer. "Eine Stunde, die funktioniert, ist wie ein Kick" "Also, am Anfang war ich schon ein bisschen aufgeregt. Ich hab mich gefragt, wie wird das so sein? Auch mit dem Melden, aber dann, nach dem ersten Unterricht, fand ich das gar nicht schlimm und ich fand‘s halt voll normal. Das ist jetzt nichts anderes wie in einem anderen Unterricht für uns. Deswegen klappt das sehr gut mit ihm", sagt ein Schüler. Eine Assistentin unterstützt Martin Park beim Unterricht. Zum Beispiel, indem sie Schülerinnen und Schüler dran nimmt, die sich melden. Doch der Lehrer hat da auch seine eigene Methode: Den Meldeball. Die Schüler werfen sich einen kleinen Ball zu und nehmen sich so nacheinander selbst dran. "Ne Stunde, die funktioniert, ist wie ein Kick auch. Also man schwebt da so ein bisschen auf Wolke Sieben, wenn man gemerkt hat, da kam jetzt was bei rum, den Schülern hat’s auch noch ein bisschen Freude gemacht." Die Freiheit, seinen eigenen Weg zu gehen Martin Park hat an der Uni Freiburg Französisch und Geografie studiert. "Ich hatte an der Uni Professoren, die waren sehr aufgeschlossen, ich hatte welche, die konnten sich das gar nicht vorstellen, besonders in der Geografie. Sie standen aber damals auf dem Standpunkt, sie haben gesagt: Wir lassen ihn mal machen, wir gucken mal, was dabei rauskommt, wir prüfen ihn ganz normal. Und wie er das macht, ist uns im Prinzip egal. Und das war eine Haltung, die mir sehr zu Pass kam. Also beispielsweise habe ich dann immer die Arbeit der anderen übernommen, die Protokolle von irgendwelchen Lernsitzungen zu schreiben – das hat mir die Möglichkeit gegeben, mir die Texte vorlesen zu lassen." Rückschläge wegstecken, Kompromisse eingehen Und so hat Martin Park immer irgendeinen Weg gefunden, sich in einer sehenden Gesellschaft zurecht zu finden. Auch wenn er dabei durchaus mal Rückschläge einstecken musste. "Ich hab das dann mit dem privaten Bereich wieder wettgemacht. Ich hatte sehr gute Kletterfreunde damals, war sehr viel klettern im Schwarzwald und in den Alpen. Und habe in dem Bereich auch sehr viel sportliches Selbstvertrauen tanken können, und hab das übertragen auf meinen Alltag. Wie es in der Klettertour eben auch ist: Man guckt sich den nächsten Schritt an und denkt sich: ach, das wird schon irgendwie werden." Und manchmal hilft auch Humor. Zum Beispiel, wenn der Beamer im Klassenraum mal wieder nicht funktioniert. "Ah, la Technique! Toujours la technique " Einen blinden Lehrer aufzunehmen, das war für die Schule schon eine ganz schöne Herausforderung, sagt Lucia Heffner, die Leiterin des Kirchheimer Schlossgymnasiums. Aber letztlich ein Gewinn. Fordern, aber auch gefordert werden "Ne Herausforderung dahingehend, dass man natürlich die Räumlichkeiten, die ganze Logistik für ihn abstimmen musste. Und auf der anderen Seite ein Gewinn für alle Schüler, die sehen, dass man mit einem Handicap im eigenen Leben seinen Mann stehen kann und wirklich auch gute Arbeit leisten kann, und das find ich wunderbar." Dass Martin Park heute als Lehrer arbeitet, verdankt er Menschen, die ihm etwas zugetraut haben, sagt er, die aber gleichzeitig auch etwas von ihm gefordert haben. "Und deswegen ist diese Inklusionsgeschichte auch keine Sache, die allein von außen herangetragen wird, sondern es ist auch an den behinderten Menschen, sag ich mal, auch zu sagen: Ich möchte es auch schaffen und ich möchte auch Unwägbarkeiten mit in Kauf nehmen. Ich muss Kompromisse eingehen, ich muss mich aus meiner Komfortzone heraus bewegen und die Gesellschaft muss mir andererseits auch die Chance lassen, dass ich das auch ausleben darf."
Von Jan Lehmann
Martin Park erkennt jeden seiner Schüler an der Stimme. Denn sehen kann er sie nicht: Der Französisch- und Erdkundelehrer ist blind. Dass er trotz seiner Behinderung an einem Gymnasium unterrichten kann, verdankt er seinem Biss - aber auch Menschen, die ihm etwas zugetraut haben. Für ihn bedeutet Inklusion daher: Fordern, aber auch gefordert werden.
"2017-02-23T14:35:00+01:00"
"2020-01-28T10:16:25.825000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/themenreihe-mittelpunkt-mensch-lehrer-und-blind-100.html
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Indien ist frei von Kinderlähmung
Ein Junge erhält in Indien die Polio-Impfung (dpa ) Jetzt hat Indien Grund zu feiern, denn seit drei Jahren gibt es dank Massenimpfungen und vieler Aufklärungskampagnen keinen neuen Polio-Fall mehr. Und deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Indien jetzt offiziell den Status "poliofrei" zugesprochen. Ein Dreijahreszeitraum ohne Neuerkrankungen ist dafür Voraussetzung. Es ist ein lebenslanger Kampf mit den Folgen der Polio. (dpa / Jaipal Singh) 1,2 Milliarden Einwohner zählt Indien. An der Impfkampagne haben sich in den vergangenen zehn Jahren 2,3 Millionen Helfer beteiligt. Jährlich konnten so rund 170 Millionen Kinder unter fünf Jahren immunisiert werden. Poliomyelitis wird von Viren verursacht, die die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks infizieren. Überwiegend erkranken Kinder. Lähmungen bis hin zum Tod können die Folge sein. Hören Sie weitere Informationen im Beitrag unseres Korrespondenten Jürgen Webermann .
Von Jürgen Webermann
Indien hat Grund zu feiern: Seit drei Jahren gibt es dank Massenimpfungen und vieler Aufklärungskampagnen keinen neuen Polio-Fall mehr. Deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Indien jetzt offiziell den Status "poliofrei" zugesprochen.
"2014-03-26T06:24:00+01:00"
"2020-01-31T13:32:48.885000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/gesundheit-indien-ist-frei-von-kinderlaehmung-100.html
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Die Mutter aller Fälschungen
"Stern"-Reporter Gerd Heidemann präsentiert die angeblichen Hitler-Tagebücher. (picture-alliance/ dpa) "Der 25. April 1983 ist einer der wichtigsten, spannendsten, absurdesten und skurrilsten Tage der deutschen Pressegeschichte." An diesem Tag, so erinnert der Podcast "Faking Hitler" gleich zu Beginn, habe der "Stern" auf einer internationalen Pressekonferenz eine "Jahrhundertstory" vorgestellt: die Geschichte eines Reporters, der geglaubt hatte, die originalen privaten Tagebücher von Adolf Hitler gefunden zu haben. Eine Geschichte, von der sich "Stern"-Herausgeber Henri Nannen schon bald distanziert hat, wie der Podcast ebenfalls deutlich macht: "Und dann hab' ich diesen Vorspann gelesen und habe gelesen, dass die Geschichte neu geschrieben werden muss. Daraufhin habe ich als Erster sofort gesagt: Seid Ihr denn wahnsinnig geworden?" Denn: Die Geschichte, so Nannen, sei geschrieben worden von Hitler und seinen Vasallen. "Die kann man doch nicht mit Tagebüchern wegdiskutieren!" Akribisch dokumentierte Recherchen Doch vor diesem Urteil stand der Hype. Das Feuer entfacht für den erhofften journalistischen Scoop hatte Gerd Heidemann, ein ehemaliger Kriegsberichterstatter. Und ein Journalist, der seine Recherchen akribisch dokumentiert hat. So hatte er die Gespräche mit Fälscher Konrad Kujau, der sich als Konrad Fischer vorstellte, mitgeschnitten. "Ja, schönen guten Abend, Herr Fischer. - Ja, guten Abend, Herr Heidemann. - Ich wollte mich noch mal ganz herzlich für das Bild von Ihnen und Ihrer Frau bedanken. - Bitteschön!" Anfang der 1980er-Jahre, als Heidemann glaubte, der Geschichte seines Lebens auf der Spur zu sein, sei er ein "Star-Reporter" gewesen, befindet der Podcast. "Star-Reporter" – ein Superlativ, mit dem heute, mehr als 35 Jahre später, auch Claas Relotius beschrieben wurde, also der Journalist, der für den größten deutschen Presseskandal dieser Tage verantwortlich ist. Parallelen zum Relotius-Fall Michael Seufert, zur Zeit der vermeintlichen Hitler-Enthüllungen beim "Stern", findet die Bezeichnung im Deutschlandfunk-Interview in beiden Fällen schwierig: "Filmstars mag es ja geben. Aber Reporter – die sollten immer auf dem Fußboden bleiben." Was die beiden, Heidemann und Relotius, verbinde, sei gewesen, was sie durften in ihren Redaktionen. "Heidemann war ein hervorragender Rechercheur, der wirklich sich verbissen hat in Themen. Und das war sowohl hervorragend als auch gefährlich, denn er verlor sehr schnell die Distanz zu seinen Themen. Und auch Claas Relotius hat ja einen Sonderstatus beim 'Spiegel' gehabt, man hat ihm schließlich alles geglaubt." Nach seiner Zeit bei der Hamburger Wochenzeitschrift schrieb Michael Seufert ein Buch über den "Skandal um die Hitler-Tagebücher". Auch er wird noch in dem zehnteiligen "Stern"-Podcast zu Wort kommen: als der Mann, der damals nach Bekanntwerden des Skandals für Aufklärung sorgen musste beim "Stern", damals als Politikmagazin auf Augenhöhe mit dem "Spiegel". Seine Kollegen dort, die nun vom "Fall Relotius" am meisten betroffen sind, sieht der ehemalige stellvertretende "Stern"-Chefredakteur vor einer ähnlich schwierigen Aufgabe. "Das musste schiefgehen" Der "Spiegel" müsse alle Arbeitsabläufe hinterfragen und wieder skeptisch gegenüber jedermann werden, auch innerhalb des eigenen Hauses. So hätten beim "Stern" Autor Heidemann und sein Ressortleiter die "Hitler-Tagebücher" quasi direkt an den Vorstand des Verlages verkauft, ohne die Chefredaktion zu beteiligen. "Das ist der Grund, weshalb das schiefgehen musste. Für mich ist das eine programmierte Katastrophe gewesen." Der Podcast erzählt dieses dunkle Kapitel des "Stern" nicht neu, aber als unterhaltsame Geschichte. Originale Aufnahmen wechseln sich ab mit neuen Interviews und Passagen aus den erfundenen Memoiren Adolf Hitlers: "Mit E musste ich wieder einige ernste Worte reden. Sie glaubt, dass ein Mann, der an der Spitze Deutschlands steht, sich so viel Zeit nehmen kann, wie er will, um Sachen nachzugehen. Sie hat in ihren jungen Jahren keine Ahnung, was es für ein Kampf ist, Kanzler des Reiches zu sein." Geschichte hat sich wiederholt Mit dem Wissen von heute fällt es schwer, Sätze wie diese ernst zu nehmen und für echt zu halten. Auch im Fall von Claas Relotius fragen sich heute viele, warum der Reporter so lange seine Geschichten veröffentlichen konnten. "Wenn es vor allen Dingen darauf ankommt, dass schön geschrieben wird, dass tolle Geschichte geschrieben werden, dass man plötzlich auch schreibt, was der Handelnde auch denkt und dergleichen. Wenn das bejubelt wird und auch an Journalistenschulen gelehrt wird und nicht großes Gewicht auf die Recherche gelegt wird, dann muss man sich nicht wundern, dass sowas dabei rumkommt." Und welcher Skandal ist nun der größere? Das wolle er nicht entscheiden, sagt Seufert. Fatal sei nur, dass sich Geschichte in dieser Form wiederholt habe.
Von Michael Borgers
Im April 1983 veröffentlichte der "Stern" Auszüge aus den "Hitler-Tagebüchern". Doch schon nach wenigen Tagen wurde die vermeintliche Sensation als Fälschung entlarvt. Nun arbeitet das Magazin selbst daran, die Erinnerung an den Presse-Skandal wach zu halten - mit der Podcast-Reihe "Faking Hitler".
"2019-01-17T15:35:00+01:00"
"2020-01-26T22:33:46.082000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/podcast-faking-hitler-die-mutter-aller-faelschungen-100.html
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"Auf Deutsch zu texten, ist definitiv eine Herausforderung"
Andreas Kiwitt (l) und Matthias Albert Sänger vom Kölner Duo Albert Luxus (Deutschlandradio / Kerstin Janse) Fabian Elsäßer: Was ist denn passiert in diesen sechs Jahren, das ist ja schon eine lange Pause - auch nach heutigen Musikszene- Standards? Matthias Sänger: Wir haben nach dem zweiten Album eine neue musikalische Herausforderung gesucht und haben uns dann mit einem, ich sag mal, Elektrokünstler zusammengetan und daraus ist dann irgendwann die Band "When people had computers" entstanden. Die haben wir dann so drei, vier Jahre - Andreas Kiwitt: Drei, vier Jahre - genau geprobt und gespielt, und dann bin ich ausgestiegen. Als Schlagzeuger hat sich's für mich nicht mehr richtig angefühlt und ich muss auch immer weite Wege fahren, ich wohne nicht in Köln, ich wohne im Hunsrück in einem kleinen Dorf. Elsäßer: Der Drum-Computer ist der natürliche Feind des Schlagzeugers? Kiwitt: Drum-Computer - genau. Richtige Kessel machen mehr Spaß. Elsäßer: Beim Album "All Alarms off" 2009 - da waren Bossa-Elemente drin, teilweise sogar ganz hübsch gezierte Akustik-Gitarre-Miniaturen. Das zweite Album "Three is Odd" hat dann für meine Ohren etwas von New Wave fast schon, der Gitarrensound ist gläserner, vielleicht, geworden. Beide Alben waren auf Englisch und jetzt - Sprachwechsel - jetzt gibt's deutsche Texte. Wie klingt Albert Luxus auf Deutsch so im Vergleich zu diesen anderen beiden Alben? Sänger: Man muss vielleicht auch mal dazu sagen, wie die zwei anderen Alben entstanden sind. Also unser erstes Album ist so entstanden: ich mach Songskizzen, schick die dem Andreas, der spielt Schlagzeug dazu, schickt mir das noch mal zurück und dann entsteht so ein Pingpong-Verfahren und irgendwann nach zwei Jahren sind dann zehn Songs fertig und dann hat man ein komplettes Album. Das zweite Album ist so entstanden, dass wir es zu zweit auch live eingespielt haben, der Andi hat Bassdrum und Snare mit den Füßen gespielt und dabei Bass, wie so ein musikalischer Akrobat und ich hab Gitarre dazu gespielt. "Ein ewiger Prozess" Kiwitt: Wir haben es dann auch zusammen im Studio eingespielt, bis auf den Gesang. Wir haben quasi eine Live-Situation gehabt, haben es dann auch so eingespielt und der Matthias hat den Gesang dann später drüber gesungen. War aber schon ein kleines Experiment für das Album. Elsäsßer: Klingt so. Vor allem, wenn der Schlagzeuger auf seine Hände zum Schlagzeugen verzichten muss. Kiwitt: Ja, das hat sich auch nicht immer so ganz toll angefühlt. Sänger: Nee, also so rückblickend nicht das beste Album. Kiwitt: Eher nicht noch mal machen. Sänger: Genau und bei dem neuen Album sind wir eigentlich wieder so vorgegangen wie bei der Produktion des ersten Albums. Kiwitt: Und deswegen ist es jetzt wieder so wie in der Ursprungsvariante, dass wir uns die Spuren hin und her schicken und dann immer weiter ... Sänger: Ein ewiger Prozess. Kiwitt: Genau. Sänger: Der Andi kommt alle zwei Wochen mit irgendwelchen Schlagzeugsounds und sagt: Das ist er jetzt. Und zwei Wochen später ... Elsäßer: Fehlt einem da nicht manchmal so die direkte Ansprache? Oder brauchen Sie die gar nicht, weil Sie sich so gut kennen? Sänger: Wir kennen uns jetzt ... Kiwitt: Wir kennen uns schon auch gut. Sänger: ... seit fast zwanzig Jahren. Machen schon seit fast zwanzig Jahren Musik und wir wissen, wie wir auf die Musik des jeweils anderen eingehen können. Aber wir proben seit einigen Monaten, Wochen - Kiwitt: Monaten, ja. Sänger: - mit einer Band, also mit einem weiteren Gitarristen und einem Bassisten und da merkt man dann auch erst mal, was man die ganze Zeit vermisst hat. Und da merkt man auch, dass bestimmte Songs sofort funktionieren, die man so zu zweit entwickelt hat. Und andere dann leider noch nicht so. Die muss man dann in der Bandkonstellation so ein bisschen umstellen, um die auf die Bühne bringen zu können. "Detailreiche Spielereien" Elsäßer: Noch mal zurück zur musikalischen Entwicklung: wird Albert Luxus jetzt minimalistischer klingen oder eher vollmundiger, eklektischer? Denn eklektisch war ja schon das Debüt. Sänger: Das war sehr eklektisch ja, das stimmt. Sowohl als auch, da sind jetzt bei den neuen Songs auch sehr viele detailreiche Spielereien dabei. Ich kann mich da ganz gut austoben, was so Gitarrengeschichten angeht. Also es wird eine sehr bunte Platte werden. Elsäßer: Wie leicht fällt Ihnen das Texten auf Deutsch? Na gut, sie haben es mit Wellness ja schon gemacht. Sänger: Ja genau. Elsäßer: Wellness, die Band, in der sie zwischenzeitlich hoch gelobt worden waren, die mittlerweile wieder verschieden ist. Sänger: Ja, leider. Wellness war so die erste Band, wo die deutschen Texte mal an die Öffentlichkeit gingen. Wir haben das bei Albert Luxus auch versucht, es hat sich aber nie so ganz richtig angefühlt. Und mit Wellness konnte ich das komplett ausprobieren, mal auf Deutsch zu texten. Was definitiv eine ganz andere Herausforderung ist, weil man auch ganz anders singt, die ganze Stimmfarbe ändert sich auch dadurch, die Art, wie man Vokale singt. Elsäßer: Die Texte von der Single Sommer sind schon erfreulich erratisch: "Du riechst so sonderbar nach Wandschrank und Verrissen, du fällst nicht auf, wo ist dein Gesicht?" Frage an Andreas Kiwitt, den Rhythmus-Mann, ist Ihnen manchmal unklar, was Ihr Partner da so singt und textet? Eine kleine Geschichte aus jedem Element Kiwitt: Also ich höre immer zu. Für mich ist es oft so ein großes Mosaik, dass ich sage, ich nehme mir einzelne Phrasen raus und geb' meine Bedeutung rein in die Texte. Also auf einen Satz oder auf den Punkt gebracht einen Liedtext zu reduzieren, ist für mich schwierig und fast unmöglich, weil er so facettenreich ist, dass man aus jedem Element wieder eine kleine Geschichte wieder erzählen kann. Elsäßer: Kann man sagen, dieser Song behandelt auch das Thema "Anonymität"? Es kommt zum Beispiel auch diese Textzeile vor, die ich sehr schön finde: "Du bekommst kaum Applaus und das steht Dir nicht." Oder geht's um Anerkennung? Sänger: Es geht eher um Anerkennung, aber spannend ... Anonymität. Elsäßer: Naja, das Gesicht, das nicht auffällt. Sänger: Kann auch etwas Dankbares haben. Elsäßer: Das wollte ich nämlich fragen, ob Anonymität etwas Bedauernswertes ist oder etwas Wünschenswertes. Sie sind eigentlich ziemlich anonym, Sie beide. Also die Darstellung, die Selbstdarstellung von Albert Luxus auf der Bandcamp-Seite, ist, gelinde gesagt, zurückhaltend. Kiwitt: Ja... Sänger: Kennst Du die Seite überhaupt? Kiwitt: Äh... Sänger: Ja, wir sind gerne "mysterious". Sounddesigner und Sozialarbeiter Kiwitt: Die Sache ist ja: Ich hab einen Beruf, ich hab Familie, ich habe ein ganz normales Leben. Also ich sage jetzt nicht ich produziere oder projiziere mich da in irgendeinem Albert Luxus. Dass ich sage, das bin ich jetzt und projiziere jetzt da alles rein. Ich bin von Beruf Sozialarbeiter in der Jugendhilfe, gehe meiner alltäglichen Arbeit nach und bin jetzt generell im Netz nicht so wirklich aktiv, dass ich da alles posten muss und so. Deswegen so eine Anonymität, aber das machen wir jetzt auch nicht extra, dass wir sagen: Oh, auf gar keinen Fall oder so. Sänger: Nee, da wird definitiv noch dran gearbeitet. Das ist jetzt kein Kalkül uns total zurückzuhalten mit Information. Elsäßer: Frage an Matthias Sänger: Ihr Bandkollege hat sich gerade schon so schön als völlig normalen Menschen geoutet. Wie sieht das bei Ihnen aus? Haben Sie auch einen Brotberuf? Sänger: Ja, den habe ich. Leider kostet das Musikmachen eher Geld, als dass es irgendwas einspielt. Ich bin Soundesigner, ich mache Geräusche, Sounds für Filme, TV-Serien. Elsäßer: Was natürlich auch erklärt, warum das alles professionell ist und klingt - denn Sie sind jetzt keine Hobbyband. Sänger: Klar, der hilft mir definitiv dabei, der Job. Die Sachen selber produzieren zu können, die wir in unseren Köpfen haben. Wir sind nicht auf irgendwelche Toningenieure angewiesen, die mit uns die Songs produzieren, lassen es aber mittlerweile von jemand anders mischen. Elsäßer: Aber das heißt, das Musikmachen ist für Sie auch eine lustvolle Selbstausbeutung? Sänger: Eine lustvolle Selbstausbeutung ... ja. Elsäßer: Aber dass Sie damit noch mal irgendwo hinkommen? Ich vermute mal, es ging auch in diesem Song um Anerkennung, in dem Song Sommer. Das ist Ihnen schon wichtig: Sie wollen als Künstler anerkannt werden? Sänger: Ich glaube, das will irgendwo jeder Künstler, auch wenn man es vielleicht nicht immer so zugeben will. Ich habe mir die Frage auch schon total oft gestellt, warum man das macht oder warum man das unbedingt mit jemandem teilen will. Man könnte das ja auch in seinem Kämmerchen still und heimlich machen, aber man will ja irgendwie auch auf die abstrakte Art mit anderen Leuten kommunizieren. Im besten Fall gefällt's jemandem und dann gefällt's mir und man hat eine Win-win-Situation. Elsäßer: Dann sind wir mal gespannt, wie aus dieser Win-win-Situation hoffentlich in Bälde ein erstes Album wird. Herzlichen Dank für den Besuch im Studio: Das Kölner Duo Albert Luxus bestehend aus Matthias Albert Sänger, Gitarre und Gesang und Andreas Kiwitt, Rhythmussektion, Ein-Mann- Rhythmussektion. Kann man sagen, je nach Bedarf. Herzlichen Dank. Sänger: Vielen Dank für die Einladung. Kiwitt: Vielen Dank, ja. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Matthias Sänger und Andreas Kiwitt im Gespräch mit Fabian Elsäßer
Matthias Sänger und Andreas Kiwitt machen schon seit Jahrzehnten gemeinsam Musik - als Duo "Albert Luxus" haben sie bisher zwei Alben veröffentlicht. Nach längerer Pause melden sie sich nun zurück, erstmals mit deutschen Texten. Das habe auch seinen Gesangsstil verändert, sagt Matthias Sänger im Dlf.
"2017-12-09T15:05:00+01:00"
"2020-01-28T11:04:23.107000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/pop-duo-albert-luxus-erfindet-sich-neu-auf-deutsch-zu-100.html
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Wie eine Göttin
Die US-amerikanische Musikerin Sudan Archives (Jack McCain) Um grüne Augen geht es in diesem Song. "You at the party with the green eyes come my way", singt Sudan Archives, deren bürgerlicher Name Brittney lautet. Und man sieht vor diesem relaxten, leicht exotischen Beat geradezu, wie sich Hüften wiegen, Blicke getauscht werden, wie die nicht nur musikalische Verführung zelebriert wird. Ihre Geige packt sie später auch noch aus – dieses Instrument, das so gar nichts oder zumindest wenig im coolen R'n'B zu suchen hat. Für Brittney gehörte die Geige aber dazu, sie liebt die Fiddel, und das schon seit ihrer Kindheit. "Ich spiele Violine seit der vierten Klasse. Unterricht hatte ich nie, aber ich habe in der Kirche mitgespielt, habe es quasi durch das Hören gelernt. Einige meiner Freunde machten sich lustig über mich: 'Brittney geht in den Fiddel Club!'" Elektronisch veränderte Geigensounds Zum Glück hat sich Brittney alias Sudan Archives nicht beirren lassen und weiter gefiddelt. Hinzu kamen folkloristische Sounds aus aller Welt, aus afrikanischen und europäischen Ländern, und dieser enorm entspannte Groove, der die 14 Songs auf "Athena" prägt. In den Songs reist Sudan Archives musikalisch um die Welt, und verbindet das, was sie dort findet, mit ihren elektronisch verstärkten und veränderten Geigensounds. "Ich glaube dass es Gemeinsamkeiten gibt, zwischen sudanesischer Musik, irischem und keltischem Folk, Punk, Blues, Rock'n'Roll – dahinter steht bei allen die gleiche Absicht." Auf dem Cover ihres ersten Albums "Athena" ist die Musikerin als Göttin Athene zu sehen. Sie posiert nackt in stolzer Pose als ebenholzfarbene Statue auf einem Stein und balanciert in ihrer Hand eine Geige. "Es gibt kaum Statuen von schwarzen Frauen, so kommt es mir jedenfalls vor. Auf Tour habe ich viele Statuen gesehen, aber keine sah aus wie ich. Ich dachte, es könnte interessant sein, Athene zu verkörpern – von der man ja auch nicht denkt, dass sie aussieht wie ich." Starker Jazz-Vibe Neben folkloristischen Elementen hört man auf "Athena" auch einen starken Jazz-Vibe. Eine Atmosphäre, die an die Ikone des NeoSoul, Erykah Badu erinnert, ein wichtiger Einfluss für Sudan Archives, auch wenn sie die textliche und musikalisch komplexe Raffinesse ihres Vorbilds nicht ganz erreicht. Mit dem Land Sudan hat die Musikerin übrigens trotz ihres Künstlernamens weniger am Hut, als man voreilig - oder vorurteilend - schließen könnte: "Viele Menschen denken, ich stamme aus dem Sudan, weil ich mich so nenne, aber viele Menschen nennen sich nach Städten oder Ländern, Paris Hilton kommt auch nicht aus Paris. Es gibt also oft Verwirrung, vielleicht weil ich nach afrikanischen Wurzeln aussehe." In dem Song namens "Iceland Moss" trifft Sudan Archives‘ leicht verschlafene Sinnlichkeit auf ein stabiles Beat-Gerüst. Die Künstlerin steht dabei im Zentrum dieses sanft wogenden Mix’, die Geige am Kinn, und bleibt cool. Eben wie eine echte Göttin.
Von Jenni Zylka
„Athena“ heißt das Debütalbum der US-amerikanischen Musikerin Brittney Denise alias Sudan Archives. Darauf groovt sich die Sängerin und Geigerin durch unterschiedliche Musikkulturen und elektronische Sounds und verwandelt dabei die Geige in ein völlig neuartiges Instrument.
"2019-11-02T15:05:00+01:00"
"2020-01-26T23:17:26.639000+01:00"
https://www.deutschlandfunk.de/sudan-archives-mit-athena-wie-eine-goettin-100.html
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